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]]>Zeitschrift für Politik und Meratur.
28. Jahrgang.
II. Semester. I. Sand.
Leipzig,
Verlag von Friedrich Ludwig Herbig.
(Fv. Wilh. Grunow.)
18S9.
Ausgewählte Schriften Iwan Turgenjew's. Autorisirte Uebersetzung. Erster Band:
„Väter und Söhne." Mitau, Verlag von E. Behre.)
Die große politische Katastrophe, welche uns von dem Wohl- oder Uebel¬
wollen des Auslandes unabhängig machte, war auf geistigem Gebiet lange
vorbereitet. Durch die deutsche Literatur und Culturgeschichte der letzten zwan¬
zig Jahre zieht sich wie ein rother Faden das Bedürfniß, von der Autorität
der fremden Culturvölker, welche uns in Wissenschaft, Kunst und Leben lang
genug für Vorbilder gegolten, los zu kommen, oder genauer formulirt, das
Bedürfniß, die Ebenbürtigkeit, welche wir thatsächlich erlangt, äußerlich zum
Ausdruck zu bringen. Damit hängt zusammen, daß wir uns um die liierarische
Production des Auslandes ungleich weniger kümmern, als vor dreißig und
vor fünfundzwanzig Jahren, wo dieselben Romane und Parteischriften in
allen Studirstuben und Salons zwischen Seine und Newa aufgeschlagen
lagen. Höchstens, daß zu Gunsten hervorragender englischer Schöpfungen eine
Ausnahme gemacht wird — die französische schöne Literatur steht auf der
Proscriptionsliste moderner deutscher Bildung uno mit ver politischen Publi-
cistik des zweiten Kaiserthums sieht es kaum besser aus.
Von neueren ausländischen Dichtern hat kaum einer in Deutschland so
viel Glück gemacht, wie der Russe Turgenjew. Das Interesse, das man ihm
entgegentrug, hatte doppelte Gründe; es galt einmal dem eigenthümlichen
Talent dieses feinsinnigen Künstlers, der in Wahrheit der Charakteristik,
Wärme und Leben der Schilderung, namentlich der Naturschilderung, nach
dem Zeugniß unserer strengsten Richter kaum übertroffen ist,— und zweitens
der Neuheit der Stoffe, welche er behandelt. Die ersten deutschen Ueber¬
setzungen Turgenjewscher Schriften erschienen in der Zeit der Aufhebung der
Leibeigenschaft und des großen Umschwungs in der inneren russichen Politik.
Grade weil man von diesen Dingen wenig wußte, die Zustände und Ein¬
richtungen, welche umgestaltet werden sollten, kaum dem Namen nach kannte,
ergriff man begierig die Gelegenheit, sich mit ihnen auf zugleich unterrichtende
und anziehende Weise in Beziehung zu setzen. Durch die Bilder aus dem
„Tagebuch eines Jägers" lernten wir, was es mit der Unfreiheit eines nach
Millionen zählenden Volks eigentlich auf sich habe, und daß der Fluch der¬
selben die Herren ebenso treffe, wie die Knechte; Berufslosigigkeit des Adels,
Entsittlichung des Beamtenthums, Corruption der höheren Gesellschaft, Un¬
wahrheit und Hohlheit der auf geistiges und wissenschaftliches Leben gerichteten
Bestrebungen — Alles wurde auf die eine Quelle zurückzuführen, in deren
trüben Wassern sich der graue Himmel, der über Rußland lag, melancholisch
spiegelte.
Zu diesem Interesse trat bald ein anderes. Turgenjews spätere Schriften,
welche die aus der Krisis der Jahre 1860—63 entwickelten Zustände zum Gegen¬
stande hatten (und wenigstens durch Auszüge und französische Uebersetzungen
rasch verbreitet wurden), schienen uns in frühere Abschnitte unserer eigenen
Existenz zurückzuführen. Was wir von jung- und altrussischen Romantikern.
Socialisten. Materialisten und Communisten zu hören bekamen, erinnerte uns
an die Tage, in denen unsere Väter unter dem Eindruck der großen geistigen
Umwälzung gestanden hatten, welche der Julirevolution gefolgt war. Daß
jenseit der Weichsel der Versuch gemacht wurde, nicht nur mit der über¬
kommenen politischen Tradition zu brechen, sondern alle hergebrachten Be¬
griffe von Gott, Staat, Gesellschaft, Ehe und Sittengesetz kritischer Revision
zu unterziehen, die alte Welt in Trümmer zu schlagen und auf ihren Ruinen
einen neuen, in die Wolken ragenden Prachtbau, mit wohnlichen Erdgeschoß
für die unteren, grenzenlos freier Aussicht für die gebildeten Classen auf¬
zuführen — das war ja nur eine zweite Auflage des Experiments, welches
unsere eigenen Dichter und Politiker vor dreißig Jahren angestellt hatten!
Dieselben Namen, denen Jungdeutschland seine Brand- und Sühnopfer dar¬
gebracht hatte, tauchten wieder auf, dieselben Systeme, welche uns geblendet
hatten, machten ihre trügerische Anziehungskraft ans die östlichen Nachbaren
geltend, und was uns von der nihilistischen Jugend erzählt wurde, die in
Petersburg und Moskau ihr Wesen trieb, war Zug für Zug die Geschichte
von jenen Berliner „Freien", die ihre Orgien mit dem Trinkspruch „Pereat
Gott" begannen und sich heute als Pensionaire der Reactionspartei über den
ungeheuren Katzenjammer zu trösten suchen, der ihnen seit der Enttäuschung
von 1848 in den Gliedern liegt und den sie nicht mehr los werden können.
Für Rußland ist auch diese Phase inzwischen vorübergegangen und des
Dichters letzte Schriften haben uns bereits mit den „Allerneusten" bekannt
gemacht, die als Träger des nationalen Princips das alte mit dem neuen
Rußland auf Unkosten der deutschen Und polnischen Grenzprovinzen zu ver¬
söhnen bemüht sind.
Das vorliegende Buch, der Roman „Väter und Söhne", der zum
ersten Male in. deutscher Version publicirt worden ist, versetzt uns in die
Zeit der revolutionairen Ueberschwenglichkeit und jenes nihilistischen Titanen-
thums zurück, das einige Zeit lang die öffentliche Meinung auf der sarma-
tischen Ebene beherrschte, seit dem polnischen Aufstande rasch aus der Mode
kam und (manchen dagegen redenden Symptomen zum Trotz) in der Gegen¬
wart todt gesagt wird. Machen, wir uns zunächst mit den Umrissen der Fabel
und den specifischen Eigenthümlichkeiten des russischen Nihilismus bekannt.
Eugen Basarow und Arkady Kirsanow, zwei Petersburger Studenten,
die sich als Träger der modernen Ideen fühlen, besuchen in den Sommer¬
ferien ihre Aeltern; Basarow, (der Sohn eines verabschiedeten Armeechirurgen,
der sich von den spärlichen Resten seiner altmodischen Bildung mühsam nährt,
und einer Mutter, die das naive, gläubige, patriarchalische Altrussenthum in
dessen voller Liebenswürdigkeit repräsentirt) begleitet, ehe er nach Hause fährt,
seinen Freund Arkady zu dessen Vater, einem wohlhabenden Gutsbesitzer.
Dieser Vater und dessen Bruder, Paul Kirsanow. verabschiedeter Garde¬
offizier voll Byronisch-romantischen Ideen, sind Aristokraten von gutem
Schlage, Männer, die in den Traditionen der westeuropäischen Bildung auf¬
gewachsen sind und das eifrige Bestreben zeigen, sich mit der Neuzeit und
deren Ansprüchen zu verständigen. In einer meisterhaft hingeworfenen Ex¬
position wird der Gegensatz zwischen dieser Generation, die auf der Höhe der Zeit
zu stehen glaubte, wenn sie der geistigen Bewegung und den Culturforschritten
respectvoll folgte — und dem Geschlecht der Nihilisten bezeichnet. Arkady Kir¬
sanow ist ein junger, gutherziger Edelmann, ohne innere Selbständigkeit, den
der geistreiche und kräftige Freund in das Schlepptau seiner Ideen genommen
hat, und den ein hübsches Mädchengesicht aber ohne viel Mühe zu den ver¬
lassenen Paraden zuzückführt und durch eine glückliche Ehe mit der noch eben
perhorrescirten alten Gesellschaft aussöhnt. Anders Basarow, der Fanatiker
der Negation ist. sich thatsächlich von jeder Autorität, jeder Rücksicht frei
gemacht hat. „Wir zerstören, weil wir eine Kraft sind, und die Kraft gibt
keine Rechenschaft. Unser Motiv ist das Nützlichkeitsprincip. Jetzt ist es
nützlich, zu negiren, also negiren wir; es gilt tabula, rasa zu machen —
bauen mögen Andere" ; das ist die Quintessenz seiner Weisheit. Im Grunde
mit einer noblen Empfindung und stark ausgeprägtem Rechtsgefühl begabt,
hält der junge Mediciner es für Pflicht, Alles, was das Leben an idealen
Momenten aufzuweisen hat, in den Staub zu ziehen und unter dem Secir-
messer seiner materialistischen Philosophie abzuschlachten. Zunächst geräth er
mit Paul Kirsanow, dem Oheim seines Freundes, dem Gentleman von der
alten Schule, in Conflict. Wir lassen, um alle weiteren Ausführungen über
die Weltanschauung der „Söhne" zu sparen, den Disput folgen, in welchem
beide Richtungen, die alte und die neue, ihre Trümpfe ausspielen.
Die beiden Kirsanow und die jungen Helden sitzen bei der Abendmahl¬
zeit und disputirten über die Nützlichkeit aristokratischer Institutionen für
Rußland, die Basarow natürlich bestreitet.
„Wessen bedarf denn der Russe ihrer Meinung nach?" fragte Paul Kir¬
sanow nach einer Pause. „Wenn man Sie sprechen hört, so sollte man
glauben, wir befänden uns außerhalb der ganzen Menschheit. Die Logik der
Geschichte fordert es ja"----
„Wozu soll uns die Logik! wir werden auch ohne dieselbe auskommen."
„Wie?"
„Sie haben doch, hoffe ich, keine Logik nöthig, um ein Stück Brod in
den Mund zu bringen, wenn sie hungrig sind; was sollen uns diese Ab-
stractionen!"
„Nun dann begreife ich Sie nicht! Nach welchen Beweggründen handeln
Sie Nihilisten denn?"
„Wir thun das, was wir für nützlich finden", antwortete Basarow.
„in jetziger Zeit ists am nützlichsten zu negiren und wir regeren."
„Alles?"
„Alles."
„Wie? Nicht allein die Kunst, sondern auch.... schrecklich zu sagen!"
„Alles", wiederholte Basarow mit vollkommener Ruhe.
„Aber erlauben Sie, mein Herr", begann Nicolai Petrowitsch, „Sie ver¬
neinen Alles, oder richtiger Sie zerstören Alles, man muß aber doch auch
bauen?"
„Das ist nicht unsere Sache, vor allen Dingen muß der Boden geebnet
werden."
„Der gegenwärtige Zustand des Volkes fordert solches", fügte Arkadius
hinzu, „wir müssen diesen Forderungen nachkommen, und nicht unserem per¬
sönlichen Egoismus fröhnen."
Offenbar gefiel diese letzte Phrase Basarow nicht, sie klang ihm philo¬
sophisch, romantisch; er fand es aber nicht nöthig, seinen Schüler zurechtzu¬
weisen.
„Nein, nein", rief Paul Petrowitsch leidenschaftlich aus, „ich will es
nicht glauben, meine Herren, daß Sie das russische Volk kennen, daß Sie die
Repräsentanten seiner Bestrebungen und Bedürfnisse sind! Nein, das russische
Volk hält die Ueberlieferungen heilig, es ist ein Patriarchalisches Volk und
kann ohne Glauben nicht leben" ....
„Dagegen will ich nicht streiten", unterbrach ihn Basarow. „ich bin sogar
bereit, zuzugeben, daß Sie darin Recht haben."
„Aber wenn ich Recht habe" ....
„So beweist es dennoch nichts!"
„Wie beweist denn das nichts?" fragte Paul Petrowitsch verwundert
Sie befinden sich folglich im Gegensatz zu Ihrem Volke."
„Und wenn auch! das Volk glaubt, wenn der Donner rollt, daß der
Prophet Elias im Himmel umherfahre; wie? soll ick ihm beistimmen? Außer¬
dem — es ja das russische Volk und bin ich denn kein Russe?"
„Nein, darnach, was Sie eben behauptet haben, sind Sie kein Russe, ich
kann Sie nicht als einen solchen anerkennen."
„Mein Großvater hat gepflügt", antwortete mir anmaßenden Tone Ba-
sarow, „und fragen Sie den ersten besten Bauer, in wem er eher seinen
Landsmann erkennt; Sie verstehen nicht einmal mit ihm zu sprechen."
„Sie sprechen mit ihm, verachten ihn aber."
„Was ist dabei zu machen, wenn er diese Verachtung verdient! Sie
tadeln meine Ansichten, aber wer sagt ihnen, daß dieselben nur zufällig in
mir entstanden, daß sie nicht durch denselben Volksgeist hervorgerufen sind,
zu Gunsten dessen Sie reden?"
„Glauben Sie vielleicht", fuhr Paul Kirsanow sich zu Basarow wen¬
dend fort, daß dieses eine neue Lehre sei? Der Materialismus, den Sie
predigen, war schon oftmals voZuiz und er hat sich stets als unzureichend
bewiesen."
„Wieder ein Fremdwort!" unterbrach ihn Basarow. „Erstens, wir
predigen gar nicht, das ist nicht unsere Schwachheit."
„Aber was thun Sie denn?"
„Nun. wir thun Folgendes: zuerst — es ist noch nicht lange her —
behaupteten wir. daß unsere Beamten bestechlich sind, daß wir weder Straßen,
noch Handel, noch regelmäßige Behörden haben" ....
„Ja, angenommen! Sie deckten die Mißbräuche auf, mit so Manchem
davon bin ich einverstanden, aber" ....
„Aber darauf sahen wir ein, daß das bloße Schwatzen über unsere
Schäden zu gar nichts führt und daß auch, unsere Klüglinge, unsere Stimm¬
führer nichts werth seien; wir sahen ein, daß wir uns nur mit Lappalien
abgaben und über Kunst, freies Schaffen, Parlamentarismus. Advocat.ur
und Gott weiß worüber redeten, während es sich um das tägliche Brod
handelt und der gröbste Aberglauben uns zu ersticken droht; alle unsere Actien-
compagnien gehen aus Mangel an ehrlichen Leuten zu Grunde und selbst, die
Freiheit, welche die Regierung den Bauern zu geben bereit ist. wird uns
schwerlich Nutzen bringen, denn der Bauer ist froh sich selbst zu bestehlen.
um dann in der Schenke sich zu betrinken."
„Also", unterbrach ihn Paul Petrowitsch, „Sie haben sich von der Nutz¬
losigkeit dieser Thätigkeit überzeugt und beschlossen, an nichts mehr ernstlich
Hand anzulegen?"
„Wir haben beschlossen , an nichts Hand anzulegen", wiederholte Basarow
verdrossen.
„Und blos zu tadeln?"
„Und blos zu tadeln!"
„Und dies ist also Nihilismus?"
, ..Und das ist Nihilismus!" wiederholte Basarow.
„Wie? Und Sie denken im Ernst es mit dieser Lehre gegen das gan^e
Volk aufzunehmen?"
„An einem Kerzenlichte, wie Sie wissen, entzündete sich einst ganz
Moskau!" antwortete Basarow.
„Jawohl, jawohl! Anfangs satanischer Stolz, darauf Spott! davon läßt
sich die Jugend hinreißen und das erfüllt die Herzen der unerfahrenen Knaben!
und diese Krankheit hat sich bereits weit verbreitet, selbst unsere Künstler in
Rom besuchen nicht mehr den Vatican und halten Raphael sür einen Narren,
um nur keine Autorität gelten zu lassen; aber selbst sind sie erbärmlich und
gänzlich unproductiv, ihre ganze Phantasie reicht nicht weiter als höchstens
bis zum „Mädchen am Springbrunnen" und dabei ist das Mädchen noch ganz
abscheulich gemalt; nach Ihrer Meinung sind es tüchtige Leute, nicht wahr?"
„Meiner Meinung nach", entgegnete Basarow, „taugt Raphael keinen
Heller und die jungen Künstler sind um nichts besser."
„Bravo, bravo! so also haben sich die jetzigen jungen Leute auszudrücken;
früher mußten sie sich, wenn auch gezwungen, Mühe geben, nicht für Igno¬
ranten zu gelten, jetzt aber brauchen sie nur zu sagen: alles auf der Welt
ist Thorheit, und damit ist die Sache abgemacht! Die jungen Leute müssen
dessen in der That froh sein. Früher waren es einfach Lümmel, jetzt aber
heißen sie Nihilisten."
„Unser Streit ist zu weit gegangen und es ist besser ihn abzubrechen",
sagte Basarow, „ich werde nur dann mit Ihnen einverstanden sein, wenn
Sie mir auch nur eine Institution in unserem gegenwärtigen gesellschaftlichen
oder staatlichen Leben nennen können, die nicht eine völlige und schonungs¬
lose Verneinung forderte."
Diese Probe wird genügen, um den Standpunct des jungen Ge-
schlechts vollständig zu bezeichnen. Der Conflict zwischen dem Romantiker
und seinem cynischen jungen Gegner steigert sich im weiteren Verlauf.
Paul, der Basarow im Verdacht hat. der Maitresse seines Bruders nach¬
zustellen, fordert diesen zum Zweikampf heraus. Der Nihilist, der sich
noch eben über die Widersinnigkeit des Duells ausgesprochen hat, kann nicht
umhin die Forderung anzunehmen und verwundet seinen Gegner. Dann
verläßt Basarow das Kirscmow'sche Haus und kehrt zu seinen Aeltern zurück,
die ihn mit liebender Ungeduld erwartet haben. In den folgenden Capiteln,
welche den Gegensatz zwischen dem alten Paar, das an dem geistvollen
Sohn mit abgöttischer Verehrung hängt, und der brutalen, unduldsamen
Härte des Helden schildern, gipfelt das Hauptinteresse des gesammten Buchs
und zugleich die Meisterschaft der Darstellung des Autors.
Das Aelternpaar, das in stiller Abgeschiedenheit von der Welt grau
geworden ist, treu an dem Glauben und Aberglauben seines Volks hängt,
dessen einziges Lebensinteresse der Sohn ist, den sie nicht verstehen können
und der ihre Liebkosungen halb verlegen, halb mürrisch zurückweist, in dem sie
den großen Mann verehren, obgleich er Alles mit Füßen tritt, was ihnen heilig
ist — dieses alte Paar ist mit einer Wärme und Feinsinnigkeit gezeichnet,
wie sie nur aus dem Pinsel des ächten Künstlers quellen kann. Der Vater
bemüht sich, die Reminiscenzen seiner Jugendbildung aufzufrischen, und den
Interessen des Sohnes zu folgen, er steigert sich zu einer Freiheit und Kühn¬
heit des Urtheils, die ihn fortwährend mit seinen religiösen Anschauungen
in Gegensatz bringt, und kann es doch nicht dahin bringen, seinen Eugen zu
verstehen oder von diesem als Genosse angesehen zu werden; die Mutter ist
froh, wenn er ihre Liebkosungen nicht all' zu rauh abweist, und wenn die
Schöpfungen ihrer Kochkunst bei dem bedürsnißlosen Studenten Gnade finden;
ihre Religiosität verbirgt sie ängstlich, weil sie seinen Unglauben ahnt und
wenn Eugen mit dem Priester, der das Dankgebet sür seine glückliche An¬
kunft gehalten, gemeinsam Thee trinkt, so sind alle Wünsche der bescheidenen
Frau ersüllt. — Nach kurzem Zusammenleben mit den Alten, reißt Basarow
sich los, es zieht ihn in das Haus der schönen Wittwe Anna Odinzow, die
er durch Kirsanow kennen gelernt hat und die in der Nachbarschaft lebt.
Anna ist der Typus der Dame aus der großen russischen Gesellschaft, geist¬
reich, kokett, nicht ohne Empfindung, aber gewohnt, diese in Eis zu verwandeln,
sobald sie den andern Theil Feuer fangen sieht. Basarow, der die Aristokraten
haßt, ihre feinen Formen als zeitraubende Spielereien verachtet, der seinem
Freunde noch eben deducirt hat, „daß man als Physiologe nicht zweifelhaft dar-
über sein könne, was es mit den sogenannten geheimnißvollen Bezügen zwischen
Männern und Frauen eigentlich auf sich habe." — Basarow hat für die
schöne, some Frau eine Leidenschaft gesaßt, deren Flammen über seinem Kopf
zusammenschlagen. Anna Odinzow kann dem interessanten jungen Sonderling,
den sie in ihre Kreise gebannt, warme Theilnahe nicht versagen, aber das
Geständniß seiner Liebe bricht so jäh und wild hervor, daß die an Formen¬
schönheit gewöhnte Frau wie vor einem „Abgrund des Häßlichen" zurück¬
schrickt, und den Mann, der ihrer quietistischen Lebensbehandlung gefährlich
zu werden drohte, wenn auch mit getheiltem Herzen seiner Wege gehen läßt.
Inzwischen haben Annas junge Schwester und Arkady den Weg zu einander
gefunden und ihre sanften Herzen ohne großen Kampf zu friedlichem Bunde
vereinigt; aus dem herben Spott, mit dem Eugen seinem plötzlich mit der
Welt versöhnten Freunde Lebewohl sagt, spricht zugleich der feine Humor
des Dichters, der ebenso die Wandlung des nur künstlich zum Nihilisten
aufgebauschten jungen Lebemanns, wie die Anstrengungslosigkeit zu belächeln
scheint, mit der leicht aufgesetzte Naturen den Kampf um liebendes Nehmen
und Geben auszufechten pflegen. Eugen Basarow kehrt in das verlassene
Aelternhaus zurück, sucht die Oede seines Herzens durch eifrige Studien zu
übertäuben und stirbt wenig später an der Leichenvergiftung, die er sich bei
einer Section zugezogen.
Wie bei fast allen Turgenjewschen Dichtungen ist auch bei den „Vätern
und Söhnen" der Hauptwerth nicht in der Komposition, sondern in der fei¬
nen, geistvollen und zugleich naturwahren Charakteristik der handelnden Per¬
sonen und der meisterhaften Schilderung der diese umgebenden äußeren und
inneren Verhältnisse zu suchen. Obgleich man es dem Dichter nachfühlt, für
welche der beiden geschilderten Richtungen er im Grunde seines Herzens
Partei genommen und daß es ihm wesentlich darauf angekommen, der Un-
schönheit des nihilistischen Titanenthums den Spiegel vorzuhalten, ist die
Zeichnung mit gewissenhafter Objectivität ausgeführt, streift sie nirgend auch
nur an die Grenze der Carricatur. Im Gegentheil wird der Unterschied zwischen
einer Natur von dem Korn Basarow's und den kleinen Seelen, die die revo-
lutionaire Modephase aus Gedankensosigkeit oder, um ihre sittliche Verlumpt-
heit zu bemänteln, mitmachen, durch eine Reihe ergötzlicher Nebenfiguren deut¬
lich bezeichnet und das milde versöhnende Schlußcapitel sagt uns, auch das
Geschlecht der „Söhne", die Allem, was das Leben an Schönheit und Jdea-
lismus geboten, rücksichtslose Fehde erklärten, habe als Humus sür künftige
Culturbildungen eine Mission gehabt.
Es fragt sich, ob der Leser, der nicht bei der Theilnahme sür den Roman
selbst stehen bleibt, die Empfindung theilen wird, zu der Turgenjew am Schluß
seines Buchs gelangt. Dieses Dichters Sache ist es sonst nicht, mit der Harmonie
zuschließen; im Gegentheil sind es herbe Dissonanzen, die grade aus seinen
schönsten Schöpfungen herausklingen, und wenn er selbst das Bedürfniß einer
Versöhnung mit seinem unglücklichen Helden fühlt, so hat er die Präsumtion
für sich. Aber schwer wird es un« doch fallen, mit dem Geschlecht, das
Basarow repräsentirt, Frieden zu schließen. Als Resultat einer überschraubten
Bildung kann man sich die absolute Negation gefallen lassen — tritt sie am
Anfang einer Entwickelung auf, die noch mit den elementarsten Forderun¬
gen zu kämpfen hat, so macht sie den Eindruck aus leerem Kopf und leerem
Herzen zu kommen.
Als König Wilhelm im vorigen Herbst Hamburg und Lübeck besuchte,
ließ man in Bremen die Köpfe ein wenig hängen. Man glaubte sich im
Jahre 1866 einen ebenso guten Anspruch auf diese Ehre erworben zu haben;
man war sich bewußt, dem Gründer und Schirmherrn des norddeutschen
Bundes, wenn er käme, keine geringeren Sympathien entgegenzutragen. Dazu
kam, daß die territorialen Veränderungen von 1866 für Bremen, das bisher
von Hannover vollständig enclavirt gewesen war, eine besonders große Rolle
gespielt und diese Hansestadt plötzlich zur nahen Nachbarin Preußens gemacht
hatten. So war der Wunsch nach persönlicher Bekanntschaft mit dem Ober-
haupr der Nation noch verstärkt durch das Verlangen, den mächtigen Nachbar,
der plötzlich von der Elbe an die Weser gerückt war, als Gastfreund in den
eigenen Mauern zu sehen. Da Bremen jedoch einmal (schon weil es noch
immer keine grade und kurze Eisenbahnverbindung von der Elbe zur Weser gibt)
in den vorjährigen Reiseplan nicht hineinpaßte, so rechnete man desto sicherer
auf dieses Jahr; und schon beim Beginn des Sommers sollte diese Hoffnung in
Erfüllung gehen. Sobald die Absicht des Königs feststand, fingen die Köpfe an,
sich mit den nöthigen Vorbereitungen zu beschäftigen. Bremen ist mehr eine
hübsche und behagliche, als eine interessante Stadt; für verwöhnte Fremde hat
es wenig Sehenswerthes. So glaubte der Senat denn im voraus von zu hohen
Erwartungen abrathen zu müssen, aber einen guten, herzlichen Empfang stellte
er allerdings in Aussicht, und diesen äußerlich in die Augen fallen zu lassen
beeiferten sich frühzeitig Alle, die etwas dazu thun konnten. In der histori¬
schen Abtheilung des Künstlervereins, wo Senator Smidt aus Anlaß des
gehofften königlichen Besuchs eine ältere, freundnachbarliche Beziehung zwischen
Preußen und Bremen ans Licht zog, erinnerte man sich, daß seit Kaiser
Heinrich dem Dritten, also seit mehr als acht Jahrhunderten kein Oberhaupt
der Deutschen an der unteren Weser erschienen sei, und steigerte so in sich
und Anderen das Gefühl von der Denkwürdigkeit des bevorstehenden
Augenblicks.
Dieser Augenblick trat gegen Willen und Absicht aller Betheiligten be¬
trächtlich später ein. als man gehofft und gewünscht hatte. Unwohlsein
nöthigte den König bekanntlich zweimal, die Reise hinauszuschieben, so
daß sie zuletzt um vierzehn Tage später stattfand, als es ursprünglich be¬
stimmt war. Die getroffenen Empfangsanstalten waren zu umfassend, die
Spannung zu lebhaft und zu allgemein, als daß der Aufschub nicht sangui¬
nische Gemüther hätte verstimmen, den Aufschwung der Volksseele ein wenig
hätte dämpfen sollen. Der König war später liebenswürdig genug, das
natürlich zu finden. Aber da war der Eindruck doch schon vollkommen über¬
wunden. Für Jedermann ging er unter in der freudigen Stimmung, welche
der Besuch an sich, des Königs ebenso würdevolle wie zwanglose Huld, das
Interesse an seinen berühmten Begleitern Bismarck, Moltke und Roon. die
Allgemeinheit der Theilnahme und des Jubels erweckten.
Einen höheren, schöneren Festtag, als den 15. Juni 1869 hat Bremen
nie gefeiert. Die Erinnerungen an den gewaltigen Umschwung in der Ge¬
schichte des Vaterlandes, welchem das Fest ja eigentlich galt, waren noch
frisch genug, um ohne Mühe und angestrengte Reflexion in den Herzen wieder
aufzuleben. Sie reichten auch tief genug in die Massen hinab, so daß im
Straßengedränge keine irgend erhebliche Zahl Solcher übrigblieb, die gar-
nichts bei der Sacke gedacht und empfunden hätten. Daher der allen Be¬
obachtern ausgefallene gemeinsame Zug ernster Freudigkeit, der durch die
dichten Reihen ging. Meinungsverschiedenheiten über die nationale Haupt¬
frage gibt es in Bremen nicht. Trotz einer preußischen Stadt hat es sich
und dem Vaterlande zu den böhmischen Siegen Glück gewünscht, wie der un¬
willkürliche Ausbruch von Begeisterung bekundet, welchem die sonst so nüch-
terne Börse sich überließ, als im Juli 1866 die große Nachricht von König-
grätz eintraf.
Die Stärke und Allgemeinheit der Zurufe, die augenscheinliche Sym¬
pathie der Bevölkerung sind dem Könige wohlthuend aufgefallen. Er hat
gefunden: das sei ja wie bei ihm zu Hause. Ein Herr aus seiner Umgebung,
der seit zwanzig Jahren und mehr die Könige von Preußen auf Reisen zu
begleiten pflegt, wollte sich eines ähnlichen Empfangs, was das Entgegen-
kommen des Volks betrifft, überhaupt nicht entsinnen. Und soviel ist aller¬
dings sicher: in einer Stadt von Bremens Größe, unter einem Stamm von
dem Temperament des niedersächsisch-friesischen wäre mehr in dieser Be¬
ziehung kaum denkbar. Die Worte, mit denen der Senat den Dank des
Königs verkündigt hat, lassen bei ihm auf ein ähnliches Urtheil schließen.
Nächst dem König war selbstverständlich Graf Bismarck Gegenstand
der unermüdlichsten öffentlichen Aufmerksamkeit. Der Bundeskanzler empfing
sein volles Maß von spontanen Ovationen. Man ließ ihn nicht einmal
entgelten, daß er, wie die jüngste indiscrete Wiener Enthüllung verrieth,
in Nikolsburg 1866 für den norddeutschen Bund eifriger gewirkt hat als
für die Annexion Hannovers u. f. f. Und daß Hannover aus der Reihe
der selbständigen Staaten verschwunden ist, ist in den Augen der Bremer
ein Hauptverdienst des Jahres 1866. Sie wissen wohl warum!
Nächst der erfreulichen Aufnahme scheint die angenehme Behaglichkeit
der Existenz in Bremen die hohen Gäste am meisten getroffen zu haben.
„Ich denke, ich lasse mich hier zum Senator wählen", hat Graf Bismarck
zu seinem Wirthe, dem Reichstagsmitglied H. H. Meier gesagt. Der gute
Geschmack, der in den Empfangsanstalten hervortrat, in der von ihrem Er¬
bauer Heinrich Müller glänzend decorirten neuen Börse, wie in dem statt¬
lichen Triumphbogen am Heerdenthor. wurde nicht minder anerkannt. Wenn
die Künste in dieser arbeitsamen Handelsstadt auch wenig mitzusprechen
haben, so sind sie doch durch würdige und leistungsfähige Kräfte repräsen¬
tier. Aus der abendlichen Illumination ragte das Haus hervor, in welchem
Graf Bismarck wohnte: es zeigte in Flammenpracht die Krone Kaiser Karls
des Großen. Unter ihr war es, daß der Bundeskanzler, um der unablässig
rufenden Menge zu genügen, gegen Mitternacht auf den Altan heraustrat,
und für die ihm zu Theil werdenden Huldigungen dankte.
Der Zukunftsgedanke, welcher in der flammenden Kaiserkrone lag,
braucht den Bremern nicht erst empfohlen zu werden. Sie wünschen sich
nichts besseres, als daß das „Haupt der Nation", wie ihr prästdirender
Bürgermeister den König in feierlicher Rede nannte, sich bald die Krone
aufsetzen könne, welche die allgemeine Anerkennung dieser seiner Würde be¬
deuten würde. Sie sind auch bereit, „dem Kaiser zu geben was des Kaisers
ist", der nationalen Centralisation zu opfern was' nöthig befunden wird.
Dahin rechnen zwar Einige von ihnen auch, was Andere lieber vorbehalten
möchten; z. B. die Rechtspflege. Aber in der Hauptsache sind sie Alle einig,
— sowohl darin, daß die Einheit nach außen hin aller inneren Selbständig¬
keit vorgeht, wie darin daß die eigentlich communalen Angelegenheiten
sammt Kirchen- und Schulwesen nicht von Berlin her geleitet werden sollen.
Umgekehrt, sehen sie es als die zeitgenössische Aufgabe der Hansestädte an,
durch ihr Beispiel und ihr entschlossenes, wohlüberlegtes Zuthun dazu mit¬
zuwirken , daß ihre eigene städtische Freiheit mit der Zeit in Deutschland
allgemein werde.
Jede der bedeutenderen Städte, welche der König diesmal zuerst besucht
hat, Bremen, Emden und Osnabrück, ist überzeugt, so scheint es, daß es in
ihren Mauern am herzlichsten und begeistertsten zugegangen sei. Nichts kann
beredter dasür sprechen, wie echt allenthalben die entgegenkommende Stim¬
mung war.
Andere Gedanken standen im Vordergrunde, als der königliche Besuch das
Meer berührte, in Bremerhaven und Heppens. Der heitere Schmuck der
Flaggen und Wimpel, der Bremerhaven neben einer jubelnden Menge belebte,
lud gewissermaßen ein, sich getrost aufs Meer hinauszuwagen. Das geschah nun
zwar nicht buchstäblich; der König scheint das moderne Motto der Hohen-
zollern „Vom Fels zum Meer" für seine Person mit der ihm zustehenden
Freiheit fast so auszulegen, wie einst die Niederländer das völkerrechtliche
,,5us<zu' g. Ja M6i" der freien Rheinschifffahrt; er wollte seinen Kriegshafen
lieber zu Lande erreichen, als auf einem der großen Lloyddawpser, von einer
ganzen Dampferflotte umgeben, von der Wesermündung in die Jade stechen.
Das klägliche Schicksal, welches am Tage der Einweihung von Wilhelms¬
hafen einige von Bremerhaven herübergekommene Passagierdampfer hatten,
mag ihm darin Recht gegeben haben, wiewohl das breite Deck eines trans¬
atlantischen Postdampsers die Seekrankheit länger fernhält. Auch von den An¬
stalten zur Rettung Schiffbrüchiger, von denen das interessante amerika¬
nische Rettungsfloß zur Hand gewesen wäre, oder von den neuen Geräthen
der Fischerei Notiz zu nehmen, behielt der König keine Zeit. Dagegen
tafelte er an Bord des Lloyddampfers „Deutschland", dessen Einrichtungen
er sich von dem Verwaltungsrathsbesitzer H. H. Meier erklären ließ. Dann
aber begab er sich zu den segelfertig vor der Hafenschleuse liegenden Schiffen
der Nordpolarexpedition, „Germania" und „Hansa", vernahm eine patriotische
Ansprache des Herrn A. G. Mosle, besah das erstgenannte Schiff mir mili-
tairischer Genauigkeit, schüttelte Capitain Koldewey glückliche Fahrt wünschend
die Hand und sah die Schiffe auf die Rhede hinausgehen. Wenn die Nord-
polfahrt weiter nichts leistet, so hat sie doch den mächtigsten Mann in
Deutschland zum ersten Male recht ernstlich für ein nautisches Unternehmen
interessirt. Der zweitmächtigste Mann, Graf Bismarck, erklärte sogar, gern
mitgefahren zu sein, wenn er nicht Frau und Kinder zu Hause hätte.
Die bedeutungsvolle Feier vom 17. Juni zu Heppens. das in Wilhelms¬
hafen umgetauft ward, hatte ihren Höhepunkt in dem Besuch, welchen der
König sammt seinen Begleitern auf der Schraubenfregatte „Minotaur", dem
Admiralschiff der englischen Canalflotte, abstattete. Die britische Regierung
hatte es zur Bewillkommnung des preußischen Monarchen an den Nordseestrand
herübergeschickt; soweit sind wir heutigen Tages entfernt von jenen mehr
als spöttischen Seitenblicken, welche Englands Staatsmänner einst auf unsere
nationalen Flottenbestrebungen warfen. Der König hatte die beiden Bremer
Bürgermeister sowie den Consul H. H. Meier eingeladen, in Heppens mitzuer-
scheinen, und Niemandem wahrlich mochte man es lieber gönnen, als dem ehe¬
maligen Reichsmarineminister Duckwitz, daß er Zeuge der glänzenden Genug¬
thuung war, welche so Deutschlands Streben nach Seegeltung von der meer¬
beherrschenden stolzen Britannia zu Theil wurde. Die betheiligten preußi¬
schen Beamten, voran der Minister v. Roon, ernteten an jenem Tage den
Lohn ihr"er Sündhaftigkeit. Wie oft ist prophezeit oder ernstlich anempfoh¬
len worden, den Bau bei Heppens als hoffnungslos aufzugeben! Nach den
Erfolgen von 1866 glaubten sanguinische Ostfriesen schon die Knock bei
Emden des Jadebusens Erbschaft antreten zu sehen. In Berlin hat man
das einmal begonnene Werk muthig durchgeführt, und heute sind alle jene
Bedenken, die sich ihm während seiner langen Bauperiode in den Weg warfen,
so gut wie verstummt.
Die viel besprochene und wiederholt aufgeschobene Reise des Königs
durch die Provinz Hannover ist endlich Thatsache geworden und mit inniger
Freude sehen die Einen, mit stillem Grolle die Anderen den für alle Theile
gleich unerwarteten Resultaten dieser Reise nach.
Wir hatten von der vorigjährigen Anwesenheit des Königs in Hannover
nicht den Eindruck gewinnen können, daß es rathsam sei, den Besuch schon
jetzt zu wiederholen. Als aber die Reise durch das Unwohlsein des Königs
hinausgeschoben wurde und dann plötzlich überall von welfischen Agitatoren
ausgesprengt wurde, das Unwohlsein des Königs sei nur fingirt und in
Wahrheit habe die durch die Wahl Ewalds documentirte Gesinnung von der
Reise zurückgeschreckt, da fühlten wir, daß die Reise eine politische Noth¬
wendigkeit geworden sei. Hatte doch die „Hannöversche Landeszeitung" für
passend gehalten, den Besuch des Königs freudig als eine Gelegenheit zu be-
grüßen, Sr. Majestät den Schmerzensschrei Hannovers laut haltend in die
Ohren zu rufen und zu zeigen, wie die Anhänglichkeit der Hannoveraner an
ihre frühere Dynastie ungetrübt fortlebe!
Der Sieg bei der Wahl Ewalds hatte die welfische Partei so übermüthig
gemacht, daß sie sich selbst einredete, eine Macht zu sein, und daß manche
auch sonst ruhige Leute in Gefahr gertethen, das, was ihnen stets vorgesprochen
wurde, zu glauben. Dem gegenüber war eine Lebensäußerung der natio¬
nalen Partei dringend geboten und keine Gelegenheit konnte dazu erwünschter
sein, als die, welche der Besuch des Königs bot. Es wurde zur Ehren¬
pflicht, an dem Empfange Theil zu nehmen, der nicht dem Könige von
Gottes Gnaden, nicht dem Landesherrn, von dessen Huld man Gnaden¬
bezeugungen erhoffte, der dem Sieger von 1866, dem Gründer des neuen
Deutschland galt.
Allgemein regte sich deshalb der Wunsch, die Reise des Königs zur bal-
digen Ausführung gebracht zu sehen und von den verschiedensten Städten und
Corporationen wurden einladende Deputationen nach Berlin gesandt. Zu¬
gleich bildeten sich Comite's, um dem Könige einen würdigen Empfang zu
bereiten.
Als endlich die Reise zur Gewißheit wurde, erfüllte eine gewisse Span-
mung die Gemüther. Hannover war die erste Stadt, welche der König be¬
suchen wollte, und unleugbar hatte hier die welfische Partei ihren Hauptsitz.
Dieselben Volksclassen, die zu hannoverscher Zeit die „jubelnden Volksmassen"
gebildet hatten, die kleinen Handwerker, die Landleute, die Arbeiter, bildeten,
jetzt die hannoversche Volkspartei, und diese war entschlossen, den Königlichen
Besuch zu welfischen Demonstrationen zu benutzen. Die nationalen gehören
durchweg dem gebildeten Bürgerstande an, von dem man nicht wissen konnte,
wieweit er die ihm eigene Indolenz und die Abneigung gegen das Straßen¬
gedränge überwinden würde, um dem Könige einen festlichen Empfang zu
bereiten.
So schwankten die Ansichten über den Ausfall des Königlichen Besuchs
hin und her und die verhältnißmäßig geringe Ausschmückung der Häuser
schien eigentlich nichts Gutes anzukündigen.
Als der Augenblick da war, drängten die Menschenmassen zum festlich
geschmückten Bahnhofsplatz; es sollte sich zeigen, ob der Sieg den Hoch rufen¬
den nationalen oder dem Zischen der Welsengenossen bleiben wurde. Der
Zug kam an; wildes Gerufe und ungeduldiges Drängen! Noch einige
Minuten der Erwartung, während im Innern des Bahnhofes die ersten
Vorstellungen stattfanden; dann trat der König aus der Halle, um in den
Wagen zu steigen. Einen kurzen Augenblick tiefe Stille zur Befriedi¬
gung der ersten Neugier und dann ein kosendes Hoch aus vielen tausend
Kehlen. Der Sieg war entschieden und von Gegendemonstrationen keine Rede
mehr! Auch die Verbissensten mochten sühlen, daß jeder Versuch dazu eine
Lächerlichkeit gewesen wäre.
Wir haben nach dem Erscheinen ausführlicher Zeitungsberichte natürlich
nicht die Festlichkeiten zu schildern, die dem Könige zu Ehren stattfanden; nur
das können und müssen wir bezeugen, daß bei jeder neuen Ausfahrt des Königs
in die Stadt der Jubel sich mehrte, und daß, wohin wir auch hörten, der Eindruck
von der Persönlichkeit des Königs überall derselbe war. Für die gebildeten
Classen, deren Anschauungen auf Nachdenken beruhen, konnte dieser Eindruck
natürlich nicht maßgebend sein, auf die Massen hat die Königliche Erschei¬
nung des deutschen Schirmherrn entschieden gewinnend gewirkt.
Der nachhaltigste Umschwung ist in der Stimmung der welfischen Partei¬
führer eingetreten. Der siegesgewisse Uebermuth vor dem Besuche des Königs
ist einer kleinlauten Beschämung gewichen und grollend und staunend sahen
die Führereine große Anzahl ihrer früheren Getreuen das gelb-weiße Banner
verlassen. Man braucht nur die finstern Mienen der Chorführer zu sehen,
um dessen gewiß zu werden, daß ihre Sache aufs Neue an Terrain ver¬
loren hat.
Was in der Stadt Hannover begonnen wurde, ist in der Provinz fort-
gesetzt worden, und wie die Provinz dem Vorbilde der Hauptstadt gefolgt ist, so
hat sie dadurch auch wiederum das Vorgehen dieser gut geheißen; so deckt und
ergänzt sich das Verhalten beider und grade dadurch fühlt sich die nationale
Partei mit Recht mächtig gehoben, daß überall, wohin der König seinen
Fuß gesetzt hat, nur sie das Feld behalten hat. die antinationalen Tendenzen
nicht einmal einen Versuch gewagt haben, sich geltend zu machen.
In der Provinz Bremen und Verden, in Ostfriesland, Osnabrück und
dem Arensbergschen ist der König fast noch herzlicher und jubelnder auf¬
genommen, als in Hannover selbst und es hat sich hier namentlich auch die
Landbevölkerung in hervorragender Weise bei dem Empfange betheiligt. Auch
daS ist für unsere Welfomanen eine heilsame Lehre und wird sie hoffentlich
davon überzeugen, daß das herrschende Gefühl in diesen Theilen Hannovers
die Befriedigung über die restitutio in mwZrum ist und daß von einer Ge¬
wöhnung an die „neuen Verhältnisse" nicht die Rede zu sein brauchte. ,
Zu constatiren ist allerdings noch, daß nicht allein in Hannover selbst,
sondern auch in der Provinz der Adel sich durchweg von dem Empfange des
Königs zurückgehalten hat. »
Aufrichtig gesagt, bedauern wir das nicht; denn, hätten die Betheiligten
sich auch nur in Erfüllung einer einfachen Höflichkeitspflicht dem Könige
vorstellen zu müssen geglaubt, wir sind überzeugt, des Königs Persönlichkeit
und das süße, bestrickende, so lang und schmerzlich entbehrte Parfum der
Hofluft hätte gar Manchen rasch bekehrt. Was von diesen Bekehrungen zu
erwarten gewesen wäre, braucht der nationalen Partei nicht erst gesagt zu
werden; diese kann vor der Hand damit zufrieden sein, daß die auf ihren
Gütern grollenden Ritter sich selbst unschädlich gemacht haben.
Gerade, daß bisher eigentlich nur die in jeder Richtung unabhängigen
Leute, der eigentliche Kern der Bevölkerung, die Träger der nationalen Idee
in der Stadt Hannover waren, während das leicht bestimmbare Proletariat
völlig in den Händen der Welfenagitatoren sich befand, — das gibt der Feier
ihre specifische Bedeutung, ihren Werth, denn auch die böswilligste Ver¬
leumdung kann hier nicht davon reden, daß polizeiliche Einwirkung den Jubel
des Volks hervorgerufen habe. Von den Besten der Bürger ging die Feier
aus und hingerissen von der siegreichen Macht der in de°r Gestalt des Königs
verkörperten nationalen Idee betheiligten sich an ihr die Anfangs wider¬
strebenden Classen des Volks.
Bisher ruhte die Sache der Bildung unseres Volkes auf dem Lande wie
größtentheils in den Städten in den Händen der Geistlichkeit. Seine ganze Er¬
ziehung war auf Gehorsam gegen diese angelegt.' Von Kindesbeinen an lehrte
man es in kirchlichen Gebräuchen und Ceremonien, Aufzügen und Festen die
wahre Gottesverehrung und sein Seelenheil, nebenbei auch sein Ergötzen zu
suchen; damit hing zusammen, das dem Volk die Träger dieser Handlungen
wie Geschöpfe höherer Ordnung erschienen, dazu bestimmt, den Verkehr zwischen
Himmel und Erde zu vermitteln. Bei der Abgeschlossenheit unserer Berge
und Thäler, der geringen Berührung, in die selbst die Städtebewohner mit'
dem Auslande kamen, dem Zustande unserer Volksschulen und der Unter¬
stützung, die der Clerus bei der Regierung fand, hielt es nicht schwer, das
Volk in so beschränkten Anschauungen zu erziehen. Für die Leute, die dem
Catechismus und den Christenlehren entwächst» waren, halfen die Predigten,
der Beichtstuhl und die mündliche Unterweisung nach, hatten sie doch alle
den Zweck, die Herrschaft der Diener der Kirche bei Jung und Alt, Arm
und Reich aufrecht zu erhalten und zu befestigen.
Das neue Schulgesetz ist der erste Versuch, die Erziehung des Volkes auf
eine rationelle Grundlage zu stellen, vorerst freilich nur ein Versuch und
zwar einer, dessen Gelingen von Umständen abhängen wird. Zunächst darf
nicht übersehen werden, daß das neue Gesetz den Clerus an der gewohnten
Art des Vortrags der Religionslehre auf keine Weise stört, dieser somit bei
der alten, bequemen Form beharren kann und zweifelsohne auch beharren
wird. Die von anderer Seite gestellten Anforderungen, die Wünsche für eine
gründliche Behandlung der übrigen Lehrgegenstände, können sich aber nur
allmälig und langsam Bahn brechen. Gute Schullehrer, die das moralische
Gefühl und das Denkvermögen der Jugend zu wecken verstehen, müssen ganz
neu gebildet werden. Nebenher thun insgeheim und öffentlich wohlge¬
meinte Lehren bereits das Ihrige, um den Aeltern das gründlichste Mißtrauen
gegen die neue Schulordnung und ihre Vertreter einzuflößen. Die tiroler
Kanzeln sind neuerdings überhaupt mehr die Tummelplätze für die politische
Agitation als Stätten evangelischer Belehrung gewesen. Dies verdanken wir
insbesondere den jüngeren Geistlichen, die ihre theologischen Curse in der
Sturm- und Drangperiode unmittelbar vor und nach dem Jahre 1848, oder
noch später durchmachten, und bei weitem einseitiger, verblendeter und fana¬
tischer sind als diejenigen Priester, die der josephinischen Zeit näher standen.
Daß es so kam und kommen mußte, dazu trugen hauptsächlich die Trennung
der theologischen Facultät von der Universität, die Erziehung der angehenden
Theologen in bischöflichen Seminarien oder im Jesuitenconvicte zu Innsbruck
und die Gründung einer eigenen jesuitischen Lehranstalt bei.
Der Gewinn mit der Universität vereinigter theologischer Facultäten
liegt bekanntlich in der Möglichkeit allseitiger Ausbildung für die künftigen
Geistlichen und braucht darum nicht besonders nachgewiesen zu werden; ist
sie für den katholischen Geistlichen doch außerdem die einzige Zeit im Leben,
in der derselbe Gelegenheit zum Verkehr mit dem Laienelement und wissen-
schastlichen Lehrern hat. Freilich setzt dies entsprechende Lehrer, freie Bahn
für das Studium und Befreiung der Theologie von der Zwangsjacke der
Jesuiten voraus, lauter Bedingungen, die bei uns in Tirol nicht zu treffen.
Besonders schädlich für jede freiere geistige Bildung sind aber die bischöflichen
Seminarien. In Betreff unseres Trienter Seminars brauchen wir nur an
den traurigen Zustand der Verkommenheit zu erinnern, in dem sich das
Studium der Theologie in Italien überhaupt befindet, und die Anstalt in
Trient hat von jeher ihren Stolz darin gesetzt, sich von ihren südlichen
Schwestern möglichst wenig zu unterscheiden. Mit dem 16. Jahrhundert,
eigentlich dem bekannten Concil, das von jener Stadt seinen Namen trägt,
ist für diese Anstalt die Grenze alles Wissenswerthen geschlossen. Es lernen
die heranwachsenden Seelenhirten, die noch dazu in Wälschtirol außer dem
Messelesen häufig gar keine bestimmte Beschäftigung haben, bei magerer
Kost, strenger Clausur und geistestödtenden Vorträgen nur den bescheidenen
Inhalt der Hefte, aus denen ihnen selbst noch der Schule bedürftige Leh¬
rer vorlesen. Und, damit die jungen Leute ja nicht durch unheiligen Vorwitz
zu überflüssigem Nachdenken verleitet werden, schneidet man ihnen bei jeder
auftauchenden Streitfrage alles weitere Eingehen, namentlich jede Rücksicht
auf die Einwände der (natürlich in Finsterniß versunkenen) Protestanten kurz
mit der Erklärung ab, daß das Dogma hierüber anders entschieden habe. In
*der theologischen Studienanstalt zu Brixen also außerhalb Wälschtirols,
steht es nicht viel besser. Das Bibelstudium wird z. B. ohne Rücksicht auf
das betrieben, was Kritik, Exegese, Sprachenkunde und Archäologie der
letzten zwei Jahrhunderte ans Licht gefördert haben, I'arömmv avcluz noi,
erklärte Pius IX. betreffs der Herstellung des Textes für die unter seinen
Auspicien veranstaltete Ausgabe der vaticanischen Handschrift im stolzen Ver¬
trauen aus seine Jesuiten, und der Erfolg bewies, wie sehr diese ihrer Sache
gewiß sind. Daß Kirchengeschichte und Kirchenrecht in usuw DelMm zu¬
geschnitten und bearbeitet werden, brauchen wir nach dem vorhin Angedeu¬
teten wohl kaum näher auszuführen, für Dogmatik und Moral bürgen schon
die voetoi'68 Zraves, nach denen sie „traäirt" werden. Mit dieser einseitigen
und verkrüppelten Bildung tritt nun der junge Geistliche seinen Beruf an.
Liebe zur Wissenschaft hat er nicht eingesogen, denn Alles war darauf be¬
rechnet, ihm den Geschmack an geistiger Kost überhaupt gründlich zu verleiden.
Wenn er das Messelesen, Brevierbeten, Beichthören und Predigen hinreichend
erlernt hat, und namentlich in Letzterem dem Bauernvolke genügt, besitzt er
jede ihm zur Erfüllung seines Berufes nöthige Fähigkeit.
Von der theologischen Facultät in Innsbruck wollen wir blos erwähnen,
daß ihre Lehrer nach dem Ministerialerlaß vom 7. November 18S7 aus¬
schließlich dem Jesuitenorden angehören, und daß von ihnen außer dem je¬
suitischen Dvctorgrade keinerlei wie immer geartete Bürgschaft für ihre ge¬
lehrte Bildung gefordert wird. Diese Lehrer werden von dem Vorsteher der
Ordensprovinz angestellt und entlassen, der academische Senat übt auf ihre
Ernennung nicht den geringsten Einfluß, sondern hat die jesuitischen vootores
ohne Weiteres als Professoren der theologischen Facultät anzuerkennen, so¬
bald sie ihm als solche namhaft gemacht werden. Localdirector der Anstalt
ist der jeweilige Rector des Jesuitencollegiums zu Innsbruck, den Decan
bestellt der Provinzvorsteher. Einrichtungen dieser Art sind selbst in Oest¬
reich nur unter dem Ministerium Leo Thun möglich gewesen; sie bestehen
aber noch gegenwärtig, und wenn man nicht wüßte, was die Jesuiten über¬
haupt unter Gottesgelahrtheit verstehen, dürfte schon die eine Thatsache darüber
Ausklärung geben, daß für Vorlesungen über Dogmatik im ersten Curse
neun, in den drei übrigen aber je zehn Stunden wöchentlich bestimmt sind,
alle übrigen Fächer mithin auf ein Minimum reducirt erscheinen. Diese An¬
stalt zählte zu Anfang des gegenwärtigen Schuljahrs 202 Schüler, wovon
106 im Jesuitenconvicte wohnten.
So steht es um die Erziehung und Bildung der Männer, die als Lehrer
unseres Volkes, als dessen Seelenfreunde und Rathgeber an den Pforten
seiner Schule Wache halten, damit kein anderer, als der geläuterte Geist ihres
werkhetligen Christenthums Einlaß finde. Der sogenannte Schullehrer, der
auf dem Lande für den Unterricht im Winter häufig nur 30 bis 40 Gulden
Papiergeld erhält, ist dadurch auf das Gnadenbrod angewiesen, das er als
Meßner (Küster) und Organist aus den Händen jener Geistlichen erhält, die
ihn mit Späheraugen auf Schritt und Tritt verfolgen. Wehe ihm, wenn
er etwa zu einem ihrer Widersacher hinneigt, denn an Leuten, die an dem
Umfang des geistlichen Einflusses Anstoß nehmen, fehlt es in Tirol auch im
ärmsten Thale nicht. Verkehr mit Personen dieser Art wird als sittlicher
Makel angesehen und das Uebrige versteht sich von selbst. — „Das wird alles
anders werden" — meinen unsere Staatsmänner, „wenn nur erst das neue
Schulgesetz in volle Wirksamkeit getreten ist. Die Lehrer werden künftig
bleibend vom Staate angestellt, können dann nur in Folge von Disciplinar-
untersuchungen ihrer Stellen entsetzt werden, sie beziehen Jahrgehalte, mit
denen sie auch den örtlichen Verhältnissen gemäß ihre Familien erhalten können
und was die Hauptsache ist, sie müssen sich während eines vierjährigen Unter¬
richts eine bessere Bildung aneignen, als die, welche ihnen bisher grundsätz¬
lich zugemessen war, damit sie bei Leibe nicht mehr wüßten, als die be¬
scheidenen Geistlichen. Dazu kommen noch die Lehrerprüfung und zwei Probe¬
jahre." Trotz alle- und alledem wird aber die Erziehung des Volkes nicht
fortschreiten, so lange nicht in die Geistlichen selbst ein besserer Geist fährt. ^
In katholischen Ländern und namentlich in dem von der Außenwelt so gut
wie abgeschnittenen Tirol, ist der Einfluß des Clerus auf die ländliche Be¬
völkerung zu maßgebend, als daß eine gedeihliche Entwickelung der geistigen
Anlagen und Kräfte festen Grund fassen könnte, so lange nicht auch der Geist¬
liche dazu beiträgt, richtigere Vorstellungen von der Aufgabe des Menschen
und dem Ziel seines irdischen Daseins, als dies bisher der Fall war, zu
verbreiten, wenn nicht auch der Clerus Tirols sich aus dem Sumpfe seiner
gegenwärtigen Verkommenheit erhebt. Dazu aber sind nothwendig: die Ab¬
schaffung der geistlichen Knabeninstitute an den Gymnasien, die Aufhebung
der bischöflichen Seminarien zu Trient und Brixen, sowie der Jesuitenfacultät
und des Convictes in Innsbruck, endlich die Besetzung der theologischen Lehr¬
anstalt mit dazu vom Staate berufenen, den Standpunkt der modernen Wissen¬
schaft währenden Professoren. An die angehenden Geistlichen ist aber vor
Empfang der Weihen die Anforderung zu stellen, daß sie sich durch eine
strenge Prüfung nicht nur über die erworbenen theologischen Kenntnisse,
sondern auch namentlich über ihre allgemeine Bildung ausweisen- Selbst¬
verständlich ist hierbei mit allem und jedem gründlich aufzuräumen, was an
die sogenannte „freie katholische Universität" der Dr. Buß und Genossen
erinnern könnte. Wir begreifen wohl, daß der gegenwärtige östreichische
Unterrichtsminister zu Wünschen solcher Art lächelnd die Achsel zucken wird,
verzweifeln aber dennoch nicht daran, daß sie endlich in Ausführung kommen.
Vielleicht sind es eben die erbittertsten Feinde des Fortschritts, die Wortführer
in Rom, die in ihrer Verblendung und Herrschsucht zur schnelleren Be¬
seitigung der ägyptischen Finsterniß helfen, als es allmälige Reformen ver¬
möchten, und die schließlich auch in Oestreich (wie es bereits im westlichen
Deutschland geschah), zu Protesten gegen das uns in Aussicht gestellte Dogma
von der Unfehlbarkeit des Papstes und seiner Jesuiten drängen werden. Zerfalle
einmal jener morsche, mittelalterliche Bau, dann sproßt wohl auch der Keim
neuen Lebens aus den Ruinen.
Mittelst eines an das Finanzministerium gerichteten großherzoglichen
Rescripts vom 16. November 1867 wurde die Vererbpachtung der gesammten
im Großherzoglich Mecklenburg-Schwerinschen Domanium belegenen Bauer¬
hufen — ca. 4000 an der Zahl mit einem Gesammtareal von etwa 28
iH Meilen — verfügt. Wäre nicht schon in jenem Rescript als nächster
Zweck dieser Maßregel die Schaffung eines unabhängigen Bauernstandes be¬
zeichnet worden, so hätte über deren wesentlich politische Bedeutung doch kein
Zweifel mehr bleiben können, als wenige Tage darauf (19. Novbr. 1867) bei
Eröffnung des Sternberger Landtags die großherzoglichen Commissarien sich
veranlaßt fanden, dieser Maßregel im engsten Zusammenhange mit dem Hin¬
weis auf die durch Constituirung des norddeutschen Bundes unabweislich
nothwendig gewordenen Umgestaltung wesentlicher Bestimmungen der mecklen¬
burgischen Verfassung — zu erwähnen. Das Domanium ist bekanntlich der aus¬
schließlichen Gesetzgebungsgewalt des Großherzogs unterworfen, ohne daß die
Stände ein Recht hätten, sich in die Angelegenheiten desselben zu mischen.
Wenn der Großherzog gleichwohl Veranlassung nahm, die Aufmerksamkeit des ver¬
sammelten Landtags auf eine so tief in die domanialen Verhältnisse eingreifende
Maßregel zu lenken, indem er gleichzeitig an die nicht minder tief in die
Verhältnisse des ganzen Landes eingreifenden Consequenzen der Bundes¬
verfassung erinnern ließ, so ist schon von vorn herein der Gedanke nahe ge-
legt, daß damit ein politischer Effect beabsichtigt wurde. Und in der That!
wenn nicht alle Anzeichen trügen, will die Regierung sich in dem durch die
Vererbpachtung heranzubildenden Bauernstande einen Factor schaffen, der
einerseits bestimmt ist, eine „Fortbildung" der Landesverfassung möglich
zu machen, durch welche man die immer dringender auftretende Forderung
einer Verfassungsreform zu erledigen hofft, der andererseits aber auch geeignet
ist. dem wankenden Bau der landesgrundgesetzlichen Institutionen neuen Halt
zu geben.
Da wir es hier nicht mit der wirthschaftlichen, sondern mit der politi¬
schen Seite dieser Sache zu thun haben, beschränken wir uns darauf, aus
dem Inhalt der in Rede stehenden Maßregel anzuführen, daß den Bauern
die Hufen bis zu einer gewissen Größe (18,000 mecklenb. in Ruthen) unent¬
geltlich, der etwaige Arealüberschuß aber gegen Zahlung eines Erbstands-
geldes überlassen werden soll; daß sie die Grundherrschaft für die Ueberlassung
der herrschaftlichen Inventarien, sowie für die auf die Hufen verwandten
Saat- und Ackerbestellungskosten entschädigen, bei Hufen von einer gewissen
Größe an auch einen mit deren Umfang wachsenden aliquoten Theil des Ver¬
sicherungswerthes der Gebäude bezahlen und endlich einen jährlichen Geld¬
canon entrichten sollen, in der Weise, daß der capitalisirte Werth desselben
in das Hypothekenbuch zu erster Priorität eingetragen und von den Erb¬
pächtern jährlich mit 4 Proc. verzinst wird.
Die Einzelheiten dieser Bedingungen sind von den Bauern selbst und von
gewichtigen für dieselben in die Schranken getretenen Autoritäten mannigfach
bemängelt, und namentlich ist es als eine unbillige Härte bezeichnet worden,
daß den Bauern nur die Alternative gestellt sei, sich entweder den für die
Vererbpachtung aufgestellten Bedingungen zu unterwerfen, oder ihre Hufen
zu räumen.
Jnstruiren wir uns. ehe wir weiter gehen, über die Geschichte der neuen
Verordnung. Als im Jahre 1860 die landständische Verfassung wiederherge¬
stellt war, leitete die Regierung alsobald. um ihr bei Publication des Freien-
walder Schiedsgerichts gegebenes Versprechen einzulösen, mit den Deputirten
der reactivirten Stände „commissarisch — deputatische" Verhandlungen ein,
die aber, wie vorauszusehen, völlig resultatlos verliefen. Unter andern wurde
gegen die von den großherzoglichen Commissarien angeregte Frage, ob es sich
nicht empfehlen dürste, dem Bauernstande eine selbständige Betheiligung an
den ständischen Befugnissen zuzugestehen, von den ständischen Deputirten
— mit Recht — eingewandt, daß es der Zeit keinen Bauernstand in Mecklen¬
burg gebe, daß also die angeregte Frage mindestens zur Zeit auf sich be¬
ruhen müsse").
*) In dem über jene Verhandlungen geführten Dicirium heißt es unter dem 4. Oktober
1851: „Von Seiten des schwcrinischen Herrn Commissarius werden die Regierungsintentionen
rückstcbtlich des zu bildenden dritten Standes ausführlich entwickelt.
Er soll aus dem erblichen kleinen Grundbesitz des Domanii. der Ritterschaft und der
Städte, der seil längerer Zeit, namentlich im Domanio außerordentlich an Umfang gewonnen,
gebildet werden, und zwar, hinsichtlich seiner äußern Organisation, nach Analogie der com-
rnissarischen Propvsition rückstchttich der Ritterschaft (— Beschränkung der Zahl der auf dem
Landtage erscheinenden Mitglieder der Ritterschaft durch Wahl —), da eine Bildung von
Gemeinden aus diesen Grundbesitzern bei der Zerrissenheit ihres Besitzes nicht «dunkles.
Unter den Gründen für die Bildung und Hinzufügung des dritten Standes wird von
Seiten des Commissarius besonders Gewicht darauf gelegt, daß man darin den Weg sehe,
auf dem eine ständische Vertretung des ganzen Landes angebahnt werden könne.
Die Ansicht der ständischen Herren Deputirten spricht sich übereinstimmend dahin aus,
daß zur Zeit noch nicht die nothwendigen Voraussetzungen zur Entstellung eines dritten Stan¬
des vorhanden seien „und daß die Stellung der kleinen Grundbesitzer zur Regierung einer
gänzlichen Aenderung bedürfe, ehe dieselben zur Standschaft zugelassen werden könnten."
Und in einer besondern Erklärung der Ritterschaft vom 9. Oktober 1851 beißt es über diesen
Punkt: „Was endlich die proponirte Bildung eines dritten > Standes betrifft, so halten wir
dafür, daß einem solchen das Recht der Standschaft nicht zu versagen sein wird, sobald er
wirklich vorhanden ist. Wir glauben aber nicht, daß dies jetzt der Fall sei, und fanden wir
namentlich bei denjenigen Landeseinwohrnen, welche als die etwa einen solchen Stand bilden'
Seitdem scheint die Regierung mehr und mehr ihr Augenmerk auf die
Schaffung eines Bauernstandes concentrirt zu haben, zunächst für das Do-
manium. Schon im Jahre 1865 wurde eine Gemeindeordnung für die Do-
manialortschaften publicirt, um den zu schaffenden ländlichen Gemeinden
einen Grad politischer Selbständigkeit zu gewähren, die völlig mit den bisher
befolgten Principien der Bevormundung und Centralisation brach. Aber den
Ausführung derselben blieb einstweilen suspendirt, und sie soll es bleiben, bis
die Vererbpachtung durchgeführt ist. Dann freilich, wenn dies geschehen und die
beabsichtigte Gemeindeordnung ins Leben tritt, dürften, — vorausgesetzt, daß
die Vererbpachtung in einer den materiellen Interessen der Bauern genügende
Rechnung tragenden Weise geschieht — alle Vorbedingungen gegeben sein,
unter den neuen Erbpächtern, um deren Hufe sich die Gemeinden zusammen¬
schließen sollen, bald eine Art Standesbewußtsein zu wecken, und der so ge¬
bildete Bauernstand dürfte bald die Spuren seiner künstlich hervorgerufenen
Bildung mehr und mehr verwischen.
Die Vertreter eines solchen Standes gedenkt die Regierung neben denen
der Ritter- und Landschaft in die reorganisirte Ständeversammlung zu führen,
und glaubt damit genug gethan zu haben, die Forderung von Tausenden und
aber Tausenden, die Forderung des Landes nach einer Verfassungsresorm zu
erledigen. Und schwerlich wird sie darauf warten, bis der Bauernstand zur
wirklichen Entwickelung gediehen ist. Es wird ihr genügen, die Stände auf
die durch die jetzigen Maßregeln geschaffenen Anfänge zu verweisen, um von
ihnen das Zugeständnis zu erlangen, daß auch den Bauern bei fortschreiten¬
der Entwickelung ihrer Verhältnisse Sitz und Stimme auf den Landtagen
eingeräumt werden soll; gleichzeitig wird sie dahin streben, die Ritterschaft
zu veranlassen, sich durch Deputirte aus ihrer Mitte vertreten zu lassen, und
die Landschaft, den Bürgern neben den Deputirten der Magistrate eine Bank
im Ständesaal einzuräumen, und — die Entwickelung und Fortbildung der
Verfassung wäre vollendet, das ständische Princip gewahrt und das Laud
— mit einer erneuerten Auflage des landesgrundgesetzlichen Erbvergleichs
beglückt.
Es liegt kein Grund vor, anzunehmen, daß die Regierung dieses in
den Glieder bezeichnet find, die allerwesentlichsten Requisiten nicht, welche einen Stand als
solchen kennzeichnen.
Wir neben zu. daß die Entstehung eines dritten Standes vielleicht schon jetzt in manchen
Ausbildungen der Verhältnisse als in Zukunft bevorstehend angedeutet sein mag. und daß
solche Ausbildung nicht übersehen, vielmehr durch die aus ander» Rücksichten empfohlenen
Maßregeln zur Fixirung des Grundbesitzes, zur Förderung lebendigen Gemeinwesens und zur
Heranbildung selbständiger Obrigkeiten in richtige Bahnen gelenkt werden müsse, doch erscheint
es uns weder rathsam. noch möglich, vorweg durch die Gesetzgebung einen Stand zu creiren,
der noch nicht in Wirklichkeit naturwüchsig vorhanden ist."
wesentlich gleichen Zügen vor 18 Jahren entwickelte Reforinproject beträchtlich
umgestalten sollte, wenn sie über kurz oder lang nicht umhin können wird,
den Ständen ein solches vorzulegen. »
Gerade der Umstand, daß die Regierung solch großes Gewicht dar¬
auf legt, durch die Vererbpachtung der Domanial-Bauerhufen einen neuen
Stand zu schaffen, scheint uns bedenklich für die Verwirklichung der Hoff¬
nungen Derer, die von der Regierung eine Verfassungsreform im modernen
Sinn erwarten. Man hat viel Aufhebens gemacht von einem Toast, den
der Großherzog am 24. April d. I. nach der Enthüllung des Standbildes
Friedrich Franzs I. zu Ludwigslust ausbrachte und den er, von bevorstehenden
Verfassungsreformen sprechend, mit den Worten schloß, wer dazu nicht mit¬
wirken wolle, der möge abtreten von der Mitwirkung an den Geschicken des
Landes. Aber der Großherzog fügte hinzu, daß er keinen der um ihn ver¬
sammelten Getreuen auf dem eingeschlagenen Wege zu verlieren hoffe; eine
solche Hoffnung aber ist nur begründet, so lange statt von einer „Reform" von
der „Entwickelung und Fortbildung der bestehenden Verhältnisse" die Rede ist,
wenn gleichzeitig „fremde Muster" mit Hand und Fuß abgewehrt werden, und
wenn an dem „mecklenburgischen Boden" festgehalten wird. Daß dieser Boden
kein anderer ist, als der der landesgesetzlichen Institutionen, und daß auf die¬
sem kein gesundes Versasfungsleben gedeihen wird, das versteht sich von selbst.
Wenn der Bauerstand, dem wir sonst alles Gedeihen gönnen, lediglich
herangezogen werden soll, um die ständische Verfassung stützen und ausbauen
zu helfen: dann verliert die Vererbpachtungsmaßregel die Bedeutung einer
größeren, auf politische Wirkungen im Innern berechneten Reform.
Aber wir verzweifeln darum noch nicht. Wir erwarten vielmehr, daß
diese Ruine zusammenstürzen wird, sobald man an ihr überhaupt zu rütteln
beginnt. Der Tag des Zusammentreffens der neugebackenen Bauern mit den
Häuptern der alten Stände wird auf alle Fälle ein erschütternder Moment
sein und Erschütterungen kann der Erbvergleich nicht mehr vertragen.
Sofern die Regierung mit ihren Bauern in der angedeuteten Richtung
politische Pläne verfolgt, kann die Vererbpachtung der Bauerhufen vom Lande
noch nicht als politischer Fortschritt begrüßt werden, es sei denn, daß dieser
sich mit der Hoffnung zu beruhigen vermöchte, daß diese Pläne nicht zu dem
Ziele führen werden, auf welches sie gerichtet sind.
Aus einem anderen Gesichtspunkte betrachtet, bietet uns die Vererb¬
pachtung der Bauerhufen dagegen auch in ihren politischen Consequenzen ein
erfreuliches Bild, und dieses wollen wir der Vollständigkeit und des Con-
trastes wegen jenen Plänen gegenüberstellen.
Die Durchführung der Bererbpachtung im ganzen Domanium soll die
Vorlciuserin bilden für die Einführung der oben erwähnten Gemeindeordnung,
Bisher existirte in Mecklenburg der Begriff ländlicher Gemeinden in politi¬
scher Beziehung nicht. Es gab nur Kirchen- und Schulgemeinden. Alle
übrigen, in anderen Staaten der Communalverwaltung zugewiesenen An¬
gelegenheiten wurden im Domanium von den ca. vierzig großherzoglichen
Domanialämtern aus geleitet; die Centralisation ging so weit, daß der
Bauer kaum einen Graden zu ziehen oder aufzuräumen wagte, ohne des-
fallsige amtliche Genehmigung und Instruction — und im ritterschaftlichen
Gebiet, wo jeder Ritter auf seiner Burg wie ein kleiner Fürst über das
Wohl und Wehe seiner Hintersassen entscheidet, kann von einer Gemeinde¬
bildung natürlich erst recht keine Rede sein.
Das soll — zunächst im Domanium — anders werden. Die Gemeinde»
ordnung vom 31. Juli 1865 führt das Princip ver Decentralisation mit
wirklicher Consequenz durch, und wenn sie auch hier und da noch Spuren
der Gewöhnung an administrative Bevormundung zeigt, so müssen diese doch
verschwinden, mindestens zurücktreten gegen die Fülle der den projectirten
Gemeinden in Aussicht gestellten Selbstverwaltungsbefugnisse. Einem Kri¬
tiker jener Gemeindeordnung, der sich offen zur feudalen Partei bekannte,
schmeckten die aufgestellten Principien derselben so stark nach constitutionellen
Tendenzen, daß er die Befürchtung aussprach, der dadurch ins Land gebrachte
konstitutionelle Sauerteig dürfte leicht den ganzen Teig durchsäuern.
Die Durchführung dieser Gemeindeordnung ist seit einer Reihe von
Jahren geplant, in einzelnen Aemtern bereits durch die Einführung der auf dem
gleichen Princip der Decentralisation beruhenden Ortschaftsarmenpflege vor¬
bereitet worden. Die betreffenden Ortschaften sind aus dem Arntsarmen-
verbande ausgeschieden, und leisten ihre Beiträge nicht mehr an die Central-
armencasse des Amtsbezirks, sondern repartiren unter sich die zur Unterstützung
der Hülfsbedürftigen nöthigen Beiträge"). Wenn auch die Armenpflege die
nächste Aufgabe der Gemeinde sein sollte, so ist sie doch mit anderen, auf die
gemeinsame Förderung von Interessen nicht bedürftiger Gemeindeglieder ge¬
richteten Zielen zu eng verbunden, als daß diese auf die Dauer ausgeschlossen
werden könnten. Das ist auch die Meinung der Regierung. Die vollständige
Organisation der Dorfgemeinden, an deren Spitze ein engerer Schulzenrath steht,
der in der Verwaltung durch einen aus freien Wahlen hervorgegangenen weiteren
Gemeinderath unterstützt werden soll, ist von der Regierung ausdrücklich von
der vorgängigen Durchführung der Vererbpachtung abhängig gemacht worden.
Daß diese Bedingung nothwendig erschien, wird erklärlich, sobald man
einen Blick auf die bisherige Lage der unter lebenslänglicher Vormundschaft
von Beamten stehenden Bauern wirft. Wie deren Verhältnisse einmal sind,
konnte man die Bauern aus der administrativen Bevormundung nicht ent¬
lassen, ohne den ganzen Verwaltungsmechanismus von Grund aus zu refor-
miren. Da Bevormundete nicht zu Verwaltern der Gemeinde taugten, mußte
man also, um diese zu schaffen, die Curatel aufheben und sich damit zur Re¬
organisation der gesammten Domanialverwaltung verstehen. Dann lag es
nahe, gleich einen Schritt weiter zu gehen und die Bauern nicht nur zur
freien Bewirtschaftung ihrer Hufen zuzulassen, sondern sie dies auch auf
eigenen Gewinn und Verlust thun zu lassen, d. h. sie zu erblichen Besitzern
derselben zu machen, zumal man dadurch zugleich den oben entwickelten
weitergehenden Plan förderte. Und so entschloß man sich, die Vererbpachtung
und die Organisation der Landgemeinden in das Verhältniß gegenseitiger
Ergänzung zu setzen, sodaß die Durchführung der einen nicht ohne vorgängige
Durchführung der andern Maßregel möglich war.
In diesem Sinn und um dieser Consequenzen willen ist die Einführung
der Erbpacht eine Maßregel von unleugbar politischer Bedeutung, ein wirk¬
licher Fortschritt für unser gesäumtes öffentliches Leben. Und da nur die
Gemeinden zur rechten Blüthe gelangen können, deren Mitglieder so gestellt
sind, daß der Einzelne eine Stütze des Ganzen zu bilden vermag, müssen wir
die Forderung stellen, daß den Bauern solche Bedingungen für die Vererb¬
pachtung gestellt werden, unter denen sie dazu gelangen können, auf eigenen
Füßen zu stehen. Was die ursprünglichen Vererbpachtungsbedingungen hieran
fehlen ließen, ist ihnen in manchen Stücken nachträglich zu Theil geworden
und das Fehlende wird der Bauernstand sich noch zu erringen wissen, theils
durch energische Vorstellungen abzuändern, theils durch fleißige Ausnutzung
der ihnen bereits gebotenen Vortheile.
Die Erbpächter als Mitglieder freier, selbständiger Dorfgemeinden be¬
grüßen wir als eine willkommene Erscheinung — aus diesen Gemeiden sehen
wir den in das Programm der Regierung ausgenommenen unabhängigen,
kräftigen Bauernstand hervorgehen. Wird ihnen aber durch dieses Programm
zugleich die undankbare Aufgabe zugewiesen, den L-G.-G.-E-V. aufrecht zu
erhalten und dessen Lücken zu ergänzen, so ist diese Freude keine reine, so er¬
scheint die ganze Sache in wesentlich verändertem Licht. Wir glauben indessen,
daß noch ehe der Bauernstand genugsam gekräftigt ist, um von Ritter- und
und Landschaft als ebenbürtig oder doch gleichberechtigt anerkannt zu werden,
Ritter- und Landschaft längst unter den Trümmern des landesgrundgesetz-
lichen Verfassungsbaues begraben sein werden. Der Bundesrath hat es frei¬
lich abgelehnt, den Ständen den Todesstoß zu geben und die letzte Hand
an diese Ruine zu legen, deren Hallen noch wiedertönen vom Jubel der Feudalen,
die triumphirend herabblicken auf das vergebliche Gebahren der 6000 Peten-
ten. Glauben sie sich doch geborgen, so lange der norddeutsche Bund, der
ihre Rechte anerkannt hat. überhaupt besteht. Aber nachhaltiger, als ein ent.
gegengesetzter Beschluß des Bundcsraths hätte wirken können, wirkt im Ver¬
borgenen, und seit der helle Tag durch unsere Breschen und Mauerlücken
scheint, nicht mehr blos im Verborgenen der Zahn der Zeit, dessen die poli¬
tische Nothwendigkeit sich überall siegesgewiß bedient, wo kein anderes
Mittel verfangen will.
Man versuche es nur, den Bauernstand in Reih und Glied neben
Ritter- und Landschaft aufmarschiren, und diese Trias Front machen zu lassen
an der mecklenburgischen Grenze. Gibt es kein anderes Mittel, den Kampf
des ständischen mit dem konstitutionellen Princip fortzuführen, als den beiden
Ständen der Ritter- und Landschaft den dritten der Bauern zuzugefellen,
so dürfte es auch von ihm bald heißen: rs3 aä triarios reäiit. Der aus
constitutionell organisirten Gemeinden hervorgegangene Bauernstand dürfte
einen gefährlichen Bundesgenossen abgeben. Hinter dem Rücken der Streiter
wird aus dem in die Gemeinden gelegten konstitutionellen Senfkorn der ge¬
furchtste Constitutonalismus selbst erwachsen, und den streitenden Kämpfern die
Rückkehr in den Sternberger und Malchiner Ständesaal streitig zu machen.
Die zu Mitgliedern jener Gemeinden gewordenen Bauern werden unmöglich
daran Geschmack finden, zugleich Mitglieder einer ständischen Versammlung
zu sein und zugleich an den Wahlen zu dem constitutionellen Reichstag
Theil zu nehmen. Als die mecklenburgische Regierung ihre auf das kon¬
stitutionelle Princip gegründete aber scheinbar für weitere politische Kreise
ungefährlich gemachte Gemeindeordnung im Entwurf publicirte. hatte sie
nicht geahnt, daß dasselbe Princip bald auch von außen hereinbrechen und
die ständischen Institutionen in ein vernichtendes Kreuzfeuer bringen werde.
Wenn die Negierung auch noch jetzt die „unteren Kreise der Gesellschaft"
nach diesem „fremden Muster" auszubilden fortfährt und energisch mit Ver>
erbpachtung der Bauerhufen vorgeht, um dadurch zur Durchführung der Ge¬
meindeordnung zu gelangen, sehen wir sie dann nicht auf einem Wege, der
desto schneller und sicherer zu dem vom Lande ersehnten Ziele führen wird?
Der norddeutsche Bund arbeitet unaufhaltsam von obenher am Abbruch der
Schranken, die dem Zeitgeiste den Eingang in den mecklenburgischen Patrimo-
nialstaat wehren, die modern organisirten Gemeinden werden von unten deren
Fundamente untergraben. Indem so Beide einander in die Hände arbeiten,
werden sie sich bald begegnen auf dem Punkt, da kein Raum mehr ist, das
ständische Princip zu wahren.
Geschichte Wallenstein's von Leopold v, Ranke. Leipzig, Duncker und Humblot.
1869 gr. 8. IX. u. 532 Seiten.
Von den Persönlichkeiten, welche uns die Geschichte des dreißigjährigen
Krieges vor Augen stellt, ist Wallenstein zwar nicht die bedeutendste und
liebenswürdigste — denn diese Auszeichnung kann nur Gustav Adolf zuer¬
kannt werden — wohl aber bei seiner räthselhaften Natur der interessanteste
Charakter. Schon seine Zeitgenossen hat er so verschiedenartig erregt, bald
zur Bewunderung und Liebe, bald zur Furcht und zum Haß, und keinem ist
so vieles anvertraut, keinem so arg mißtraut worden, wie dem Herzog von
Friedland. In den die unbeholfene Geschichtsschreibung des 17. und 18. Jahr¬
hunderts bestimmenden zum Theil officiellen Relationen und Beurtheilungen,
die nach seinem Tode erschienen, war er einfach der ehrgeizige Emporkömm¬
ling, der als Rebell gegen seinen Kaiser gerichtet worden war. Stille Sym¬
pathien für ihn regten sich höchstens noch hier und da nach dunkeler Tradi¬
tion in Böhmen. Gleich mir der Entwickelung einer eleganten deutschen Ge¬
schichtschreibung zu Ende des vorigen Jahrhunderts wurde Wallenstein durch
die nach den damals bekannten Quellen ziemlich getreue geistvolle Darstellung
Schillers in seinem dreißigjährigen Kriege, sowie durch die poetische Um¬
bildung des Charakters des Helden in dem berühmten Drama in größeren
Kreisen populär. Dann folgte seine einseitige Verherrlichung durch Förster, von
dem nur noch die urkundlichen Mittheilungen von Werth sind. Damals machten
der unhistorische Liberalismus der Zeit und die berechtigte Antipathie gegen
Ferdinands II. spanisch-katholische Tendenzen Förster auf einige Zeit zu einer
historischen Autorität. Die Reaction konnte nicht ausbleiben, theils die be¬
rechtigte in der Eröffnung einer Menge der wichtigsten unbekannten Quellen
aus den Archiven von München, Wien, Dresden, Brüssel :c., wodurch
Förster in den meisten seiner Behauptungen auf eine für den Herzog sehr
bedenkliche Weise widerlegt wurde, theils die einseitige parteiische, deren Ver¬
treter in katholische loyalem Eifer befangen und fanatisch für die historische
Vernichtung Wallensteins eintraten, wie Arelim und Hurter. Allmälig trat
die leidenschaftliche Beurtheilung mehr zurück, das historische Urtheil klärte
sich ab. Man erkannte von einem höheren historischen Standpunkte aus
des Herzogs Begabung, die Bedeutung und Berechtigung mancher seiner In¬
tentionen an, betrachtete aber seinen Untergang als die Folge seiner Schuld,
weil er unter dem Scheine höherer Interessen herzlos immer nur für sich
gearbeitet und weder genügend klug noch genügend kräftig nach dem Ziele
seines Ehrgeizes gestrebt habe, welches zu erreichen die Geschicke dem besonders
begabten Abenteurer sonst wohl vergönnt, wenn er ein nutzbares Werkzeug für
ihre höheren Zwecke wird. Dies waren ungefähr die Anschauungen des
modernen historischen Bewußtseins, die sich auf viele zerstreute Notizen, auf
Mittheilungen, die von entgegengesetzten Standpunkten ausgegeben worden
waren,, stützten. Wie schwer war es für die, welche von einem solchen Stand¬
punkte aus neue Aufklärungen brachten, unbefangen zu bleiben und wenn
sie dies auch waren, wie schwer nach allen Richtungen hin umzuschauen und
durch die Prüfung und das Verständniß aller dieser oft sich widerstrebenden
Mittheilungen über Wallenstein zu einer möglichst objectiven Anschauung zu
gelangen. — Daß nun der Meister der modernen deutschen Geschichtsforschung
und historischen Kunst, der mehr als irgend einer mit dem Geist und der
Bewegung der Geschichte des 16. und 17. Jahrhunderts vertraut ist, sich
entschlossen hat, diese noch unerledigte Aufgabe zu lösen und, was seither zur
Geschichte Wallensteins veröffentlicht worden ist. in einer ausführlichen Bio¬
graphie des Herzogs zu einem geiht- und lebensvollen Bilde zusammenzufassen
— das muß als eines der erfreulichsten Ereignisse für die deutsche Historio¬
graphie betrachtet werden.
Was die Thatsachen betrifft, so gibt Ranke, der neben selbständiger
Ausbeute und fruchtbarer kritischer Controle früher gemachter archiva-
lischer Forschungen das bereits veröffentlichte urkundliche Material und
die vorhandene Literatur mit seinem weiten und scharfen Blicke umfassend
benutzt' hat, nichts wesentlich Neues. Aber die BeHandlungsweise ist durch-
weg original. Denn abgesehen von der, manche wichtige Momente aufklären¬
den scharfen Kritik tritt uns hier der Charakter Wallensteins im Großen und
Ganzen, die feine psychologische Entwickelung seiner Tendenzen, seine durch
die Verhältnisse gebotene Politik in einem meisterhaften die Zeit und ihre Ver¬
treter oft wunderbar beleuchtenden Bilde vor Augen. Dabei wird er zu¬
gleich der Theilnahme viel näher gerückt, das Rohe und Gehässige in seinem
Charakter wird nicht verschwiegen, aber doch sehr gemildert, sein ganzes
Streben großartiger dargestellt, als es seither betrachtet wurde; überall, wo
die Gegner anklagen, tritt Ranke mit außerordentlichem Scharfsinn als Ver¬
theidiger auf, indem er, was Wallenstein bei seinen Unternehmungen beab¬
sichtigen konnte oder theilweise wollte, als sein unverrücktes Ziel darstellt
und das geschichtliche Recht des gewaltigeren Geistes gegen die beschränkter
Berechtigten geltend macht. Und wer wollte als echter Historiker nicht ein
solches Recht anerkennen, wie es in bewegten Zeiten z. B. Moritz von
Sachsen, Richelieu, Cromwell, Napoleon vertrat. Aber zweierlei ist noth-
wendig, wenn eine solche sympathische Betrachtung für die endgültige Be¬
urtheilung einer historischen Persönlichkeit maßgebend sein soll. Zunächst ein
dem Fortschritt gewidmetes, wirklich heilsame Bahnen brechendes Streben des
Mannes, das mit den Gewaltthätigkeiten seines Wirkens versöhnt. Und
dann die kluge Energie, welche das Unternehmen trotz der größten Hinder¬
nisse glücklich zu Ende führt. Beides ist bei Wallenstein problematisch: der
Verfasser gibt das selbst vielfach zu und so bleibt denn blos die Bewunde¬
rung der auf Zeit einflußreichen Wirksamkeit eines hochstrebenden Politikers
übrig, der seinen Gegnern geistig überlegen sich viel vornimmt, manches
energisch durchsetzt, aber im Interesse einer späteren höheren 'Entwickt-lung
durch kleinere aber mit der realen Macht der Verhältnisse vertrautere Gegner
fallen muß. Wunderbar klar und geistvoll, wenn auch den Vertretern der
seither bestehenden NeichsvertMtnisse nicht ganz gerecht werdend, entwickelt
Ranke zunächst, wie Wallenstein die universale Autorität des Kaisertums
zugleich mit seiner eigenen eminenten Stellung durchzusetzen suchte, allerdings
nicht mit dem die Protestanten zur Verzweiflung treibenden Nestitutions-
edicte, auf welchem seine beschränkten katholischen Gegner bestanden. Darüber
verlor er das Commando — doch wohl zum Glück. Denn wie hätte er auch
als Sieger die Gewalt des Fanatismus hindern und uns ein spanisch-habs-
burgisches Dvminat ersparen können. Ranke selber schwärmt natürlich nicht
für die kaiserlichen Tendenzen, im Gegentheil freut er sich des welthistori¬
schen Moments der Abwehr der Stralsunder und des Eingreifens Gustav
Adolfs zur Rettung des deutschen Geistes. Demnach darf er sich nicht
wundern, wenn auch unter seinen Verehrern des Herzogs an und sür sich
großartige Politik nicht überall mit der Theilnahme betrachtet werden wird,
welche er ihr in seinem mit Künstlerhand entworfenen Bilde widmet. Ebenso
ist es später, als Wallenstein nach kurzen Anwandlungen, im Bunde mit
dem König von Schweden sein Heil zu suchen, wiederum für den Kaiser
auftrat. Wo man seither ein vom Ehrgeiz motivirtes Schwanken der aller¬
dings kühnen Intentionen, rohe Verletzung von Freund und Feind nach
wechselnden Stimmungen, Ueberschätzung des eigenen Vermögens und Unter¬
schätzung der Macht der Gegner sah. da entwirft Ranke ein geistvolles Bild
der überall wohl zusammenhängenden, zwar durch die wechselnden Verhält¬
nisse bedingten aber consequenten und großartigen Politik des Herzogs,
welcher mit Anerkennung der Rechte beider Confessionen das deutsche Reich
gegen den Kaiser und die spanisch-clericale Faction ebenso wie gegen Franzosen
und Schweden habe zur Ruhe bringen wollen. So hätte das deutsche Reich
regenerirt. der weitere Krieg den Deutschen erspart, der fremde Einfluß ab¬
gewehrt werden können. Auch hier könnte man wohl meinen, es sei gut
gewesen, daß es nicht so gekommen, es gäbe sonst keine preußisch-deutsche
Geschichte. — Und wenn selbst zugegeben werden mag, daß der Herzog in
dieser Periode immer nur einen solchen Frieden als Polarstern seines potiti-
schen Wirkens vor Augen haben konnte, so weist doch Ranke selbst öfters
auf die Schwäche seiner Mittel und auf Mißgriffe seines Verfahrens, sowie
auf die Berechtigung seiner beschränkten Gegner hin, mit deren An¬
sprüchen nach Wallensteins Untergang ja auch die Geschichte gründlich auf¬
geräumt hat.
Immerhin aber wird Ranke's Buch, wenn auch die Vertheidigung des
Herzogs eine problematische bleibt, als die interessanteste und lehrreichste
Arbeit über Wallenstein, sowie als der großartigste und geistreichste Beitrag
zur Geschichte des dreißigjährigen Krieges, den unsere Literatur aufzuweisen
hat, betrachtet werden. Denn der Krieg während Wallensteins Theilnahme
wird uns hier im großen Stile mit Hervorhebung aller die großen Wande¬
lungen bedingenden Momente vor Augen geführt, alle bedeutenderen Be¬
gebenheiten und Charaktere werden von dem höchsten Standpunkt allgemeiner
Betrachtung mit freiem und warmem Sinne für die fortschreitende Entwicke¬
lung der Menschheit in lebendigen Bildern und mit treffenden Urtheilen ge¬
schildert, wie in keinem anderen Buche der Geschichte jener Zeit. Referent
verweist beispielweise auf die Schilderungen Mansselds, Christians von Däne¬
mark und Gustav Adolfs, dessen gedrängte Charakteristik nach den Worten
des Verfassers hier zum Schluß beigefügt werden soll mit dem dort folgenden
Gegenbilde des Herzogs, welches fast im Gegensatz zu der Sympathie des
Verstandes, mit welcher Ranke dessen Politik in den zwei verschiedenen Pe¬
rioden vor Gustav Adolfs Auftreten und nach dessen Tode schildert, — doch
deutlich kund gibt, sür wen in dieser Zeit Ranke's Herz schlägt.
„Für Gustav Adolf", sagt Ranke S. 268, „war der evangelische Name
Alles; er stritt für das Bestehen des Protestantismus mit vollem Herzen.
Er hatte denselben zum Princip seiner Heerführung gemacht; er selbst gehörte
ihm mit freudigem und sichern Bekenntniß an, heiter von Natur, durch und
durch populär, ein Mann der deutschen Bürgerschaften, die ihn mit Freuden
selbst als ihren Herrn begrüßt hätten. Die Verehrung, die man ihm zollte,
war ihm fast zu stark. Dagegen konnte dem Friedländer nie genug Ver¬
ehrung erwiesen werden. Man wußte nicht, ob er der Religion, die er be¬
kannte, wirklich ergeben sei: man sagte, er glaube mehr an die Gestirne, die
sein Astrolog befrage: manche meinten, er glaube auch daran nicht. Bet ihm
war alles bedachter Plan, umfassende Combination, ein immer höher strebender
Ehrgeiz. Wenn auch der König ein weiteres Ziel verfolgte, so trat doch das
vor den freien populären Impulsen zurück, denen er jeden Augenblick Raum
gab. Wallenstein war ein podagrischer Strateg; der König ein General von
rüstiger Beweglichkeit; er hatte eine lebendige, kriegsmännische Ader. Wallen¬
stein wollte die Formen des Reichs erhalten mit möglichster Schonung des
Protestantismus; Gustav Adolf sie durchbrechen mit voller Feststellung des
Bekenntnisses. Niemand verließ sich auf Wallenstein: zu Gustav Adolf
hatte Jedermann Vertrauen."
Zum Bau einer Eisenbahn im vereinigten Königreiche müssen die Unter¬
nehmer im Besitze einer Parlamentsacte sein, die beide Häuser passirt und die
königliche Genehmigung gerade so erlangt hat wie Maßregeln, welche Staats¬
angelegenheiten betreffen. Keines von beiden Häusern gibt einer Eisen¬
bahnbill seine Zustimmung, bis es sich überzeugt hat, daß die projectirte
Linie dem Gemeinwohls dienlich sei und daß der privaten Interessen durch
sie etwa zugefügte Nachtheil durch die Größe des öffentlichen Vortheils auf¬
gewogen werden wird, und jedes Haus schreibt gewisse, in der Hauptsache
gleiche Bedingungen vor, die erfüllt sein müssen, ehe es eine Eisenbahnvor¬
lage überhaupt berücksichtigt. Diese aus den Schutz des Gemeinwohls zielen¬
den Bedingungen sind dargelegt in den LtanÄinZ oräers L^s-Iavs, Geschäfts¬
ordnungen beider Häuser, und alle Petenten einer Eisenbahnbill müssen nach¬
weisen, daß ihr Antrag diesen LtanäinA oräsi-K entspricht, wenn sie nicht jede
Chance, die nachgesuchte Concession zu erlangen, verlieren wollen. Die Conces¬
sionssuchenden haben eine lange Reihe von Bedingungen zu erfüllen. Erstens
müssen sie im Monat October oder November eine Bekanntmachung veröffent¬
lichen, welche die Absicht, die Concession zum Bau ihrer Bahn zu erlangen,
kundgibt und eine Beschreibung von dem Laufe der Bahn, sowie die Namen der
Land - und Stadtgemeinden enthält, welche zu passiren sind, und zwar ein
Mal durch die London, Edinburgh oder Dublin Gazette, je nachdem die
Linie in England, Schottland oder Irland liegen soll, ferner in den drei
folgenden Wochen durch eine Zeitung der Stadt oder der Gegend , wo die
zu expropriirenden Ländereien gelegen sind, und endlich durch irgend eine
Londoner Zeitung. Diese Bekanntmachungen werden nie vor dem letzten
gesetzlich zulässigen Termine erlassen, da die Petenten fürchten, daß ein Con-
currenzproject auftreten könne, wenn sie ihre Absichten zu früh kundgeben.
An oder vor dem 3V. November müssen sie bei einem in der LtÄväinA oräsrs
bezeichneten Beamten jedes Bezirks in Zuxlo einen Bauplan einreichen, be¬
gleitet von einem book ok rekörsueö, d. h. einem Verzeichniß mit den Namen
der Eigenthümer und Besitzer aller von ihnen in Anspruch genommenen Län¬
dereien und Häuser nebst Profilen und Duplicaten, und einer autorisirten
Karte im Maßstab von wenigstens einem halben Zoll per uns, auf welcher
die Bahnlinie so genau eingetragen ist, daß man ihren Lauf und ihre Rich¬
tung verfolgen kann. Dieselben Pläne, Karten und Profile müssen sie zu
gleicher Zeit den Beamten der beiden Häuser des Parlaments und des Han-
delsamtes einreichen und Copien derselben ebenfalls vor dem 30. November
den resp. Gemeindebeamten. Die Pläne :c. liegen sodann zur Einsicht des
Publicums auf. Wenn beabsichtigt wird, in einer Stadt fünfzehn oder mehr
Häuser zu expropriiren, welche Personen der arbeitenden Classe angehören,
so verlangt das Haus der Lords eine genaue Bezeichnung aller interessir.
ten Personen, und daß vor dem 15. December im Bureau des Hauses
nachgewiesen werde, daß in der Bill Vorsorge für eine Schadloshaltung
wegen dieses Nachtheils getroffen ist. Beide Häuser verlangen, daß die
Unternehmer sich vor dem Is. December an die Eigenthümer und Besitzer
der zu expropriirenden Häuser und Ländereien wenden, mit der Anfrage, ob sie
mit der projectirten Linie einverstanden sind oder nicht, und daß sie dieselben
mit dem Wege bekanntmachen, auf welchem sie ihre etwaige Opposition gegen
die Bill bei dem Parlamente vorbringen können. An oder vor dem 31. De¬
cember müssen in den Parlamentsbureaus Listen niedergelegt werden, welche
den Nachweis liefern, wie viele von diesen einverstanden sind, wie viele oppo-
niren, wie viele sich neutral verhalten und wie viele sich gar nicht erklären.
An oder vor dem 17. December (Lords), beziehungsweise dem 23. December
(Gemeine) muß ebendaselbst eine Petition um die Bill eingereicht werden,
nebst Copie und gedruckten Exemplaren zum Gebrauche der einzelnen Mit-
glieder. Zur- selben Zeit ist eine Copie der Bill im Bureau des Handels¬
amtes einzureichen.
Ferner ist an oder vor dem 31. December bei den Häusern ein Kosten¬
anschlag des Unternehmens einzureichen, der in vorgeschriebener Form auf.
zustellen ist und die Kosten des Landerwerbs von den Baukosten der Linie,
des Bahnkörpers und der Starionen unterscheidet. Endlich die letzte, aber
eine der wichtigsten Instanzen in diesem Präliminarprozesse: vor dem 15. Ja-
nuar muß eine Summe von wenigstens acht Procent des veranschlagten An¬
lagecapitals in der Bank von England zu Gunsten eines in den genannten
Orders bezeichneten Beamten deponict werden. Das Geld kann nach Wahl
der Deponenden in Consols oder Schatzkammerbills angelegt werden, oder
man kann bis zu dem erforderlichen Betrage Consols überschreiben lassen
oder Schatzkammerbills deponiren. Eine in der letzten Session vom Hause
der Lords beliebte Aenderung der Geschäftsordnung verlangt, daß die Per-
sonen, in deren Namen das Depositum gemacht wird, zugleich Theilhaber
des Unternehmens seien, und daß so dem früher herrschenden System ein
Ende gemacht werde, wonach das Depositum von Banquiers und Geldleihern
entlehnt wurde, die an dem Project nicht das mindeste Interesse hatten.
Wenn das Project von einer bestehenden Gesellschaft ausgeht welche das ver¬
gangene Jahr eine Dividende von ihrem Stammactieneapital gezahlt hat
so bedarf es eines derartigen Depositums nicht.
Am 18. Januar beginnen die Lxammers ot' Ltanäing oräers, Beamte,
die im Hause der Gemeinen vom Sprecher, im Hause der Lords von der
Versammlung selbst ernannt werden, mit der Untersuchung darüber, ob die
Bedingungen der Geschäftsordnung erfüllt sind. Wenn sie berichten, daß die¬
selben nicht erfüllt sind, so fällt die Bill durch, es sei denn, daß das Haus
eine Suspension dieser Orders für den besonderen Fall beschließen sollte, ein
sehr selten und nur bei Nichterfüllung völlig unwichtiger Punkte ein¬
geschlagener Weg. Beim Beginn der Session treten der Vorsitzende des
Lommittöö ok Ws^s ana Usans des Unterhauses, der zugleich dem Hause
präsidire, wenn dasselbe in Comite! geht und wenn der Sprecher krank ist,
und der Comite'vorsitzende des Oberhauses zusammen und bestimmen, in wel¬
chem Hause die betreffende Bill zuerst zur Verhandlung kommen soll. Die
große Mehrzahl wird zuerst im Unterhause verhandelt und durch dieses wollen
wir einer solchen Bill folgen.
Zuerst prüft, ob opponire wird oder nicht, der Vorsitzende des genannten
Lommittes unter Zuziehung vom Adjuncten des Sprechers, welcher die
Aufmerksamkeit des Hauses auf jeden Punct in der Bill von einiger Wichtig¬
keit zu lenken hat. Jede Bill, welche die Bedingungen der LtimäwA orciers
erfüllt hat, erlangt selbstverständlich (g. sa matter ok course) die erste und fast
regelmäßig ebenfalls selbstverständlich die zweite Lesung. Zuweilen jedoch wird
schon in diesem Stadium opponire. und wenn die Bill bei der zweiten Lesung
fällt, so ist sie summarisch abgethan und ihre Urheber haben Arbeit und Kosten
umsonst angewandt. Die Bill geht, wenn sie passirt?, alsdann an die üetöregs
(Schiedsmänner), eine neue Institution, welche der special-Commission einen
Theil der früher auf ihr lastenden Arbeiten abgenommen hat. Die üötersvg
sind Personen von bewährter Erfahrung in den Privatangelegenheiten betreffen¬
den Geschäften des Hauses, welche der Sprecher gewöhnlich aus der Zahl
der Parlamentsmitglieder ernennt und die ein Honorar beziehen. Ihnen
Präsidiren andere Mitglieder des Hauses, die keine Bezahlung empfangen.
Drei KetsröLS bilden einen Hof. Sie müssen auf das technische Detail des
Unternehmens eingehen, die Ausführbarkeit der proponirten Werke prüfen
und sich überzeugen, ob der Anschlag zu ihrer Ausführung hinreicht. Die
Verhandlungen vor den liskeiess sind stets contradictorisch. Sofort nach
der zweiten Lesung werden die nicht durchgefallenen Bills dem Vorsitzenden
und einem andern Mitgliede des vommittsö ok ^Vi^s ava Recens zugesandt.
Die Opponenten bemühen sich, durch Gutachten von Technikern zu beweisen,
daß die projectirten Werke in irgend einer Hinsicht fehlerhaft seien und mehr
kosten würden, als der Anschlag festsetzt, und durch die Aussage von Tara-,
loren und anderen mit den zu expropriirenden Ländereien bekannten Per¬
sonen darzuthun, daß die im Anschlag sür die Expropriation ausgeworfene
Summe nicht hoch genug sei. Wenn die KskörsW berichten, daß der An¬
schlag ungenügend oder das Project in technischer Beziehung nicht wohl
ausführbar sei, so sällt die Bill, es sei denn, daß das Haus für den besonderen
Fall einen entgegengesetzten Beschluß faßt. Wenn jenem ihren Gunsten berichten,
so geht sie mit Bericht an eine Specialcommission, und der eigentliche Kampf
beginnt. Wenn Petenten und Opponenten einig sind, können die Köterees den
ganzen Inhalt der Bill prüfen; das ist aber selten der Fall. — Die Special¬
commission besteht aus vier, weder persönlich noch örtlich durch ihre Wähler
interessirten Mitgliedern des Hauses. Der Vorsitzende derselben hat eine
Stimme als Mitglied und «is Vorsitzender eine verwerfende Stimme. Er
wird gewählt durch den ständigen Ausschuß für Eisenbahn - und Canalvor-
lagen, bestehend aus den in Eisenbahnangelegenheiten kundigsten Männern
des Hauses aus deren eigener Mitte; die drei anderen Mitglieder werden aus
dem Gremium des Hauses erwählt und Jeder, der nicht Befreiung bean¬
spruchen kann, weil er über 60 Jahre alt oder zur Regierung gehört, ist
verpflichtet, die Wahl anzunehmen. Diese Pflicht ist keine leichte. Jeder
Commission wird eine Gruppe von Vorlagen übergeben, welche zwei oder
drei concurrirende Projecte umfaßt, und ihre Arbeiten nehmen bisweilen zwei
oder drei Monate Zeit in Anspruch. Sie arbeiten von 11 Uhr Morgens bis
4 Uhr Nachmittags, um 4 Uhr beginnen die Plenarsitzungen, und so hat
ein Commissionsmitglied oft 14 Arbeitsstunden täglich, ohne eine Geldent¬
schädigung dafür zu bekommen. Der Bericht der Reksreos ist endgültig, so
weit das Technische und der Anschlag dabei in Betracht kommen, und da¬
durch ist die Commission einer Arbeit ledig geworden, welche viel Zeit in
Anspruch zu nehmen pflegte. Hinsichtlich verschiedener Concurrenzprojeete,
besteht ihre Aufgabe darin, zu entscheiden, welches dem Publicum die beste
Verkehrserleichterung gewährt, in der Gegend, deren Interessen es dienen
soll, die meiste Unterstützung gefunden hat. Eigenthumsinteressen am wenig,
sten verletzt und am sparsamsten ausgeführt werden kann. Hinsichtlich des
Verhältnisses zwischen Petenten und opponirenden Eigenthümern hat die
Commission zu entscheiden, ob ein öffentlicher Nutzen nachgewiesen ist. welcher
groß genug scheint, um die Benachtheiligung derjenigen zu rechtfertigen,
deren Eigenthum ganz oder theilweise erpropriirt werden soll, und ob der
zu erwartende Nachtheil der Artist, daß eine Geldentschädigung, wie sie auf
dem Wege eines Entschädigungsprocesses zugebilligt wird, als genügend an¬
gesehen werden kann. Von jeder Partei werden Advocaten hinzugezogen-
Die Eisenbahngesellschaft wird durch etwa drei oder vier vertreten, von denen der
erste ein enormes Honorar bezieht während alle reichlich bezahlt werden. Tech¬
niker, welche ansehnliche Besoldung erhalten, auch eine Menge anderer Sachver¬
ständigen werden zugezogen, und nachdem alle Parteien ihre Sache verfochten
haben und der Anwalt der Antragsteller gehört ist, gibt die Commission ihre
Entscheidung ab. Wenn sie erklärt, daß die Vorbedingungen nicht nach¬
gewiesen seien, fällt die Bill, und ihre Petenten habe eine Masse Geld um¬
sonst ausgegeben. Wenn sie erklärt, daß die Vorbedingungen nachgewiesen
seien (ddo pröÄmdls is provsä), so zieht sie die einzelnen Bestimmungen in
Erwägung und legt für diese specielle Linie specielle Bedingungen auf, welche auf
den Schutz von Interessen abzielen, deren Berücksichtigung sich durch die Ver¬
handlungen als wünschenswerth herausgestellt hat und besondere Erleichterungen
zum gemeinen Besten gewähren sollen. Diese Bedingungen werden oft von
den Antragstellern zugestanden, um den Rückzug der Opposition zu ver¬
anlassen; fernere Bedingungen, den Leg-mains ol-cierf entnommen, werden
allen Bills zugesetzt, z. B. daß keine Gesellschaft autorisire ist. mehr als
ein Dritttheil ihres Anlagecapitals auf dem Wege der Anleihe zu beschaffen,
oder auch nur das Geringste von der gestatteten Anleihe zu effectuiren, ehe
50 Procent des ganzen Capitals baar eingezahlt sind, oder vorher Zinsen aus
dem Capitale zu bezahlen — Einschränkungen, die oft nicht eingehalten werden.
In jenen Orders stehen ferner Bestimmungen gegen das Kreuzen öffentlicher
Straßen auf der Ebene; man zwingt die Gesellschaften in der Regel, die
Straße mit einem Tunnel zu unterbauen oder mit einer Brücke zu über¬
schreiten; Eisenbahngesellschaften dürfen nicht zugleich Eigenthümer von Docks
oder Dampfbooten sein, wenn nicht die Commission ausdrücklich die Erlaub¬
niß dazu beantragt. Die Commission fixirt ferner die Abgaben und das
Maximum des Tarifs für die projectirte Linie und die Termine, bis zu welchen
der Bau begonnen und beendet werden muß.
Wenn die Bill die Commission passirr hat, geht sie wieder zurück an
das Plenum und für das eine Haus sind ihre Wehen in der Regel vorüber.
Zuweilen wird noch bei der dritten Lesung erfolgreich opponire. Diese Oppo¬
sition aber, wie auch die gegen die zweite Lesung und jede im Parlamente
selbst nicht vor den lisköregs oder der Commission sich erhebende, stützt sich
wenigstens in den meisten Fällen auf öffentliche, nicht auf private Motive.
Die Bill geht nun weiter ans Oberhaus, wo sie fast ganz denselben
Proceß durchzumachen hat. Es muß nachgewiesen werden, daß die Be¬
dingungen der LttmäinA orclers erfüllt sind, und in gewissen Fällen muß
eine besondere Versammlung der Actieninhaber die Vorlage nochmals be¬
stätigen, nachdem dieselbe das eine Haus passirt hat und nunmehr die Ver¬
handlung in dem anderen erwartet. Im Oberhause gibt es keine RLtsrees
und die Specialcommmiffion, die aus fünf Peers besteht, prüft das Tech¬
nische und den Anschlag selber. Zuweilen wird die im Unterhause erfolglos
gewesene Opposition hier erneuert, da sich keines der beiden Häuser auch nur
im geringsten durch den Beschluß des andern gebunden erachtet; in der Regel
aber ist die Opposition durch einen so kostbaren Kampf erschöpft und die
Bill nimmt mit ziemlicher Leichtigkeit ihren Weg durch das Oberhaus. Das
Hauptsächlichste, was die Antragsteller zu thun haben, ist, den Commissions¬
vorsitzenden des Oberhauses zu befriedigen, der in der That jede Bill nach
seinem Belieben verwerfen und nach seinem Gutdünken abändern kann.
Wenn sie alle diese Gefahren glücklich überstanden hat, erhält die Bill
die königliche Genehmigung und die Unternehmer haben weiter nichts zu
thun, als ihr Capital zu erheben, das Land und die Häuser, soweit sie dazu
berechtigt sind, zu erwerben — (wenn die Gesellschaft und die Eigenthümer sich
über den Preis nicht einigen können, so wird derselbe durch eine Jury fest¬
gesetzt) — und die zum Bau der Bahn erforderlichen Contracte abzuschließen.
Das erste ist das wichtigste Geschäft und verlangt manchmal eine Menge
Zeit. Die Eisenbahnen bezahlen in der Regel so geringe Procente auf ihr
Stammactiencapital, daß das Publicum mit Ausnahme der beim Bau der
betreffenden Linie interessirten Landeigenthümer keine Actien zeichnet. So
kommt die neue Bahn, ausgenommen wenn eine schon bestehende Gesellschaft
sie als Theil ihres Systems ausführt, in der Regel erst durch einen beson¬
deren Handel mit einem Unternehmer zu Stande. Dieser übernimmt den
Bau der Linie für eine gewisse, natürlich nicht sehr niedrige Summe und
nimmt als Zahlung den gesammten Betrag oder den größten Theil der
Actien an, die er zum höchsten Preise, den er erlangen kann, wieder los¬
schlägt. Für den Schaden, der ihm aus etwaigem Verkaufe unter pari er¬
wächst, ist er durch die übermäßig hohe Bausumme gedeckt, die er sich be¬
rechnet. Das Geld' für die Parlamentsgebühren und für den Ankauf der
Ländereien wird durch solche Actien aufgebracht, welche das Publicum aus
erster Hand nimmt, oder durch Anleihen. Bisweilen verpflichtet sich der Unter¬
nehmer, die Bahn zu dem Preise des Parlamentsanschlages herzustellen und
alle Gebühren zu bezahlen, und garantirt eine Verzinsung der Actien wäh¬
rend der Bauzeit und noch einige Jahre später — ein oft erfolgreicher
Köder, aber eine Uebertretung gegen den Geist der Parlamentarischen Vorsorge.
Ein Wort noch über die Kosten. Sie sind stets erheblich, in einigen
Fällen, wo große Gesellschaften um die Concession zu Vervollständigungs¬
linien nachsuchen, enorm hoch. Da gibt es zuerst die vorläufigen Ver¬
messungen, die Aufmachung der Pläne und Karten, die Bekanntmachungen,
dann kommen die Ausgaben in den beiden Häusern, ferner die Kosten des Ver¬
fahrens vor den KekereeL, welche so viel wie möglich reducirt, aber immer
noch groß genug sind. Jeder Partei ist nur ein Anwalt gestattet, dem ein
reiches Honorar bezahlt wird, vielleicht 100 Guineen in der ersten Instanz
und 15 Guineen für jeden Tag der Verhandlungen; ferner kommen in Be¬
tracht die Honorirung von Advocaten, Geometern, Journalisten, die beträcht¬
lichen Jnsertionskosten und manche andere derartige Ausgaben; die Techniker
erhalten für ihre Gutachten sehr reiche Bezahlung von 50 bis zu 300 Guineen
und dazu kommt eine ganze Schaar anderer Sachverständiger, die alle reich¬
lich bedacht werden müssen. Die Hauptkosten aber erwachsen vor der er¬
wählten Commission. Die Verhandlungen dauern etwa 40 oder 50 Tage;
eine Gesellschaft muß durch drei oder vier Anwälte vertreten sein, von denen
jeder den Tag 15 Guineen erhält, so lange die Verhandlungen dauern,
und außerdem ein sehr hohes Honorar, z. B. der erste Anwalt bisweilen
500 Guineen. Ferner müssen die Techniker und die anderen hinzugezogenen
Sachverständigen und eine Menge anderer Personen bezahlt werden, sodaß
sich manchmal die Kosten auf 100,000 Pfd. sert. belaufen, ehe noch eine Elle
der Bahn gebaut, ein Fuß Land exvropriirt ist. —
Der zweite Jahrgang des bereits in diesen Blättern besprochenen Werks: die
Anlage ist dieselbe geblieben. In sachgemäßer übersichtlicher Weise sind die Ereignisse
des Jahres 1868. deutsche und nichtdeutsche, zusammengestellt. Es ist eine fort¬
laufende Erzählung, frisch, bewegt, nicht in der objectiven Ruhe eigentlichen Geschichts¬
schreibung, die bei so unmittelbar nahestehenden Vorgängen nur eine affectirte sein
könnte, vielmehr mit der lebendigen Theilnahme, die der Deutsche an der forschreiten¬
den Entwickelung seines Vaterlandes nimmt. Denn die deutschen Ereignisse stehen
auch diesmal im Vordergrund des Interesses und sind mit besonderer Sorgfalt be¬
handelt; ebenso die wirthschaftliche Tätigkeit des norddeutschen Reichstags und der
Verlauf des ersten Zvllparlaments, wie die Verhältnisse der süddeutschen Staaten.
Insbesondere ist der Bewegung der öffentlichen Meinung in Süddeutschland ein großer
Raum gegönnt und z. B. die Agitation bei den Zollparlamentswahlen durch Wider¬
auffrischung der bemerkenswerthesten Actenstücke aus jener Zeit in verdienter, Weise
dem Urtheil der Geschichte überliefert. Es ist damit Süddeutschland von einem
Süddeutschen selbst ein scharfgcschliffener Spiegel vorgehalten, in welchen zu blicken
nicht eben erfreulich, aber um so heilsamer ist. Aus Anlaß der Veröffentlichung
der Usedomschen Note sind auch die diplomatischen Vorgänge des Jahres 1866
nach den bekannten Enthüllungen in den Kreis der Erzählung gezogen. Diese fort¬
laufende Revue, die zugleich bequem zum Nachschlagen eingerichtet ist, wird sich
gewiß ebenso abkürzen als der nach anderen Gesichtspuncten zusammengestellte Schult-
heß'sche Geschichtskalender.
Der Verfasser dieser Schrift, auch den Lesern dör. Bl. bekannt als wackerer
Kämpfer für protestantische Freiheit und als wohlbewanderter kritischer Bibelforscher,
hat in seinen kirchlich-Praktischen Bestrebungen, um die es sich hier allein handelt,
einen sehr richtigen und sicheren Weg eingeschlagen. Er hat in seiner nächsten
Umgebung, in Sachsen, den Uebelstand aufzufinden gesucht, der die unsrer gegen¬
wärtigen Bildung und der protestantischen Idee entsprechende Entwickelung des kirch¬
lichen Lebens am meisten aufhält/ und erkannte als solchen Uebelstand mit treffendem
Blicke den sogenannten „Neligionseid", welchen noch bis Vor Kurzem sämmtliche
Lehrer an evangelisch-lutherischen Schulen, mit alleiniger Ausnahme der Lehrer
mechanischer Fertigkeiten, zu leisten hatten, und mit welchem noch heute — nach
wenig unterschiedenen Formularen — alle Geistlichen und Religionslehrer sowie
Cullusministerial- und Consistorialbeamte bis zu den Secretären einhebt., endlich
auch die vier „in eos-nZölieis beauftragten" Staatsminister, welche in Sachsen die
oberste Stufe des Kirchenregiments einnehmen, vereidigt werden. Wesentlich dem
Verdienste Krenkels, der sich anfangs begnügt hatte, gegen die Anwendung dieses
Eides auf die Lehrer rein weltlicher Gegenstände aufzutreten, ist es zu danken, daß
seit Ende 1867 diese Lehrer^ von solcher Verpflichtung befreit sind. Besonders
mußten die Philologen, Historiker, Physiker und Mathematiker der Gymnasien sich
durch jenes alte Erbstück aus den Zeiten des Kampfes gegen den Kryptocalvinis-
mus gar wunderlich berührt, zuweilen auch ernstlich beengt fühlen. Der glück¬
liche Erfolg nun berechtigte die Freunde wie die Gegner dieses Eides zu der sichern
Erwartung, daß dem ersten Angriffe wohl bald ein zweiter und stärkerer folgen
werde. Eine Bestreitung, welche Krenkels frühere s. Z. in den Grenzboten hervor¬
gehobene Schrift („der sächsische Religionseid", Leipzig 1867) durch or. Fricke er¬
fahren, (einen als Vermittelungstheologen bekannten und z. B. in der Abendmahls¬
praxis zur Zeit der preußischen Garnison durch Toleranz und unionsfreundliche Ge¬
sinnung rühmlich hervorgetretenen Prediger Leipzigs), — diese selbst gab dem Verfasser
Anlaß, in der vorliegenden Schrift, nachdem die Außenwerke gefallen, nun gegen
die Hauptbcfestigungen des alten sächsischen Lutherthums anzurennen.
Die Leser dieser Blätter werden schwerlich alle wissen, was die Geistlichen
Sachsens zu beschwören haben. Wir wollen deshalb wenigstens das Allgemeine
mittheilen, daß durch jenen Eid gelobt werden muß, bei der „in hiesigen Landen
angenommenen reinen Lehre der evangelisch-lutherischen Kirche, wie solche in der h.
Schrift enthalten und in den Bekenntnißschriften der lutherischen Kirche dargestellt,
beziehentlich wiederholt ist, beständig ohne Falsch zu verbleiben." (Wir haben in dieser
Wiedergabe die kleinen Verschiedenheiten der Formulare verwischt und uns unwesent¬
liche Kürzungen gestattet). Dr. Krenkel entrollt das geschichtliche Detail mit der
größten urkundlichen Genauigkeit und mit einer so gründlichen und freien Benutzung
des literarischen Apparats, daß er den geschultesten Theologen als ebenbürtiger Mit.
arbeiter erscheinen muß. Dabei ist feine Polemik von großer Würde, ernster Ein¬
fachheit und, wo sie streng werden muß, mit ächtem sittlichen Parhos geführt.
Auch dem Laien fällt bei jener Eidesformel sogleich auf, daß das Vorhandensein
einer „in sächsischen Landen angenommenen reinen Lehre" vorausgesetzt wird, von welcher
dann gesagt ist, daß sie in der H. Schrift und Bekenntnissen enthalten sei. Was heißt
„angenommen"? Es kann wohl eben nichts Anderes bedeuten als „anbefohlen", und
dies wieder heißt: „durch den Religionseid aufgenöthigt." Eben dieser Religionseid müßte
also erst angeben, welches jene reine Lehre sei. Aber statt dessen nennt er mit seinem
„wie solche" nur die Quellen, wo diese Lehre zu finden ist, und man kann deshalb
nicht umhin zu glauben, daß der Eid den gesammten Inhalt der h. Schrift
, Alten und Neuen Testaments, den gesammten Inhalt sämmtlicher in Sachsen
giltiger symbolischer Bücher (es sind dies mehr, als in andern lutherischen Ländern,
ja man weiß nicht einmal sicher, was alles dazu gehört: vgl. S. 158 ff.), gleich¬
mäßig für den Ausdruck jener reinen Lehre gehalten wissen wolle. Denn bedeu¬
tete etwa jenes „wie solche" nur „soweit als sie" (yuatenus), — dann könnte
Jeder aus den genannten Büchern sich etwas Beliebiges aussuchen und es für die
„reine Lehre" erklären. Und in'jenem strengen buchstäblichen Sinne ist der Eid
auch historisch entstanden, wie uns Dr. Krenkel genau nachweist. Außer dem hier
von uns hervorgehobenen Fehler deckt aber der Verf. mit einem fast ergötzlich wir¬
kenden Scharfsinn noch so viele Widersprüche und Zweideutigkeiten jener Formulare
auf, namentlich im Verhältnisse des Hauptsatzes zu weiteren Zusatzbestimmungen,
daß es auf keine Weise möglich sein dürfte, diese sächsische Eigenthümlichkeit zu
retten. Und doch ist sie erst im I. 1862 ausdrücklich — mit Veränderungen, die
nur zum geringen Theil Verbesserungen waren — erneuert worden! — Auch Prof.
Fricke wollte sie eigentlich nicht retten. Er hatte unsern Verf. vielmehr dahin be-
schieden, daß der Eid bestehen bleiben könne, weil „Jedermann wisse, daß derselbe
nur auf die Substanz oder auf den Geist der Bekenntnisse abgelegt werde".
Allerdings weist Krenkel nach (S. 65 ff.), daß selbst ein gefeierter hoch-lutherischer
Prediger (Dr. Ahlfeld in Leipzig) in mehreren nicht unwichtigen Puncten ohne es
zu wissen von den Bekenntnißschriften abgeht, und dasselbe ist in weit größerem
Maßstabe von den wissenschaftlichen Theologen Sachsens bekannt; aber eben so sicher
ist, daß der Wortlaut des Eides unsre studirende theologische Jugend leicht von
vornherein zu der Absicht treibt, auf die Uebereinstimmung mit den symbolischen
Büchern ooüts <mi eoüw loszustudiren, Andere aber, oft die Begabtesten und Ge¬
müthreichsten, erst ängstigt, dann dem theologischen Amte abwendet, und so ihre
Kräfte der Kirche raubt. Und eben so sicher ist es, wie dies Krenkel durch That¬
sachen bezeugen konnte, daß daS sächsische Kirchenrcgiment die Grenzlinie zwischen
der „Substanz" oder dem „Geiste" und allem Uebrigen entweder nach Bedürfniß
des einzelnen Falles beliebig zieht oder auch gänzlich tilgt: wie es denn mit
strengster Ablehnung verfuhr, als vor wenigen Jahren Dr. Sülze in Osnabrück,
um einem Rufe nach seinem Vaterlande Sachsen folgen zu können, nur das prote¬
stantische Recht freier Schriftauslegung forderte, mit dem Vorbehalf, dabei von den
Bekenntnißschristen abweichen zu dürfen. Auch Professor Ri eh in in Halle hat jenes
Eides wegen einen Ruf nach Leipzig ausgeschlagen. Warum sagte man in diesen
Fällen nicht, daß der Eid nur der „Substanz" gelte? Oder rechnete man so Vieles
zu dieser Substanz, daß der keineswegs auf der äußersten Linken stehende Hallesche
Theolog, der doch schon in Preußen verpflichtet worden, zuviel neue Verpflichtungen
hätten eingehen müssen? — Mit Recht schlägt Krenkel vor, an der Stelle deS
Eides mit seinen formulirten Versprechungen einfach eine feierliche Einweisung mit
allgemeiner moralischer Verpflichtung auf treue Amtsführung zu setzen.
Noch ist bemerkenswert!), daß der Verf. durch seinen Kampf gegen den säch¬
sischen Religionseid eine Pietätspflicht gegen seinen Lehrer, den Philosophen und Theo¬
logen Ch. H. Weiße, zu erfüllen bekennt, der diesen Kampf lange Zeit im Stillen,
besonders durch gänzlich fruchtlose directe Verhandlungen mit den kirchlichen Ober¬
behörden geführt hat. Weiße, der bei seinen Lebzeiten bei Weitem nicht allgemein
nach Verdienst gewürdigt und vielfach verkannt worden ist, hat nach gar mancher
Seite hin Bestrebungen in Gang gebracht und auf die rechte Bahn geleitet, von
welchen wir heute schon mit einiger Sicherheit sagen können, daß ihnen die Zukunft
gehört.
Bei der bisher herrschenden Stagnation des geistlichen Lebens und der völligen
Entfremdung des gebildeten Laienthums gegenüber der protestantischen Kirche in
Sachsen verdient es besondere Aufmerksamkeit, wenn Geistliche selbst den Freimuth
haben, sich der Bestrebungen zur Betheiligung der Gemeinde am kirchlichen Leben
öffentlich anzunehmen und dadurch im edelsten Sinne zur Säkularisation der lutheri¬
schen Kirche beitragen. Diesen Werth hat zunächst das hier vorliegende, aus den
Kreisen des Protestantenvereins hervorklingende tapfere Wort eines sächsischen Geist¬
lichen, das der in Sachsen zur Begutachtung der eben begonnenen Kirchenverfassungs-
refvrm zu berufenden Landessynode die wichtigsten Zielpunkte vorzeichnet. Neben
der Armenpflege und dem Rechte, Kirchenanlagen zu erheben, ist es besonders die
Wahl der Geistlichen, die der Verfasser im Sinne Luthers für die Gemeinden zurück¬
fordert. Kann es etwas Unnatürlicheres geben, als wenn, wie dies zur Zeit that¬
sächlich in Sachsen geschieht, hier ein auswärtiger Fürst, dort ein katholischer Guts¬
besitzer, das eine Mal ein Paar Frauen, das andere Mal ein fremdes Consistorium,
da der Domprobst des Hochstifts Meißen, hier die Aebtissin des Klosters Marien¬
stern für eine evangelische Gemeinde in Sachsen, dem Heimathlande der Reforma¬
tion, den Pfarrer auszuwählen haben? Wie diese Bevormundung durch Collatur-
und Privatpatronatsrechte — das Cultusministerium z. B. besetzt 388 Stellen! —
beseitigt werden muß, wenn selbstthätiges Leben in die Gemeinde kommen soll, so
erheischt auch das complicirte sechsstufige, sechsgliedrige Kirchenregiment (Super¬
intendent, Kircheninspection, Kreisdirection, Consistorium, Cultusministerium, in evan-
Zsliois beauftragte Minister) mit seinem bureaukratischen Zuge Vereinfachung und
Klärung, krüppelhafte Verhältnisse und mittelalterliche Zustände, die so leicht Nie¬
mand in Sachsen vermuthet. Mit der Wärme des Vertrauens, das dem gebildeten
Geistlichen so wohl ansteht, wie es selten gefunden wird, entwickelt der Verfasser
die Schäden und die Strebziele einer ersprießlichen Agitation zur geistlichen und
Gemeindefreiheit, durchdrungen von der Ueberzeugung, daß den Laien wie den prak¬
tischen Theologen durch die gleichen Mittel zu helfen ist. —
Die Briefe des Herzogs Carl August von Sachsen-Weimar, welche hier
nach den zu Carlsruhe befindlichen Originalen mitgetheilt werden, sind der
Mittheilung wohl würdig. Der Inhalt mehrerer ist von Bedeutung; alle er¬
weisen den frischen und originalen Geist dieses Fürsten.
Der dritte Brief ist ein Scherz, der das überaus herzliche Freundschafts¬
verhältniß Carl August's zu Carl Friedrich, dem so viel älteren Manne,
charakterisivt. Der fünfte ist in der von mir herausgegebenen Biographie
Carl Friedrich's*) bereits gedruckt. Es ist die Antwort des Herzogs auf
die Mittheilung eines Projekte« des Markgrafen, eine Art deutscher Academie
zu gründen**). Ich wollte ihn hier nicht weglassen, da er äußerst merk¬
würdige Anschauungen des Herzogs enthüllt. Die Briefe 7—10 stammen aus
einer bewegten und wichtigen Epoche, aus der jede Mittheilung der Ueber¬
lieferung werth ist. Der zehnte Brief bezieht sich auf die in ihren Einzel¬
heiten nicht näher festzustellenden Bemühungen Carl Friedrichs, gegen das An¬
dringen der Franzosen einen ausreichenden Widerstand des deutschen Reiches,
wie es scheint in Anlehnung an die Ideen des Fürstenbundes, zu organi-
siren. Bestrebungen, die freilich nach Lage >der Dinge, die auch dieser Brief
sehr anschaulich vor Augen führt, vergeblich bleiben mußten. Die übrigen
Briefe behandeln mehr nur persönliche Beziehungen der beiden Fürsten und
ihrer Familien. Die vielfach uneorrecte Schreibart der Originale ist im
Drucke beibehalten.
Weimar, den 19. März 1785.
Den Verlust, theurer Freund, welchen Sie erlitten haben*), habe ich
lebhaft mitempfunden und Ihren Schmerz darüber recht herzlich getheilt. Möge
doch das Schicksal die vielen Bemühungen, welche Sie Sich beständig geben,
Gutes zu thun, krönen und Sie dadurch belohnen, daß es Ihnen keine fo
lebhaften Wehthaten mehr zuschicke, sondern Ihre Wünsche erfülle und die¬
jenige Freude Sie an Ihren Kindern und Kindeskindern erleben lasse, welche
sich jeder rechtschaffene Vater erwartet. Ihnen möge der jüngst empfundene
Schmerz nicht niederschlagen, sondern das Schicksal stärke Sie, und Ihr guter
Genius lasse Sie dieses ertragen, wie Sie schon mehrere Leiden erduldet
haben, ohne zu sinken und zu wanken. Die guten Jahre und Gesundheit,
in welcher sich Ihre Kinder befinden, läßt hoffen, daß der Verlust rasch wie¬
der ersetzt werde; meine Wünsche gehen dahin, daß dieses bald geschehe und
daß Sie zum Danke für so viele Freude, welche Sie Ihren Nebenmenschen
verursachen, auch Freude einernten mögen. Der Vorrath der Zufriedenheit,
welchen der Himmel gewähren kann, ist groß. Ihnen möge viel und vieles
und eben das, was sich am besten auf ihren Zustand paßt, zu Theile werden.
Seckendorf ist gestern nach Franken abgereist*"), er hat kein Creditif für
Ew. Durchlaucht, wenn sich aber die Umstände und Verhältnisse nähern (?)
sollten, so ist er berechtiget, sich ein solches geben zu lassen.
Edelsheim straft mich mit Stillschweigen.
Leben Sie wohl, sehr lieber und sehr hochgeschätzter Freund, behalten
Sie mich lieb, ich will es verdienen, indem ich mich den Guten, so sehr es
meine Erkennungs- und Annäherungskraft zuläßt, nähern will.
Darmstadt, den 6. Juny 1785.
Werthester Freund! Der G. R. v. Edelsheim, den ich vergeblich hier
erwartet habe, schrieb mir heute, daß er zu Ihnen nach Coblenz reifere, da
er mir aber vorher gesagt hatte, daß es Ihnen vielleicht nicht unangenehm seyn
würde, wenn wir uns unterwegs irgendwo sehn könnten, ich auch dieses sehr
wünschte, so will ich Ihnen folgenden Vorschlag thun.
Morgen reise ich von hier ab und halte mich in Moynz längstens bis zum
12ten oder 13ten auf, dann fahre ich zu Wasser nach Cölln und Düsseldorf;
in Cölln würde ich den 17ten oder 18ten gewiß seyn. Könnten nun Sie von
Mostrich") dorthin kommen, so träfe ich Sie dorten an und hätte das Ver¬
gnügen, in Ihrer Gesellschaft die Düsseldorfer Gallerie zu sehen. Im Gast-
Hof zum Wilden Mann steige ich in Cölln ab. Sollten Sie nicht dahin
kommen können, Sie wären aber noch zu dieser Zeit in Mastrich, so schicken
Sie einen Courier oder eine Estaffette nach Cölln, welche mich unter dem
Namen des Grafen von Henneberg treffen wird. Dann komme ich vielleicht
nach Mastrich. Ich hoffe, Sie sollen Ihren Herrn Sohn außer Gefahr an¬
getroffen haben. Ich thue die lebhaftesten Wünsche sür seine Genesung.
Leben Sie wohl, sehr werther Freund.
Vinarias XVIII. val. 5ni. UVMI.XXXVI.
LergnisÄms -Mus eelsiKsiwe vomine! Untier weg. g.eauekg,ta, est
divri, borg, VIII. xvkt pi-avclium, ac ölig, maZng, aäque nullam orianäs,,
qui klomm adstulerg-dit Oaroliim I^ouis3. <1e parsnilo suo elemeutissimo,
inarenionem IZiiäensew, c^uem rogo dumillims in personum tuam g.ä paton-
stelliam; c^uoä Vos non volebitiki rekusars midi, ?irrturat^ bene portats,
est; post womöntum oxerstionis ?rue<zy8 extrsnizu-z et projzlnzta intratus
est in nipoe^w meo, c>uoä donum omsn est. Louservas wini amicitig.in
et denevolentiam, me oreäens eum aäjzensiouem resxeetuosissimam ac
VsstrÄ?erlueiäg,dio
servus liuinilliwus et aniieus Larolus ^UA.
Homburg, 5. Juni 87.
Oh. wie plagt mich das Schicksal; ich bekam gar keine Nachricht von
Ihnen, und endlich wurde mir vor gewiß gesagt, Sie wären den 24ten weg
nach Dresden und gingen so durchs Gevürge und Franken nach Haus;
hierauf bekam ich den 2ten früh eine Estaffette von Maynz, welche mich so
dringend einlud den 10ten dorten zu seyn, daß ich es nicht länger abschlagen
konnte; meine Frau, da ich einmal ins Reich ging, wollte ich noch gerne
einholen und so machte ich mich den 3ten früh weg und kam gestern Nach¬
mittag hier an. Heute Mittag gehen wir alle nach Darmstadt und bleiben
dorten bis zum 9ten, wo ich nach Maynz gehe; meine Frau kommt den 12ten
auch dahin und dann schwimme ich mit ihr den 13ten nach Cölln, den 16ten
geht meine Frau nach Achen und ich wieder nach Maynz, will dann den 23ten
oder 24ten in Eisenach seyn. Nun wäre es außerordentlich hübsch, gratios,
ordentlich, schön, lobenswerth und vortrefflich, wenn der Marggraf den 19ten
dieses nach Schwetzingen mit höchstdenenselben kommen wollte, wo ich mich
dann ohnfehlbar einstellen würde; ich bekenne, daß die Forderung hoch ist,
aber ich habe auch viel Entschuldigungsgründe, warum ich dieses so herzlich
wünsche. Lassen Sie mir per Estoffette Antwort wissen und adressiren den
Brief an den Obrist und Erbjägermeister von Stein in k. preußischen Diensten
nach Maynz, welcher ihn mir einhändigen wird. Alleweile knallt der
Coadjutor auf den Maynzer Wällen. Leben Sie wohl und empfehlen mich
den Herrschaften.
Weimar, d. 8. August 1788.
Theuerster Freund! Ihren Plan, einen gelehrten Allgemeingeist zu
stiften in unserem Vaterlande, das auf Abgeschnittenheit seiner Kräfte so zu
sagen gegründet ist, habe ich richtig erhalten. Ich danke Ihnen für das Zu»
trauen, welches Sie mir hiebey bezeigen. Die vergebenen Versuche, welche
einige Wohlgesinnte machten, um die Gemüther deutscher Regenten dahin zu
lenken, sich zum allgemeinen politischen gesetzlichen Ruhestand zu vereinigen,
haben mich überzeugt, daß ein jeder Fürst — ich nehme Sie davon aus —
sein Land wie eine Insel und also Deutschland wie einen Archipel angesehen
haben will, in welcher er dann sehr eifersüchtig darauf ist. seine Insulaner
nach seiner Willkühr glücklich oder unglücklich, klug oder dumm zu machen:
meine Hoffnung zu einem Allgemeingeiste ist schwach; indessen verdienen
gewiß Ew. Durchlaucht gute Vorschläge reife Ueberlegung: leider ist Herder
nach Italien abgereiset und in dessen Abwesenheit zu Ausführung einer Idee
vorzuschreiten, an welcher er so vielen Antheil hat, wollte ich nicht rathen;
wir sollen also — dünkt mir — die Zwischenzeit bis zu seiner Rückkunft
benutzen, uns unter einander näher aufzuklären. Meiner Meinung nach ist
es noch zu früh, jetzt auf Ausbreitung des Allgemeingeistes unmittelbar los¬
zugehen; man sollte wohl erst die engern Institute zu benutzen suchen, die
sich von selbst gemacht und verbunden haben, gew sse einzelne wissenschaftliche
Gegenstände zu bearbeiten: was schon da ist. kann man, geschickt angewendet
und unterstützt, leichter zum allgemeinen Besten anwenden, als wenn man
das allgemeine Beste, auj's allgemeine wirken wollend, wie einen einzelnen
Gegenstand zu behandeln sich unterstand. Einen zweyten Zweck zu erhalten,
nehmlich durch allgemeine Behandlungen der Wissenschaften in Deutschland
Gelegenheit zu einer Fürstenversammlung Deutschlands zu geben, halte ich
vor unausführbar, weil die Häupter des Bundes zu unbeweglich, deren Mi¬
nisterien zu allmächtig, hölzern und strohern und die mindern, wohlgesinn-
ten eifrigen zu minder sind. Die Disproportion ist zu groß. Das Detail
dieser hingeworfenen allgemeinen Grundsätze verspreche ich mir bey einer
mündlichen Beredung auszulegen, auf welche Zusammenkunft ich noch immer
hoffe. Indessen freue ich mich. Gelegenheit zu haben. Sie, theuerster Freund,
mit dem ganzen Gefühl meiner Ergebenheit zu begrüßen und mich in die
Fortdauer Ihrer Freundschaft zu empfehlen, ewig verharrend.
Theuerster Freund! So eben muß ich den König") in Mannheim an¬
melden und zwar zum Mittwoch Mittag den 10ten dieses; da es Ew.
Durchl. angenehm sein könnte, Se. Maj. dorten zu sehen, so benachrichtige
ich Sie hievon, bitte aber den Frh. v. Edelsheim mitzubringen, dem ich Ant¬
wort auf einen Brief schuldig bin, dieses mündlich aber abthun möchte, um
ein Blatt Papier zu ersparen.
Schloß Bodenheim, d. 8. April 1793.
Pirmasens. d. 3. September 93.
Die Neugierde und die Langeweile trieben mich hierher, wo ich im
Hauptquartier des Herzogs**) bin und mit großer Verwunderung das hiesige
Terrain besehe, welches so critisch ist, daß der geschickteste Tactiker stutzen
würde, wenn er sich darauf bewegen sollte. Das ganz unglaubliche Be¬
tragen des Wiener Hofes hindert alle Operationen, die von dieser Seite an¬
gegriffen, ganz neu in ihrer Art seyn würden und ganz neue Beyträge zur
Kriegsgeschichte von Elsaß lieferte«. Mit Ungeduld warte ich hier ab, da
mir der Herzog erlaubt, etwas bei ihm bleiben zu dürfen, ob ich glücklich
genug seyn werde, einigen wichtigen Schritten beywohnen zu können. Neues
von dieser Gegend ist nicht; die Franzosen stehn in einem Haupt- und in
einem Vorlager bei Schweig und Hornbach; die linke Flanque des Weißen¬
burger Postens ist gut gedeckt, man sagt aber, sie würden ihre Posten schlecht
vertheidigen: es kommen erstaunlich viele Elsasser Bauern, die emigriren; sie
sagen alle, daß bey ihnen der democratische Theil der sehr geringere wäre.
Ein französischer General d'Urlande desertirte vor 12 Tagen hierher.
Der Obrist und Generalquartiermeister v. Grauert, der alles zusammen¬
trägt, um Charten des Kriegsschauplatzes zu sammeln, hat mich gebeten, ihm
folgende zu verschaffen:
1. die Speyerschen Forstcharten, welche bei Hinter-Weidenthal an die
Badenschen Forste angrenzen, auch an die Hanauischen, ingleichen auch über
den Sommer Hof und Saltzweg sich erstrecken,
2. alle übrige zum Bisthum Speyer gehörigen ökonomischen Vermessun¬
gen und Forstrisse, so in und an die Speyer'schen Gebirge gelegen sind.
Es versteht sich von selbst, daß diese Sachen borgweise dem:c. Grauert
anvertraut würden, damit er solche könne copiren und in die Hauptcharte
des Herzogs eintragen lassen; ich kenne Niemand der diesen Wunsch zu er¬
füllen mehr Mittel besäße wie Ew. Excellenz, indem Sie über den hoch¬
würdigsten Speyerschen Capaunen einen so gräßlichen (?) Einfluß besitzen,
daß er, auf Ihr Begehren, die Mittheilung der Charten nicht versagen
wird: quo als, so können diese Sachen an den Herzog gesendet werden,
welcher dann einen Empfang- und Schuldschein darüber ausstellen würde.
Ich erbitte mir Ihre Antwort nach Edenkoben zu adressiren. Leben Sie recht
wohl, theuerster Freund, empfehlen Sie mich dem Herrn Marggrafen, Erb¬
prinzen Und Prinzeß: schreiben Sie mir etwas über die Erscheinung zu Carls¬
ruhe; so bald ich kann, komme ich selbst wieder zu Ihnen. Prinz Ludwig
von Baden*) campirt hier, ich sehe ihn täglich. Vais et g-wer!
Da ich erfahre, daß der Prinz Louis erst heute meinen gestrigen Brief
an Ew. Excellenz abfertiget, so schreibe ich Ihnen noch diesen, um mich eines
andern Auftrages zu entledigen, den mir der Herzog ohnmitteibar gegeben
hat. Ich sagte ihm, was Sie mir neulich in Carlsruhe von dem bewußten
Charpentier erzählten: der Herzog wünscht sehr dieses Mannes habhaft zu
werden und seine Plane zu bekommen: Charpentier soll nur seine Bedin¬
gungen angeben, unter welchen er seine Person und seine Sachen ausliefern
wolle, vorausgesetzt daß auch diese Bedingung erfüllt werde werden., Der
Herzog scheint einen großen Werth auf seinen Besitz zu legen. Erzeigen Sie
mir den Gefallen, diese Unterhandlung zu übernehmen und mir gelegentlich
Antwort zukommen zu lassen. Ein Expresser bringt Ihnen, wie ich höre, meine
Briefe, durch diesen hoffe ich etwas von Ihnen zu hören. Hier ist noch
alles beim alten, es heißet die Wurmsersche Armee bedaure sehr den ohn¬
überlegten Schritt, den man ihr hat machen lassen: der General machte seiner
Armee weiß, der Herzog tournire die Linien, während er sie von vorne an¬
griff; die Unwahrheit dieses Romans wird ihn hoffentlich in sein rechtes Licht
bey Hofe und bey seinen eigenen Leuten stellen. So geht es in der Welt, wenn
alles bey der Hand ist, um den Endzweck zu erfüllen. so hemmt ein Nichts
die Wirkung aller Kräfte. Das Glück ist ein Weib-----*). Vate.
Theuerster Freund! Den schmerzhaften Verlust, welchen ich am 6thu dieses
Nachmittags erlitten habe, werden Ew.Durchl. schon zu Edinkhofen**) gehört
haben; mein Bruder starb an der Entkräftung, welche ihm die Ruhr zurück¬
ließ und die ein Nervenfieber hervorbrachte: 'der geschickte Regimentschirur-
gus von Element versuchte umsonst alle Mittel, um ihn zu retten. Alle
Plane, Hoffnungen und Aussichten des Verstorbenen, die durch die jetzigen
Zeitläufe entstanden waren, wurden mit einmal abgeschnitten und mir ein
Verhältniß zerrissen, dessen Zerstörung mir um so mehr empfindlich fiel, da
die Gewohnheit mich an diesen einzigen ganz nahen Verwandten feste ge¬
knüpft hatte: die Folgen dieses Zufalls erschrecken mich, wenn ich sie be¬
trachte, da der Verstorbene zärtlich von meiner Mutter geliebt wurde, die
nicht erwartete, einen ihrer zwei Söhne zu überleben.
Recht sehr bedaure ich, Sie theuerster Freund, in Edinkhoven nicht ge¬
sehen zu haben; ein anderer Augenblick wird mir hoffentlich günstiger sein.
In die Fortdauer Ihrer Freundschaft empfehle ich mich und verbleibe mit
dem Gefühle der reinsten Verehrung und Anhänglichkeit
Pirmasens d. 10. Sept. 1793.
Theuerster Freund! Ich sehe vollkommen die bedenkliche Lage ein
in der die Verfassung von Deutschland gegenwärtig schwebt und ich fühle
ganz die Nothwendigkeit, alle Mittel aufzubieten, um Religion. Ordnung
und wahre Freyheit unter dem Schutz der Gesetze zu erhalten. Ich mußte
mich also allerdings über den Inhalt Ihres Schreibens vom 9. Oct., sowie
über die Schritte freuen, die Sie gemeinschaftlich mit dem Herrn Landgrafen
von Cassel zur möglichen Rettung unseres Vaterlandes gethan haben; ich er-
kenne mit dem Gefühl des aufrichtigsten Dankes die wahre patriotische Mühe,
die Sie Sich in dieser Angelegenheit gegeben haben und verehre die vortreff-
liche Absicht, in welcher Sie die gegen das einreißende furchtbare Uebel zu
treffenden Anstalten in Vorschlag gebracht haben. Sie erlauben mir aber,
mein theuerster Freund, daß ich über die mir deßhalb mitgetheilte Eröffnung
Ihnen meine Gedanken mit der Offenherzigkeit vorlegen darf, zu der mich
Ihre mir geschenkte Freundschaft auffordert und daß ich über die ganze An¬
gelegenheit Ihnen meine Meynung ausführlich entwickeln darf.
Niemand, mein theuerster Freund, kann sehnlicher wünschen als ich,
daß endlich einmal zweckmäßige Schritte zur Rettung Teutschlands gethan
werden mögen, sowie auch Niemand bereitwilliger seyn kann, jeden dazu ab-
zweckenden Maßregeln beyzutreten. Die Lage der teutschen Fürsten ist in
diesem Augenblick mehr als jemals bedenklich und das Interesse der vor¬
liegenden Fürsten erfordert nicht viel mehr kraftvolle Thätigkeit als das¬
jenige der vorerst noch sicher scheinenden Stände, um sich mit gemeinschaft¬
lichem Nachdruck gegen ihre innern und äußern Feinde zu schützen; meine
eigene Sicherheit wird mich daher mit Vergnügen jedem Mittel beytreten
machen, wodurch die Sicherheit und das Beste des Reichs auf eine wirklich
ersprießliche Art befördert werden könne; dieser Versicherung, theuerster Freund,
werden Sie um so eher Glauben beymessen, da Ihnen nicht unbekannt ist,
wie lebhaft ich den kräftigsten Maßregeln, die zur Rettung Teutschlands ge¬
troffen werden, beigestimmt habe und daß ich sehr bereitwillig war, mein
Votum am Reichstag zur Stellung des Quintuvli abzulegen, obgleich dieses
ergriffene Rettungsmittel mich und mein Land in nicht geringe Verlegenheit
setzt. Ich kann Ihnen sogar nicht bergen, daß die Stellung dieses Quin¬
tuvli für mein Land eine so große und seine Kräfte so sehr erschöpfende Be¬
schwerde ist, daß ich die Möglichkeit einer noch größeren Anstrengung nicht
einsehen kann.
Aus Ihre Aufforderung, mein theuerster Freund, mich bey den übrigen
herzoglich sächsischen Häusern dahin zu verwenden, daß sie einem Bund bey¬
treten, der diesen wichtigen Zweck zum Gegenstand hat. habe ich nicht ange¬
standen, alles nöthige deßhalb an Gotha zu eröffnen; an die übrigen habe
aber nichts können gelangen lassen, denn da sie «is Nebenlinien von Gotha
angesehen werden, so erfordert das Herkommen, daß Gotha ihnen solche An¬
gelegenheiten mittheilt. Diese nöthigen Communicationen in dem Gesammt¬
baus verhindern mich. Ihnen schon jetzt eine entscheidende Antwort auf Ihre
freundschaftliche Eröffnung zu ertheilen; jedoch habe ich Veranlassung, von
mehreren Herzog!, sächsischen Häusern mir sehr wenig zu versprechen, denn
leider sind dieselben seit mehreren Jahren in solche drückende Schuldenlasten
gerathen, daß sie kaum im Stand seyn werden, zu irgend einer außerordent¬
lichen Reichshülfe etwas erkleckliches beyzutragen.
Was indessen Chursachsen selbst betrifft, so ist dieses von der Art. daß
Sie oder der Landgraf von Cassel schon mit ihm vertraulich communicirt
werden haben.
Uebrigens kann ich Ihnen, mein theuerster Freund, in Wahrheit nicht
verhehlen, daß ein verlängerter Krieg meinen Einsichten nach nothwendig die
schlimmsten Folgen haben muß, uns daß jetzt überhaupt ein Krieg mit Frank-
reich, wo man sich jedes, auch das unmenschlichste Mittel erlaubt, um ihn
aushalten zu können, für Teutschland auch bei den nachdrücklichsten Maß.
regeln ohnmöglich von guten Folgen seyn kann. Ich glaube daher mit meh¬
reren andern einsehn zu müssen, daß man von Seiten des gesammten Reichs
die dringendsten Vorstellungen möge an den Kayser gelangen lassen, um bald
möglichst Frieden zu schließen. Ich sehe zwar sehr wohl ein, wie traurig ein
solcher Friede just ausfallen muß. ich fühle aber auch auf's lebhafteste, daß
in den jetzigen Umständen ein nachtheiliger und schlechter Friede doch gewiß
das kleinere zu erwartende Uebel seyn wird. ,
Verzeihen Sie mir, theuerster Freund, die Freymüthgkeit, mit der ich
Ihnen meine Gesinnungen eröffnet habe und erhalten Sie mir fortdauernd
Ihre Gewogenheit und Freundschaft, der ich mit der aufrichtigsten Anhäng¬
lichkeit und Ergebenheit verbleibe
Weimar. 4. Novbr. 1794.
Theuerster Freund. Welche lebhafte Freude ich über Ihre Errettung")
empfunden habe, können Sie Sich vorstellen, wenn Sie meiner Ergebenheit
und Freundschaft für Sich Gerechtigkeit wiederfahren lassen. Der Himmel
wende von Ihnen und von uns allen auf ewige Zeiten dergleichen abscheu¬
liche Gefahren ab. wie die waren, in welchen wir uns, und Ew. Durchlaucht
zumahlen Sich neuerlich befanden.
Diesen Glückwunschbrief überbringt Ihnen einer Ihrer Unterthanen, ein
ausgezeichnet gutes, treues Subject, der junge Wippermann, Sohn Ihres
alten Stallmeisters; er hat sich verschiedene Jahre als Jagdvolontair hier
aufgehalten, ist sehr fleißig, ordentlich und thätig gewesen und ich kann ihn
mit gutem Gewissen Ew. Durchlaucht zu Gnaden empfehlen.
Morgen gehe ich nach Töplitz über Leipzig; an letzterem Orte finde ich
den Fürsten von Dessau; dieser hat völlig das Podagra gehabt. Mir thut
ebenfalls ein Bad nöthig, denn in meinem Blute sind noch alte Reste von
der Campagne, die nicht sanfte kitzeln.
Recht leid war es mir, daß ich Ihnen in Anspach*) nicht aufwarten
konnte oder daß Sie nicht zu mir kamen; der Friede wird mir wohl die
Leichtigkeit gewähren, Sie einmahl in Carlsruhe zu besuchen, wenn Sie mir die
Erlaubniß dazu geben.
Erhalten Sie mir Ihre Wohlgewogenheit und Freundschaft und glauben
an meine unwandelbare Ergebenheit, mit der ich zu verbleiben das Glück habe
Weimar, 5. Mai 97.
Theuerster Freund. Ihnen meinen Glückwunsch zu der fröhlichen Er-
eigniß abstattend, welche Ihr Haus betrifft, benutze ich diese Gelegenheit, um
mich in die Fortdauer Ihrer mir so werthen Freundschaft zu empfehlen. Die
Familie spedire ich unter heutigem Dato bey starkem Regenwetter wieder
zurück; sie ist gut emballirt, ich hoffe daher, daß ihr die Nässe nichts schaden
soll. In drei bis vier Wochen erwarte ich sie wieder hier; wie schön wäre
es, wenn Ew. Durchl. alsdann auch hierher kommen könnten; Sie würden
mich, obwohlen persönlich etwas veraltet, jedoch in der Anhänglichkeit an
Ihnen so frisch wie jemahlen finden und mir alsdann erlauben, Ihnen münd¬
lich wiederholen zu dürfen, daß Niemand Ihnen treuer ergeben und mit
wärmerer Freundschaft zugethan ist als
Weimar, d. 21. August 1797
Theuerster Freund! Der Rastadter Friedens-Congreß ist ein zu wich¬
tiger Gegenstand für alle deutsche Reichsgenossen, als daß man nicht emsig
wünschen sollte von denen dorten vorkommenden Handlungen und Verhand¬
lungen genau und balde unterrichtet zu seyn; wer keinen eigenen Gesandten
dahin zu schicken befugt oder genothdrungen ist, wird sich, verschafft er sich
nicht bessere Canäle, mit denen Nachrichten begnügen müssen, welche von
dorten her durch die Zeitungen mögten ausgestreut werden, oder er muß
warten, bis die ehrwürdige Reichsdeputation an Kayser und Reich ihren
Hauptbericht erstattet. Diesen Bericht erst abzuwarten oder mich mit Zei¬
tungsnachrichten zu behelfen, ist mir ohnmöglich, ich habe also den Ent¬
schluß gefaßt, einen Secretair an den Ort des Friedens-Congresses zu senden,
der mir das Bulletin der Merkwürdigkeiten der vorliegenden wichtigen
Epoque fasse und überschreibe. Diese Person, mein Cammer-Actuarius
Kruse. wird Ew. Durchlaucht diesen Brief einhändigen und mich dabei Ihnen,
theuerster Freund, zur Fortdauer Ihrer Wohlgewogenheit und Freundschaft
empfehlen. Erzeigen mir Ew. Durchl. die Gnade, zu befehlen und zu erlau¬
ben, daß dieser :c. Kruse unter dem speciellen Schutze Ihrer Mission zum
R. Fr. Congresse stehe und daß Dero Minister und resp. Gesandte von Edels-
heim ihn protegiren und ihm die Nachrichten mittheilen lassen dürfe, welche
meine billige Neugier befriedigen können. Gebe der Himmel, daß ich balde
erfahre. Ew. Durchl. seyen ohne Sorge über Ihre Besitzthümer-
Mein eifriger, schon lange gefaßter Wunsch, Ihnen, theuerster Freund,
einmahl wieder persönlich aufwarten zu dürfen, könnte sich vielleicht balde
realisiren, wenn
1) ich wüßte und zwar recht gewiß wüßte, daß es Ew. Durchl. nicht
unangenehm wäre, mich bei Ihnen zu sehen, während der Fr. Congreß im
Gange wäre,
2) wenn der Congreß noch über das neue Jahr, nehmlich in den Monath
Januar 98 dauerte,
3) wenn andere Gegenstände und Zufälligkeiten, welche ich noch nicht
übersehen kann, mich nicht an der Ausführung meines Projektes hindern.
Ueber den ersten Punkt meiner Zweifel können mich Ew. Durchl. allein
unterrichten, ich hoffe, daß Sie es ganz unbefangen zu thun die Gnade haben
werden; den 2ten können Sie besser wie jemand in der Entfernung be¬
urtheilen; der 3te HHngt vom Zufalle und von der Sinnesart verschiedener
Personen ab. Der Wunsch, Ew. Durchl. wieder zu sehn wird bey mir immer
lebhafter, da die Schwierigkeiten sich zu heben scheinen, welche bisher seiner
Ausführung den Weg sperrten; Ihnen aber jetzt aufwarten zu dürfen, wäre
mir doppelt angenehm, weil ich von so nahe den Anfang der Tragödie sahe,
welche am Abend dieses Jahrhunderts aufgeführt wurde und ich auch den
5ten Acte derselben gerne durch eigne Augen beurtheilen möchte: neue merk¬
würdige Ackteurs sind in selbiger aufgetreten, die wahrscheinlich in Rastatt
erscheinen werden und deren Beschauung mich sehr interessiren würde.
Die Ehrerbietung und Ergebenheit, welche ich Ew. Durchl. schon seit
langen Jahren gewidmet habe, ist Ihnen, theuerster Freund, zu bekannt, als
daß ich nöthig hätte, diese Gesinnungen Ihnen aufs Neue anzupreisen; sie
sind und bleiben unverändert dieselben; mit ihnen verharre ich
Weimar, d. 29. Nov. 1797.
Theuerster Freund! Wie tief ich mit Ihnen fühle und wie lebhaft ich
Ihren gerechten Schmerz theile, darf ich wohl Ew. Durchl. nicht erst durch
Versicherungen zu erkennen geben, da Sie meine Anhänglichkeit und Er¬
gebenheit kennen und ich selbst einen alten Freund und lieben Verwandten
verlohr. Mo^e Ihnen der Himmel Trost zusenden, Sie stärken, erhalten und
wieder fröhlich machen.
In wenig Wochen werde ich Ew. Durchl. einen Recondolenciarium über¬
senden, der zwar noch etwas jung ist, mir aber doch über den Kopf wuchs
und den ich Ihnen, werthester Freund, recht angelegentlich zu Gnaden
empfehle. Nehmen Sie ihn gütig auf, er wird just so alt, als wie ich es
war, als ich das Glück hatte, Ew. Durchl. vorgestellt zu werden.
Erhalten Sie mir Ihre alte, mir so werthe Freundschaft und glauben,
daß ich mit der unwandelbarsten wärmsten Hochachtung stets verbleibe
Weimar, d. 24. Januar 1802
Ist es schon ein Uebelstand der modernen Kunstgeschichte, gerade von den
interessantesten Malern älterer Zeit wenig biographische Notizen erlangt zu
haben, so muß doppelt beklagt werden, daß dies Wenige in der Regel nicht
viel Positives oder aber Thatsachen enthält, die keinen großen Werth haben.
Mit diesem leidigen Refrain schließt die Forschung der meisten exacten Unter¬
suchungen auf dem Gebiet der classischen Periode italienischer Kunst; und
wir müssen sie hier auch den Bemerkungen über einen Mann vorausschicken,
der für die Geschichte der venezianischen Malerei und darum für die Ent¬
wickelung der Malerei überhaupt epochemachende Bedeutung hat und dessen
historische Feststellung deshalb von umso höherem Interesse ist. Denn wie
ansehnlich auch der Erwerb sein mag, den die Archive Italiens, Deutsch,
lands. Belgiens in jüngster Zeit an Bruchstücken geboten haben, mit deren
Hilfe sich bestimmte Anhaltepuncte zur Reconstruction dieser oder jener Maler¬
biographie ergeben. Antonello da Messina, einer der merkwürdigsten
Künstler, in dem sich nordische und südliche Kunstthätigkeit berühren, ist
bisher ziemlich leer ausgegangen. — Die meiste Schuld an der Dunkelheit, die
ihn umgibt, hat auch hier nationale und locale Eifersucht, jener leidige
Kunstpartieularismus. der die allgemeinen Geschenke der Musen womöglich
monopolisirt. Bei den neapolitanischen Kunstschriftstellern ist es Glaubens¬
artikel, daß Antonello die technische Verwerthung des Oeles erfunden oder
doch bereits geübt habe, ehe er aus dem Süden wegging, die Niederländer
setzen ihren Stolz in die Gegenbehauptung, er sei erst durch Johann van
Eyck mit dem Verfahren bekannt geworden, Im Laufe der Zeit ist von den
erhitzten Gegnern manches unerlaubte Beweismoment in die Conrroverse hin¬
eingezogen worden, und hauptsächlich aus diesem Grunde versuchen wir in
den nachfolgenden Bemerkungen eine Reihe von Thatsachen in Erinnerung
zu bringen, auf welche bisher auch von der unparteiischen Kritik zu wenig
Rücksicht genommen worden ist.
Zu den interessantesten Stücken in den Künstlerbiographien Vasari's ge¬
hört ohne Frage die mit gewohnter Sicherheit gegebene Erzählung von
Antonello's Reise nach den Niederlanden. Wir erfahren, daß der Maler,
ein Mann von großer geistiger Behendigkeit und bedeutender Praxis, der
nach mehrjährigen Studien in Rom sich erst in Palermo und dann in Messina
niederließ, eines Tags auf einer Geschäftsreise in Neapel zufällig ein Oel-
gemälde van Eyck's (Giovanni da Bruggia) sah. das florentinische Händler
für den König Alphons mitgebracht hatten; und die technische Beschaffenheit
dieses Bildes habe ihm einen solchen Eindruck gemacht, daß er alles Andere
bei Seite ließ und nach Flandern fuhr, um mit jenem Meister bekannt zu
werden. Dieser vertraute ihm denn auch die Geheimnisse seiner Oelmalerei,
Antonello ging mit dem Erwerb nach Messina zurück, und wandte sich
schließlich nach Venedig, wo er dauernden Aufenthalt nahm und starb. —
Maurolyeo, ein Stadtgenosse des Messanesen, dessen Sicilianische Chronik
zuerst i. I. 1562 gedruckt wurde, weiß noch Bestimmteres als Vasari:
Antonello sei in Messina um der vorzüglichen Weise willen, mit welcher er
die Naturwirklichkeit und Thiere dargestellt habe, sehr gefeiert worden, habe
Aufträge von der venezianischen Regierung erhalten und in Mailand in Ruf
gestanden; der Chronist fügt hinzu, er habe eine neue Malmethode ange¬
wandt, und nennt auch eins seiner Bilder in Palermo, — Aelter noch als
die Notizen Vasari's und Maurolyco's ist die des neapolitanischen Architekten
Summonzio in seinem Briefe an Marcantonio Michele in Venedig (ä. ä. 20.
März 1524). Er sagt, „Colantonio del Fiore hätte die Oeltechnik vom
„Ne Raniero" (Rene von Anjou) erlernt, habe sich aber nicht so lange mit der
Sache beschäftigen können, um es in der Zeichnung zu gleicher Fertigkeit zu
bringen wie Antonello da Messina, sein Schüler", der damals, wie es scheint,
in Venedig wohlbekannt war.
In den Niederlanden begegnen wir nun andererseits der Autorität
van Mander's, der den Bericht Vasari's mir erklärlicher Treue nachschreibt.
Bestätigung findet derselbe jedoch in einem Manuscript, das ein belgischer
Kritiker Mr, de Bast erwähnt, und worin es heißt, „Antonello von Sicilien
sei nicht aus Flandern weggegangen, ohne ein Gedenkstück dessen zu hinter¬
lassen, was er vom Meister Johann van Eyck gelernt, denn eins seiner
Tafelbilder habe er zum Beweis seiner Fertigkeit in die Johanneskirche ge¬
stiftet.- Das Positive an der Angabe dieses Zeugen ist. daß jenes Manu¬
script im Jahre 1636 Eigenthum des Karl van Ryn. Herrn von Bellen,
war; bekannt wurde es Herrn de Bast durch eine Abschrift, welche in un¬
serem Jahrhundert dem Herrn van der Bete, weiland Stadtsecretair zu
Gent, gehörte.
Prüfen wir diese literarischen Quellen über Antonello's Lebensgang an
der directen künstlerischen Hinterlassenschaft des Meisters, so haben wir zuerst
das Portrait im Berliner Museum mit der Inschrift:
„1445 ^.nttmsllus Nessavsus me xinxit";
sodann eine Kreuzigung in der Gallerie zu Antwerpen, bezeichnet:
„1475. ^ritonellus Nsssimsus ins pinxit",
von dem jedoch angenommen wird, daß seine Signatur ursprünglich mit der
des Berliner Bildes identisch gewesen sei; dann einen „Christus als Welt¬
heiland" in der Nationalgallerie zu London, signirt:
„Nillesimo quati-ieentessimo LsxstsZesimo quinto. XIII. Inäi.
^.»tovellus N68sausu8 me xinxit".
Von späteren Arbeiten kennen wir noch folgende Bilder: in Neapel mit dem
Datum 1470. in Messina mit D. 1473, in Glasgow mit 1474, in Paris
(Louvre) mit 1475, in Mailand mit 1476. Stücke ohne Jahreszahl, aber
mit Antonello's Namen, haben wir gesehen: in Rom, Genua, Venedig,
Pavia, London, Wien, Berlin und Frankfurt a. M. Unter den nicht mehr
nachweisbaren Bildern ist ein Portrait aus der Gallerie Vidman in Venedig
bemerkenswerth, das nach Zanetti's Angabe mit vollem Namen und der
Jahreszahl 1478 bezeichnet war. Davon mehr.
Vorab müssen wir uns mit Vasari über die Chronologie seiner Angaben
auseinandersetzen: Antonello geht nach Flandern und macht sich dort mit
van Eyck persönlich bekannt, sieht jedoch nachher ein Bild desselben, das für
Alfons von Aragon gekauft war. Nun ist aber zu erinnern, daß Johann
van Eyck 1440 starb und Alfons die Regierung in Neapel erst 1442 antrat.
Dies Wirrniß läßt sich heben, wenn man entweder einen Schreibfehler Va-
sari's annimmt und statt Alfons „Rene' von Anjou" liest oder die Angabe
dahin interpretirt, jenes in Neapel ausgestellte Bild habe sich auf dem Wege
zu Alfons nach Palermo befunden. Jedenfalls scheint unwidersprechlich, daß
Antonello bei van Eyck's Lebzeit in Flandern war, sobald man die Jahrzahl
des Berliner Bildes in Rechnung zieht; angesichts dieses Portraits wird
vollkommen einleuchtend, wie der Sicilianer durch unmittelbares Studium
bei dem niederländischen Meister es soweit brachte, um in der Zeit kurz nach
dessen Tode der ungewöhnlichen Schwierigkeiten des neuen Verfahrens Herr
zu werden und im Jahre 1445 die Technik desselben so meisterhaft zu hand¬
haben, wie es unser Bild von „1445" zeigt. Wir gestehen, die Beweiskraft
dieses Gemäldes für unanfechtbar gehalten zusahen; weder die Unzulänglich¬
keit der Angabe Vasari's noch die Zweifel über den Werth der handschrift¬
lichen Notiz des Herrn de Bast konnten bisher das greifbare Zeugniß er¬
schüttern, das diese Arbeit bot. Eingehendes Studium der venezianischen
Schule jedoch und eigene Musterung- von Antonello's Bild aus den, I. 1465,
das erst kürzlich bekannt geworden ist, haben uns über den Thatbestand Be¬
denken beigebracht. Das Heilandsbild der Nationalgallerie in London hat
sehr viel Flämisches, ober nicht die gleiche Verwandtschaft mit dem alten
Mosaiktypus wie Arbeiten aus van Eyck's Schule; es ist in Oel gemalt,
doch ohne die vollendete Durchführung, die spätere Gemälde Antonello's aus¬
zeichnet: Christus, Brustbild von vorn gesehen, erhebt die Rechte zum Segnen,
während die Finger der Linken auf den Sockel ruhen, der den Körper unten
abschließt; die Stirn ist niedrig, die Nase lang, die Augen wie schwarze Puncte
dicht hinter der Nase. Die Farbe ist durchsichtig, aber braun und noch von
leimartiger Zähigkeit. Es fehlt nicht an Beispielen, welche lehren, wie all-
mälig und schrittweis Antonello erst völlige Abklärung seiner Bindemittel
und Fertigkeit der Behandlung erlangte; — man vergleiche sein Ecce Homo
von 1470 in der Sammlung Zir zu Neapel, und die Madonna mit Heiligen
aus dem I, 1473 im Kloster S. Gregorio zu Messina. Vor 1475 bekundet
er nirgends die Herrschaft über die Feinheiten seiner Kunst, die das herrliche
Bild im Louvre so werthvoll macht, und auch dies ist bei aller Meisterschaft
immer noch etwas roth und eintönig in der Carnation.
Von selbst wirft sich die Frage auf: wo war Antonello, als er die Bil¬
der malte, welche die Jahrzahlen 1465 bis 1473 tragen? Möglicherweise
weilte er damals in Süditalien und hatte Venedig noch nicht besucht, denn
die Arbeiten aus jener Periode befinden sich in Sicilien oder Neapel und
ihrer Provenienz läßt sich unschwer nachkommen. Das Gemälde der Lon¬
doner Nationalgallerie hat auf der Rückseite das Siegel der Stsdt Neapel,
die Madonna von S. Gregorio in Sicilien und das Ecce Homo der Gallerte
Zir sind stets in neapolitanischen Privatsammlungen gewesen. — Aber auch
abgesehen von diesen Beweisstücken des Alibi läßt sich erkennen, daß Anto¬
nello vor 1473 nicht in Venedig gewesen ist. Mit Einstimmigkeit berichten
die Kunstschriftsteller, daß das Beispiel unseres Meisters sofort umgestaltend
auf den Stil der venezianischen Maler wirkte. Wie ist aber der Stil der
Bellini und Vivarini beschaffen in den Jahren 1465, 1470 oder selbst 1475?
Es ist unmöglich, in Venedig ein einziges Tafelbild nachzuweisen, welches die
Anwendung des Oeles als Bindemittel vor 1473 constatirt. Die Gemälde
Gentile Bellini's an der Orgel in S. Marco sind 1464 und zwar in Tempera
gemalt, Giovanni Bellini's Pieta im Dogenpalaste vom I. 1742 in Tem¬
pera, Bartolommeo Vivarini malt zuerst 1473 in S.S. Giovanni e Paolo in
Oel, Gentile Bellini wird erst 1490 Meister in der neuen Technik, Gio¬
vanni 1487.
Wir wenden uns nun zu dem Berliner Bilde zurück. Es ist das Por¬
trait eines jungen Mannes mir leuchtenden Augen und klarer Hautfarbe;
die Umrisse sind vollendet rein, Helldunkel und Modellirung meisterhaft, die
Durchführung vollkommen. Wir haben die Leistung eines Künstlers vor uns,
der alle Vorstudien der Oeltechnik bis zur äußersten Fertigkeit durchgemacht,
über alle Schwierigkeiten des Handwerks sich erhoben, sein Bindemittel
bis zu absoluter Farblosigkeit geläutert hat. Dargestellt ist ein Venezianer
in venezianischen Costüm, zwar nach der Weise van Eyck's, aber mit der
Modifikation, welche die venezianische Kunst an die Hand gab. — Kann das
Bild wirklich aus dem I. 1445 herrühren? Die Schwierigkeiten, welche der
Beantwortung dieser Frage entgegenstehen, sind ungewöhnlich. Zunächst
wußte Niemand zu sagen, woher das Bild eigentlich komme, und dann fand
sich keine schriftliche Notiz, daß ein solches Gemälde mit diesem Datum je
bekannt geworden sei. Wie war der Sachverhalt aufzuklären? Folgendes
wird uns allgemach wahrscheinlich: das Berliner Bild hat ursprünglich der
Sammlung Vidman angehört, ist aus dieser in den Besitz Bartolommeo
Vitturi's übergegangen und dann aus Venedig in die Hände eines englischen
Sammlers gekommen, der es wieder der Gallerie Solly abtrat. Dort ist es
endlich vor etwa 40 Jahren durch Dr. Waagen gegen ein anderes Gemälde
eingetauscht worden. Was wir von der Sammlung VidMan wissen, ist in
folgender Angabe Zanetti's erschöpft*): „In der Gallerie ausgewählter Ge-
mälde, welche der venezianische Patrizier Bartolommeo Vitturi aus Lieb¬
haberei zusammenstellte, befindet sich das Bildniß eines venezianischen Edel¬
manns, gemalt von Antonello, in welchem der beste Geschmack flämischer und
venezianischer Manier vereinigt ist. Es trägt den Namen des Malers und
die Jahreszahl 1478, gehörte zuerst der berühmten Gallerie der patrizi-
scren Grafen Vidman an und gelangte durch Erbgang in Besitz des Hauses
Vitturi als Schenkung des Grafen Lodovico Vidman an Signor Bar¬
tolommeo."
Was das Berliner Bild betrifft, so paßt es mit dem Datum 1478 vor-
trefflich in die Chronologie der Werke Antonello's, aber mit dem Jahre
1445 schlechterdings nicht. Immerhin ist es heilet, sich bei dieser Wahr¬
nehmung zufrieden zu geben. Thatbestand und Voraussetzung können nur durch
Annahme einer Fälschung verbunden werden. Deshalb richten wir das Augen¬
merk sachkundiger auf die Frage: „ist die Ziffer 1443, wie sie gegenwärtig
besteht, aus Veränderung einer ursprünglichen Zahl 1478 zu erklären?" An
dieser Substitution war übrigens ein doppeltes Interesse vorhanden. Einer
gewiss in Classe italienischer Kntiker konnte daran liegen, thatsächlich zu be¬
legen, daß Antonello schon vor van Eyck's Tode, der ihn im Alter unter¬
richtet haben sollte, in der Oeltechnik so bewandert war, daß lange Bekannt¬
schaft mit diesem Verfahren bei ihm vorausgesetzt werden müsse. Dabei ist
zu bemerken, daß in der Zeit, in welcher diese Fiction gäng und gäbe war,
als Todesjahr des Johann von Eyck das Jahr 1443 galt. Aus der andern
Seite hatte es sür einen Niederländer immerhin Werth, die Wahrscheinlichkeit,
daß Antonello durch Johann van Eyck in der Oelmalerei unterrichtet sei, durch
Nachweis einer Leistung wie dieses Berliner Bild erhärtet zu sehen. Hat
man sich doch vor 50 Jahren in Belgien lange und mit Bitterkeit darüber ge¬
stritten, ob die Signatur der Kreuzigung in Antwerpen 1445 oder 1475 sei, und
hat de Bast's Gewähr für hinreichend gehalten, um sich für ersteres Datum
zu entscheiden, nicht blos darum, weil das, was er zur Sache beibrachte, durch-
aus annehmbar schien, sondern weil überhaupt kein Grund war, an so früher
Entstehung des Antwerpner Bildes zu zweifeln, umso weniger, wenn man das
Berliner Portrait aus dem nämlichen Jahr datiren konnte. Bestärkt werden
übrigens die Zweifel gegen das letztere dadurch, daß das Antwerpener seiner¬
seits offenbar Antastung erfahren hat.
Bei dieser Untersuchung muß sich schließlich auch ein Resultat über An-
tonello's Lebensdauer ergeben. Die Annahme, daß der Sicilianer noch mit
Johann van Eyck zusammengetroffen sei, verlangte es, seine Geburt etwa ins
Jahr 1420 zu setzen, und dabei blieben auch diejenigen stehen, welche ihn
für Domenico Veniziano's Lehrer ansahen, ein jetzt beseitigter Irrthum.
Wenn man gelten läßt, daß das früheste beglaubigte Bild Antonellos das
von 1465 ist, dann wird man sein Geburtsjahr jedenfalls nach 1420, wenn
nicht sogar nach 1430 zu suchen haben.
Halb verdrossen und halb vergnügt sind unsere 17 Zollparlamentsboten,
oder vielmehr unsere 15, — denn zwei hatten sich die Reise gespart, — aus
der norddeutschen Hauptstadt zurückgekehrt. Verdrossen, weil sie sich doch
sagen müssen, daß sie nicht gerade die „imponirende Rolle" gespielt haben,
von welcher vor Kurzem Probst das kutholische Landvolk in Oberschwaben
unterhielt, als er ihm den ehemaligen Reichsregenten Becher an Stelle des
zum k. k. Regierungsrath avancirten Professors Schäffle zum Zollparlaments,
abgeordneten empfahl. Vergnügt aber, sofern sie wenigstens mit dem Be¬
wußtsein heimkehrten, das daß Zollparlament in seiner dreiwöchentlicher
Session so gut wie nichts ausgerichtet habe, und das Wenige doch nicht mit
ihrem Willen. Sie hatten die Genugthuung, bei jeder Abstimmung, gleich¬
gültig worüber, consequent mit Nein gestimmt zu haben, — ein einzigesmal
soll ein einziger Abgeordneter ungetreu geworden sein, —und so konnten sie
schließlich überhaupt mit Befriedigung auf das Resultat der Session zurück¬
blicken, denn dieses Resultat war fast Null.
Daß sie, um zu diesem Resultat mitzuwirken, die Reise nach Berlin unter¬
nehmen mußten, war freilich kein Vergnügen, und sie machten daraus kein
Hehl. Etliche Wochen vor der Einberufung des Parlaments hatten sie einen
Kriegsrath in Stuttgart gehalten, auf welchem die Frage erörtert wurde, ob
man überhaupt dem zu gewärtigenden lästigen Rufe entsprechen wolle. Es
war nicht lange nach der Landtagssession, und weil damals das Ministerium
eine scheinbare Schwenkung ausgeführt und der Demokratie ein unfreund¬
liches Gesicht gezeigt hatte, so meinten die zum Kriegsrath Versammelten,
ihre Stellung zu den beiden College» Varnbüler und Miltnacht (welche zu
dieser Berathung nicht hinzugezogen waren) mochte eine mißliche werden.
Es tauchte sogar der Vorschlag auf, insgesammt das Mandat niederzulegen,
um aufs Neue eine unmißverständliche Willenskundgebung des schwäbischen
Volks herauszufordern. Man überzeugte sich freilich in Bälde, daß Herrn
v. Mittnacht, der sich sein Mandat von den Wählern erneuern lassen mußte,
Unrecht geschehen war, wenn man Zweifel in die Festigkeit seiner parti-
cularistischen Ueberzeugungen gesetzt hatte. Und was schon damals bei der
gemeinschaftlichen Berathung trotz allem Widerstreben den Ausschlag geben
mußte, war das Bewußtsein der gebieterischen Pflicht: es galt, das Vaterland,
nämlich das engere, vor den Erpressungen und Bedrückungen zu retten, welche
ihm unfehlbar beschieden waren, wenn seine Vertheidiger nicht wachsam auf
der Bresche standen. Man beschloß also, dem Rufe zu folgen, um, wie es
in der Kunstsprache des Particularismus heißt, „der weiteren Verpreußung
des Südens und weiterer Aussaugung seiner Kräfte durch neue zollvereins-
ländische Steuern kräftig entgegenzuwirken." Dieses Gefühl der Pflicht machte
gerade die Glieder der schwäbischen Fraction zu den alleremsigsten Parlaments¬
besuchern. sie fehlten nie, und wenn sie auch in der Lage waren, nur einen
einzigen Redner ins Feld zu stellen, der sich mit rühmenswerther Beharrlich¬
keit auch vor die verlorenste Sache aufpflanzte, so verließ doch Keiner seinen
Posten, ehe die letzte Abstimmung vorüber und vollkommene Beruhigung an
die Stelle beängstigender Ahnungen getreten war.
Solche Ausdauer war nun um so mehr anzuerkennen, als der Auf¬
enthalt in der norddeutschen Hauptstadt für die Schwaben voll von Un¬
annehmlichkeiten aller Art war. Solches mußte man wenigstens schließen
aus den Worten, welche Einzelne derselben in heimischen Blättern veröffent¬
lichten und die eine fortlaufende Klage über Alles und noch einiges Andere
bildeten. Das Wetter war kalt, unfreundlich, in der großen Stadt nirgend
eine geziemende Unterhaltung aufzutreiben, in der Oper kein guter Sänger,
im Schauspielhause kein guter Darsteller. Und ebenso kalt wie das Wetter
war die Gesellschaft; man glaubte Rücksichten zu vermissen, denen man noch
im vorigen Jahre begegnet war. „Kein Süddeutscher hat hier Zutritt in
eine Familie", klagte Einer, der freilich später von einem Anderen dementirt
wurde, welcher in dieser Hinsicht glücklicher gewesen zu sein schien. Daß der
Rechenschaftsbericht der süddeutschen Fraction und die Eindrücke, welche einige
Abgeordnete nach der ersten Session vor ihren Wählern in Würtemberg und
Bayern ausgebreitet hatten, doch nicht völlig wirkungslos bleiben konnten,
scheint nicht geahnt worden zu sein. Man wunderte sich, die norddeutschen
Collegen etwas zugeknöpfter zu treffen; selbst die preußischen Conservativen,
bei denen man am meisten „Verständniß" gefunden hatte, waren zurück¬
haltender, das Verlangen einer Ehrenerklärung wegen der Aeußerung des
Grafen Kleist wurde nicht in befriedigender Weise erfüllt, der Wunsch nach
Erneuerung des vorigjährigen Cartels, — obwohl Herr v. Windthorst emsig hin
und her ging.—rundweg abgeschlagen. Ebenso war nach der linken Seite die
Verbindung noch lockerer geworden. Keine Volksversammlung wurde dies¬
mal arrangirt, auf welcher die süddeutschen Neinsager dem Berliner Volk
ihre Gefühle entwickeln konnten, statt dessen waren es die Nationalliberalen
Volk und Stauffenberg, deren Worte in einer Berliner Wählerversammlung
lebhaften Beifall sich errangen und so auch diese Position den Schwaben
entzogen. Und als sich Becher, der ehemalige Reichsregent, um eine Bühne
für seine Beredtsamkeit aufzufinden, nach dem fernen Holstein wandte, fand
sich auch diese letzte Hoffnung getäuscht durch das polizeiliche Verbot, das die
Volksversammlung zu Neumünster verhinderte.
Das waren verdrießliche Erfahrungen. Was aber das Ausharren auf
den Bänken des preußischen Herrenhauses noch ganz besonders unerquicklich
machte, war die unausgesetzte Angst, von welcher sie sich heimgesucht sahen.
Sie saßen, wenn man ihren Berichten Glauben schenkt, fortwährend wie auf
Nadeln. Beständig sahen sie ein drohendes Damoklesschwert über sich hängen.
Denn es stand ihnen fest, daß die Nationalliberalen die Session nicht würden
vorübergehen lassen, ohne einen „Coup" auf die Süddeutschen auszuführen.
Was sie sich unter diesem Coup eigentlich dachten, war nicht recht ersichtlich;
das Aufregende war eben dies, daß sie nicht einen Augenblick sicher waren,
wann und in welcher Gestalt das (Befürchtete über sie hereinbrechen werde.
Sie hatten die unbestimmte Ahnung, daß die Norddeutschen sich zu einem
„allgemeinen Angriffsplan" verschworen hätten, zu dem nur eben noch die
passende Gelegenheit abgewartet werde. Diese Beängstigung vor einem
schwarzen Unbekannten, der unter den scheinbar harmlosen Debatten über
Petroleumzoll und Rübensteuer verborgen laure, erreichte ihren Gipfel, als
der Metz'sche Antrag gestellt wurde; jetzt waren sie überzeugt, daß dies die
vorbedachte Falle sei, in welche man die Süddeutschen verlocken wolle, und
aus der Heimath wurde ihnen bereits zugerufen, sie müßten mit Protest das
Zollparlament verlassen, falls die Mehrheit diesen nationalliberalen Ueber¬
griff guthieße. Erst als auch diese schlimmste Gefahr glücklich vorüberging,
ohne die verborgene Unthat zur Reife zu bringen, athmeten die geängsteten
Gemüther auf, die Berichte klangen von da an beruhigter, es fehlte jetzt
sogar nicht der Ausdruck befriedigenden Selbstgefühls, daß man durch die
gezeigte feste Haltung die Anschläge des Feindes vereitelt habe, und so konnte
man denn am Ende scheiden mit der tröstlichen Gewißheit, „daß das Zoll¬
parlament zur bloßen wirthschaftlichen Versammlung geworden sek"
Wenn nun die abgelaufene Session auch nur das eine Resultat gehabt
hätte, der süddeutschen Fraction etwas von ihrer krankhaften Angst zu be¬
nehmen, so wäre sie nicht vergeblich gewesen. Diese Angst ist vielleicht das
bezeichnendste Moment der im Süden bis jetzt noch vorwaltenden antinationalcn
Strömung. Trotz der bekannten officiellen Erklärungen der preußischen Regie¬
rung, und trotzdem, daß das äußerste Mißtrauen keine Thatsache aufzufinden
vermag, die an der Aufrichtigkeit dieser Erklärungen zweifeln ließe, geht durch
unser schwäbisches Volk das unbestimmte Gefühl und wird geflissentlich ge¬
nährt, daß der Norden es darauf abgesehen habe, den Süden zu vergewalti¬
gen, auszusaugen. zu verschlucken, zu verspeisen, kurz unerhörte Gewaltthat
an ihm zu verüben. Darf doch die particularistische Presse ihren Lesern noch
immer täglich wiederholen, daß vor drei Jahren Preußen unser Land mitten
im tiefsten Frieden aufs treuloseste überfallen und mit Krieg überzogen habe.
Auch sonst ist es nicht grade heldenhafte Gesinnung, durch die das Land der
alten Schwabenstreiche in neueren Zeiten hervorleuchtet. Nur aus diesem
Kreise konnte im vorigen Jahr jener Appell an die Furcht kommen, den der
Bundeskanzler zurückweisen mußte. Und nur an den Gestaden des Neckar
konnte die auf die Furchtsamkeit speculirende Broschüre „eines deutschen Offi¬
ziers" als ein patriotisches Werk verherrlicht werden und eine wenigstens
ephemere Wirkung hervorbringen. Es liegt auf der Hand, daß diese Angst
nicht eben von einem Gefühl der Unbefangenheit zeugt, und es hat sein Ko¬
misches, mit der Thatsache dieses ängstlichen Mißtrauens die rohen Gro߬
sprechereien zusammenzuhalten, mit denen eine renommistische Presse jenes
Gefühl zuweilen zu übertäuben beflissen ist.
Aber auch das liegt auf der Hand: wohl Niemand wird es mehr be¬
dauern, daß von der Arbeit an dem neuen Bund vorläufig die Süddeutschen
ausgeschlossen sind. Sie selbst wollen es nicht anders, und man kann es
ihnen nicht oft genug wiederholen, daß ihr Wille gewissenhaft respectirt
werden wird. Die Politik der Mainlinie hat nachträglich ihre Legitimation
erhalten. So lange der Süden in seiner Mehrheit Männer ins Parlament
schickt, deren Ehrgeiz nach einer zum geflügelten Wort gediehenen Aeußerung
darauf gerichtet ist, das Einigungswerk zu „verpfuschen", so lange ist es gut,
daß ihnen die Möglichkeit hierzu nur innerhalb gewisser Grenzen verstattet ist.
Denn inzwischen schreitet doch der Ausbau des Bundes fort, dem auch sie
dereinst angehören werden. In seiner Mehrheit ist der Süden in der That
für die Einheit noch nicht reif. Wenn man sich das Mißtrauen gegen die be¬
scheidene Institution des Zollparlaments und andererseits den erbitterten
Krieg gegen die neuen Heereseinrichtungen im Süden vergegenwärtigt, so
ist der Schluß unvermeidlich, daß die Bande, welche bis jetzt über den
Main geschlagen sind, die Zollvereins- und Allianzverträge, das äußerste Maß
von Einheit sind, das im Augenblick der Süden in seiner Gesammtheit erträgt.
Ob unter der sichtbaren Oberfläche von Mißtrauen, Empfindlichkeit und be¬
schränktem Eigensinn sich doch noch ein gesunder Kern von nationaler Gesin¬
nung erhalten hat, müßte sich erst in einer ernstlichen Krisis zeigen. In¬
zwischen aber ist das Zollparlament mit seinen überaus nüchternen Geschäften
eine ebenso heilsame Schule für den Süden, wie die preußische Wehrversassnng.
Denn jenes bäumt die Gewohnheit der Phrase zurück, wie diese mit der
Zeit ein männliches Geschlecht erziehen und ebenso das verlorene Selbstgefühl
wie das Bewußtsein von der Einheit der Nation wiederherstellen wird.
Es verlautet in der letzten Zeit mehrfach von Schritten, welche die bay¬
rische Regierung bei den katholischen und paritätischen Staaten Europas ge¬
than haben soll, um dieselben zu gemeinsamen Schutzmaßregeln gegen die
Beschlüsse des künstigen Concils zu bewegen. Gefahren, welche dem Staate
von Seiten eines allgemeinen kirchlichen Concils drohen sollen, liegen dem
Geiste des 19. Jahrhunderts etwas fern ab. Mehr als drei Jahrhunderte
sind vergangen seit das langgezogene „anatlrema, 8it" des Concils von
Trient, des letzten allgemeinen (ökumenischen) Concils die im Glauben ge¬
spaltene Welt durchklang und den großen Zwiespalt des 16. Jahrhunderts
besiegelte. Von da ab hören wir nur noch von sporadisch abgehaltenen
Provinzial-Synoden, bis mit Anfang unseres Jahrhunderts auch diese ver¬
schwinden.
Das Concil von Trient war Jahrzehnte lang von der ganzen christ¬
lichen Welt, insbesondere von Kaiser und Reich sehnlichst herbeigewünscht
worden, da man der durch den Religionssrieden von Nürnberg und Passau
und durch das Interim geschaffenen Provisorien müde war. Dagegen
hatten die damaligen Päpste alle Minen springen lassen, um das Zusammen¬
kommen dieser Versammlung zu verhindern. Jetzt will der Papst ein Concil,
während die Laienwelt nicht das geringste Bedürfniß darnach verspürt, ja
vor einem solchen ein entschiedenes, wenn auch mitunter sehr unklares
Mißtrauen an den Tag legt. Der Shllabus hat uns von den päpstlichen
Vorlagen für das Concil einen höchst unangenehmen Vorschmack gegeben.
Ist dieses Gefühl berechtigt? und worin bestehen die Gefahren, die aus den
Beschlüssen des Concils für den Staat und damit für die ganze moderne
Cultur hervorgehen können?
Betrachten wir zunächst die Zusammensetzung des Concils und die
Stellung desselben innerhalb der Verfassung der katholischen Kirche, so er¬
scheint es als eine Versammlung (Kollegium) der höchsten Inhaber der Kirchen¬
gewalt, welche vom Papste zur Entscheidung wichtiger dogmatischer, litur¬
gischer und disciplinärer Angelegenheiten der Kirche zusammenberufen und
mit Vorlagen bedacht worden sind.
Nach dem Herkommen haben in demselben nur die Bischöfe, aber diese
schon kraft ihrer Weihe, die Cardinäle (auch wenn sie nicht zugleich Bi¬
schöfe sind), und endlich die Generäle und Aebte der Mönchsorden ent¬
scheidende Stimmen, wogegen die niederen Cleriker sowie Laien nur mit
berathender Stimme zugelassen werden können. Aus dem Umstände, daß
die Bisihöfe schon kraft ihrer Weihe Stimme im Concil haben, ergibt sich
ein numerisches Uebergewicht der italienischen Nationalität zu Ungunsten der
übrigen, das geradezu erdrückend wirken muß. Denn nirgends gibt es mehr
Titular-Bischöfe (Bischöfe ohne Diöcese), wie gerade im Königreich Italien.
Die Beschlüsse der Concilien bedürfen zu ihrer Gültigkeit der Bestäti¬
gung und Publication durch den Papst. Aus dieser Organisation geht her¬
vor, daß der Papst und das Concil zusammen die gesetzgebende Gewalt
in der Kirche ausüben und daß die vom Papst bestätigten Beschlüsse des
Concils unzweifelhafte Quellen für einen Theil des katholischen
Kirchenrechtes sind.
Wir sagten „sür einen Theil" insofern das gegenwärtig in Deutschland
geltende Kirchenrecht sehr verschiedene Bestandtheile enthält. Es finden sich
in demselben Kirchengesetze im engeren Sinn, also Bestimmungen, die sich
auf die inneren Verhältnisse der Kirche beziehen, und andererseits kirchen-
und staatsrechtliche Bestimmungen, durch welche die Stellung der Kirche
dem Staat und Dritten gegenüber geregelt wird.
Was nun das künftige Concil in ersterer Beziehung an neuen Grund¬
sätzen ausstellen wird, muß schon seinem Ursprünge nach als bindendes Ge¬
setz für die Katholiken anerkannt werden und unabhängig von jeder Beein¬
flussung des Staates bleiben, weil letzterer der Natur der Sache nach nicht
berufen sein kann, in Bezug auf das Dogma oder das innere kirchliche Leben
und dessen Organisation als Gesetzgeber aufzutreten. So wird von staatlicher
Seite gegen die projectirte Jnfallibilitäts-Erklärung des Papstes, solange
dieselbe nur als Glaubenssatz aufgestellt wird, nichts eingewendet werden
können. Er wird also, wenn diese Ansicht, welche den Papst nicht nur Gott
ähnlich macht, sondern ihn wirklich Gott gleichstellt, durch das Concil zum
Dogma erhoben werden sollte, dessen lehrreicher Verkündung durch die Geist¬
lichen kein Hinderniß in den Weg gelegt werden dürfen. Nur die hieraus
gezogenen practischen Sätze, insoweit sie Dritten oder dem Staat gegenüber
zur Geltung gebracht werden wollen, würden seiner Cognition unterliegen.
Was dagegen den zweiten Theil des Kirchenrcchtes, den kirchen- und
staatsrechtlichen betrifft, so können natürlich für ihn die Beschlüsse eines
Concils nicht als gültige Rechtsquellen betrachtet werden, weil hierdurch die
Kirche ins staatliche Leben hinübergreifen würde. Trotzdem hat sich die Kirche
niemals abhalten lassen, Bestimmungen dieser Art aufzustellen und zur
Geltung bringen zu wollen, wie denn viele im gegenwärtigen Kirchen¬
rechte noch geltende ältere Rechtsregeln aus rein kirchlicher Quelle geflossen
sind. Als Gesetze gelten dieselben aber nicht, weil sie ein Ausfluß der kirch¬
lichen gesetzgebenden Gewalt sind, sondern weil sich der Staat, entweder
aus Schwäche oder aus unvollkommener Einsicht in sein eigenes Wesen,
ihre Reception durch Universitäten und Gerichtshöfe hat gefallen lassen oder
aber weil er dieselben ausdrücklich gebilligt und genehmigt hat.
So haben wir auf dem Wege der Reception z. B. das ganze eorpusjuris
eanomei, welches nicht nur staatsrechtliche, sondern auch zahlreiche rein civil-
rechtliche Bestimmungen enthält, als geltendes Recht in Deutschland bekommen.
Daß auch diesesmal durch das Concil staatsrechtliche, ja rein poli¬
tische Fragen zur Entscheidung gebracht werden sollen, steht außer allem
Zweifel, nachdem bereits eine eigene Section zur Vorberathung derselben
unter dem Vorsitze des deutschen Cardinals Reischach niedergesetzt worden ist.
Wenn wir auch bei dem erstarkten Selbstbewußtsein des Staates nicht mehr zu
fürchten haben, daß Beschlüsse eines Concils uns wie die oben gekenntzeich-
neten als allgemein rechtsverbindliche Gesetze aufgedrungen werden, wie das
in früheren Jahrhunderten der Fall war, so ist damit keineswegs jede Ge¬
fahr beseitigt. Auch in dieser Richtung wird der moralische Einfluß des
Concils auf das Gewissen von Millionen Katholiken ein unberechenbarer sein.
Von allen Kanzeln und Kathedern werden die von der allgemeinen Synode
aufgestellten kirchlich-politischen und rein politischen Grundsätze als eine Art
idealen noch nicht realisirten Rechtes dargestellt werden, welches für das
Gewissen der Gläubigen bindend ist, und dessen Verwirklichung nur
durch die Gewalt des modernen „entchristlichten" Staates aufgehalten wird.
Damit ist denn der Grund nicht nur zu unzähligen Gewissensconflicten, son¬
dern auch zu Conflicten mit dem Staat und mit Andersgläubigen in der um¬
fassendsten Weise gelegt. Wir werden wieder bei Durchführung staatlicher
Maßregeln hören müssen: „Man muß Gott mehr gehorchen als den Men¬
schen", mit dem Anerbieten, sich lieber rösten zu lassen, als dem Staat
nachzugeben.
Jeder Theorie ist der Trieb nach ihrer practischen Verwirklichung ein¬
geschlossen, wie dem Samen die Pflanze. Und so wird es denn auch, wenn
das Staatsrecht des Concils einige Zeit in den Köpfen der Gläubigen ge¬
spukt hat, zur gelegenen Zeit nicht an Ursachen zu dessen Realisirung fehlen.
Wenn die bayrische Regierung in richtiger Voraussicht der Conflicte und
Kämpfe, welche aus dem Versuch einer einseitigen Lösung kirchen- und staats¬
rechtlicher Fragen hervorgehen müssen, die Hand zu einer Verständigung dadurch
zu bieten suchte, daß sie die katholischen und paritätischen Staaten Curopa's
zu gemeinsamen Schritten bei der päpstlichen Curie aufforderte, so ist vor
allen Dingen nicht zu verstehen, warum diesem Vorschlag eine so maßlose
Verhöhnung zu Theil wird, wie sie auf das Ministerium Hohenlohe seitens
der ultramontanen Blätter gehäuft wird.
Man hat der bayrischen Regierung vorgeworfen, sie wisse noch gar
nichts von den päpstlichen Vorlagen, und wolle daher einen „Kampf mit
Windmühlen" führen. Ist es denn die Schuld des bayrischen Ministeriums,
wenn man in dieser Beziehung noch im Unklaren über das Concil ist? Liegt
nicht vielmehr auf der Hand, daß der erste gemeinsame Schritt der Regie¬
rungen dahin gehen muß, die päpstliche Curie zur Mittheilung der für das
Concil bestimmten Vorlagen zu veranlassen?
Abgesehen davon gilt der alte Satz, daß man vor, nicht nach dem
Schlage pariren muß. Sollen Kämpfe nach Art der Cölner Wirren ver¬
mieden werden, so kann dies nur vor dem Concil durch Einwirkung auf die
päpstlichen Vorschläge geschehen; sind die Beschlüsse einmal gefaßt, so bleibt
dem Staat nur noch die Aufnahme des Kampfes übrig.
Man hat ferner in der Aufforderung der bayrischen Regierung zu ge¬
meinsamer Action eine beabsichtigte Aufstachelung der europäischen Regie¬
rungen zu feindseligen Schritten gegen die Curie finden wollen. Vorwürfe
dafür, daß Bayern nicht allein vorgeht, können wenigstens von Seiten der
ultramontanen Presse nicht ernstlich gemeint sein. Diese Puffe hat zu oft
die untergeordnete Rolle betont, welche Bayern im europäischen Staoten-
Concert spiele, als daß dieselbe von einem einseitigen Schritt der bayrischen
Negierung Schaden fürchten dürfte. Der schwächste und kleinste Staat war
von jeher der Mißachtung und Rücksichtslosigkeit der Curie am meisten aus¬
gesetzt, und es ist nur anzuerkennen, wenn sich die bayrische Regierung eine
hochmüthige Abweisung zu ersparen suchte.
Was die Mittel zur Erreichung des angestrebten Zweckes betrifft, so
sind dieselben ebenso naheliegend als einfach. In erster Linie wird es sich
darum handeln, eine genaue Kenntniß der päpstlichen Vorlagen zu erlangen und
zunächst einmal den status causas et eontroveiÄae genauer festzustellen, als
dies bisher möglich war. Es werden hierauf Verhandlungen zwischen den
Staaten untereinander stattzufinden haben, um die gemeinsamen Beschwerde¬
puncte zu eruiren, und der Schluß wird darin bestehen, diese der päpstlichen
Curie kunvzugeben und mit ihr in Unterhandlungen zu treten. Auch wird
es am Platze sein, diejenigen Schritte jetzt schon ins Auge zu fassen, welche
sich als durch das eventuelle Scheitern dieser Verhandlungen nothwendig gewor¬
den herausstellen würden. Allerdings könnten die Staaten, gestützt auf viele
Präcedenzfälle verlangen, daß ihren Abgesandten berathende Stimme auf dem
Concil eingeräumt werde. Allein es ist kaum glaublich, daß irgend eine
Regierung von diesem unbestreitbaren Rechte Gebrauch machen werde, weil
dies eine Anerkennung und Unterordnung unter das Concil wäre und einer
Assimilirung zu ähnlich sähe. Der gewöhnliche diplomatische Weg wird sich,
vorausgesetzt, daß eine gemeinsame Aaron der Regierungen überhaupt zu
Stande kommt, wohl als hinreichend erweisen.
Von diesen Gesichtspuncten aus dürften die Schritte des bayrischen Mi¬
nisteriums der ultramontanen Presse nicht mehr so lächerlich wie vor einigen
Wochen vorkommen, denn Preußen und Italien haben ihre Zustimmung
in der Hauptsache bereits erklärt. Allerdings wird sich ein vollständiger Erfolg
nur dann hoffen lassen, wenn Frankreich von der Partie ist: nicht nur weil
Napoleon durch die Occupation den größten Einfluß aus Rom hat, sondern
weil der Papst in ihm noch immer den mächtigsten und ergebensten Sohn
der Kirche erblickt. Der Kaiser hat gelegentlich des Jahrestages der Schlacht
von Solferino zu seinen Soldaten gesagt: Unsere Kriege sind die Fortschritte
der Civilisation gewesen. Nun, der Felezug gegen die Uebergriffe der päpst¬
lichen Curie und gegen den dort herrschenden Jesuitismus wäre so gewiß ein
Fortschritt in der Civilisation, wie die Säuberung Italiens von den
Oestreichern!
Die große Debatte des Oberhauses über die Zukunft der irischen Staats-
kirche hat nicht nur den oratorischen Ruhm der Lords auf die höchste Stufe
erhoben, sondern auch ihre politische Bedeutung aufs Neue in das vortheil¬
hafteste Licht gestellt. Nach der vorigjährigen Verwerfung der susnensor?
Lili und der Erklärung der Parteiversammlungen conservativer Peers, glaubte
man. daß Lord Derby als Führer der Tories das Haus in seiner Hand
habe, daß dasselbe auf den alten Traditionen bestehen und es auf einem Con¬
flict mit dem Unterhause ankommen lassen werde. Aber das Oberhaus hat
gezeigt, daß er kein Parteiausschuß ist, sondern daß es sich als verantwortlicher
Factor im Staatsleben fühlt, daß es sich die traditionelle Mäßigung der
englischen Aristokratie bewahrt hat und eben deshalb seinen eigenthümlichen
Einfluß erhalten wird. Sein Vortheil ist, daß es aus durchaus unabhängigen
Männern besteht, während eine repräsentative Versammlung wie das Haus
der Gemeinen von ihren Constituenten abhängt und sich namentlich nach
einer Neuwahl schwerlich mit denselben in Widerspruch setzen kann. Ein
Mitglied des Unterhauses weiß, daß es vor seinen Wählern rechtfertigen
muß, was es sagt, Männer wie Lord Salisbury und Carnarvon, (welche be¬
kanntlich bei der disraelischen Schwenkung zum Haushaltswahlrecht aus dem
Cabinet traten), wären schwerlich wieder gewählt worden, wenn sie im Unter¬
hause gesessen, weil sie die Tories verlassen, ohne zu den Liberalen überzugehen
Ein Peer aber sagt, was er will, weil er niemand verantwortlich ist und
das Oberhaus ist namentlich deshalb befähigt, unabhängig von allen Ein¬
flüssen die Stimme staatsmännischer Billigkeit zur Vermittlung der Extreme
geltend zu machen. Hierzu wird sich wahrscheinlich gleich bei der gegen¬
wärtigen Frage Gelegenheit zeigen; im Unterhause war die Debatte un-
bedeuiend, weil jedes Mitglied der Mehrheit erst kürzlich durch seine Wähler
verpflichtet war, in dieser Frage mit Gladstone zu gehen, die Bill passirte
dann auch mit einer großen Majorität gegen eine schwache Opposition.
Nichts desto weniger ist kaum ein weiter blickender Staatsmann von der
materiellen Regelung der Frage befriedigt, welche der Gladstone'sche Plan
vorgeschlagen. Die Peers sind jetzt in der Lage, die Bill durch Berathung
im Comite' so zu verbessern, daß sie den wirklichen Bedürfnissen Irlands
entspricht, aber die Vorbedingung hierfür war die Annahme der zweiten Le¬
sung, deren traditionelle Bedeutung die Annahme des Princips des Gesetzes
ist, während die Ablehnung das Oberhaus in unheilbaren Conflict mit der
Nation gebracht hätte. Eben darum war die Debatte von so großer Tragweite
nicht nur für den Augenblick, sondern für die Zukunft der Verfassung.
Unter den Gegnern der Bill nahm Lord Derby mit wenigen starren
Anhängern des Alten den äußersten Flügel ein, indem er behauptete, daß
der Klönungseid der Königin und die irische Unionsacte die Aufhebung
der Staatskirche, deren ungeschmälerte Fortdauer auch bei der Abschaffung der
Test-Act von den Katholiken feierlich versprochen worden, verhinderten. Gerade
der glänzendste Redner gegen die Bill, der neuernannte Bischof von Peter-
borough, welcher das Haus zu minutenlangem Beifall hinriß, ließ jenes
Argument als durchaus hohl fallen und gab zu, daß kein Gesetz eine Nation
oder einen Souverain in intmitum binden könne, vielmehr jedes Gesetz auf
dem Wege geändert werden dürfe, auf dem es entstanden. Dies ist um so
bedeutsamer, als es in England ja glücklicherweise keine Charte, kein Ver¬
fassungsgrundgesetz gibt, welches mit den andern im gewöhnlichen Laufe
der Dinge erlassenen Gesetzen in Conflict kommen könnte. Man kennt dort
nur eine Art von Gesetzen, die Mgng, ^dans. oder die vent^iatinn ok
Riglrt8 könnte morgen aufgehoben werden, wenn der übereinstimmende
Wille von Krone und Parlament es wollte.
Die ernsten Argumente gegen die Bill waren im Wesentlichen folgende:
1) Daß die Katholiken Irlands nicht befriedigt würden, sondern der
Maßregel nur zustimmten, um den Protestanten zu schaden. Die religiöse
Gleichheit sei eine Chimäre, welche die Katholiken nirgend gewährten, wo sie
die Majorität bildeten.
Daraus ward mit Recht erwidert, daß man hinsichtlich der irischen
Katholiken zwischen Laien und Piiestern unterscheiden müsse. Die ersteren
blickten allerdings mit ungelenker Befriedigung auf die Maßregeln, die
erste, welche England freiwillig Irland entgegenträte, weil sie eine bisher
gegen sie geübte Ungerechtigkeit beseitige; die eigentlichen Unruhstifter, die
Fenier fruchteten nichts mehr als ernsthafte Reformen, die sie als Be¬
stechungen hinstellten, welche die Patrioten ihrem eigentlichen Z'ele, der Los¬
reißung Irlands an England (Iislanü lor eng Iri^K) entfremdeten. Wenn
man aber die Bevölkerung befriedige, so verliere die Agitation des Clerus
ihre Wurzel; den hierarchischen Gelüsten desselben wolle man nicht genug thun,
aber wenn er in andern Ländern die Protestanten unterdrücke, so sei dies
kein Grund, daß England den Grundsätzen des P> otestantismus zuwider, fort¬
fahre, seine katholischen Unterthanen zur Erhaltung einer ihnen antipathischen
Kirche zu zwingen. Die Zeiten Cromwell's und Wilhelm III. seien vorüber.
2) Hoden die Gegner hervor, daß die Bill einen Angriff auf die Heilig¬
keit des Eigenthums sanctionire, der um so bedenklicher sei, als es sich um
Eigenthum der Kirche handle. Die Geistlichkeit sei die Armee, welche der
Staat unterhalte um Sünde und Verbrechen zu bekämpfen und man könne
nicht auf die apostolische Kirche hinweisen, welche ohne Unterstützung und unter
Verfolgung groß geworden, weil die Umstände jetzt ganz andere seien. Die
Apostel hätten auch nicht Buchdruckerkunst und Telegraphen gekannt, aber
wer denke daran der Kirche den Gebrauch dieser Eisindungen der Neuzeit
zu verbieten? Wenn man glaube, daß die anglikanische Kirche von allen
bestehenden sich dem Ideal einer christlichen am meisten nähere, so sei es
widersinnig ihr die Früchte ihrer Kämpfe zu nehmen und sie zu zwingen,
dieselben wieder zu beginnen. Man könne auch das profane Erpropriations-
recht des Staates nicht auf das Eigenthum von Korporationen anwenden,
denn dasselbe trage keinen rein privaten Charakter. Es sei nur privat,
sofern dabei bestimmte Personen interessirt seien, öffentlich aber was seinen
Gebrauch und was die Bedingungen betreffe, aus denen es beruhe. Gerade
deshalb provocire es die Angriffe der modernen Gleichmacherei. Alle Revo¬
lutionen hätten mit der Confiscation der Kirchengüter begonnen, damit aber
sei der Damm durchbrochen, welcher auch das Privateigenthum schirme, und
man sei durch die Consequenz fortgedrängt zum Socialismus.
Hiergegen erhob sich zuerst der würdige Bischof von Se. Davids, der
gelehrte Dr. Thirlwall mit einem feierlichen Protest. „Gott", sagte er. „bedarf
nichts von Menschen, die Frage ist nicht, ob das Kircheneigenthum Gort
oder Menschen gehört, sondern ob eine bestimmte Classe vom Eigenthum für
die Gesellschaft wohlthätiger ist, als eine andere und die Entscheidung darüber
ruht auf dem breiten Grunde allgemeiner Zweckmäßigkeit. Ich bin so eifrig
für die Herrschaft des Protestantismus als irgend jemand, aber nur für eine
Herrschaft von religiösem, moralischem und geistigem Charakter, eine Herr¬
schaft von Wahrheit und Vernunft über Irrthum und Sünde." —
Und von anderer Seite wird hervorgehoben, daß wenn dies richtig, der
Staat die verschiedenen Confessionen und ihre Bedeutung berücksichtigen
müsse; in England bilde die anglikanische Kirche die Majorität, in Schott¬
land die presbyterianische, in Irland die katholische. Bei der Union mit
Schottland sei man weise genug gewesen, die presbyterianische Kirche an¬
zuerkennen, bei der Union mit Irland habe Georgs III. Bigotterie dies ver¬
hindert und daraus stamme alles Unheil. Alle jene Räsonnements ließen
das eine große Hauptargument für die Aufhebung der irischen Staatskirche
unberührt, daß sie die Kirche einer winzigen Minorität sei, welche auf Kosten
der Majorität erhalten werde. Niemand könne nach den bisherigen Erfah¬
rungen noch hoffen, daß Irland protestantisch werden würde, wie man dies
1688 gethan. Wenn also eine Staatskirche den Zwecken nicht mehr entspreche
für welche sie gegründet, so habe der Staat das Recht und die Pflicht, sie
aufzuheben, wie jede andere Corporation, die sich überlebt habe, denn Cor»
porationen seien eben nur Schöpfungen des Staates. Lord Carnarvon warnte
noch speciell davor, auf die bloße Thatsache der Union von Staat und
Kirche zu viel Gewicht zu legen, niemals sei dieselbe enger gewesen als in
Frankreich am Vorabend der Revolution. Aber dies habe die vollständige
Entfremdung der Gesellschaft von der Kirche, die Herrschaft des Voltairinanis-
mus und Materialismus nicht gehindert. Die Kirche sei in der Revolution
gefallen, weil sie allein durch den Staat aufrecht gehalten war, die Waffen,
mit denen sie zerstört, seien unter dem ^melen rs^uns geschmiedet worden.
3) Ward von den Widersachern betont, daß die irisch-protestantische
Kirche, als freie Corporation constituirt, nicht mehr im Stande sein werde,
sich gegen die mächtige Organisation der Hierarchie in Irland zu wehren;
solle sie aufhören, Staatsinstitut zu sein, so sei es doch ungerecht, ihr alles
Eigenthum zu nehmen. Dieser Vorwurf gegen die Gladstone'sche Bill war
unzweifelhaft berechtigt und die Minister im Oberhause, die Lords Granville,
Kimberley und Argyll standen mit ihrer Verneinung desselben ziemlich allein.
Dagegen erkannte die gesammte gemäßigt conservative Partei, durch deren
Hülse allein der Sieg erfochten ward, an, dahin dieser Beziehung Abhülfe nöthig
sei; namentlich müsse für die in den inneren Theilen des Landes zerstreuten
Protestanten gesorgt werden, da man dieselben sonst in die Alternative setze,
ihre Kinder ohne Erziehung zu lassen, sie katholisch zu erziehen oder aus¬
zuwandern. Aber, hoben jene Peers hervor, grade um derartige Abände¬
rungen der Bill zu bewirken, müsse man die zweite Lesung annehmen. Die
Frage sei jetzt eine ganz andere als voriges Jahr, wo Gladstone's Suspensory-
Bill dem Oberhause vorgelegen. Diese sei aus reinen Parteimotiven hervor¬
gegangen, ihre Annahme würde die irische Kirche desorganisirt haben, ehe eine
neue Organisation geschaffen worden, und das Haus für die Discussion einer
solchen in die ungünstigste Lage gesetzt haben. Inzwischen hätten die Wahlen
zum Unterhause unzweifelhaft entschieden, daß die Nation in ihrer großen
Majorität das Aufhören der Minoritäts-Staatskirche, das äiseztlrbliLNwsnt
wolle, und es sei eine eitle Hoffnung, zu glauben, daß dies Verbiet des
Volkes noch abzuändern sei. „Wenn", sagte Loro Grey, „eine Meinung sich
langsam, aber stetig im Volke gebildet hat, wenn die Flut wie in der gegen¬
wärtigen Frage zu Gunsten eines Wechsels zu steigen beginnt, wird sie so
wenig wieder zurücklaufen, als ein Fluß von der See weg; setzen Sie sich,
Mylords, nicht in Widerspruch mit der Nation. Sie können nicht hoffen,
diese Bill bei Seite zu schieben, Sie können nur einen kurzen Aufschub be¬
wirken, sie werden damit aber zugleich die größten Gefahren heraufbeschwören,
die Bill wird wiederkommen und dann unverändert angenommen werden
müssen. Hätte das Oberhaus die Reformbill von 1831 acceptirt, so wäre die
von 1832 unnöthig geworden, von der der Schrei erging, die Bill, die ganze
Bill, nichts als die Bill." Lord Salisbury setzte in seiner meisterhaften Rede
in gleichem Sinne die Bedeutung und Aufgabe des Oberhauses auseinander.
„Der Zweck eines zweiten Hauses ist, die Lücken zu ergänzen und die Fehler
zu verbessern, welche in den Berathungen des ersten Hauses vorkommen.
In neunundneunzig Fällen von hundert interessirt die Nation sich nicht für
unsere Politik und in allen diesen Fällen ist kein Unterschied zwischen Lords
und Gemeinen. Dann aber gibt es einzelne Fälle, wo die Nation zu Rathe
gezogen werden muß, um die Politik der Regierung zu entscheiden. Es kann
sein, daß das Unterhaus Unrecht hat; dann müssen die Lords darauf be¬
stehen, daß die Nation durch Neuwahlen befragt werde, aber wenn sie darauf
dem Unterhause Recht gibt, so ist die Sache entschieden, die Nation trägt die
Verantwortlichkeit und es ist weder räthlich noch würdig, ihr zu widerstehen.
Im gegenwärtigen Falle ist die Sache klar, die Nation hat sich für die Auf¬
hebung der irischen Staatskirche ausgesprochen und die Consequenzen daraus
sind unvermeidlich. Aber in den Details der Maßregel ist die Regierung
weit über den Austrag hinausgegangen, welchen sie von den Wählerschaften
empfangen. Die gegenwärtigen Minister haben ausdrücklich vor den Wahlen
erklärt, daß das Parlament frei darüber zu bestimmen habe, wie weit die
Einziehung des Kirchengutes gehen solle. Die Bill ist schädlich, weil sie den
Protestanten fast Alles nimmt, welche sich im Vertrauen auf den Schutz der
Regierung in Irland niedergelassen und als ihre sicherste Stütze bewährt
haben. Wir müssen deshalb die Bill verbessern und die Regierung kann un»
fere Verbesserungen nicht zurückweisen, denn das englische Volk würde sich
gegen den populärsten Minister wenden, der versuchen wollte, seinen Sieg
starlköpfig zu mißbrauchen. Compromiß ist das wahre Wesen brittischer Po¬
litik und sein Geist, der durch unsere ganze Geschichte geht, kann nicht plötz¬
lich durch eine große Majorität gebannt werden. Die Regierung weiß, aus
welchem See-ff große Majoritäten gemacht sind. Wollte sie aber dennoch
unsere Amendements vownsen. wie anders wird dann unsere Stellung sein?
Kann Mr. Gladstone wegen Detailfragen an das Volk appelliren. um die
Verfassung zu zerstören und das Oberhaus abzuschaffen? Nein, das Volk
tritt immer für große und weite Principien ein, welche einen Wendepunct
unserer Geschichte bilden, aber es läßt die Entscheidung der Ausführung im
Detail den Factoren, denen die Verfassung sie anvertraut hat. Wenn Sie,
Mylorcs, die zweite Lesung verweigern, so acceptiren Sie den Kampfplatz,
den Ihre Gegner Ihnen anbieten, statt den einzunehmen, welchen Sie sich
selbst wählen können."
In der That, so war es. Niemand hoffte mehr auf die Verwerfung der
Bill als die Radikalen, welche einen Conflict zwischen den Lords und der
Nation wünschten, um denselben zum Ausgangspuncte eines Kampfes gegen
die Siellung der erblichen Paine zu machen; das ist in dem landlosen Briefe
Bright's, den zu entschuldigen Lord Granvilles dornige Aufgabe war, deut¬
lich zwischen den Zeilen zu lesen. Um so mehr freuen wir uns mit allen
Gemäßigten, daß die Weisheit der Majorität diesen Plan zu Schanden
machte. Es ist kein Kleines, daß in einer Zeit wo der Imperialismus und
die Demokratie grassiren, die brittische Aristokratie den Ruhm traditioneller,
festgewurzelter Institutionen aufrecht hält.
Die Frage, die jetzt den Peers vorliegt, ist also die Verbesserung der
Bill in der Comittberathung. Dabei handelt es sich darum, wie weit können
die Abänderungen gehen, wo hört das Detail auf und wo fängt das Princip
an, das mit der zweiten Lesung angenommen wurde? Der schwächste Punct der
Gladstoneschen Bill ist unserer Ansicht nach, daß sie nicht — wie Pitt und Grey
beabsichtigten — irgend welche Ausstattung der katholischen Kirche Irlands in
Aussicht nimmt, sondern das Vermögen der Staatskirche nach Aussterben
der jetzigen Interessenten allein an Spitäler und Irrenhäuser geben will.
Zwar eine Bezahlung der Priester durch den Staat ist nicht wohl möglich,
weil dieselben hartnäckig weigern, eine solche anzunehmen, aber man könnte
den Erlös aus der Säkularisation der bischöflichen Kirche für die Errichtung
passender Wohnungen der Geistlichen aller drei Confessionen anwenden, Die
bischöfliche Geistlichkeit würde ihre gegenwärtigen Kirchen und Wohnungen
behalten, die katholischen Priester und presbyterianischer Geistlichen würden
allmälig die disponibel werden Summen für gleiche Zwecke erhalten. Der
Herzog von Devonshire hat dies System schon freiwillig aus seiner Tasche
auf seinen großen Besitzungen in Irland ausgeführt, das Volk ist dort zu¬
frieden, die Pachter werden pünktlich bezahlt und die Priester sind wohl¬
gesinnt, sie werden durch solche Amtswohnungen an das Kirchspiel und die
Obrigkeit gefesselt. Die bisher angekündigten Amendements der Lords Grey
und Russell würden einer solchen Lösung den Weg bahnen, und es ist wahr¬
scheinlich, daß, nachdem einmal das Princip entschieden, auch die Konserva¬
tivsten wenigstens so viel als möglich zu retten suchen werden. Eine andere
Frage ist es freilich, wie Gladstone diesen Versuch, sein Werk zu verbessern,
aufnehmen wird. Lord Derby nannte ihn in der Debatte den herrschsüchtig¬
sten, befchlerischsten und zugleich unbeugsamsten Minister (tuo most impkrious,
absolute anÄ s,1 tbs fünf eins most erratie ministör), der je Englands
Geschicke gelenkt, und unleugbar ist er heftig, hartnäckig und eigensinnig. Aber
wir hoffen, daß er sich der besseren Einsicht seiner vorurtheilsfreien Freunde
fügen wird, denn Lord Russell selbst befürwortet diese Lösung. Kommt sie
zu Stande, so ist es das Verdienst des Oberhauses.
Daß Graf Bismarck Urlaub auf eine Reihe von Monaten genommen
mit gänzlicher Ablösung von den Geschäften, und daß er die Stellung eines
preußischen Ministerpräsidenten aufgegeben, das war das wichtigste Ereigniß
der vergangenen Woche, von dem wir wahrscheinlich einen neuen Abschnitt
in der Entwickelung unseres Staates zu datiren haben. Wenn Gegner des
Grafen in diesem Schritt nickt viel mehr als einen Act des Trotzes sehen,
oder gar eine Demonstration, welche seine Unentbehrlichkeit erweisen soll,
so thun sie ihm zuverlässig Unrecht. Es ist zweifellos, daß eine große Geist
und Leib beherrschende Abspannung und Ermüdung ihn gezwungen hat. Er
ist nicht mehr in den Jahren erobernder Jugend, er hat seine geschäftliche
Laufbahn nicht in der regelmäßigen Arbeit des Actentisches, sondern zum
großen Theil in der Fremde in der bequemeren Thätigkeit eines Diplomaten
begonnen, er hat viele Energie seiner Natur im Kampf gegen die preußische
Volksvertretung verbraucht, hat in den kinischen Monaten des Jahres
1866 Stimmungen und Kämpfe durchgemacht, welche wohl kein Sterblicher
ohne Einbuße seiner Kräjte ertragen kann, und er hat darauf in der Er«
Hebung des Sieges das gewaltige Werk auf sich genommen, aus dem Chaos
ein neues Staatsleben zu schaffen, Ist es zu verwundern, daß ihm die
Kraft versagt, die er im vorigen Jahr nur unvollständig wiedergewonnen?
Wir betrachten mit menschlichem Antheil die Erkrankung, und der Dank,
welchen ihm die Nation schuldet, möge, so wünschen wir. ein Helles Licht
auf die Tage seiner Zurückgezogenheit weifen. Aber es ist auch unmöglich,
die Ansicht fern zu halten, daß seine gemüthliche N-ete>ges.blagenheit durch
eine peinliche immer schwerer lastende Empfindung vergiößert worden ist,
durch die Empfindung, daß für seine Natur in der Lage, die er sich selbst
geschaffen, nicht weiter zu kommen ist. Seine ganze Leitung der Geschäfte
war das Antreiben einer sehr künstlichen Maschine, nur er verstand Stift
und Schraube in Arbeit zu erhalten, wenn ihm einmal ein Theil versagte
oder wider seinen Willen rotirte, dann mußte der ganze Mechanismus ins
Stocken kommen. Schon im Jahr 1867 wurde das deutlich, aber gern beruhigte
sich der Deutsche durch die Hoffnung, die neue Verfassung des Bundes sei
nur der Anfang für eine consequentere und einfachere Organisation, Grund¬
lage zu energischem Ausbau. Unterdeß sind die Reibungen stärker geworden
als der Meister.
Eine amerikanische Zeitung hat vor Kurzem ein Gespräch des Grafen
Bismarck mitgetheilt, in welchem derselbe der Majontcit des Reichstages
die Schuld an dem Mißlingen seiner beabsichtigten Finanzoperationen zu¬
geschrieben haben soll. Dieser Bericht ist ein mißlungener Versuch, die That¬
sachen für das Ausland und kommende Geschlechter zu Gunsten des Grafen
unrichtig darzustellen. Nicht der Reichstag hat den Bundeskanzler im Stich
gelassen, sondern der Bundeskanzler hat dem Reichstage mehr zugemuthet,
als die wärmsten Anhänger seiner Politik auf ihr Gewissen nehmen konnten.
Wenn die Majorität im Reichstage sich gegen jede der proponirten Steuern
ausgesprochen hat. so war der letzte Grund nicht das Mißbehagen über die
heftige, würdelose und nicht durchweg wahrhafte Weise, in welcher die Be-
dürfnißfrage Preußens vor d^n Reichstag gezogen wurde, sondern im Hinter¬
grunde lag der Opposition die ernstere Erwägung: durfte der Reichstag unter
dem gegenwärtigen System sich dazu benutzen lassen, den preußischen Land¬
tag zu einem Nichts herabzudrücken? Bei dem Balancirspiel der Gewalten,
welches der Reichekanzler organisirt hat, wo die Rechte der preußischen Krone
durch die des Bundesfeldherrn oder gar der Bundesfürsten neutralisirt, wo
Bundestag und Reichstag, Reichstag und Landtag- gegen einander gestellt
wurden, blieb man doch sehr unsicher über die letzten Ziele des Reichs¬
kanzlers. Nur das merkte man deutlich, daß auch ihm, wie den andern
Ministern Preußens, mehr am Herzen lag, die Regierung möglichst un¬
abhängig von der Controle durch die Volksvertretung zu sichren, als mit
Hülfe der Volksvertreter das System in Preußen zu bessern. Und es
bestand bei einer sehr lebhaften Anerkennung der großen Eigenschaften, welche
die Nation an dem Grafen Bismarck bewundert, zwischen ihm und den
ehrlichen Leuten, welche das Gewissen des Volkes darzustellen hatten, kein
festes Vertrauen. Ja noch mehr, es wird die Aufgabe der Zukunft sein, die
Kompetenzen des preußischen Landtags in den Reichstag zu verlegen. Vor¬
aussetzung dafür ist aber ein freieres Selbstregiment der preußischen Kreise
und Provinzen und die Möglichkeit einer offenen und legalen Uebertragung
der restirenden Landtagsbefugnisse durch großen Pairschub. Was bis jetzt
von den Anstrengungen des Bundeskanzlers für eine neue Organisation der
preußischen Provinzen verlautete, gab keine Aussicht, daß er die Absicht
habe, diese Radikalcur der preußischen Verhältnisse vorzunehmen. So lange
aber die Regierung Preußens nicht den Entschluß, die Einsicht und die
Wege zeigt, auf denen der preußische Staatsbäu mit dem deutschen Staat
eins werden kann, ja so lange die Beschaffenheit der neuen Bundesregier¬
ung noch zweifelhaft läßt, ob sie Deutschland in einer großen Staatsverwal¬
tung zusammenschließen will, so lange wird gerade die preußisch gesinnte
Partei im Reichstage sich hüten müssen, den Organismus des preußischen
Staats da zu schädigen, wo die Widerstandskraft des preußischen Volkes
gegen mögliche Willkür seiner Regierung vorhanden ist.
Nach der ofstciellen Mittheilung ist die Absicht des Grafen Bismark,
sich nach seiner Genesung auf die Geschäfte des Bundeskanzlers und des
auswärtigen Ministers zurückzuziehen, die inneren preußischen Angelegen¬
heiten gänzlich anderen Händen zu überlassen. Es ist nicht möglich zu be¬
greifen, wie er eine solche Stillung auch nur wochenlang ertragen will.
Schon jetzt hat ihn nicht der Widerstand des Reichstages, sondern die In-
subordination seiner preußischen Collegen und die Auffassung bedrängt, daß
jeder Minister ein Diener der Krone sei wie der andere, jeder in seinem
Ressort, nur die Krone der Chef; und doch war er bis jetzt noch der Vorgesetzte
und hatte das Recht, vom Herrn von derHcydt Finavzpläne und vom Grafen
Eulenburg Einsicht in die preußische Verwaltung zu verlangen. Jetzt soll die Lei¬
tung des preußischen Staatskörpers ganz vom Bunde getrennt und in selbständi'
gen Ministercollegium etablirt werden, das wahrscheinlich aus Fachministern
ohne Präsidenten bestehen wird. Bei solcher Lösung wird die Stellung des
Bundeskanzlers noch viel schwieriger und von dem guten Willen anderer
eifersüchtiger Autoritäten abhängiger, und eine erfolgreiche Wirksamkeit die¬
ser Instanz ruht ganz und gar auf der zufälligen persönlichen Geltung, welche
Graf Bismarck mitbringt. Es ist wieder eine sehr künstliche Maschine, nur
mit geringerer Druckkraft, die im günstigsten Falle wieder nur von dem einen
Manne regiert werden kann und von keinem Nachfolger, denn jeder Andere
würde ein abhängiger Diener der preußischen Minister und das erste Opfer
ihrer Zwistigkeiten. Offenbar wäre dies eine vollständige Umlegung des
Schwerpuncts. Für die definitive Ordnung der deutschen und preußischen
Verfassungsverhältnisse erscheint uns solche Maßregel in dem oben angedeu¬
teten Sinne als ein Rückschritt, für den Bundeskanzler aber als der An¬
fang unvergleichlich größerer Verlegenheiten.
Wir sind der Meinung, daß das Bundeskanzleramt in einer geordneten
Zukunft mit dem Ministerium des Innern verbunden sein müßte, in der Zeit
nämlich, wo man in Preußen zu der Erkenntniß gekommen sein wird, daß
nicht auf den auswärtigen Geschäften, sondern auf der inneren Verwaltung
die Kraft und das Ansehen des Staates beruhe. Bis dahin aber ist noch
ein weiter Weg zu durchwandern, und die Stationen auf diesem Wege
müssen nach unserer Ansicht sein: größeres Selbstregiment der Kreise und
Provinzen, Evacuirung des preußischen Landtags durch liberale Ergänzung
des Herrenhauses und dadurch mögliche gesetzliche Uebertragung seiner Com-
petenzen theils an die Provinziallandtage, theils an den Reichstag. Der
Landtag mag dann fortbestehen für einzelne formelle Acte der Gesetzgebung,
bis ihn irgend eme Zukunft als unnöthig beseitigt.
Unterdeß haben die Gegner des norddeutschen Bundes keine Ursache,
sich seiner gegenwärtigen Krisis zu freuen. Denn wie unfertig und grillig
auch seine Verfassung aussehen mag, der neue Staat war so tiefes Bedürfniß
der Nation und ist durch eine Anzahl organisirender Gesetze bereits so fest
mit den Interessen von dreißig Millionen verflochten, daß er noch größere
Schwierigkeiten zu überwinden vermag, als selbst die Erkrankung des Grafen
B
Das lebhafte Interesse, welches den einzelnen in den Grenzboten veröffentlichten
Skizzen aus dem Leben des vielgeprüften russischen Verschwörers vom December 1825
gefolgt war, hatte eine frühere, als die bei uns sonst sür solche Fälle übliche Ver¬
öffentlichung des gesammten Werks wünschenswerth gemacht. Indem wir unsere
Leser mit dem Erscheinen des Werks bekannt machen, haben wir nicht nöthig, auf
Werth und Eigenthümlichkeit seines Inhalts noch besonders hinzuweisen; die
Bekanntschaft mit einem einzigen der von uns mitgetheilten Abschnitte genügte dem kun¬
digen Leser zu dem Eindruck, daß wir es mit einem ebenso wahrheitsgetreuer wie
anziehenden Bericht über einen Lebenslauf zu thun haben, wie er merkwürdiger kaum
gedacht werden kann. Ganz abgesehen von den Verhältnissen, mit denen des Autors
Aufenthalt in Petersburger Kasematten, sibirischen Gefängnissen und kaukasischen
Burgvesten uns bekannt macht, ist die hocharistokratische Verschwörung zu Gunsten
einer demokratischen Verfassungsänderung an und für sich für ihren Schauplatz und
ihre Theilnehmer ebenso charakteristisch, wie für den Leser neu und anziehend.
Gegenüber einem Publicum, das mit einem Theil dieser Aufzeichnungen bereits be¬
kannt und für dieselben interessirt ist, wird besonderer Nachdruck darauf zu legen
sein, daß die Mittheilungen der Grenzboten keineswegs mit dem Inhalt des ge¬
sammten Werks identisch sind. Neu ist vor Allem der Eingang, der die Ge¬
schichte der geheimen Gesellschaften oder vielmehr der revolutionairen Ideen in Ru߬
land in ihrem Zusammenhange darstellt und aus ihren Ursprung, das philosophische
Jahrhundert, zurückführt; neu sind ferner die Nachrichten über den von Pestel und
den Brüdern Murawjew-Apostol geleiteten Bund des Südens und dessen unglücklichen
Erhebungsversuch; ebenso die ausführlichen Verzeichnisse aller zu den verschiedenen
Zweigen der Verschwörung gehörigen Personen, der wider sie gefällten Urtheile und
spätere Modification. Endlich sind die Berichte über des Verfassers Aufenthalt in
Sibirien durch zwei Abschnitte vervollständigt, welche die Reise von Petrowsk nach
Kurgan und den jahrelangen Aufenthalt in dem genannten Städtchen schildern, das
ein Menschenalter früher das Exil Kotzebue's gewesen war. Den Schluß bilden die
Reise in den Kaukasus, der zweijährige Aufenthalt in den verschiedenen Theilen die¬
ses merkwürdigen und wenig bekannten Landes und die Begnadigung des Ver¬
fassers, der seine politischen Irrthümer mit dem Verlust der schönsten Lebensjahre
und seiner Gesundheit theuer genug gebüßt hatte.
Wir wünschen diesem Buch die Verbreitung, welche dasselbe als erste deutsche
-Quelle zur Geschichte des Aufstandes von 182S und zugleich als Bericht über die
Schicksale eines wackeren, ungebrochenen Mannes verdient.
Das Wiener Feuilleton hat in Norddeutschland von Alters her keinen be-
sonderZ guten Ruf und die letzten Jahre, in denen das Geschäft mit der liberalen
Phrase den Markt beherrschte, hgt diesen Ruf nicht eben gebessert.
Wie weit es mit dieser Art von Journalschreiberei kommen kann, haben wir
aber erst aus der vorliegenden Schrift erfahren. Der Verfasser, ein in der Donau¬
stadt viel beliebter und berühmter Feuilletonist, der Jahre lang das Glück gehabt,
die untere Etage der „Neuen freien Presse" zu beherrschen, war im Herbst vorigen
Jahres nach Spanien gegangen, um die spanische Revolution zum Gegenstande an¬
muthiger Schilderungen für seine Wiener Patrone zu machen. Hinterher sind die
einzelnen Artikel nothdürftig abpolirt und zu einem Ganzen zusammengefügt wor¬
den, das jetzt als 18 Bogen starkes Buch vor uns liegt.
Diese achtzehn Bogen enthalten zwölf Hauptabschnitte, von denen sieben neu¬
spanischen Reiseeindrücken (das Bourbonennest in Pan, — Aus dem Roman der
Königin — Carlos Marfori und Padre Claret — Auf der Puerta del Sol —
Madrider Tagebuch u. f. w,), fünf der Charakteristik spanischer Revolutionsmänner
(Prim, Serrano und Topete, Olozaga, Castellar, Garrido) gewidmet find. Den
norddeutschen, vielleicht den außeröstreichischen Leser überhaupt, der das eine oder
das andere der mit diesen verheißungsvoller Ueberschriften versehenen Capitel ge¬
lesen, will es bedünken, als habe er ein Buch vor sich, welches nicht in deutscher,
sondern nur in einer der deutschen ähnlichen oder gleichlautenden Sprache geschrieben
worden ist. sprech - und Denkweise des Autors sind von dem, was bei uns ge¬
wohnt und in der guten Gesellschaft hergebracht ist, so verschieden, daß eigentlich
alle Anknüpfungspunkte für landsmannschaftliche Verständigung fehlen. Dieses
leichtfertige, gutmüthig-gedankenlose Gebahren, das ohne die geringste Scheu jede
politische Tagesmode mitmacht, jeden Tageshelden feiert, auf die bloße Nachricht
von dem Septemberaufstande für das neue „liberale" Spanien schwärmt, an der
spanischen Grenze für Nichts als hübsche Mädchen Augen, für Nichts als königliche
Scandalgeschichten Ohren hat, die anstößigsten Dinge durchaus naiv und mit einer
gewissen sachverständigen Kollegialität weitererzählt, sich kindlich über die eigenen
Einfälle freut und stets bei unverwüstlichem gutem Humor bleibt, muthet uns so fremd
an, als gehöre es nicht nur einem andern Volk und einer andern Zeit, sondern
einem andern Erdtheil und einer anderen Zeitrechnung an. Und doch werden wir
durch die oft wiederholten, uns selbst nur allzugeläufigen Schlag- und Kraftworte
der politischen Gegenwart daran erinnert, daß wir es mit einem anstrebenden Zeit¬
genossen zu thun haben, — allerdings einem, der sich über sein Streben kaum irgend
welche Illusionen macht!
Für die Beschaffenheit der Reiseeindrücke, welche auf den ersten 185 Seiten
niedergelegt sind, werden die obigen kurzen Andeutungen genügen. Was die
Charakteristik der sechs großen Revolutionsmänner anlangt, mit denen wir in des
Werkes zweitem Theil bekannt gemacht werden, so ist dieselbe dadurch besonders
merkwürdig, daß sie dem Verfasser Gelegenheit gibt, sich als Anhänger der spanischen
Republik und des entschiedensten spanischen „Fortschritts" zu bekennen und die Mode-
rados unbarmherzig zu vertheilen. Wir können uns lebhast das Entzücken vor¬
stellen, mit dem diese Bekenntnisse von dem ebenso liberalen Wiener Philister auf-
genommen werden, der das liberale Neu-Oestreich durch ein noch liberaleres Neu-
spanien überflügelt sieht.
Der verdienstvolle Urheber der deutschen Nordpolexpedition, Herr Petermann in
Gotha, hat dem deutschen Interesse für diese großartige Unternehmung kaum einen
geeigneteren Eporn geben tonnen, als es durch die Publication der vorliegenden
Schrift Lindemanns geschehen ist. Die Geschichte der deutschen Großfischerei im
nördlichen Eismeer ist. wenigstens ihrem Zusammenhange nach, dem größten Theil
unserer Nation fremd und doch hat sie alles Recht darauf, den verwandten Unter¬
nehmungen anderer Culturvölker an die Seite gesetzt zu werden. Während Eng¬
land, Holland, Frankreich und Dänemark die Bedeutung dieses Betriebes schon vor
drei Jahrhunderten erkannten und demselben im wirthschaftlichen Interesse wie zum
Zweck der Ausbildung und Abhärtung ihrer Seeleute thätige Theilnahme und wirk¬
same Unterstützung zuwandten, waren die Deutschen, welche mit jenen Völkern in
Concurrenz treten wollten, von Hause auf sich selbst und ihre privaten Hülfsmittel
angewiesen: denn staatlichen Schutzes im Auslande zu entbehren, war ihnen schon
im siebenzehnten Jahrhundert zur Gewohnheit geworden. Wenn sie nichtsdesto¬
weniger den ungleichen Kampf mit den Angehörigen begünstigterer Staaten und
Nationen nicht scheuten, wenn namentlich die Hansestädte unverdrossen an dem Be¬
streben festhielten. Gefahr und Gewinn der arktischen Fischerei mit Engländern und
Niederländern zu theilen, so verdient das allein die Theilnahme der Nachgeborenen,
welche Zeugen der staatlichen Bestrebungen sind, die der deutschen Flagge Ansehen
und Geltung in Nord und Süd erobern wollen.
Das vorliegende Buch (118 S. in gr. F) enthält aber sehr viel mehr, als
sein bescheidener Titel verspricht. Der Verf. entfaltet ein anziehendes und interessan¬
tes Bild der Fischereiversuche aller Völker im Norden und berücksichtigt die Unter¬
nehmungen der fremden Völker ebenso ausführlich und gewissenhaft, wie die der
Deutschen. Von den Anlagen und den beiden trefflichen Karten abgesehen, welche
den Werth dieser schätzenswerthen Schrift wesentlich erhöhen, enthält dieselbe sechs
Abschnitte: Eine Einleitung, welche die wirthschaftliche und politische Bedeutung
der Großfischerei im Allgemeinen, die Ursachen des Zurückbleibens der Deutschen
auf diesem Gebiet und die Leistungen der Hansestädte erörtert, und sechs Haupt¬
capitel (die Anfänge der Fischerei in den nördlichen Meeren vor der Entdeckung
Spitzbergens — die Spitzbergen und Grönlands-Fischerei im 17ten Jahrhundert —
die weiteren Unternehmungen bis zum 19ten Jahrhundert — die heutige Fischerei
und die deutschen Unternehmungen — die Fischerei-Unternehmungen in der
Südsee, dem atlantischen Ocean und in den arktischen Gewässern Asiens und
Amerikas).
Ganz abgesehen von der reichen Belehrung, welche uns durch des Ver¬
fassers geographische und wirthschaftliche Ausführungen geboten werden, ent-
hält die Arbeit desselben eine Fülle reicher Details über die Gefahren und
Wagnisse, welche die einzelnen Unternehmer durchzumachen hatten, ehe es ihnen
gelang, bis in die Regionen vorzudringen, welche die eigentliche Heimath ihrer kostbaren
Beute sind. In dieser Beziehung machen wir ganz besonders auf drei in dem zweiten
und dritten Hauptcapitel enthaltene Abschnitte aufmerksam, welchen kaum ein Leser ohne
die lebhafteste und wärmste Theilnahme folgen wird. Den Bericht der drei nord¬
deutschen Matrosen, welche 1777 den Schiffbruch des Grönlandfahrers „Wilhelmina"
mitgemacht und sich nach Westgrönland gerettet hatten, die Geschichte der Ueber¬
winterung von acht Engländern auf Spitzbergen (1630) und den Bericht des Ham¬
burger Schiffsbarbiers Mariens über seine Fahrten nach Grönland und Spitzbergen (1671),
welches im siebzehnten Jahrhundert als Appertinenz Grönlands angesehen wurde. —
Was den Bericht der schiffbrüchigen Deutschen anlangt, welche mit der „Wilhel¬
mina" bis an den 78" nördl. Br. gesegelt waren, so ist er in mehr wie einer Rücksicht
merkwürdiger, als Alles, was von zeitgenössischen Seefahrern aufgezeichnet worden.
Nicht nur, daß die geretteten Matrosen eine Reihe von Abenteuern und Entbehr¬
ungen ausgestanden haben, die an das Unglaubliche grenzen — dieselben haben in Mit¬
ten aller sie umgebenden Schrecken ein „Tagregister" ihrer Erlebnisse geführt, dessen
Ausführlichkeit schon im vorigen Jahrhundert allgemeine Aufmerksamkeit erregte.
Am Sonntag den 12. Juli 1778, so wird uns berichtet, begegnete der Schreiber
eines holländischen Schiffes zu Amsterdam drei Leuten in Kleidern der Wilden.
Es waren drei deutsche Matrosen, Harm Herrick Kröger, dessen gleichnamiger
Sohn und Karsten Kutte aus Bremen. Die Neugierde, „welche einem öffent¬
lichen Scribenten eigen ist, um besondere Umstände merkwürdiger Begebenheiten zu
hören", veranlaßte den Holländer, sich mit den drei Leuten in ein Gespräch einzu¬
lassen und zu großer Verwunderung des Hörers fand sich, daß die Deutschen ein
Tagebuch geführt hatten, welches um die Hälfte größer und sehr viel ausführlicher
war als die gedruckte Erzählung eines der unbetheiligten Commandeure, Mart
Janssen. Der Holländer veranlaßte die Herausgabe dieses von Harm Herrick Krö¬
ger geführten Journals, das im Jahr 1779 zu Bremen erschien und das unser
Autor im Auszuge und meist mit directem Anschluß an den Wortlaut mittheilt.
Dieser Bericht allein sichert dem interessanten Werke Anspruch auf die Theilnahme
auch der weitesten Leserkreise; der naive fromme Ton der Erzählung ist ebenso er¬
greifend wie der Inhalt, der der Zähigkeit deutscher Seemannsnaturen ein in
seiner Weise unvergleichliches Zeugniß ertheilt.
Ueber die Fahrten nach Spitzbergen und die wichtige Rolle, welche diese un¬
bewohnbare Insel in der Geschichte der arktischen Fischerei gespielt hat, ist der Be¬
richt des oben erwähnten Schiffsbarbiers Friedrich Martens besonders ausgiebig.
Der Verfasser desselben hat ein entschiedenes Beobachtungstalent und eine gewisse
Bildung besessen, welche ihn befähigte, seine Aufmerksamkeit nicht nur auf die da¬
malige Technik der Fischerei und ihren eigenthümlichen Betrieb durch die verschie¬
denen Nationalitäten zu richten, sondern auch die nordische Natur nach ihren charak¬
teristischen Merkmalen aufzufassen und wiederzugeben. Auch dieser Bericht war sei¬
ner Zeit (1675) veröffentlicht worden und ist der Vergessenheit durch unseren Autor
entrissen worden. An diese Erzählung schließt sich die höchst merkwürdige Geschichte
der Ueberwinterung von acht englischen Matrosen auf Spitzbergen, die hier im
Herbst 1630 durch ein Versehen zurückgelassen worden waren und zum höchsten Er»
staunen ihrer Kameraden im Frühling des nächsten Jahres wiedergefunden wurden,
allerdings nachdem sie kaum glaubliche Gefahren und Strapatzen überstanden, drei
und einen halben Monat lang die Sonne nicht gesehen, drei Wochen lang selbst jeden
Dämmerscheins beraubt gewesen. — Der Versuch, die Wintermonate auf dem Eise
dieser unwirthbaren Insel zu verbringen, ist während des 17ten Jahrhunderts wie¬
derholt, aber nur zwei Mal mit Erfolg gemacht worden: 1631 von den erwähnten
acht Engländern, drei Jahre später von sieben holländischen Freiwilligen, welche zu
diesem Zweck besonders verproviantirt und ausgerüstet worden waren und das Wag-
niß glücklich überstanden; das Schiff, welches sie in diese nordische Region gebracht,
hatte Spitzbergen schon Ende August verlassen müssen, und kehrte erst im Juni
wieder zurück. Im nächsten Jahre (1634) wurde dasselbe Experiment, abermals
von sieben Holländern unternommen. Da man im folgenden Frühjahr aber keinen
derselben lebend wiederfand, wurden weitere Ueberwinterungsversuche von der hollän¬
dischen Compagnie aufgegeben. Sie sind auch von anderer Seite nicht mehr auf¬
genommen worden, zumal Spitzbergens Bedeutung für die nordische Fischerei in spä¬
terer Zeit beträchtlich abgenommen hat. — Sowohl die Zahl der in die einzelnen
Gegenden unternommenen Expeditionen, als die Angaben über die Ausbeute derselben
sind aus Grund genauer statistischer Erhebungen ausführlich mitgetheilt. — Die bei¬
den interessanten Karten (der Nordpol und das europäische Nordmeer), auf denen
die von den wichtigeren Expeditionen genommenen Course verzeichnet sind, rühren
beide von Petermanns Meisterhand her.
Wir glauben unsern Bericht über das Lindemannsche Werk nicht angemessener
schließen zu können, als mit den Worten der Petcrmannschen Einleitung zu demselben,
die außerdem wegen ihrer conkreten Beziehung auf die zweite deutsche Nordpol¬
expedition von Bedeutung sind. „Wir brauchen vor Allem richtig geschulte, kühne,
durchwetterte Seeleute, wie sie die Engländer, Nordamerikaner, Holländer u. A.
namentlich aus ihren Großsischereien und Forschungs-Expeditionen im Eise gewonnen
haben. Panzerschiffe und Kanonen allein thun es nicht, und Eisenherzen hinter
hölzernen Wällen sind^n^l)t mehr werth, als Hasenherzen hinter eisernen Wällen."
Mit Ztr. hat diese Zeitschrift ein neues Quartal be¬
gonnen, welches durch alle Buchhandlungen und Postämter
zu beziehen ist.
Leipzig, im Juni 1869.Die Verlagshandlung.
Das allgemeine Stimmrecht, das von sechs zu sechs Jahren ganz Frank¬
reich in Bewegung setzt, functionirt in diesem Lande auch auf dem Gebiet
der reformirten Kirche, und zwar ist dieses kirchliche Stimmrecht genau so
alt wie das politische. Die demokratische Verfassung, die sich von den Ge¬
meinden aus aufbaut, ist zwar eine alte Tradition der Hugenottenkirche, in
ihrer jetzigen Gestalt stammt sie aber aus dem Jahr 1852, das nach langen
Zeiten der Rechtlosigkeit oder der Reglementirung der reformirten Kirche
erst wieder ihre Selbständigkeit zurückgegeben hat. Aus den ollgemeinen
Wahlen, die alle drei Jahre stattfinden, gehen die Presbyterialräthe und die
Consistorien hervor und diesen stehen wiederum die Wahlen der Geistlichen sowie
der Professoren an den nationalkirchlichen Facultäten zu. Der Staat wahrt
sich in dem sogenannten Centralrath blos ein Oberaufsichtsrecht, ohne sich in
die inneren Angelegenheiten der Kirche zu mischen. Diese entbehrt somit
einer eigentlichen Centralbehörde; die Consistorien, deren es über hundert
sind, stehen unter sich in keinem äußeren Verband, man redet deshalb im
officiellen Sprachgebrauch nicht von der reformirten Kirche, sondern von den
reformirten Kirchen Frankreichs, und da der Schlußstein der Verfassung,
nämlich die große Synode, der allein das Gesetzgebungsrecht und die Ent¬
scheidung in dogmatischen und liturgischen Fragen zustünde, bis jetzt ebenso
fehlt, wie die Provinzialsynoden. so ist der reformirten Kirche in Frankreich
eine Freiheit der Bewegung eigen, die in demselben Maße nur etwa noch
in einigen Schweizer Cantonen vorhanden ist und der öffentlichen Meinung
ungehinderter als irgendwo Einfluß auf die Gestaltung des kirchlichen
Lebens sichert.
Die kirchlichen Richtungen, in welche der französische Protestantismus
der Gegenwart auseinandergeht, sind dieselben, wie sie überall theils aus
dem Umschwung des modernen Bewußtseins, theils aus der Bewegung der
theologischen Wissenschaft sich entwickelt haben. Im Anfang dieses Jahr.
Hunderts herrschte auch dort ein mehr oder weniger flacher Rationalismus in
den hergebrachten orthodoxen Formen. Langsam brachen sich einzelne Schüler
Schleiermacher's Bahn, und tiefer noch waren die Wirkungen, als mit dem
Anfang der dreißiger Jahre der englische Methodismus eindrang, der die
gemeinsame Mutter sowohl einer freisinnigen als einer zur Orthodoxie zurück¬
lenkenden Richtung war. Jetzt zuerst bildeten sich Parteien mit eigenen
Organen, und der Kampf vertiefte sich um so rascher, als nun die neue
deutsche Theologie in immer breiterer Weise sich Eingang verschaffte. Die Unter¬
suchungen der Tübinger Schule fanden eine scharfsinnige und geistreiche Ueber-
tragung. Lange bevor Rennens Buch so viel Staub aufwarf, hatten diese
Studien, zuerst von den Straßburgern noch mit großer Zurückhaltung ein¬
geführt, an E. Scherer, Nicolas. Reville, Nefftzer u. A. beredte Vertheidiger,
die damit der theologischen Wissenschaft in Frankreich einen ganz neuen Hori¬
zont eröffneten und einer Partei, welche sich auf die ursprüngliche Christus¬
lehre gegen die spätere Kirchenlehre berief, mächtige Waffen in die Hand
gaben. Wesentlich auf deutscher Geistesarbeit beruhend, unterschied sich dieser
französische Liberalismus doch von Anfang an durch zwei ihm eigenthüm¬
lichen Momente. Vor allem nämlich wußte er sich rasch eine populäre
Wirkung zu sichern, indem er die Resultate der Kritik in anziehenden, wenn
auch eclectischen Essays darbot, welche sich ein weites Lesepublicum erwarben
und die religiösen Interessen fast zum Rang von Tagesfragen erhoben. Das
andere aber ist die praktische Tendenz, die sich von Anfang an das wissen¬
schaftliche Interesse knüpfte. Was der Gelehrte gefunden, mußte auch der
Gemeinde zu gut kommen. Einen Widerspruch zu dulden zwischen einem
Christenthum für Gebildete und einem Christenthum für das Volk, zwischen
einer officiellen Lehre für die Kanzel und einer esoterischen Lehre für die
Wissenden, war ganz gegen das französische Temperament. Die wissenschaft¬
lichen Richtungen wurden sofort zu kirchlichen Parteien.
Diesen Parteien bietet nun die freie Verfassung ein unbegrenztes Gebiet
wetteifernder Wirksamkeit. Es fehlt eine oberste Gewalt, die eine einseitige
Richtung begünstigen, eine gegnerische unterdrücken könnte. Niemand kann
einem Conststorium, das aus einer Mehrheit liberaler Wähler hervorgegangen
ist, verbieten, freisinnige Geistliche anzustellen, und diese sind Niemand ver¬
antwortlich als ihren Gemeinden und ihren l Consistorien. Eine officielle
Lehre existirt nicht, selbst die Verbindlichkeit des Glaubensbekenntnisses von
Rochelle ist schon seit Napoleon I. aufgehoben, der Geistliche ist für seinen
Lehrvortrag einzig an die Schrift ohne jede andere Autorität gewiesen. Unter
diesen Umständen gibt es keine herrschende Orthodoxie, von der sich die freieren
Richtungen erst das Recht der Existenz zu erbetteln hätten, gleichberechtigt
stehen sich die Parteien gegenüber. Jede ist ohne Hilfe der Staatsgewalt
auf die eigenen Kräfte angewiesen und keine Rücksicht auf Gnade oder
Ungnade eines bureaukratischen Kirchenregiments legt dem freien Wort
Fesseln an.
Unter diesen Umständen befindet sich die Orthodoxie in einer eigen¬
thümlichen Lage. Sie ist ihrem Princip nach exclusiv, das Monopol gehört
zu ihrem Begriff, sie hört auf Orthodoxie zu sein, wenn sie andere Rich¬
tungen als gleichberechtigt neben sich dulden muß. Seit lange ist deshalb
ihr Bestreben darauf gerichtet gewesen, die Mehrheit, die sie als die ältere
Richtung gegenwärtig unzweifelhaft noch besitzt, zu einer dauernden Be¬
festigung ihrer Herrschaft zu benutzen. In diesem Sinne agitirte sie für das
Institut der Synode, um durch diese eine neue Autorität in Glaubenssachen
aufzurichten, der die Minderheit sich zu fügen hätte, wenn sie es nicht vor¬
zöge, die Kirche zu verlassen. Und da diese ihre Bestrebungen bisher erfolglos
waren, bietet sie wenigstens überall da, wo sie thatsächlich im Besitz der
Gewalt ist, alle Mittel auf, dem Eindringen der gegnerischen Richtung einen
Riegel vorzuschieben. So vor Allem in Paris, wo diese Kämpfe, die weit
über Frankreich hinaus die Aufmerksamkeit auf sich lenkten, einen besonders
leidenschaftlichen Charakter angenommen haben. Die Absetzung Athanase
Coquerels des Jüngeren. Sohns des im vorigen Jahr verstorbenen viel¬
jährigen Hauptes der Pariser Liberalen, führte den Bruch des bis dahin
leidlich bewahrten Friedens unter den Parteien herbei, sie war das Signal,
welches die ganze reformirte Kirche in zwei feindliche Heerlager theilte.
Mehrere Umstände wirkten zusammen, daß gerade in der Pariser Ge¬
meinde die Gegensätze so feindlich aufeinanderstießen. Paris war immer die
feste Burg der Orthodoxie gewesen, um welche sich die vorwiegend ortho¬
doxen Kirchen des Nordens gruppirten, während im Süden, in der alten
Heimath des Hugenottenthums, die liberale Meinung vorherrscht. Die Ortho¬
doxie der Hauptstadt hatte aber weniger dogmatische, als vielmehr wesentlich
hierarchische Motive. Der Presbyterialrath erneuerte sich bis zum Decret
von 1862 durch Selbstergänzung, und so kam es. daß die Leitung der
Pariser Gemeinde in die Hände einer Aristokratie gerieth. welche sich aus
Freunden und Verwandten zu recrutiren pflegte und nicht blos durch Be¬
setzung der Predigerstellen die Orthodoxie aufrecht erhielt, sondern durch das
Diaconen, dem die Armenpflege obliegt, eine eigentliche Herrschaft in der Ge¬
meinde ausübte. Es war dies eine Gruppe von Männern, welche unter
Louis Philipp eine hervorragende Stelle theils als Staatsmänner theils als
Finanzmänner gespielt hatten und in Guizot ihr geistiges Haupt verehrten.
Die Orthodoxie angreifen hieß also vor Allem das Monopol der Kirchen¬
leitung gefährden, das in diesen Händen lag. Kein Zweifel, daß es den
Herren Delessert, Umbri, Mallet u. f. w. um die Reinhaltung des Glaubens
zu thun war, aber noch mehr war ihnen darum zu thun, die süße Ge¬
walt zu behaupten, an deren Besitz sie sich gewöhnt hatten. Der Kampf
gegen die Orthodoxie war hier also zugleich der Kampf gegen eine wohl¬
befestigte Hierarchie.
Dieses Verhältniß erschwerte den Kampf und machte erklärlich, warum
auch das Decret von 1862, das die allgemeinen Wahlen einführte, nur
langsam seine Wirkungen äußerte. Dazu kommt, daß die ersten Wahlen in
eine Zeit der allgemeinen Reaction fielen. Wie das politische Stimmrecht
nur die Folge hatte, eine ergebene Mehrheit in den gesetzgebenden Körper
zu senden, so bewährte sich auch das Stimmrecht, das den Protestanten ein¬
geräumt wurde, in dieser Zeit als eine Stütze des Conservatismus. In
Paris wurden einfach die seitherigen Mitglieder des Presbyterialraths ge¬
wählt, das allgemeine Stimmrecht bestätigte sie, und ebenso fielen die fol¬
genden Wahlen zu Gunsten des Presbyterialraths aus. Doch ließ sich ein
stetiges, wenn auch langsames Anwachsen der Opposition, eine stetige Ab¬
nahme der Mehrheit bemerken. Wie sich im politischen Leben der öffentliche
Geist langsam wieder aufrichtete, so bildeten jene Wahlen einen Gradmesser
für die Erweckung des Geistes der Initiative und des Fortschritts innerhalb
der protestantischen Kirche. Der gleichzeitige Aufschwung der theologischen
Wissenschaft förderte mächtig, und außerhalb Paris hatte die liberale Mei¬
nung allmälig immer mehr Erfolge aufzuweisen.
Für die Liberalen in der Hauptstadt lag darin ein mächtiger Antrieb,
ihrem Presbyterialrath. der sich nicht ungern eine Autorität über die ganze re-
formirte Kirche angemaßt hätte, energischer auf den Leib zu rücken. Im
Jahre 1860 wurde die Union Protestakts Moral« gegründet, eine Vereini¬
gung, deren Zweck war, „die religiöse Bewegung unter den Protestanten in
Frankreich zu unterstützen, die fortschreitende Entwickelung der christlichen
Wahrheit zu fördern, und die freie Glaubensäußerung im Schooß der natio¬
nalen Kirche zu sichern." In ihrer Ankündigung berief sich die Union auf
das reformatorische Princip, daß der Glaube vor Allem frei und persönlich
sein müsse, daß Jeder das Recht habe, im Gewissen und in d?r Bibel zu
suchen, was er glauben solle, daß das Wesen der Religion nicht in diesen
oder jenen Lehrmeinungen, sondern in Gefühl und Leben bestehe. Ein Ver¬
ein also denkender Protestanten sei die Union, aber sie sei bereit, auch mit
denen sich zu verbinden, welche anders denken, vorausgesetzt, daß sie im
Princip und in den Folgen die Toleranz für verschiedene Lehimeinungen auf
dem gemeinsamen Boden der Freiheit, des Gewissens und der christlichen
Liebe zulassen. In diesem Sinne wollten sie durch Publicationen, durch die
Zeitschrift „!e Protestant liberal" und durch einen jährlichen Almanach wirken.
Die Union hatte ihren Sitz zu Paris, wo ein Ausschuß von 18 Laien die
Geschäfte leitete.
Der Hauptzweck der Union war, die Hierarchie des Presbyterialraths
zu stürzen und zu diesem Behufe durch Belehrung und Aufklärung der
Wähler auf die Wahlen einzuwirken. Von diesem Augenblick an fühlte sich der
Presbyterialrath bedroht, bei den Wahlen im Januar 1861 geboten die Li¬
beralen bereits über ein volles Drittel der abgegebenen Stimmen, es galt
darum strenger als zuvor die Zügel anzuziehen. Die Union war zwar von
Laien gegründet und geleitet, auch ihre Publicationen waren von Laien ge-
schrieben, allein es liegt auf der Hand, daß die Wirksamkeit liberaler Pre¬
diger jene Bestrebungen am meisten unterstützen mußte. Es galt also, das
Eindringen liberaler Prediger um jeden Preis zu verhindern, solche, die schon
vorhanden waren, wo möglich zu entfernen. Letzteres war nun zwar bei den
älteren Pfarrern, Coquerel Vater und Martin-Paschoud nicht mehr möglich,
aber es war möglich, die Söhne Coquerels von der Kanzel auszuschließen,
Athanase, dem älteren derselben, die Suffraganstelle, die er bei Martin-
Paschoud bekleidete und die alle drei Jahre neu bestätigt werden mußte, zu
entziehen, und Etienne, den jüngeren, der Aumonier an einem Gymnasium
war, gar nicht zuzulassen. Ende 1863 wurde der Vorschlag von Coquerel
dem Vater, den jungen Valis zum Suffragan zu nehmen, vom Presbyterial¬
rath abschlägig beschicken; es war dies das Vorspiel dessen, was bald daraus
gegen A, Coquerel, Sohn, geschah.
In solchen Fällen pflegt es selten ohne sehr menschliche Motive zuzu¬
gehen, sie waren auch hier in reichem Maß vorhanden und man darf sie zur
Erklärung des Geschehenen nicht übergehen. Die Gegnerschaft der im Pres¬
byterialrath thronenden Olympier gegen die Coquerel datirr aus früherer Zeit.
Coquerel, der Vater, war der einzige gewesen, der im Consistorium der ge¬
schlossenen Majorität mit einer selbständigen Ueberzeugung gegenüberstand
und ihr durch einen fortgesetzten kleinen Krieg unbequem wurde. Diese
Animosität gegen den Vater trug sich ganz von selbst auch auf die Söhne
über, um so mehr, als Athanase sich rasch einen starken Anhang und eine
ausgebreitete Wirksamkeit erwarb. Athanase Coquerel, Sohn, war, nachdem
er seine Studien in Genf absolvirt. von 1843—1848 Suffragangeistlicher in
Nimes, 1848 Aumonier an einem der Pariser Lyceen; im Jahre 1860 wurde
er zum Suffragangeistlichen des leidenden Pfarrers Martin - Paschoud. der
1836 zum letzten Male als liberaler Geistlicher an der Pariser Gemeinde an¬
gestellt worden war, ernannt, und in dieser Eigenschaft nahm er bald eine
ganz exceptionelle Stellung ein. Obwohl nur Hilfsgeistlicher, hatte er in
kurzer Zeit die vollsten Kirchen, das ausgebreiteste Seelsorgeramt. Eine un¬
gewöhnliche Rednergabe, vielseitige Bildung, der Eifer, mit dem er sich allen
kirchlichen Obliegenheiten, allen gemeinnützigen Zwecken widmete, erwarben
ihm ein allgemeines Vertrauen. Mit seinem Bruder Etienne, der sich be-
sonders als gewandter, allzeit schlagfertiger Polemiker erwies, gab er das
Journal „Lien" heraus, das einen geistvollen Kampf gegen die Orthodoxie
führte und heute noch das angesehenste Organ des liberalen Protestantismus
ist. Dabei fand er noch Zeit für eine ausgebreitete literarische Thätig¬
keit. Von seinen ästhetischen Studien legten seine Briefe über die schönen
Künste in Italien vom Standpunkte des religiösen Lebens (1857), von sei¬
nen geschichtlichen Forschungen der erste Band einer Geschichte der reformir-
ten Kirche von Paris (1862), eine Lebensbeschreibung von I. Calas und sei¬
ner Familie und einige kleine Monographien Zeugniß ab. Der Kaiser hatte
ihn, den Hilfsgeistlichen, mit dem Kreuz der Ehrenlegion ausgezeichnet, was
seinen Collegen gleichfalls ein Dorn im Auge war. Kurz, man darf es
sagen, und es ist in öffentlicher Versammlung ausgesprochen worden: es war
der Neid, der die Opposition gegen ihn schärfte und zum Hasse steigerte.
Aber es kam darauf an, greifbarere Gründe aufzufinden, um das Vor¬
gehen gegen ihn zu beschönigen, es galt, eine passende Zeit und Gelegenheit
abzuwarten. Diese schienen gekommen, als das Leben Jesu von Renan ver¬
öffentlicht wurde und dessen unglaubliche Popularität die Orthodoxie beider
Lager erschütterte. Die Katholiken halfen sich durch Hirtenbriefe, Pamphlete,
durch den Index. Den Reformirten stand kein Index, zu Gebot, aber sie
zögerten nicht, jetzt eine Maßregel durchzusetzen, zu der sie schon längst ent¬
schlossen waren. Viermal war von drei zu drei Jahren die Suffraganstelle
A. Coquerels ohne Widerspruch erneuert worden; 1861 wurde sie ihm. dem
bereits Verdächtigen, nur auf zwei Jahre erneuert; im November 1863 schlug
Martin-Paschoud abermals vor, die Suffraganstelle, und zwar diesmal defini¬
tiv, seinem bisherigen Hilfsgeistlichen zu übertragen.
Der Presbyterialrath übergab die Sache einer Commission von drei
Geistlichen und vier Aeltesten, welche einen der einseitigsten Fanatiker,
Mettetal, Divisionschef auf der Polizeipräsectur, zu ihrem Berichterstatter
wählte. Der Bericht, der in der Sitzung vom S. Februar 1864 verlesen
wurde, enthielt, ohne zu einem Schluß zu kommen, eine Reihe von Be¬
schwerden gegen Coquerel. Die Debatte wurde auf die Sitzung vom 19. Fe¬
bruar vertagt, in welcher Coquerel selbst erschien, sich mit Würde gegen die
Anschuldigungen vertheidigte und sich offen zu den angezogenen Stellen be¬
kannte, die man gegen ihn zusammengelesen hatte. Die Entscheidung selbst
wurde in der Sitzung vom 26- Februar gefällt. Mit 12 Stimmen gegen 3
wurde der Antrag Martin-Paschouds verworfen und somit die Nichtbestäti-
gung Coquerels ausgesprochen. Die drei Stimmen gehörten Coquerel dem
Vater, dem Pfarrer Montandon, der dogmatisch ganz orthodox, in kirch¬
lichen Fragen jedoch tolerant und freisinnig ist. und einem der Aelresten.
Welches waren die Anklagen gegen A. Coquerel? In doppelter Hin-
ficht, hieß es, habe sich Coquerel eine Verfehlung zu Schulden kommen lassen,
gegenüber den Glaubenslehren der Kirche und gegenüber den Rechten des
Presbyterialraths. In ersterer Beziehung wurden zunächst fünf Stellen
aus Artikeln des „Lien" ausgezogen, wonach der Angeschuldigte z. B. ge¬
äußert hatte, daß er die Fragen der Dreieinigkeit, der Erbsünde, der Ver¬
söhnung, der Inspiration, der Autorität der Schrift und anderer sogenannter
Fundamentaldogmen nicht blos ein wenig, sondern ganz anders verstehe als
die Orthodoxen. Ueber die übernatürliche Geburt Jesu hatte er sich zwei¬
felnd ausgesprochen und sie für einen Punct von untergeordneter Wichtigkeit
erklärt, auch gegen die Anbetung Jesu, die nur Gott gebühre, sich erklärt.
Er hatte davon geredet, daß das Evangelium, die erhabenste Geschichte,
zugleich Spuren der Legende zeige, neben ewig Wahren zugleich das
Gepräge der Irrthümer der Zeit trage, in der es entstanden; endlich
war in einer Stelle angeführt, daß die göttliche Autorität nicht im
Buchstaben und nicht in den Denkmälern des Judenthums und Christenthums
wohne, sondern daß der göttliche Geist frei, machtvoll und ganz unabhängig
vom Buchstaben in den Herzen wirksam sei. Das war Alles, was aus sämmt¬
lichen Jahrgängen des „Linn" von dem Berichterstatter Ketzerisches aufge¬
spürt und zusammengetragen werden konnte.
Aber weiter. Im August 1863 hatte Coquerel eine eingehende Kritik von
Renans Leben Jesu im „L!en" veröffentlicht. Sie war in Form von Briefen
an Renan selbst geschrieben und trug die Aufschrift: „Lieber gelehrter Freund!"
Das war das erste Verbrechen. Schon diese Anrede bot Anlaß zu einer
Rüge, deren gehässiger Charakter erst dann in seinem vollen Licht erscheint,
wenn man die persönlichen Beziehungen der Familie Coquerel zu den Fa¬
milien Ary Scheffer und Renan kennt. Aber auch in der Kritik selbst wur¬
den die von dem Verfasser gemachten Ausstellungen und Einwendungen für
ungenügend, die dem Buch gespendeten Lobsprüche für anstößig erklärt. Die
Coquerel'sche Kritik ist durch Uebersetzung auch in Süddeutschland bekannt*)
geworden, es genügt daher, darauf zu verweisen. Man weiß, daß sie sich —
allerdings in maßvollster Form — vom Standpunct des positiven Christenthums
aus durchgängig gegen Renan erklärt und die Ausstellungen des Gelehrten
überall an den Thatsachen des christlichen Bewußtseins mißt. Sie ging nicht
über das hinaus, was man selbst auf deutschen Kirchentagen hören konnte,
wie denn überhaupt Coquerel zu den gemäßigtsten Anhängern der neuen
Schule gehört. Weiter wurde ihm vorgeworfen ein Artikel im „Lien", worin
von eben dieser neuen Schule und ihren wissenschaftlichen Verdiensten mit zu
großem Lobe geredet und der Standpunct von Renan, Pe'caut, Scherer als
eine zu weitgehende aber begreifliche Reaction gegen das Christenthum der
Genfer und eines Adolf Monod erklärt war. Dies waren die Sünden wider
den christlichen Glauben.
Sehr erheblich fielen sie eben nicht ins Gewicht. Ernster mußten wohl
die Versündigungn an der Autorirät des Presdyterialraths sein. In der
That war dem Suffragan Martin-Paschoud's vorgeworfen, daß er einen syste¬
matischen Krieg gegen diese Behörde geführt, seine Kanzel den vorgerücktesten
Mitgliedern der neuen Schule eingeräumt, der liberalen Union seinen publi-
cistischen Beistand geleistet, endlich eine Art von Privatdiaconat gegründet
habe, durch das er sich einen Kreis von Anhängern über seine Gemeinde
hinaus verschaffe. In seiner Vertheidigungsrede konnte Coquerel mit Recht
entgegnen, nicht gegen eine Behörde, sondern gegen eine Parteimeinung,
nicht gegen eine bestehende Autorität, sondern gegen deren Zusammensetzung
habe er gekämpft; wenn er Colani von Straßburg und Re'ville von Rotter¬
dam, angestellte Geistliche, aus seine Kanzel habe steigen lassen, so sei dies ein
Recht und ein Gebrauch, der nie angefeindet worden sei; seltsam sei es, ihn
für die Illlion UKöMiZ verantwortlich zu machen, die ohne seine Mitwirkung
sich gebildet habe und deren Mitglied er nicht sei; endlich, was man hämisch
ein Privatdiaconat nenne, sei, wie Jedermann wisse, nichts als ein Wohl¬
thätigkeitsverein, den er unter seinen Katechumenen gestiftet habe, und der,
wie alle Privatwohlthätigkeitsanstalten dazu bestimmt sei, die officiellen An¬
stalten zu unterstützen und dem Diaconat eine sehr erlaubte Concurrenz zu
machen. Den Nerv der Sache aber, um die es sich handelte, traf Coquerel
am Schlüsse seiner Rede, wenn er sagte: mit Befremden habe er Eins im
Bericht der Commission vermißt, nämlich daß derselbe mit keinem Wort
weder die geistlichen Bedürfnisse, noch die Gewissensrechte berücksichtigt habe.
Die Commission habe sich nur an Einen Punct der vorliegenden Fragen und
nicht den wichtigsten und christlichsten gehalten; sie habe vergessen, daß die Re¬
gierenden sür die Regierten da seien und in einer Kirche die Bedürfnisse der
Seelen und Gewissen dasjenige seien, worauf Alles ankomme. Was ich verlange,
fuhr er fort, ist dies: Eine große Anzahl von Seelen, deren Leitung Sie mir
übertragen und mehrfach bestätigt haben, wünscht mich mis ihren Pfarrer zu
behalten; sie haben die Ueberzeugung, daß mein Amt von oben gesegnet und
ihnen förderlich sei, sie wünschen, daß ich den religiösen Unterricht ihrer Kin¬
der, den ich angefangen, fortsetze. Diese Seelen glauben sich in der Aus¬
übung eines ihrer kostbarsten Rechte verkürzt und in der Erfüllung einer
ihrer heiligsten Pflichten beeinträchtigt, wenn Sie mein Seelsorgeramt ver¬
nichten. In ihrem Namen also verlange ich vom Presbyterialrath. daß er
mich von Neuem bestätige als Suffragan des Pfarrers Martin-Paschoud.
Damit war die Sache ganz richtig formulirt. Von liberaler Seite
wurde verlangt, daß eine Meinung, eine Minorität allerdings, die aber schon
damals ein Drittel ausmachte, ihren Vertreter habe, daß der Wunsch und das
Bedürfniß eines großen Theiles der Gemeinde nach einem Prediger ihrer
Wahl, der dazu in einer Reihe von Jahren sich bewährt und ihr Vertrauen
in steigendem Maß gewonnen hatte, erfüllt werde. Aber für dieses Bedürf¬
niß der Gemeinde hatte die ausgetrocknete Orthodoxie der Machthaber keinen
Sinn. Was war ihr das Bedürfniß der Seelen? Ihr kam es auf den Aus¬
schluß einer Richtung an, welche, wenn sie noch weiter um sich griff, den
Bestand ihrer Herrschaf: erschütterte. Die Anklage auf Ketzerei war offenbar
aufs schwächste motivirt und mit Recht konnte Coquerel seinen Anklägern
ins Gesicht sagen, daß vor der Confession von Rocholle sie so wenig be¬
stünden wie er, ja daß auch die Sätze des apostolischen Glaubensbekenntnisses
in unseren Tagen Niemand wörtlich und ernstlich nehme. Nicht die Hetero-
doxie Coquerels war das Anstößige, dies war der Vorwand; ihre Herrschaft
stand auf dem Spiel, daher der Haß. Später haben es die Wortführer der
Orthodoxie geradezu eingestanden, daß der Bestand der liberalen Union das
eigentliche Motiv des Beschlusses vom 26. Februar war und daß dieser nicht
gefaßt worden wäre, wenn Coquerel die Auflösung des Vereins hätte durch¬
setzen wollen. Am 17. December äußerte sich Pederzet in einem Artikel der
orthodoxen „Esperance" in halbosficiellem Ton dahin, der Presbylerialrath
habe im Interesse seiner Selbsterhaltung so handeln müssen, er sei durch die
Liberalen in seiner Zusammensetzung bedroht, und er dürfe nicht die mächtigste
Waffe in der Hand seiner Gegner lassen. „Es ist niemals zu spät, die
Wahrheit zu erkennen; nun die Wahrheit, hier ist sie in zwei Worten: in
dem feierlichen Beschluß des Presbyterlalraths hat die liberale Union die
die weißen Kugeln in schwarze verwandelt. Sie trägt die Verantwortung
für den Schlag, den der Presbyterialrath nur ausgeführt hat." Dies hieß
wenigstens offen eingestehen, um was es sich handelte.
Man hat von liberaler Seite zuweilen auch das Recht des Presbyterlal¬
raths zu dem Schritt, den er gethan, bestreiten wollen. Offenbar mit Un¬
recht, die Geistlichen wählen ihre Suffragane selbst, aber die Wahl kommt
als Vorschlag vor den Presbyterialrath, der sie zu genehmigen hat. Nun
har zwar das Pariser Consistorium zugegeben, daß bis jetzt nie der Fall vor¬
kam, daß der betreffende Vorschlag eines Geistlichen zurückgewiesen wurde.
Es war also wohl eine ganz ungewöhnliche Maßregel, aber die formelle Competenz
läßt sich nicht anfechten. Dennoch stempelten sie die näheren Umstände zum
allergehässigsten Ketzergericht unserer Zeit. Schon daß es an einer so über¬
legenen Persönlichkeit vollzogen wurde, machte den Erfolg peinlicher für
die Sieger als für die Besiegten. Indem die Anklage zu ihrer einen Hälfte
dahin ging, daß der Presbyterialrath angegriffen worden sei. erklärte dieser
sich damit selbst zum Richter in eigener Sache, und wenn, um das Ge¬
hässigste von dieser Position abzuwehren, zugleich mit dürftigen Mitteln eine
Ketzerklage angestrengt wurde, so blieben die Orthodoxen den Nachweis
schuldig, welches die rechtsgiltigen dogmatischen Normen der reformirten
Kirche seien, gegen welche Coquerel sich verfehlt habe. Er maßte sich eine
dogmatische Autorität an, die nach dem Gesetz nicht den Consistorien, sondern
der factisch nicht bestehenden Synode zukommt. Er constituirte sich als
Glaubensgericht in der Absicht, alle Pfarrer zu entfernen, die nicht zur Ortho¬
doxie, d. h. vielmehr nicht zu der im Consistorium zur Zeit dominirenden
Meinung gehörten. Es war also eine Maßregel der Intoleranz, im Geist
des Katholicismus, nicht des Protestantismus, widersprechend dem Herkommen
und Geist der französischen Kirche, und eine Maßregel höchster Unbilligkeit
gegen ein volles Drittel der Kirche von Paris, das des Predigers seiner
Wahl beraubt werden sollte.
Am 26. Februar war das Urtheil gesprochen worden. Am 29. war es
Coquerel noch vergönnt, sich auf der Kanzel von seiner Gemeinde zu ver¬
abschieden. Noch einmal rissen seine bewegten Abschiedsworte die dichtgedrängte
Zuhörerschaft hin. Unmittelbar darauf begann eine Agitation in der Ge¬
meinde, um gegen den Spruch des Presbytenalraths zu Protestiren. In
wenigen Tagen wurde eine Adresse um Wiedereinsetzung Coquerels mit
5000 Unterschriften bedeckt. Von allen Seiten erhielt er Beweise von An¬
hänglichkeit und Sympathie, Zuschriften kamen aus allen Theilen Frankreichs,
von Einzelnen, von Presbyterialräthen, von Consistorien, auch aus der
Schweiz, aus Holland, aus England und Amerika stellten sich die
Zeugnisse verwandter Gesinnung ein. Der Presbyterialrath sah sich
genöthigt, die Acten des Processes der Oeffentlichkeit vorzulegen, worauf so¬
fort eine Antwort der protestantischen Union erfolgte. In der Presse wogte
ein erbitterter Kampf zwischen beiden Richtungen, Broschüren flogen hinüber
und herüber.
Mitten unter dieser Aufregung der Geister, die an sich der Sache der
Orthodoxie wenig förderlich wär, traten im April zu Paris, im Juni zu
Nimes die Pastoralconferenzen zusammen, freie Vereinigungen zur Besprechung
kirchlicher Angelegenheiten, wie sie alljährlich im Frühjahr stattzufinden
pflegten. Ihre Beschlüsse sind nichts als ein motivirter Meinungsausdruck;
aber ohne daß ihnen irgend welche gesetzliche Befugnisse Zuständen, waren sie
doch bis dahin das einzige sichtbare Band, welches die reformirte Kirche Frank¬
reichs vereinigte, und gewissermaßen ein Ersatz für die Synode, ohne die Auto¬
rität der Synode, ein getreuer Spiegel der augenblicklich vorherrschenden, aus
gemeinsamer Tribüne sich messenden Richtungen. Beiden Conferenzen sah man
in diesem Jahre mit ungewöhnlicher Spannung entgegen, und beide waren
zahlreicher besucht als je. Zwar wußte man im voraus, daß zu Paris die
Orthodoxen, auf der Ulmer Conferenz, die vorzugsweise aus den Kirchen
des Südens besucht zu sein pflegt, die Liberalen die Mehrheit besitzen würden.
Allein eben dieses Verhältniß zeigt auch aufs klarste, wie widersinnig es war,
wenn die eine Partei den Anspruch auf Exclusivität erhob und der anderen
das Recht der Existenz innerhalb der Kirche bestritt.
Die These der Orthodoxen auf der Pariser Conferenz war: „zu erklären,
daß die reformirte Kirche Frankreichs positive Lehren und constituirte Organe,
die darüber zu wachen berufen sind, besitzt." Vager konnte der Antrag nicht
wohl lauten, vorsichtiger der Grundgedanke, daß die Orthodoxie berechtigt
sei, was nicht zu, ihr gehöre, aus der Kirche auszuschließen, nicht verdeckt
werden. Die begründenden Reden der Orthodoxen hielten sich gleichfalls sehr
allgemein. Man vermied eine genaue Definition jener positiven Lehren,
offenbar, um die Nuancen zu verbergen, in welche die Orthodoxie selbst sich
spaltet. Und doch wurden eben diese nicht präeisirten und definirten Dogmen
zum Schiboleth gemacht, um diejenigen, welche man für richtige Protestanten
erklärte, von den übrigen scharf zu trennen. Diese specielle Aufgabe hatte
Guizot, das greise Haupt der Orthodoxen, übernommen. Er zählte in
der Weise eines päpstlichen Syllabus die hauptsächlichsten Negationen auf,
welche in unserer Zeit die Kirche bedrohen, und resümirte dagegen in einer
Erklärung die hauptsächlichsten Glaubensartikel, zu der sich seine Freunde be¬
kennen : „Wir haben vollen Glauben an die übernatürliche Thätigkeit Gottes
in der Regierung der Welt, an die göttliche und übernatürliche Eingebung
der heiligen Schrift, wie an ihre souveraine Autorität in religiösen Dingen,
an die ewige Göttlichkeit und die übernatürliche Geburt, wie an die Auf¬
erstehung unseres Herrn Jesus Christus, der Gottmensch, Erlöser und Heiland
der Menschen ist; wir sind überzeugt, daß diese Fundamente der christlichen Re¬
ligion auch die Fundamente der reformirten Kirche sind, welche sie positiv
als solche anerkannt hat." Also eine subjective Auswahl von Dogmen,
deren Einheit einzig der Begriff des Uebernatürlichen >war, von Dogmen
überdies, welche als allen christlichen Bekenntnissen gemeinsam erklärt wurden —
man muß gestehen, daß eine solche Orthodoxie wenig zuversichtlich auftrat.
Die Gegenerklärung der Liberalen ging davon aus, daß die Glaubensbekennt¬
nisse stets nur ein Element der Zwietracht gewesen und daß die beiden reli¬
giösen Tendenzen, die man Orthodoxie und Liberalismus nennt, herkömmlich
im französischen Protestantismus seien, und verlangte auf Grund hiervon
Anerkennung der Einheit der reformirten Kirche auf der doppelten Grund¬
lage des Evangeliums und der Freiheit der Gewissen. Sie verlangte Toleranz
für beide Richtungen, aber die Intoleranz trug den Sieg davon. Die von
Guizot beantragte Erklärung wurde angenommen und damit freilich nichts
anderes constatirt, als daß die Kirchen im Norden von Frankreich vorherr¬
schend orthodox sind.
Auf der Ulmer Conferenz bildeten die Orthodoxen, obwohl sie alle
Kräfte aufgeboten hatten, nur ein Drittel der anwesenden zahlreichen Mit¬
glieder. Gegenstand der Tagesordnung war das apostolische Glaubens¬
bekenntniß, über welches der im Jahre zuvor zum Berichterstatter ernannte
Pfarrer Viguie von Nimes eine geschichtliche Abhandlung vortrug. Diese
Abhandlung, welche sich namentlich über die Entstehung des Symbols ver¬
breitete, war natürlich nicht geeignet, Anhänger für den Antrag zu werben,
welchen die Orthodoxen stellten, nämlich die förmliche Zustimmung zu diesem
Symbol zu erklären. Dagegen traten die Liberalen, nachdem die Tages¬
ordnung erledigt war, mit einer Ansprache an die Gläubigen der reformirten
Kirche in Frankreich hervor, welche bestimmt war. zu versöhnen und zu be¬
ruhigen, aber auf dem Boden der gleichmäßigen Duldung beider Richtungen.
Wir heben aus dieser Ansprache, welche fast der classische Ausdruck für die
Meinung der Liberalen geworden ist, nur den einen Satz heraus: „Beseelt
vom Geist der Liebe, wie er Jüngern Christi ziemt, suchen wir vor Allem
nicht das, was trennt, sondern das, was einigt. Wir reichen uns die Hand
trotz der Verschiedenheit unserer theologischen Ansichten, und diese Verschieden¬
heit selbst wird unter uns ein Element der Thätigkeit, des Fortschritts und
Lebens sein. Wir wollen -Niemand ausschließen, wir sind glücklich, in der¬
selben Kirche zu leben mit allen denen, welche unseren Herrn Jesus Christus
reinen Herzens lieben und welche die beiden großen Grundsätze des Pro¬
testantismus annehmen: das Evangelium und die Freiheit." Diese Adresse
wurde von 109 Geistlichen unterzeichnet. Die Orthodoxen hatten vor deren
Verlesung geräuschvoll den Saal verlassen und unterzeichneten mit den ihnen
anhängenden Laien eine Gegenerklärung. Die beste Legitimation des libe¬
ralen Protestantismus waren die beredten Kanzelvortrage, welche in den Tagen
der Confereriz Athanase Coquerel, Sohn, und der junge feurige Pfarrer
Pelissier von Bordeaux vor dicht gedrängten Bänken hielten. So stand also
Nimes gegen Paris, der Süden gegen den Norden, die Liberalen gegen die
Orthodoxen; die Spaltung in zwei scharf geschiedene Heerlager war vollendet.
Gleich nach der Ulmer Conferenz beschlossen die Orthodoxen, künftig
daselbst separate Konferenzen zu halten ; in der Minderheit zu sein, war ihnen
unerträglich. Auch sonst mehrten sich die Symptome eines verschärften Gegen¬
satzes. In Paris blieb die Suffraganstelle des Pfarrers Martin-Paschoud
unbesetzt. Dieser machte von seinem Recht der Initiative keinen anderen Ge¬
brauch, als daß er immer Coquerel vorschlug, ein Vorschlag, den ebenso regel¬
mäßig der Presbyterialrath zurückwies. Der kranke Mann war dadurch ge¬
nöthigt, selber wieder die Kanzel zu besteigen, und wenn er. da das Pre«
tigem wirklich seine Kräfte überstieg, sich zeitweilig nach einer Hülfe umsah,
die er selbstverständlich nicht im orthodoxen Lager suchte, so gab das dem
Consistorium neuen Anlaß zu kleinlichen Chicanen. Der Zustand schien un¬
erträglich und bereits ließ das Consistorium Drohungen fallen, daß es sich
zu eigenmächtiger Abhilfe genöthigt sehen werde. Im December erneuerte
sich auch die Unduldsamkeit gegen Athanase Coquerel, Vater, indem man ihm
den gewählten Suffragan, Pfarrer Rives, verweigerte.
So fehlte es der kirchlichen Presse auf beiden Seiten nicht an reichem
Stoff der Polemik, als im Januar 1865 die Zeit der Neuwahlen der Pres-
byterialräthe heranrückte. Gespannt sah man der Entscheidung in Paris ent¬
gegen. Denn während an den anderen Orten die Minderheit sich fast ohne
Anstand der Mehrheit unterordnete, ob diese den Liberalen oder den Ortho¬
doxen gehörte, hatte die Wahl in Paris eine principielle Bedeutung. siegten
die Liberalen, so war die Bestätigung der Wahl Coquerel's vorauszusehen,
der Hauptanlaß des Streits war beseitigt, der Kirche der Frieden wieder¬
gegeben; die Parität beider Richtungen innerhalb des Protestantismus an¬
erkannt. Umgekehrt, wenn die Orthodoxen abermals siegten, dauerte der
Streit, der die ganze Kirche in Athem hielt, ungelöst fort, zum mindesten bis
zu den nächsten Wahlen. „Die Frage ist die", schrieb Etienne Coquerel im
„Lien" (11. Januar), „wird man frei sein im Schooß der Kirche oder wird
man Sclave sein in der Kirche und frei nur unter der Bedingung, aus ihr
auszutreten? Besteht die christliche Freiheit darin, jede Meinung in ein ge¬
schlossenes, intolerantes, enges Kirchlein einzupferchen, oder alle verschiedenen
Meinungen, die sich aufs Evangelium berufen, in einer weiten Kirche zu
vereinigen, wo wie in der ersten Kirche, der Kirche Jesu und der Apostel, die
dogmatischen Unterschiede beherrscht sind von der Macht des religiösen Ge¬
fühls und der christlichen Liebe?" Und ein anderesmal: „Wenn die liberale
Meinung siegt, so ist gewiß, daß der Friede wieder gekräftigt wird und die
Zukunft sich ruhiger anläßt, und dies einfach, weil die Liberalen keinen der
Ansprüche erheben, welche die orthodoxe Partei nicht mehr verhehlt. Wollen
wir die orthodoxen Priester aus ihren Gemeinden vertreiben? Machen wir
den Anspruch, allein die Wahrheit, allein das Recht auf die Kirche zu be¬
sitzen? Jedermann weiß, daß das Gegentheil der Fall ist. Wir haben jeder¬
zeit ihnen das gleiche Recht, wie uns, zugesprochen, in der Kirche zu bleiben,
und wie wir vertreten zu sein in den kirchlichen Körperschaften und unter
den Laien, welche unsere Presbyterialräthe und Consistorien bilden."
Von beiden Seiten wurden die größten Wahlanstrengungen gemacht.
Aber außer den geistigen Mitteln der Presse standen den Orthodoxen noch
die Mittel der kirchlichen Disciplin zu Gebot. Schon im Juli 1863 hatte
das weise vorsvrgende Consistorium ein willkürliches Reglement für die Bil-
dung der Wahllisten erlassen, wodurch dieser Behörde ein ungebührlicher Ein¬
fluß eingeräumt und viele Wähler ausgeschlossen wurden, und gegen welches
die Liberalen vergebens protestüten. Außerdem stand dem Presbyterialrath
die Hilfe der Diaconen mit ihrem Einfluß auf die niederen unterstützungs¬
bedürftigen Classen zu Gebot, der Evangelisten, jener officiellen Laiengeist¬
lichen, die, dem Dienst irgend eines Predigers beigegeben, die Häuser der
Armen zu erbaulichen Zwecken besuchen, der Lehrer u. s. w. Besuche wurden
nicht gespart, Damen aus den höchsten Ständen waren in Bewegung. Außer
den Mahnungen von der Kanzel wurden die Wähler von den Pfarrern zu
besonderen Versammlungen zusammen berufen. Am Vorabend der Wahl er¬
schien eine Adresse des Presbyterialraths an die Gläubigen, welche die Religion
in Gefahr erklärte: „Es handelt sich darum Christen zu bleiben oder es nicht
mehr zu sein."
Diese Mittel wirkten. Der Sieg blieb den Orthodoxen, aber mit einer
so kleinen Mehrheit, daß man sie eine zufällige nennen durfte. Der sieg¬
reiche Candidat der Orthodoxen, der bei 2630 Abstimmenden die meisten
Stimmen erhielt, hatte nur 31 Stimmen mehr als der erste Candidat der
Liberalen. Hatten die Liberalen drei Jahre zuvor ein Drittel der Stimmen
gehabt, so zeigte die Neuwahl, daß sie jetzt nahezu die Hälfte der Stimm¬
berechtigten bildeten. Nicht minder charakteristisch war, daß Guizot, das
eigentliche Haupt der Orthodoxen, der Verfasser jener Blumenlese orthodoxer
Sätze, welche das Schiboleth der Partei waren, unterlag und erst in einer
zweiten Wahl mit einer Mehrheit von nur 9 Stimmen über den liberalen
Candidaten gewählt wurde.
Die Wahlen hatten also festgestellt, daß die Kirche von Paris in zwei
annähernd gleiche Hälften zerfiel. Die einfache Billigkeit schien daraus die
Lehre ziehen zu müssen, daß unter diesen Umständen keinem Theil das Recht
zukomme den anderen auszuschließen. Man konnte nicht mehr von einer
turbulenter Minderheit reden, welche die Kirche durch ihre Forderungen be¬
unruhige, man konnte überhaupt nicht mehr von Mehrheit und Minderheit
reden, und die numerische Gleichheit schien auch die Gleichheit der Rechte zu
verlangen. War für die orthodoxe Hälfte durch Prediger und Seelsorger
ihrer Farbe ausreichend gesorgt, so schienen auch die Liberalen im Recht,
wenn sie eine Befriedigung ihrer religiösen Bedürfnisse und eine verhält¬
nißmäßige Vertretung im Kirchenregiment beanspruchten. Mehr wollten die
Liberalen gar nicht und ihr Verlangen schien um so berechtigter, als ihre
Meinung seit Jahren offenbar in steter Zunahme begriffen war. Aber die
Orthodoxie hätte nicht müssen Orthodoxie sein, wenn sie diese Folgerung aus
der Thatsache gezogen hätte. Sie entnahm sich die entgegengesetzte Lehre.
Indem sie sich die Gewalt unabwendbar entschlüpfen fühlte, war sie ent-
schlössen, wenigstens die Zeit, die ihr der precäre Sieg gelassen, möglichst
auszubeuten. Drei Wochen nach der Wahl wurde Martins wiederholtes Ge¬
such abermals zurückgewiesen. Das System der Exklusivität sollte vollendet,
die Dissentirenden unterdrückt oder zum Austritt genöthigt werden. Unter
einem Dutzend Prediger in Paris waren noch zwei Liberale, Coquerel der
Vater und Martin-Paschoud, beide waren alt, man verweigerte ihnen
liberale Amtsverweser zu bestellen, man wartete nur auf ihren Abgang, um
diese gleichfalls durch Orthodoxe zu ersetzen. Oder nein, man wartete nicht
einmal darauf, sondern man erklärte dem Pfarrer Martin am 12. Mai
1863, wenn er nicht binnen zwei Monaten einen neuen Vicar annehme,
werde der Presbyterialrath gegen ihn einschreiten.
Am folgenden Tage erwiederte Martin, daß er nicht beabsichtige, einen
anderen Suffragan vorzuschlagen und daß er inzwischen die Functionen seines
Amts selbst fortführen werde. Nach sechs Monaten, am 20. October, hielt
der Presbyterialrath wieder eine Sitzung, worin er erklärte, daß zwischen
ihm und dem Pfarrer Martin ein Conflict bestehe, der vor die höhere Be¬
hörde, das Consistorium, zu bringen sei. Dies hieß nun nichts anderes, als
sich zum Richter in eigener Person machen. Denn das Pariser Consistorium
besteht aus 32 Mitgliedern, nämlich den 21 Mitgliedern des Presbyterial-
raths und den 12 Pfarrern und Laienvertretern der anderen zum Confistorial-
bezirk gehörigen Gemeinden. Die höhere Autorität des Consistoriums ist
also in diesem Fall eine reine Fiction, der Presbyterialrath von Paris be¬
herrscht jederzeit das Consistorium. In derselben Sitzung setzte der Pres¬
byterialrath sein intolerantes Verfahren gegen Als. Coquerel Vater fort.
Der dritte Geistliche, den dieser als seinen Suffragan vorschlug, Pfarrer
Vezes, wurde ihm ebenso verweigert, wie früher die Pfarrer Valös und
Rives, zum deutlichen Beweis, daß diese Behörde entschlossen war, jedem
liberalen Geistlichen fortan die Kanzeln von Paris zu verschließen, ja die
betagten liberalen Pfarrer zum Rücktritt zu nöthigen. Das Consistorium
fühlte sich stark genug, diese Maßregel bald gegen Martin direct anzuwenden.
Im November setzte es eine eigene Commission ein, in welcher sich Guizot
befand, und welche die Aufgabe hatte, sich mit Martin ins Benehmen zu
setzen und je nach dem Erfolg Vorschläge zu machen. Im December ver¬
sammelte sich die Commission, und da Martin gegen das ganze Verfahren
protestirte und in seinen Entschlüssen verharrte, trug sie am 5. Januar 1866
auf die Amtsentsetzung Martin-Paschoud's an, die vom Consistorium sofort
genehmigt wurde. Am 12. Januar sollte die Neuwahl vorgenommen
werden.
Diesmal war nun doch der Bogen überspannt, der Fanatismus hatte
über die gewöhnlichste Klugheitsrücksicht gesiegt. Jetzt handelte es sich nicht
mehr um ein moralisches Unrecht, wie es A. Coquerel geschehen, sondern um
eine Uebertretung des Gesetzes, welches ausdrücklich die Unabsetzbarkeit der
Geistlichen garantirr. Sofort setzte eine Anzahl Geistlicher einen Protest
auf, der in wenigen Tagen die Zustimmung von über 200 Amtsbrüdern in
ganz Frankreich erhielt. Selbst aus dem orthodoxen Lager erfolgten Zu¬
schriften, aus welchen zum Theil in sehr energischer Weise die beleidigte
Würde des Standes sprach. Ganze Consistorien schlössen sich dem Protest
an. Auch die lutherische Kirche, die soeben durch die Ernennung T. Colani's
zum Professor der practischen Theologie an der Facultät und zum Professor
der Philosophie am Seminar zu Straßburg in eine ähnliche, durch die frei¬
sinnige Entscheidung des Kaisers wieder beschwichtigte Bewegung versetzt
worden war, blieb nicht zurück. Eine Protestation von Straßburg trug die
Unterschriften von Colani, Reuß, Schmidt, Bruch, Baum und vielen anderen
Professoren und Geistlichen. Zum Theil wurden diese Proteste direct an den
Cultusminister Baroche gerichtet, der gleich auf die erste Mittheilung von
Martin sein Urtheil über die Illegalität des Acts fällte. Nach dem Gesetz
können die Functionen eines Pfarrers nur aufhören durch den Tod, durch
freiwilligen Rücktritt, oder durch die von der Staatsbehörde ausgesprochene
Absetzung. Der Act des Consistoriums, sagte der Minister, sei also eine
Umgehung der Mitwirkung der Staatsgewalt bei der Entfernung eines Pfar¬
rers, und er betrachte Martin nach wie vor als mit seinen Functionen be¬
kleidet. Dadurch war die Maßregel des Consistoriums als ungesetzlich sus-
pendirt, die beabsichtigte Neuwahl konnte nicht stattfinden, Martin blieb im
Amte. Obwohl seine körperliche Untüchtigkeit notorisch war, hielt er es sür
seine Pflicht auszuharren, um seine Stelle einem liberalen Geistlichen offen
zu halten. Für die Regierung aber konnte die im Gesetz nicht vorgesehene
körperliche Untüchtigkeit kein Grund für die Absetzung Martins sein, sie
hätte denn in diesem Fall Partei sür die orthodoxe Meinung genommen, ein
Eingriff in die häuslichen Händel der theologischen Parteien, den die Regierung
bisher sorgfältig vermieden hat.
Der Minister rechnete ohne Zweifel darauf, daß der für ihn peinlich zu
entscheidende Conflict doch noch eine Lösung innerhalb der Gemeinde selbst
finden werde. Allein daran war bei der steigenden Erbitterung und gleichen
Hartnäckigkeit beider Theile nicht zu denken. Von orthodoxer Seite war
man so wenig zum Nachgeben bereit, daß vielmehr beschlossen wurde, auch
das schwache Band, welches bisher noch die gemeinschaftlichen Conferenzen
für beide Theile gebildet hatten, entzwei zu reißen, wie es bereits sür die
Conferenzen im Garddepartement gelöst worden war. Als im April 1866
die Pariser Conferenzen eröffnet wurden, brachten die Orthodoxen den Zusatz
zum Reglement ein, daß die Conferenzen als Grundlage ihrer Berathungen
die souveraine Autorität der Schrift in Glaubenssachen und das apostolische
Symbol als Resume' der darin enthaltenen wunderhaften Thatsachen aner¬
kenne. Um die Discussion zu vermeiden, sprach die Conferenz ihre Auf¬
lösung aus, worauf die Mehrheit sich sofort auf Grundlage dieses Pro¬
gramms als Conferenz constituirte. Die Liberalen, nicht Willens, sich dem
Glaubensjoch einer Mehrheit zu unterwerfen, die jedes Jahr wechseln kann,
waren genöthigt, ihre Berathungen von da an gesondert zu halten.
Man hat zuweilen von radicaler Seite den Liberalen den Rath gegeben,
um allen Plackereien der Orthodoxen zu entgehen, die Kirche zu verlassen
und sich auf dem Grundsatz der Freiheit der Kulte als eigene Kirche zu
constituiren. Es ist derselbe Rath, den einst in Deutschland Strauß der
liberalen Theologen gab, die sich keine Mühe geben möchten, einen Leichnam
durch moderne Gewürzlein und Salben noch länger bei einem scheinbaren
Leben zu erhalten. Es ist derselbe Rath, welchen mit frommer Miene den
französischen Liberalen Guizot ertheilt, der so schön von der Freiheit der
Kirche zu schreiben weiß, aber darunter nur die Freiheit versteht, aus einer
Gemeinschaft auszutreten, mit deren Principien man nicht mehr einverstan¬
den ist. Allein darüber ist ja eben der Streit, welches diese Principien sind,
und ob eine etablirte Mehrheit das Recht hat, diese Principien einseitig fest¬
zustellen. Mit Recht haben die Liberalen, einzelne Ausnahmen abgerechnet,
dem Rath widerstanden. Sie würden damit ein Band zerreißen, das ihnen
nicht minder theuer ist als ihren Gegnern, sie würden eine Ueberlieferung
abbrechen, auf die sie dasselbe Recht zu haben sich bewußt sind, und sie
würden damit gerade den Grundsatz der Orthodoxen, daß die Mehrheit ihre
Ansichten der Gesammtheit auferlegen dürfe, anerkennen. Unzweifelhaft leisten
sie der Freiheit einen größern Dienst, wenn sie den Kampf gegen die Into¬
leranz auf dem Boden der Kirche fortsetzen, als wenn sie diesen Boden
preisgeben.
Dies also ist gegenwärtig der Stand des Parteikampfs. Die Ortho¬
doxen erklären jedes Band der Gemeinschaft mit den Liberalen für gelöst.
Dem Grundsatz der letzteren, daß alle auf das Evangelium sich stützenden
Richtungen Raum in der Kirche neben einander haben, stellen sie die Allein¬
herrschaft einer Partei als Grundsatz auf und verwirklichen ihn, soweit es in
ihrer Macht steht. Im Januar 1867 glaubte das orthodoxe Consistorium
zu Caen so weit gehen zu können, durch einfachen Beschluß das kirchliche
Wahlrecht auf diejenigen einzuschränken, welche sich ausdrücklich zum aposto¬
lischen Symbol bekennen, ein Act der Willkür, der eine lebhafte Polemik
für und wider zur Folge hatte und abermals das Einschreiten der Staats¬
gewalt herausforderte. Denn der Cultusminister konnte nicht dulden, daß
die Laune eines der 104 Consistorien eigenmächtig das gesetzliche Wahlrecht
abänderte und erklärte den Beschluß für ungültig. In Bordeaux konnte
der Sturm der Orthodoxen auf die Stellung des liberalen Pfarrers Pelissier
nur durch energische Einsprache der Gemeindeglieder abgeschlagen werden.
In Paris dagegen können die Orthodoxen sich rühmen, nahezu ihr Ziel er¬
reicht zu haben. In den Wahlen von 1868 blieben sie wiederum Sieger,
obwohl abermals nur mit einer unbedeutenden Mehrheit, und als Als. Co-
querel, Vater, im Januar 1868 starb, wurde auch dessen Stelle mit einem
orthodoxen Prediger besetzt. Jede Gelegenheit, die bewährte Kraft des
jüngeren A. Coquerel für die Pariser Gemeinde wieder zu gewinnen, wurde
zurückgewiesen, wie auch der begründete Vorschlag, die Gemeinde der Haupt¬
stadt in mehrere selbständige Gemeinde zu zerlegen, keine Gnade fand. Unter
diesen Umständen entschloß sich Coquerel, dem seitdem nur zuweilen die
Kanzel einer liberalen Gemeinde gastweise offen stand, im April 1868 eine
Reihe von freien religiösen Vorträgen in Paris zu eröffnen, welche für eine
zahlreiche Zuhörerschaft ein willkommener Ersatz für den officiellen Gottes¬
dienst sind, den ihnen das Kirchenregiment verweigert. Dabei verwerthete er
seine unfreiwillige Muße zu einer ausgebreiteten schriftstellerischen Thätigkeit,
und gern ergreifen wir die Gelegenheit, auch deutsche Leser auf die ge¬
diegenen Arbeiten dieses vielseitig gebildeten Geistes aufmerksam zu machen.
Wir nennen von seinen seitdem veröffentlichten Schriften», die theils den Ge¬
schichtsforscher und liberalen Kritiker, theils den vielgereisten und selbstständig
urtheilenden Kunsthistoriker erkennen lassen, die folgenden: I^hö koryg,t>3 xour
ig, loi. ?aris 1866. Eine geschichtliche Studie über die Hugenottenverfol¬
gungen von 1684 bis 1776. I^es xi'emiöres trsnskormÄtions uistoriyues an
ekristiarnswö. ?g.ris 1866. Eine Entwickelungsgeschichte der christlichen
Ideen bis zur Zeit Constantins. 1,-z. con«eieneo se la toi. ?g.ris 1867, ein
beredter Versuch, das Gewissen zur Grundlage der christlichen Religion zu
machen. Histoire an Oreclo. ksris 1869, eine Geschichte und Analyse des
apostolischen Glaubensbekenntnisses. liemdranät et l'inäiviäualisms äans
I'art. ?g,ris 1869, eine auf Kenntniß fast sämmtlicher europäischer Gallerien
beruhende Charakteristik des niederländischen Malers, verbunden mit einer
scharfsinnigen Untersuchung über den Einfluß des Protestantismus auf die
bildenden Künste. I^ihres öwäos. 1868, eine reichhaltige Samm¬
lung zerstreuter Aufsätze über religiöse, geschichtliche und kunstgeschichtliche
Materien. Seine eigentliche Stärke besitzt indessen Coquerel unstreitig als
Kanzelredner, und wer sich über den Standpunct und die Bestrebungen der
freisinnigen Schule in Frankreich näher unterrichten will, findet in seinen
zahlreichen, theils einzeln, theils in Sammlungen erschienenen Predigten
— neben denen Colani's —- das reichste und authentischste Material.
Prüft man die Streitkräfte, die von beiden Seiten ins Feld gerückt
werden, die Polemik, welche hier der „Lien", dort die „Esperance" unter¬
hält, vergleicht man die hervorragenden Leistungen der Kanzelberedtsamkeit in
beiden Lagern, und hält man vollends die wissenschaftlichen Leistungen, dort
eines Guizot, eines Pressense', hier eines Re^ille, Colani, Coquerel gegen ein¬
ander, so wird dran keinen Augenblick im Zweifel sein können, wem schließ,
lich der Sieg gehören wird. Die Orthodoxen scheinen nicht zu ahnen, welche
Consequenzen es für sie selber haben muß, daß sie die Dinge auf diese Spitze
stellten. Die Legitimation zu ihrem intoleranten Vorgehen schöpfen sie einzig
daraus, daß sie bisher die Majorität in Händen haben. Diese Majorität
aber kann sich bei jeder Wahl ändern, und sobald dieser Fall eintritt, sehen
sich die Orthodoxen dem fatalen Dilemma gegenüber, entweder auf ihr Ver¬
langen der Alleinherrschaft zu verzichten, oder aber mit dem Satze, daß sie
mit den Liberalen nichts Gemeinschaftliches mehr haben, Ernst zu machen
und als Seete, als Häresie aus der Kirche zu scheiden. Die Waffe, ,die sie
jetzt gegen die Liberalen brauchen, würde sich gegen sie wenden, gerade wie
einst am Ende der nachapostolischen Zeit die judenchristliche Partei theils der
katholischen Partei sich anschloß und damit auf die Exclusivität ihrer Ortho¬
doxie verzichtete, oder aber, sofern sie auf diesem Standpuncte verharrte,
als Häresie aus der Kirche geschieden wurde oder vielmehr selbst sich von
ihr schied. Die ernsteren Fragen würden sich freilich erst dann erheben,
wenn sich die neue Richtung auch äußerlich den Sieg, d. h. ihre Gleichberechti¬
gung erstritten hätte. Ob es möglich sein wird, daß eine Kirche unter dem
Banner „Das Evangelium und die Freiheit" ohne formulirte Glaubens¬
artikel, ohne übersinnliche Dogmen besteht, ob die Religion nicht ein ihr
wesentliches Element verliert, wenn die letzten Mythen und Legenden der
Wissenschaft und Kritik zum Opfer gefallen sind, ob nicht die Gegensätze
von Glauben und Wissen, anstatt dauernd versöhnt zu sein, nur in neuen
Formen wiederkehren werden, — dies Alles find Probleme, die noch ungelöst
sind und die den Hintergrund der religiösen Kämpfe der Gegenwart nicht
blos in Frankreich bilden.
Unsere Colonialpolitik war bis zum Jahre 1848 in einen dichten Schleier
gehüllt, der nur sehr allmälig und langsam gelüftet worden ist. Noch vor fünf¬
zehn Jahren war dieselbe selbst dem gebildeten Holländer eine tsrra ineogmtg..
Liegt es doch in der Natur der Sache, daß man sich über Zustände, die man
nicht vor Augen hat, nur schwer ein richtiges Urtheil bildet. Nach Dingen,
die fern abliegen, zu fragen und mühsame Quellenstudien über dieselben zu
treiben, ist überdies nicht Jedermanns Ding. So ist es gekommen, daß
unsere coloniale Frage nur sehr langsam gefördert und erst neuerdings
in den Vordergrund gestellt worden ist. 1
Wenn von Hollands ostindischen Besitzungen die Rede ist, so versteht
man darunter eigentlich immer nur die Insel Java, da die anderen — die
sogenannten Außenbesttzungen — durchaus nicht in die Wagschale fallen.
Die Gewürz-Inseln: Amboina, Banda u. s. w. sind durch die Politik der
ostindischen Compagnie längst so tief gesunken, daß ihr früher viel begehrter
Besitz zu einer Last geworden ist, und daß alle Mittel zur Hebung ihres
Zustandes bis jetzt gescheitert sind. Die Besitzungen — Colonien kann man
sie nicht nennen — auf Borneo, Sumatra und den übrigen größeren Inseln
haben außer dem nördlichen Theil von Celebes ebenfalls keine Bedeutung.
Auch ist die Verwaltung derselben von der Java's völlig getrennt und
verschieden. —
Wie steht es nun mit Java? Nach dem bis jetzt geltenden „Cultursystem"
muß die Bevölkerung von Java der Regierung eine jährliche Steuer, die „Land¬
rente" zahlen, die sich von einem Fünftel bis zur Hälfte der ersten Ernte der
cultivirten Ländereien beläuft. Die zweite Ernte ist frei. Nach orientalischem
Begriff ist der Staat der Eigenthümer des Grund und Bodens und der
Bauer, der denselben bearbeitet, hat nur ein gewisses Besitz-oder Gebrauchs¬
recht; die „Landrente" kann als Pachtzins angesehen werden, nur daß das
Besitzrecht des Inhabers unantastbar ist, so lange der Bauer seinen Ver¬
pflichtungen dem Staat gegenüber Genüge leistet. Diese Abgabe, die in
Natura oder in Geld geleistet werden kann, wäre an und für sich nicht unzu¬
lässig, wenn sie nur gleichmäßiger vertheilt und geordnet wäre. Der Grund¬
besitz ist in Indien ein gemeinschaftlicher; jedes Dessa (Dorf) vertheilt jähr¬
lich die ihm zustehenden Ländereien unter seine Einwohner. Früher wurde
meistens in größeren Zeiträumen vertheilt, aber das „Cultursystem" machte
eine jährliche Vertheilung nöthig. Der Dessa-Häuptling sorgt für die Ein¬
treibung der Steuer; er wird von den Bewohnern gewählt und vertritt die
Interessen des Dessa gegenüber der Regierung, — Daß ein so geordneter
Communal-Grundbesitz nicht fördernd auf den Landbau wirken kann, ver¬
steht sich von selbst. — Die Bevölkerung Java's ist ferner verpflichtet, den fünf¬
ten Theil des cultivirten Landes mit den Produkten zu bepflanzen, welche für
den europäischen Markt verlangt werden, hauptsächlich Kaffee und Zucker,
da andere Artikel, wie Indigo u. s. w. als Verlust bringend nicht mehr ver¬
langt werden.
Anlangend den Zuckerbau verpflichtet unsere Regierung die Bevölkerung
auf einem Fünftel ihrer urbaren Felder Zuckerrohr zu pflanzen und gegen
äußerst geringen Preis an die europäischen oder chinesischen Inhaber der
örtlichen Zuckermühlen zu liefern. Der Zuckermüller ist dagegen verpflichtet,
der Regierung wieder zu geringem Preise sein Fabrikat zu verkaufen, wobei
ihm jedoch immer noch ein beträchtlicher Gewinn bleibt. Der Lohn, den die
Bevölkerung bezieht, beläuft sich dagegen durchschnittlich auf einige wenige
Gulden für das ganze Jahr.
Die Bearbeitung des Kaffee's geschieht nicht wie beim Zucker im Großen,
sondern sie ist einfacher und wird von den Eingebornen selbst betrieben. Das
Product muß. sowie es in Europa an den Markt gebracht wird, an die Re¬
gierungsmagazine abgeliefert werden. Für das Picul Kaffee wird ein Preis
von 3 bis 10 Gulden gezahlt, während der Werth 40 bis SO Gulden be¬
trägt. Auf diese Weise erhält eine Familie von fünf Personen, die beim
Zuckerbau beschäftigt ist, jährlich zwischen 2^y und 15 Gulden für hundert¬
tägige Arbeit. Dafür muß nicht allein gesät, geerntet und das Product
zubereitet, sondern auch die Plantage von Unkraut gereinigt werden, was bei
dem tropischen Klima die Hauptarbeit bildet. Da der Kasseebaum nur in
einem Alter von 6 bis 16 Jahren trägt, muß ferner immer für jungen An¬
wuchs gesorgt werden. Nach dem Gesetz soll der Bevölkerung der Markt¬
preis nach Abzug von zwei Fünfteln für Landrente und 3 Gulden Trans¬
portkosten nach den Hafenplätzen, vergütet werden, was bei dem niedrigen
Preise von 35 Gulden das Picul etwa 18 Gulden ausmachte. Demnach ver¬
dient die Regierung schon gesetzlich 10 Gulden an jedem Picul und bei einer
jährlichen durchschnittlichen Ernte von 800.000 Picul 8 Millionen Gulden. —
Daß die Bevölkerung Java's nicht freiwillig für so geringen Lohn arbeitet,
und daß sie durch den angewandten harten Zwang demoralisirt wird, ver¬
steht sich von selbst.
Bekanntlich steht an der Spitze der ostindischen Regierung der General¬
gouvemeur mit viceköniglicher Gewalt. Unter ihm werden die 21 Provinzen
(Residentien) Java's durch Residenten mit Assistenzresidenten und Controleuren
verwaltet. Diese europäischen Beamten besorgen außer der Administration
auch den größten Theil der Justiz. Jede Provinz ist in Regentschaften ein¬
getheilt, an deren Spitze der inländische Regent mit ihm untergebenen
Districts- und Dessa-Häuptlingen steht. Um die Bevölkerung zur Lieferung
der Producte zwingen zu können, mußte, die Regierung alle Beamten und
hauptsächlich die Inländer (d. h. die Javanen) in ihrer Hand haben. Dazu
hat sie folgende Mittel angewandt, durch ' welche das Interesse dieser Be¬
amten mit dem der Negierung eng verbunden wurde: den Inländern unter
den Beamten überwies die Regierung bald die Steuer einer gewissen
Länderstrecke zur Belohnung, bald überließ sie ihnen so wie den Europäern
einen gewissen Procentsatz, (gewöhnlich ein Zehntel vom Werth) der von der
Bevölkerung gelieferten Producte. Endlich errichtete sie aus den Familien der
Häuptlinge eine Art inländischer Polizei.
Auf diese Weise wurden die vornehmen Javanen von der Regierung
gegen das Volk gewonnen. Ja es wurde durch dieses System der Druck ver¬
mehrt, denn im Interesse dieser Beamten lag es, so viel Erzeugnisse als mög¬
lich pflanzen zu lassen.
Die Verwaltung Java's war auf diese Weise keine Regierung, deren
Aufgabe es ist, Recht und Gerechtigkeit zu üben, sondern eine interessirte
Partei, welche dem Volke gegenüberstand und Richter in eigener Sache war.
Nach altherkömmlichen Brauch (Adad) war die Bevölkerung Java's fer¬
ner verpflichtet, für ihre Häuptlinge einen von sieben Tagen zu arbeiten. Es
war dieses eine.Form der Besteuerung, die unter dem Namen von Herren¬
diensten seit unvordenklichen Zeiten bestand. Nun machte die Regierung zur
Erhaltung und Errichtung ihrer öffentlichen Gebäude, Wege, Brücken u. s. w.
auch noch Anspruch auf Herrendienste, die sie zuweilen bezahlte, meistens aber
nicht*). Auch die europäischen Beamten maßten sich ein solches Recht an,
so daß häufig die Zahl der Tage, an welchen der Javane ohne Lohn arbei¬
ten mußte, auf ISO jährlich stieg. Zu diesen kamen dann noch die Tage, an
denen er, wie erwähnt, für einen kaum nennenswerthen Lohn zu arbeiten
hatte.
An Klagen über die Folgen dieses Zustandes hat es nicht gefehlt.
Schon im Jahre 1844, also 14 Jahre nach der Einführung des „Cultur¬
systems" schrieb der „Direktor der Culturen" G, L. Band dem General¬
gouvemeur, es sei soweit gekommen, daß der Bauer häufig seinen zur Nah¬
rung bestimmten Reis verkaufen müsse, um seine Steuern zu bezahlen, wäh¬
rend er seinen Hunger mit Waldwurzeln stille. Derselbe Band schrieb im
Jahre 1847 dem Könige: „Wären nicht überall die directen und indirecten Vor¬
theile des Mutterlandes die allein berücksichtigten Hauptmomente, so müßte
die Erkenntniß der Schwierigkeiten, die mit der Jndigocultur verbunden sind,
und deren Einfluß auf die entsetzliche Vertheuerung der Reispreise, noth¬
wendigerweise den Entschluß hervorrufen, diese Cultur ganz aufzugeben." Aber
anstatt auf diese Mahnungen zu achten, ging man auf dem eingeschlagenen
Wege weiter fort; der Golddurst des Mutterlandes war nicht zu löschen, bis
eine allgemeine Hungersnoth in den Jahren 1846 bis 1831 eintrat und in
ihrer Begleitung der epidemische Typhus. Es war kein Mißwachs gewesen,
da die Ernten den mittleren Ertrag überschritten hatten, und doch waren zahl-
lose Menschen den Hungertod gestorben, hatten Eltern ihre Kinder für einen
halben Gulden zum Verkauf angeboten. Und was that die Regierung? Im
Anfange gar nichts — ja einzelne ihrer Beamten widersetzten sich den durch
mitleidige Europäer vorgenommenen Reisvertheilungen. Während die Javanen
Hungers starben, lieferte Java an die Niederlande noch jährlich einen Ueber¬
schuß von durchschnittlich 12 Millionen Gulden, einen Ueberschuß, der vielleicht
doppelt so groß gewesen wäre, wenn die Preise des Kaffee's in jenen Jahren
nicht so niedrig gestanden hätten. Diese Ueberschüsse, die in die niederländische
Staatscasse geflossen sind, betrugen vom Jahre 1840 bis 1864 die Gesammt-
summe von 462 Millionen Gulden, in einigen der letzten Jahre selbst
35 Millionen jährlich.
An diesen Zahlen können Sie den Erfolg des..Cultursystems" ermessen,
zugleich finden Sie in ihnen aber auch die Ursache seines Entstehens und
seiner Fortdauer. Gelddurst, oder will man milder urtheilen, Geldnoth
hatten diese indischen Zustände geschaffen, und Geldnoth erhält sie. Die
holländischen Finanzen waren in der letzten Zeit in günstigen Verhältnissen,
die sie jedoch allein den indischen Zuschüssen zu verdanken hatten; ohne diese
hätte unser Staatsbudget schon lange mit einem bedeutenden jährlichen De¬
ficit schließen müssen.
An der Entstehung und Ausbildung des Cultursystems hat ein nur
geringer Theil des holländischen Volks Antheil gehabt. Als nach der Ent-
deckung des indischen Seeweges die Portugiesen nach Ostindien kamen, fanden
sie auf den Sunda-Inseln eine sanftmüthige Bevölkerung, die auf einer
ziemlich hohen Stufe der Entwickelung stand. Diese Cultur hatte sich über den
ganzen Archipel und noch weit darüber hinaus bis nach Cochin-China ver¬
breitet. Zwar war durch den seit dem fünfzehnten Jahrhundert hereinge¬
brochenen Islam ein Rückschlag eingetreten, aber die portugiesische und
später die holländische Herrschaft beschleunigte diesen Verfall in jeder möglichen
Weise. Die im Jahre 1602 errichtete ostindische Compagnie erhielt von dem
holländischen Staate das Monopol des Handels mit den Ländern östlich vom
Cap der guten Hoffnung. Sie begründete an verschiedenen Puncten des
Archipels ihre Niederlassungen, theilweise als Erbin der vertriebenen Portu¬
giesen, theilweise gründete sie neue Stationen. Auf die Verwaltung der neu¬
erworbenen Länder ließ sie sich meistens nicht direct ein, sondern sie überließ
dieselbe den inländischen Fürsten, denen sie dafür die Verpflichtung zur
Lieferung verschiedener für den Handel bestimmtes Producte auferlegte.
Die Preise dafür waren sehr willkürlich und niedrig; häufig wurde
Nichts bezahlt. Außerdem trieb die Compagnie freien Handel mit den Ein-
geborenen, hauptsächlich in Zucker, dessen Production schon im vorigen Jahr¬
hundert auf Java ziemlich bedeutend war. Erwuchs ihr aber bet diesem
Handel eine Concurrenz, die lästig wurde, so verbot sie mit einem Male
alle Ausfuhr. Dadurch wurden natürlich alle Industrie und aller Handel ge¬
lähmt, die beide denn auch am Ende des vorigen Jahrhunderts sehr im Ver¬
fall waren.
Mit dem 1. Januar des Jahres 1800 übernahm der holländische Staat
(die damalige batavische Republik) die ostindische Compagnie mit einem Defi¬
cit von 136 Million Gulden. So schlimm hatte die Compagnie gewirth¬
schaftet, daß das Resultat für Ostindien ebenso unglücklich war wie für Hol¬
land: Und doch hatte sie seit ihrer Begründung jährlich durchschnittlich
19 Procent Dividende gezahlt. Nach Uebernahme der Verwaltung durch die
holländische Negierung (unter dem General-Gouverneur Daendels) wurde
das System der Pflichtlieferungen von Marktproducten beibehalten, jedoch
mit einigen Verbesserungen; namentlich wurden bessere Preise bezahlt, und
die ganz unbezahlten Lieferungen abgeschafft. Dagegen verpflichtete Daendels
die Bevölkerung zum Bau einer großen Militairstraße durch die ganze Länge
der Insel. Dieses ausgezeichnete Werk ist in außergewöhnlich kurzer Zeit,
aber mit der größten Rücksichtslosigkeit gegen die Eingeborenen, ausgeführt
worden. — Es war darum nicht zu verwundern, daß die Javanen im
Jahre 1811 den Einzug der Engländer mit Freuden begrüßten. Der englische
Generallieutenant Raffles schaffte sofort das System der ostindischen Com¬
pagnie ab und führte dagegen das System der „Landrente", so wie es noch
jetzt besteht, ein. Die Einwohner konnten produciren, was sie wollten
und damit nach Gutdünken Handel treiben. Aber schon im Jahre 1816
kam Java wieder an die Holländer, und obgleich diese im Anfang geneigt
schienen, dem System des Generallieutenants Raffles zu folgen, so ver¬
ließen sie dasselbe doch allmälig. Es scheint, daß König Wilhelm I. per¬
sönlich gegen die liberale, englische Einrichtung eingenommen war, und daß
seine Regierung wegen ihrer liederlichen Finanzwirthschaft darauf bedacht
sein mußte, auf jede nur mögliche Weise von Java Vortheile zu ziehn. Dazu
kam. daß Raffles Reformen auf Schwierigkeiten gestoßen waren, die nur
durch die Zeit gelöst werden konnten. Aber im Mutterlande hatte man
keine Zeit; die Schulden häuften sich entsetzlich und die Colonien kosteten
jährlich noch einige Millionen. Zwar verbesserte sich der Zustand derselben
sichtlich, ihr Deficit machte allmälig Ueberschüssen Platz, aber das Mutter¬
land mußte Geld haben und zwar sogleich.
Die bestehenden Plantagen wurden Anfangs an die Einwohner ver¬
pachtet, und zwar mit der Verpflichtung dieselben zu unterhalten, und die
darauf fallende Landrente zu bezahlen. Mit ihren Erzeugnissen konnten die
Pächter damals nach Gutdünken handeln. Nach Ablauf des ersten Contractes
aber im Jahre 1823 wurde den Pächtern bekannt gemacht, daß sie zur
Unterhaltung der Plantagen auch noch weiter verpflichtet seien. Zugleich
wurde den Ausländern verboten. Magazine zu errichten, d. h. den Einge-
bornen jede Gelegenheit zum Verkauf ihrer Producte genommen. Allerdings
machte die Regierung bekannt, zu welchem Preise sie die Producte kaufen
würde und berechnete danach die Landrente; kamen aber die Producenten
mit ihren Erzeugnissen , so weigerte sie unter irgend einem Vorwand die An¬
nahme, um sich ihrer auf andere Weise zu einem Spottpreise bemächtigen zu
können; häufig genug reichte der Ertrag nicht hin. die Landrente zu decken.
Zwang und Erpressung waren wieder die Losung geworden. und diese sollten
um so mitleidloser geübt werden, als die Geldverlegenheit des Mutterlandes
beständig stieg. Zu dem Aufstande des Diepo Negoro in Java (1825—1830)
gesellten sich die belgischen Unruhen, und als im Jahre 1830 die Revolution
ausbrach, sandte Wilhelm I. den Grafen van der Bosch mit der ausgedehn¬
testen Vollmacht als Generalgouvemeur nach Indien. Bosch ist der Schöpfer
des „Cnltursystems". Der Erfolg desselben hat seine Erwartung sowohl wie
die seiner Gegner übertroffen. Wohl erhoben sich einige Stimmen gegen
das neue System, aber im Drange der Zeiten wurden sie überhört. Auch
die Eingebornen Javas, die so lange geduldig ausgehalten hatten, wider¬
sehten sich hin und wieder; aber die Widerspenstigen wurden ins Gefängniß
geworfen oder mit Ruthen (Rötting) geschlagen. Noch im Jahre 1864
sind eine halbe Million Ruthenschlage an die Javanen ertheilt worden.
Dafür hat uns Java seit der Einführung des Cultursystems mehr als 500
Millionen eingebracht, womit wir Schulden tilgen. Eisenbahnen bauen, unsere
Landesvertheidigung bezahlen und — die Sclaven in Westindien freilaufen
konnten.
Bei diesen glänzenden finanziellen Erfolgen und bei dem Dunkel, in
welches die Regierung ihre Colonialpolitik zu hüllen wußte, war natürlich,
daß das „Cultursystem" zum goldenen Kalbe der Holländer wurde — bis mit
der Constitutton vom Jahre 1848 auch die Regierung der Colonien unter
nähere Aufsicht der Kammern kam. Zunächst erhob der Abgeordnete Baron
van den Hoevell. früher Prediger zu Batavia, öffentlich seine Stimme gegen
das „Cultursystem". Aber er fand so wenig Gehör, daß das „Cultursystem"
noch im Jahre 1854 neu bestätigt wurde. Vult den Hoevell selbst wurde
natürlich mit allen nur möglichen Lästerungen und Verleumdungen über¬
häuft. Aber dennoch brach die Wahrheit sich allmälig Bahn — Kammer
und Regierung sahen sich bald veranlaßt, auf Verbesserungen zu denken. Der
vor einigen Jahren entbrannte Streit über die Colonialfrage hat uns seit
dem Jahre 1862 selbst sieben verschiedene Minister für die Colonien gebracht,
aber zu einem durchgreifenden Resultat ist er noch nicht gekommen. Das
Haupthinderniß einer Reform ist und bleibt unsere Finanznoth.
Die konservative Partei will natürlich den bestehenden Zustand erhalten
und höchstens einige Mißbräuche abschaffen, Sie behauptet, der Jndier sei
durch natürliche Anlage und den Einfluß des Climas faul und arbeite nicht
mehr, als er zu seinem bescheidenen Unterhalte nöthig habe; der Arbeits¬
zwang sei für ihn darum eine Wohlthat. Auf die jährlichen Ueberschüsse als
eine Vergütung für die Mühe und Kosten seiner Verwaltung und seines
sittlich hebenden Einflusses habe Holland zweifellosen Anspruch. Das Cultur-
system sei für Java wie für das Mutterland eine Wohlthat gewesen und
müsse darum erhalten werden. Die Kammern thäten am Besten, sich in die
Verwaltung der Colonieen gar nicht zu mischen, der Regierung dürften nicht
durch Gesetze die Hände gebunden werden u. s. w.
Die Liberalen wollen einen lungsamen Uebergang vom Zwang zum
freiwilligen Uebereinkommen. Der Javane soll künftig die Erzeugnisse, die
er jetzt zu liefern gezwungen ist, freiwillig pflanzen, jedoch dürfen die großen
Ueberschüsse der indischen Casse nicht wegfallen, sie müssen dem Mutter¬
lande vielmehr erhalten bleiben. Die ganze Verwaltung soll gesetzlich ge¬
ordnet und besser organisirt werden. — Auch die Liberalen halten daran fest,
daß das Mutterland Recht auf die Ueberschüsse habe.
Die Radicalen und mit ihnen die „christlich-nationale" Partei des
Herrn Groen van Prinsterer verlangen, daß Indien überhaupt nicht mehr
ausgesogen werde, daß Holland nicht mehr die directen Vortheile in Form
der Ueberschüsse erhalte, daß diese vielmehr zu Gunsten der Javaner, ver¬
wendet werden. Die Abschaffung des Zwangsystems steht bei ihnen so ziem¬
lich in zweiter Reihe, da sie sehr wohl begreifen, daß davon so lange nicht
die Rede sein kann, als noch von Seiten des Mutterlandes Anspruch auf
große Summen erhoben wird. Außerdem wollen sie, daß für die Entwicke¬
lung des Volkes Etwas gethan und daß eine durchgreifende Reorganisation
der Verwaltung vorgenommen werde. Zur Charakteristik des gegenwärtigen
Zustandes sei noch angeführt, daß auf der ganzen Insel höchstens SO Schu¬
len für Eingeborene mit etwa 7000 Schülern bestehen, was bei ca. 12 Mil¬
lionen Einwohnern etwa Eine Schule auf 600,000 Seelen macht. Das sind
die den Javanen aus der holländischen Verwaltung erwachsenen Vortheile. Die
Vortheile, welche die Niederlande aus ihnen gezogen haben, werden wir gleich
kennen lernen.
Die Liberalen haben nicht den Muth,, das Uebel mit der Wurzel aus¬
zurotten, deshalb kommen sie zu der Ungereimtheit, daß sie die Aushunge¬
rungspolitik verlassen und dennoch deren Nutzen behalten wollen. Ist es denn
denkbar, daß der Javane freiwillig für den bisherigen geringen Lohn schwere
Arbeit verrichten werde? Oder Werdensich die Vortheile nicht bei wachsendem
Arbeitslohn nothwendig vermindern müssen? Oder aber, kann die freiwillige
Production und damit der Wohlstand auf Java so sehr steigen, daß die da¬
durch erhöhte Stcuerfähigkeit den Ausfall, den die höheren Löhne zur Folge
haben müssen, decken würden? Nur in diesen drei Fällen wäre die Erhal¬
tung der Ueberschüsse möglich. Aber die beiden ersten Fragen wird man so¬
fort verneinen müssen, und ebenfalls die dritte, wenn man bedenkt, daß. wie
wir gesehen haben, der Javane bei der gegenwärtigen Production kaum noch
Zeit genug hat, um seine Reisfelder zu bestellen. Mit der Halbheit der Li¬
beralen kommt man darum nicht weiter; entweder muß man das „Cultur¬
system", so wie es ursprünglich organisirt war, fortbestehen lassen, oder man
muß dasselbe mit allen seinen Consequenzen verwerfen. Veränderungen unter¬
graben das System nur, ohne ihm. seine schädlichen Wirkungen zu nehmen.
Will man Indien Recht wiederfahren lassen und Holland von der
Schmach befreien, daß es von dem Schweiß eines unterdrückten Volkes lebt,
so muß zuerst auf die indischen Ueberschüsse verzichtet und dafür gesorgt wer¬
den, daß anderweitige Mittel zur Bestreitung des Staatshaushaltes beschafft
werden. Die Lösung der colontalen Frage muß in Holland, nicht in Indien
beginnen. Solange unser Budget regelmäßig mit einem Deficit von un¬
gefähr 15 Millionen schließt, werden wir nicht zum erwünschten Ziele gelan¬
gen. Die indischen Ueberschüsse haben seu Jahren unser Deficit decken müssen,
sie haben uns verleitet, immer größere Ausgaben zu machen, und das große
Elend unserer Colontalpolitik ist, daß sie uns gänzlich demoralisirt hat. Von
1846 bis 1866, also in über zwanzig Friedensjahren, sind unsere gewöhnlichen
Einnahmen, ohne die indischen Zuschüsse, nur um 10 Procent, dagegen un¬
sere Ausgaben (nach Abzug der Zinsen sür unsere Schulden und der für außer¬
gewöhnliche Zwecke verwandten Summen) um 40 Procent gewachsen. Bei
unserem veralteten Steuersystem und der drückenden Höhe der Abgaben (circa
20 Fi. per Kopf) war die Abschaffung einiger den Arbeiterstand am meisten
drückenden Steuern durchaus zu rechtfertigen. Die Millionen, welche Indien
uns geliefert hat, sind nützlich verwandt, aber der Gedanke, daß der Staat
mit seinem indischen Gelde überall helfen muß, ist so allgemein geworden,
daß aller Unternehmungsgeist aus dem Volke verschwunden ist. Unsere beiden
ersten Eisenbahnen wurden von deutschem und englischem Gelde, die späteren
vom Staat und nur zwei oder drei kleine Bahnen von holländischen Actien-
gesellschaften gebaut. Amsterdam's Hilferuf um eine bessere Verbindung mit
der Nordsee erklang schon seit zwanzig Jahren und ein neuer Canal war zur
Lebensbedingung für die Hauptstadt geworden. Als es aber darauf ankam,
20 Millionen Capital für eine solche Unternehmung auf Actien zu zeichnen,
konnte die nöthige Summe nicht zusammengebracht werden, und das Land,
welches jedem fremden Staate seine Millionen mit vollen Händen leiht, war
zu engherzig, um eine verhältnißmäßig kleine Summe an einen nationalen
Zweck zu wagen. Schließlich haben englische Unternehmer Hilfe bringen
müssen.
Aber der unglückliche Einfluß unserer Colonialpolitiker reicht noch sehr
viel weiter. Da der Staat in Indien Landbauer und Händler ist, da er seine
Erzeugnisse in Europa an den Markt bringen muß. es aber nicht sür an¬
gemessen hält, mit den Käufern direct in Verbindung zu treten oder mit
Ausländern zu thun zu haben, — so veranlaßte er im Jahre 1824 die Errich¬
tung einer Actiengesellschaft unter dem Namen „Handelmaatschappy", die als
Agentin der Regierung fungirt. Alle Gouvernementsproducte werden in
Indien an die Filialen dieser Gesellschaft abgeliefert, von dort mit hollän¬
dischen Schiffen nach holländischen Häfen gebracht und hier an holländische
Häuser verkauft. Dadurch ist für die Rhederei und den Handel ein so be¬
deutendes Monopol geschaffen, daß begreiflicher Weise ein ungünstiger Ein¬
fluß nicht ausbleiben konnte. So lange der Handel sich auf ein solches
System stützt, kann er zu keiner freien selbständigen Entwickelung gelangen.
Vom Handel Amsterdams kann man darum auch durchaus nicht sagen, daß
er im Fortschreiten begriffen sei, wenigstens nicht in dem Maße, als man von
einem so bedeutenden Platze erwarten könnte. Eine Treibhauspflanze, wie
sie durch unsere Colonialpolitik groß gezogen ist, muß bei dem ersten Sturm
.der freien Concurrenz vernichtet werden.— Die Holländer rühmen sich der
Freihandelspolitik eifrig zu huldigen, nur thun sie dieses nicht in Bezug auf
Ostindien. Lähmung auf wirthschaftlichem Gebiet zeigt sich denn auch überall;
der Wohlstand der arbeitenden und mittleren Classen nimmt im Großen
und Ganzen nicht zu; die Arbeitslöhne sind nicht höher, als im Anfang dieses
Jahrhunderts, und obgleich man dabei Vieles auf Rechnung des schon im
vorigen Jahrhundert eingetretenen Rückschrittes in unserer commerciellen und
industriellen Bedeutung zu schreiben hat, so steht doch fest, daß unsere Energie
sich ohne den ostindischen Nothhelfer viel kräftiger entwickelt hätte. Es wäre ein
neues Leben in unsere Erwerbsthätigkeit gekommen, wir hätten uns wirth-
sckastlich mehr gehoben, und bei einer sparsamen Haushaltung würden wir
dann eher im Stande gewesen sein, das Gleichgewicht in unsern Finanzen
wieder herzustellen.
So offenbaren sich die schädlichen Folgen der Colonialpolitik überall in
unserm Volksleben. Man ist sich dessen allmälig auch in weiteren Kreisen
bewußt, aber noch klammert man sich an diese alten Zustände krampfhaft an.
Es ist ein dumpfes Gefühl eigener Ohnmacht, das sich in dem oft wieder¬
holten Ausrufe kundthut: „N>und man uns Ostindien, .so sind wir verloren!"
Selbst bis in unsere auswärtige Politik kann man diesen Einfluß verfolgen.
Salon im Jahre 1830 wußte König Wilhelm I,, daß England und Frank,
reich die Trennung Belgiens von Holland beschlossen hatten und daß sich
die übrigen Großmächte derselben nicht kräftig widersetzen würden. Aber
Wilhelm weigerte sich hartnäckig, diese Trennung anzuerkennen und blieb
noch Jahre lang gewaffnet. Hätten ihm die indischen Ueberschüsse nicht
damals die Mittel zu einer solchen Handlungsweise verschafft, die sich häufen¬
den Staatsschulden würden den eigensinnigen Fürsten beträchtlich früher
zur Einsicht gebracht haben.
So ist es immer derselbe Refrain, bei welchem man bei Besprechung un¬
seres holländischen Colonialsystems ankommt: Womit sollen wir unser Deficit
decken, wenn Indien uns nickt zu Hilfe kommt? Wesentlich aus diesem
Grunde ist eine Lösung dieses Problems bis jetzt nicht erfolgt. — Ganz un¬
thätig sind wir darum doch nicht geblieben. Seit mehreren Jahren hat man sich
damit beschäftigt, vorläufig einigen besonders krassen Uebelständen abzuhelfen.
Die Tendenz, welche seit 1848 bei unserer Regierung mehr und mehr zur
Geltung gekommen ist und deren Einfluß sich selbst die conservativen Mi¬
nisterien nicht entziehen konnten, ist dahin gerichtet, den Javanen die schwere
Last, welche sie tragen, mindestens erträglicher zu machen. Es herrscht auch
nicht mehr so viel Willkür und Maßlosigkeit als früher, es ist eine Wendung
zum Bessern in die indischen Zustände gekommen. Wir nähern uns mehr und
mehr der Ueberzeugung, daß mit dem Princip, Indien auf orientalische Weise
zu regieren, nicht weiter zu kommen sei und daß die Gesetze gesunder europäischer
Staatsöconomie auch im Osten die richtigen sind. Aber das Grundprincip, auf
welchem das „Cultursystem" beruht, ist bis jetzt nicht angetastet wo-rden; noch
immer ist der Arbeitszwang in voller Blüthe" der Verwaltungsveamte zugleich
Richter. Und was das Schlimmste ist: wir eignen uns den sauer verdienten Lohn
der Javanen an, ohne sür ihre Entwickelung Etwas zu thun. Haben wir doch
noch vor einigen Wochen erleben müssen, daß die Kammern nur höchst ungern in
eine Zinsengarantie für eine indische Eisenbahn willigten. Der Holländer ist
bedächtig und langsam, und es scheint auch bet ihm der Zeit zu bedürfen,
ehe er mit einem System wirklich bricht, das er zwar verurtheilen muß, das
aber doch ein Mal Früchte getragen hat. Die sogenannte radicale Partei,
d. h. die Partei, welche eine gänzliche Veränderung unserer Colonialpolitik
verlangte — hat zur Zeit so wenig Einfluß in den Kammern und bei der
Regierung, daß zunächst eine Entscheidung noch nicht zu erwarten steht.
Unter den gegenwärtigen Umständen würde kein Colonialminister mit einem
radicalen Programm vor die Kammern zu treten wagen. Die Conservativen
haben eine einflußreiche Stütze an den vielen aus Indien zurückgekehrten Be¬
amten und an den Zuckerunternehmern, die drüben ihr Glück gemacht haben
und deshalb das alte System mit allen ihnen zu Gebote stehenden Mitteln
vertheidigen. Sie besitzen eine ansehnliche Minorität in den Kammern. Die
Liberalen, die bis zum zweiten Ministerium Thoibecke (1862) unter der Lei-
tung dieses Staatsmannes in geschlossenen Reihen standen, sind seit dem Fall
dieses Cabinets in Uneinigkeit gerathen, was ihre Macht trotz der Majorität
in den Generalstaaten lähmt. Im Ganzen wäre eine Neubildung dieser
Partei überhaupt sehr wünschenswert!). Ihre alte Phalanx bestand zu einem
großen Theil aus den Schülern Thorbecke's, der seiner Zeit bekanntlich Pro¬
fessor in Leyden war. Thorbecke's Werk, die Konstitution von 1848, besteht
nunmehr 21 Jahre, ohne daß irgend eine zeitgemäße Neuerung an derselben
vorgenommen oder auch nur einer der erwiesenen Mängel abgestellt worden
wäre. Ob eine Neugestaltung der liberalen Partei zum gewünschten Ziele
sichren wird, oder ob sich eine neue Partei bilden muß, um uns in zeit«
gemäßere Bahnen zu treiben, bleibt dahin gestellt.
Conservative sowohl wie Liberale — unsere beiden großen Parteien —
stehen gegenwärtig auf keinem festen Boden; beider Streben ist nicht deutlich
ausgesprochen, deshalb verlieren sie sich in unendliche Zänkereien über klein¬
liche Fragen, deshalb streiten sie um Besetzung der Ministerien und lassen auf
diese Weise die kostbare Zeit ungenützt vorbei gehen. Von dem in hohem
Alter stehenden Herrn Thorbecke ist eine Reorganisation, wie sie die Umstände
fordern, wohl kaum mehr zu erwarten.
Die grünen Blätter haben das Makart'sche Bild: „Die sieben Tod¬
sünden" noch nicht erwähnt; dieser Umstand mag mich entschuldigen, wenn
ich, so vielen Berichten nachhinkend, in ganz später Stunde hier mein Votum
niederschreibe. Denn erst in diesen letzten Tagen hatte ich Gelegenheit, das viel¬
gepriesene und vielgeschimpfte Werk in Cöln zu sehen, wo es im Gertrudenhofe für
einige Zeit ausgestellt wird. Meine Erwartungen waren ziemlich hoch gespannt.
Mit keiner Kunstschöpfung hatte sich seit Jahren die öffentliche Meinung so
viel beschäftigt, über keine sind so schroff sich widersprechende Urtheile laut ge¬
worden, wie über das Makart'sche Gemälde. Sowohl das Interesse, welches
viele Kreise an dem Bilde nahmen, wie der Widerstreit der Ansichten mahnte
mich an die Zeit, als Gallait's und Bie'spe's bekannte Werke ihren Rundgang
durch Deutschland machten Und überall, wohin sie kamen, ebenso begeisterte
Verehrer wie erbitterte Gegner fanden. Nur daß damals ausschließlich künst¬
lerische Gründe die Urtheile motivirten, bei dem Makart'schen Bilde auch noch
sittliche Erwägungen hinzutraten. Nach Allem, was ich davon gehört und
gelesen hatte — die Berichte fanden den Weg sogar bis in das südlichste
Italien — dachte ich mir den Künstler als ein Talent ersten Ranges, nur
wenige Schritte von vollendeter Meisterschaft entfernt, dessen Farbentechnik
schon jetzt keine Vergleichung zu scheuen hat. welcher dem Cultus des Schö¬
nen mit voller Seele zugethan moralische Bedenken übersah und den Tadel,
den man gegen die Wahl des Gegenstandes etwa erhob, rechtfertigen oder
wenigstens entschuldigen konnte mit dem Hinweise auf die Fülle der Schön¬
heiten, die er demselben entlockt; das Werk selbst erwartete ich sinnberauschend
zu finden, voll magischer Kraft und üppig wuchernden Lebens. Es mag bei
strengen Sittenrichtern Anstoß erregen, aber nicht absprechen ließe sich ihm
ein energisches Leben, eine gewaltige Kraft, eine üppige Schönheit.
Ich muß offen gestehen, daß mich der Anblick des Gemäldes, das be¬
kanntlich aus drei selbständigen Tafeln besteht, in den meisten Beziehungen
enttäuscht hat. Die Sinne berauschend oder was noch viel schlimmer, wirk¬
lich unkünstlerisch wäre, sie kitzelnd wirkt das Bild nicht. Von Correggio's
mythologischen Gemälden gar nicht zu reden, wie ganz anders packt die
Roxane Sodoma's in der Farnesina die Sinne und weckt süßes Sehnen und
entzündet das Feuer der Empfindung. Aber, um nicht durch das Anlegen
eines zu hohen Maaßstabes dem Künstler ungerecht zu werden, wie geschickt
haben nicht moderne französische Maler sinnliche Reize wiederzugeben ver¬
standen. Bei Makart kommen wollüstige Stellungen und unzüchtige Be¬
wegungen auch in Hülle und Fülle vor, aber schon dadurch, daß sie sich bis
zum Eintöniger wiederholen, durch die übertriebene Häufung wird jeder tie¬
fere Eindruck gelähmt, bleibt nur eine stumpfe Empfindung übrig. Legt es
der Künstler auf die höchste Steigerung des Affectes an. so muß er mit der
einmaligen Schilderung desselben sich begnügen, er muß uns wie zu einem
Gipfel emporführen und diesen allein für sich stehend vor unser Auge stellen.
Häuft er solche Gipfel nebeneinander, so geht der Eindruck der Höhe ver¬
loren. Man denke sich ein Musikstück vom Anfang bis zum Ende im stärksten
Fortissimo vorgetragen. Betäubender Lärm würde dadurch erzeugt werden,
aber die wahre Wirkung der Kraft gewiß verloren gehen. Dazu kommt
noch bei Makart die arge Vernachlässigung der Zeichnung, die nebelhafte
Unbestimmtheit der Formen. Wenn man sich zehn bis zwölf Schritte von
dem Bilde entfernt, so daß die einzelnen Figuren unkenntlich werden, alle
Deutlichkeit und Klarheit, was eigentlich hier vorgehe, aufhört, gewinnt man
einen angenehmen Farbeneffect. Der Künstler versteht sich vortrefflich auf
die Behandlung der Halbtöne, auf wirksame Farbencontraste, er hält Licht
und Schatten in großen Massen zusammen, dämpft die ersteren und weiß den
letzteren noch einen farbigen Schimmer zu verleihen. Der harmonische Ein-
druck, welchen die Farbengebung auf den Fernstehenden macht, verschwindet
aber, sobald man dem Bilde näher rückt. Denn dann wird die schrankenlose
Willkür des Colorits dem Auge offenbar und daß über dem allgemeinen
Farbeneffect Form und Zeichnung völlig vernachlässigt worden, ersichtlich.
Makart gebraucht keine Localfarben. Er kann dafür berühmte Vorbil¬
der anrufen, und selbst wenn dieses nicht der Fall wäre, sein Vorgehen voll¬
kommen rechtfertigen. Farben, die an sich nicht natürlich scheinen, werden
es durch die Nachbarschaft und Gegenstellung anderer. Delacroix behauptet
einmal, wenn Paul Veronese auf seine Palette eine Farbe vom Ton des
Pariser grauen Straßenschmutzes empfangen hätte und damit zugleich den
Auftrag, das Fleisch einer Blondine nur mit dieser grauen Farbe zu malen,
er würde ohne Zögern das Werk begonnen und mit dem größten Erfolge
vollendet haben. Er wollte mit diesem paradoxen Satze nichts weiter sagen
und er hat es an seinen eigenen Werken glänzend durchgeführt, daß Farben
durch die Neben- und Gegenstellung anderer Töne ihren ursprünglichen Cha¬
rakter verändern und der .Gesammteindruck die volle Wahrheit wiedergibt,
welche in der Schilderung des Einzelnen und Besonderen vermißt wird.
Mit dieser Freiheit des Coloristen, mit dem andern Zugeständnisse, daß
dieser durch die Farben zeichnen darf und soll, begnügt sich Makart nicht.
Ihm gilt ausschließlich der abstracte Farberuffect; was diesen nicht fördert
oder wohl gar schwächt, ist für ihn nicht vorhanden,; er steht auf dem Stand¬
punct des Ornamentisten, verflüchtigt dem malerischen Scheine zu Liebe die
menschlichen Gestalten, drückt diese auf den Werth todter Sachen, bloßen
Beiwerkes herab, das sich nach Belieben verschieben und umgestalten läßt.
Findet Makart, aus größerer Ferne sein Bild überblickend, daß da und dort
die Gesammtwirkung noch einen Farbenton erheische, so setzt er ihn auf die
Stelle hin, aber ohne daß er ihm eine bestimmte Form gäbe oder mit einem
Gegenstande, einer Figur in eine klare Beziehung brächte. Es ist der reine
Farbenfleck, den wir erblicken. Braucht er eine größere Farbenfläche, ein
breiteres Lichtfeld, um den Schattenpartien ein kräftigeres Gegengewicht ent¬
gegenzuhalten, so bilden Modellirung und Zeichnung kein Hinderniß, solche
Farbenflächen anzubringen. Das nackte Weib, das sich im Vordergrunde
des Mittelbildes mit ihren Reizen breit macht, ist eine zusammengeballte
weißgelbe Masse mit unklaren verschwommenen Formen und daher ohne
allen Ausdruck; der Mann im Hintergrunde hebt nicht mit dem Arm, son¬
dern mit einem ungestalteten Klumpen Fleisch die goldene Kette empor; auf
dem ersten Bilde geht bei der Frau, welche sich an den Säulensockel anlehnt,
Brust und Rücken so unmittelbar in das grüne Gewand über, daß wieder
nur der verworrenste Eindruck zurückbleibt. Aehnliche Uebertreibungen eines
ganz einseitig aufgefaßten Coloritprincipes ließen sich noch zahlreich an¬
führen.
Wie wenig unter solchen Umständen die Composition befriedigen kann,
ist leicht begreiflich. Für die Gliederung des Gemäldes in drei Tafeln liegt
kein hinreichender Grund vor. Weder wird in den Seitentafeln das Motiv
des Mittelbildes vorbereitet oder zum Ausklingen gebracht, wie es etwa auf
alten Flügelaltären vorkommt, noch wird in den drei Tafeln eine fortlaufende
Entwickelung des dargestellten Gegenstandes gegeben. Wir haben es weder
mit einer eigentlichen Reihencompofition noch mit einer symmetrisch ausgebau¬
ten zu thun. Truge nicht alle Wahrscheinlichkeit, so wollte Makart ursprünglich
ein recht üppiges und tolles Bacchanal schaffen, er erschrak aber später über
die kecke Nacktheit der Schilderung und hängte ihr ein moralisches Mäntelchen
um. Aus dem Bacchanale wurde eine Darstellung der sieben Todsünden.
Nun schieben sich aber und drängen sich die beiden Grundvorstellungen durch
einander, ohne daß die eine oder die andere zu ihrem vollen Rechte gelangt,
wie dieses schon der wechselnde Titel andeutet, unter welchem Makart's
Werk ausgestellt wird. Bald wird es „die Pest in Florenz", als ob die be¬
rühmte Erzählung Boccaccio's ihm den Gegenstand geliefert hätte, bald „die
sieben Todsünden" bezeichnet. Der Künstler kommt immer wieder auf das
Bacchanal zurück, für dessen Schilderung auch sein Farbensystem am besten
paßt, zerreißt aber stets die Stimmung durch willkürlich eingestreute Figuren
und Gruppen, welche wieder für sich nicht bedeutend genug sind, um einen
selbständigen Eindruck hervorzurufen. Wollte er die Pest von Florenz malen,
so reichte eine Tafel vollkommen aus; dann erst hätte die Schilderung der
Orgie den vollkommenen Abschluß gefunden, die rechte Steigerung erfahren;
wollte er uns die Todsünden warnend vor die Augen führen, so bedürfte es
einer viel schärferen Gliederung, einer gleichmäßigeren Darstellung der ein¬
zelnen Sünden, als wir im Makart'schen Bilde wahrnehmen. Die Neidischen,
die Spieler, die zornigen Raufbolde treten hier als bloße Anhängsel der
Voller und Wüstlinge aus. Der Mangel an Feinheit in der Composition
wird folgerichtig in Formengebung und Technik fortgesetzt. Wir begegnen
Figuren aus allen Jahrhunderten. Zu einzelnen Köpfen hat die neuere
französische Schule beigesteuert, andere sind der Rvcocokunst entsprungen, noch
andere beruhen auf Studien der Künstler des siebzehnten Jahrhunderts, welche
Makart angestellt hat. Vollends in der Technik führt uns der Künstler
die ganze Scala vom flüchtigsten Entwürfe bis zur saubersten Ausführung
unvermittelt, mit unglaublicher Sorglosigkeit nebeneinander gestellt vor. Hier
der eine Frauenkopf, dort das rothe Gewand, einzelne Prachtgefäße und
Blumen sind mit einem feinen Sinn für Naturwahrheit colorire, dicht nebenan
aber stoßen wir auf wahres Grobzeug von Malerei, ausgeschmierte Skizzen,
die am wenigsten irgend welche Berechtigung haben.
Mit dem Künstler wären wir fertig. Er ist ein mit gutem Farbensinn
begabter Mann, der eben bisher keine andern künstlerische Eigenschaft in sich
ausgebildet hat. Hört er nicht statt auf die vielen falschen Freunde, die er be¬
sitzt, auf einen ehrlichen Feind und versucht seine Kraft nicht erst an ein¬
fachen, nur durch Formenklarheit wirksamen Aufgaben, so wird sein Name
bald wieder vergessen werden und er höchstens als Stilllebender oder Deeo-
rationskünstler fortleben. Was aber die vorlauten Enthusiasten an der Jsar
und Donau betrifft, so mögen sie sich gesagt sein lassen, daß es gewiß löblich
ist, wenn sie sich an den Ultramontanen reiben, sich gegen das Concordat
auflehnen und die Einsprache des Clerus und der Frömmler in Sachen der
Kunst energisch zurückweisen; nur bitten wir, daß es das nächste Mal nicht
wieder auf Kosten des guten Geschmackes geschehe.
Das Leben des k. k. Feldmarschalls Gideon Ernst von Laudon.
Nach den Originalacten des k. k. Haus-, Hof-, Staats- und Knegsarchivs. Von
Wilhelm Edler von Janko.
Trotz seines nach Jahrhunderten zählenden Kriegsruhms und seiner
langen Kriegsgeschichte hat Oestreich nur zwei Feldherrn, die wirklich populär
geworden sind: den Prinzen Eugen und Laudon (richtiger Loudon, wie der
berühmte Träger dieses Namens und seine Anverwandte sich schrieben, resp,
noch jetzt schreiben); als dritter wäre höchstens Radetzki noch zu nennen,
dessen Feldlager in den Jahren 1848 und 1849 in der That Oestreichs Heimath
geworden war und dem die Dankbarkeit seiner Landsleute dafür die Härten
verziehen hat, deren er sich wenigstens zu Zeiten gegen die Italiener schuldig
machte. — Eugen und Laudon sind außerhalb des Kaiserstaats ebenso
anerkannt und gefeiert, wie in dem Staat, der ihnen zur Heimath ge¬
worden; ihre Popularität stand von Hause mit der Mißachtung in engem
Zusammenhang, welchem der Wiener Hofkriegsrath zu allen Zeiten ausgesetzt
gewesen ist, jene Behörde, die beiden Helden das Leben nach Kräften sauer ge¬
macht hat und durch ihre Urteilslosigkeit und Pedanterie gradezu sprichwört¬
lich geworden ist. Der „edle Ritter" und der Gegner Friedrichs des Großen,
den selbst das preußische Volkslied feierte, haben sich beide so mühsam durch¬
arbeiten müssen, daß wer sie pries, zugleich das alte Oestreich anklagte.
Trotz der Beliebtheit, deren Laudon sich in diesem wie im vorigen Jahr¬
hundert bei Freund und Feind erfreute und trotz der exceptionellen Rolle,
die er in der östreichschen Kriegsgeschichte spielt, hat es bis jetzt keine wirk¬
liche Biographie dieses berühmten Kriegsmannes gegeben. Die zeitgenössischen
Schriften von Pezzl (1790) und Krsovitz (1783) sind längst veraltet und selbst
in den Tagen ihrer Jugend ziemlich mittelmäßig gewesen, die späteren, für
den Handgebrauch k. k. Officiere und loyaler Civilpatrioten bestimmten Auf¬
sätze Hormayrs, Kunitschs, Schweigerds u. s. w,, bloße Compüationen, die aus
den älteren Quellen zum größten Theil wörtlich abgeschrieben waren. Das
vorliegende Buch dagegen ist mit Benutzung der Staatsarchive und von
einem gebildeten Manne geschrieben, dem es wirklich um die Feststellung der
Wahrheit zu thun war und der die Wissenschaft wenigstens um eine Anzahl
neuer Aufschlüsse bereichert hat. Auf das Janko'sche Buch näher einzugehen,
erscheint schon aus diesem Grunde geboten.
Was den eigentlich biographischen Theil, d. h. Laudons persönliche Ge¬
schicke anlangt, so sind allerdings einige Irrthümer und Lücken zu constatiren,
zum Theil solche, welche der Verf. hätte vermeiden können, wenn er sich die
Mühe genommen hätte, eine Skizze über Laudon anzusehen, welche der Referent
vor Jahresfrist publicirte, und die Herr v. Janko, wahrscheinlich ohne sie gelesen
zu haben, in der „Neuen freien Presse" kurzer Hand abfertigte. Laudons Ju¬
gendgeschichte und Herkunft ist, trotz des Interesses, welches sie bietet, in dem
vorliegenden Buch auf kaum drei Seiten abgehandelt und diese drei Seiten
enthalten vier nachweisbare Irrthümer. Erstens wird für ausgemacht an¬
gesehen, daß die Laudon von schottischer Abstammung sind; die Annahme be¬
ruht auf einem Geschlechtsregister, das der Mdmarschall aus Edinburg
kommen ließ und in welchem behauptet war, Matthäus Lowdoun, der
Sohn des Grasen von Air, sei Ende des 16. Jahrhunderts nach Livland
ausgewandert. nachweislich wurde aber schon 1432 ein Otto von Laudohn
(sie) von dem Rigaschen Erzbischof Henning mit dem Gute Tootzen belehnt.
JankosAngabe,daß Matthäus v. Laudon in den Dienst des Schwertbrüderordens
getreten sei, ist vollständig unrichtig, denn das Edinburger Document, wel¬
ches die einzige Quelle für die schottische Genealogie bildet, sagt ausdrücklich,
des Matthäus Bruder Hugo sei im Jahre 1622 gestorben, der Schwert¬
brüderorden aber existirte seit dem ersten Viertel des dreizehnten Jahrhunderts
nicht mehr, da er im Jahre 1237 zu Viterbo in den Orden der deutschen
Herren aufgegangen war. Zweitens hieß des Feldmarschalls Mutter nicht Bor¬
nemund (wie Janko behauptet), sondern Bornemann; drittens ist der Feld¬
marschall nicht am 10. October 1716, sondern wie die bezügliche Notiz des
Kirchenbuchs ausweist, am 2. Februar 1717 geboren worden (der 10. October
war sein Namenstag und wurde als solcher jährlich gefeiert); viertens hat der
berühmte Feldherr den Krimmfeldzug unter Mummies nicht als Unterofficier,
sondern bereits als Fähnrich, resp. Unterlieutenant mitgemacht. — Gleich hier
wollen wir bemerken, daß auch das zweite Capitel in Bezug auf Laudons per¬
sönliche Geschicke einen Irrthum enthält. Gleich den älteren östreichischen
Biographen des Feldherrn weiß auch Herr v. Janko nicht, daß derselbe zwei
Mal verheirathet gewesen ist, während für diese Biographen feststeht, daß Lau¬
dons vieljährige Lebensgefährtin Clara, geb. v. Haager, keine lebenden Kinder
zur Welt gebracht habe, sind neuerdings zu Bunitsch die Grabsteine zweier
seiner Söhne entdeckt worden. Dieser Widerspruch löst sich einfach dadurch,
daß (5ideon Ernst von Laudon in erster Ehe mit Elisabeth von Essen („aus
einer deutschen Familie in Ungarn") verheirathet war und von dieser sechs
Kinder hatte, welche sämmtlich im zarten Kindesalter verstärken. Selbst dem
gründlichen und sonst wohlunterrichteten Versasser des „ Biographischen
Lexikons für das Kaiserthum Oestreich" von Wurzbach ist diese einfache That¬
fache nicht bekannt gewesen. — Endlich sei erwähnt, daß Herr v. Janko in
einer heute nicht mehr üblichen Weise die Charakteristik seines Helden von
der übrigen Darstellung getrennt und in ein besonderes, an den Schluß ge¬
setztes Buch gebracht hat, welches in drei Unterabtheilungen, „Laudon als
Soldat und Feldherr", „Laudon als Privatmann" und „Parallelen", zer¬
fällt und dadurch einen etwas steifen und schablonenartigen Eindruck macht.
Soll das vollständige Bild eines Charakters entworfen werden, so darf der
Privatmann nicht von dem Staatsbürger getrennt werden; es ist im Gegen¬
theil nothwendig, die über den Charakter und die Eigenthümlichkeiten ge-
senkten Urtheile mit der Darstellung der Handlungen in Zusammenhang zu
bringen, und gleichsam aus dieser selbst hervortreten zu lassen. Die „Paral¬
lelen" wiederholen übrigens nur die von Hormayr, Kunitsch, Schweigerd u. s.w.
gemachten, etwas altfränkischen Vergleiche zwischen Laudon, Marcellus und
Paulus Aemilius, — Vergleiche, die nur möglich waren, so lange Plutarchs
Biographien für Muster biographischer Darstellung und Quellen ersten
Ranges gelten konnten.
Doch das nur beiläufig. Der Hauptwerth des Janko'schen Buchs und
die Absicht des Verfassers liegen auf einer anderen Seite. Das Leben Lau¬
dons ist zum Ausgangspunkt einer selbständigen, aus bisher unbenützten
Quellen geschöpften Darstellung des siebenjährigen Krieges gemacht und diese
ist, trotz mannigfacher Ausstellungen, die von unserem Standpunkte ans ge¬
macht werden müssen, von entschiedenem Interesse. Anerkennenswert!) ist vor
Allem, daß der Verfasser trotz seines entschieden östreichischen Standpunktes
und trotz einer Beurtheilung des großen Königs, die an dem wirklichen
Wesen desselben vorübergeht, durchweg in dem Ton ruhiger Sachlichkeit
redet; selbst bei der Polemik gegen Friedrichs kriegsgeschichtliche Aufzeich¬
nungen (die bekanntlich mit einer Ungunst gegen Laudon verfaßt sind, die
zu der Urbanität und Anerkennung, mit der Friedrich seinen Gegner bei per¬
sönlichen Begegnungen behandelte, seltsam contrastirt), geht es stets sehr
maßvoll und anständig zu, Bon dem alt-östreichischen, einseitigen, freilich
schon vor hundert Jahren unhaltbar gewesenen Reichs- und Rechtsstand¬
punkte ist eigentlich nirgend die Rede. Der Verf. versucht vielmehr Kaunitzs
Rechnung auf eine Mitwirkung Frankreichs im Kampf gegen die „neue,
Preußen genannte Erscheinung am politischen Horizont Europas" zu rechtfer¬
tigen und gesteht ehrlich zu, daß es sich um einen Conflict widerstreitender
Interessen gehandelt habe. Mit aller Schärfe wird der Bruch hervorgeho¬
ben, der sich seit der Kaunitzschen Verwaltung in der Diplomatie, wie in
dem inneren Staatsleben Oestreichs vollzogen hulde. Die auf „Einheit der
Verwaltung, Bewußtsein seiner Kräfte und Fähigkeit einer freien Bewegung"
gerichtete Umwälzung des inneren Staatslebens war das nothwendige'Kom¬
plement eines neuen diplomatischen Systems, das die alten, im spanischen
Erbfolgerkriege geknüpften Bündnisse mit den Seemächten einer französischen
Alliance opferte,'„die alsbald Mittelpunkt aller großen Ereignisse des 18. Jahr¬
hunderts werden sollte". — Die Resultate, welche der siebenjährige Krieg
für Oestreich gehabt hat. haben zu deutlich gegen diese Alliance geredet, als
daß wir für die Kaunitzschen Pläne dieselbe Bewunderung haben könnten,
welche unsern Autor erfüllt — ganz abgesehen davon, daß von dem natio¬
nalen Standpunkt gar nicht die Rede ist, und das Habsburgische Haus¬
interesse ohne Weiteres für den allein berechtigten Leitstern des neuen Sy¬
stems gilt. Dafür, daß die innere Umgestaltung Oestreichs trotz aller Be¬
mühungen Maria Theresias und aller Pläne Kaunitzs, ja was noch mehr
sagen will, trotz aller Erfahrungen, die man im siebenjährigen Kriege machte,
nicht zum Abschluß kam, ja auf den wichtigsten Gebieten des öffentlichen
Lebens Min ävsiävrium blieb — dafür liefert gerade das vorliegende Buch
eine lange Reihe von interessanten und zum Theil neuen Belegen. Während
die Darstellung der eigentlichen Kriegsgeschichte nur hie und da Gesichtspunkte
bietet, die in dem bekannten Schciferschen Werk nicht schon ausfindig gemacht
worden wären, bieten die ausführlichen Erörterungen über Laudons Verhält¬
niß zu den in Wien maßgebenden Elementen Gelegenheit zu lehrreichen Ein¬
blick in die eigenthümliche Beschaffenheit der östreichischen Kriegsleitung jener
Zeit und gerade diese Seite des Janko'schen Buchs scheint "uns besondere
Aufmerksamkeit zu verdienen, zumal auch der Verfasser auf sie besonderes
Gewicht legt und seine pädagogische Tendenz ziemlich deutlich durchsehen
läßt. Freilich bietet kaum ein anderer Abschnitt neuerer Geschichte so reiche
Veranlassung zu Klagen über Unverbesserlichkeit und zu Warnungen vor thö¬
richtem Vor'urtheil, wie die auf die letzten 120 Jahre bezüglichen Capitel aus
Oestreichs Militairgi'schichte.
Als Laudon in die Dienste Maria Theresias trat, stand Graf Daun
an der Spitze der militairischen Reformpartei: sein Werk war die Vermeh¬
rung der Artillerie und — so unglaublich es klingen mag — sein Haupt-
cugument für die Verstärkung dieser Waffe, der Hinweis darauf, daß Gustav
Adolf (genau 100 Jahre früher) seine Haupterfolge einer zahlreichen und gut
bedienten Artillerie zu danken gehabt habe. Der bloße Name Daun bürgt
uns dafür, daß von überstürzenden Neuerungen oder einem principiellen
Bruch mit den alten Traditionen nicht entfernt die Rede war, daß es sich
eigentlich um Nichts weiter als die Berücksichtigung der dringendsten Zeit¬
bedürfnisse handelte. Zudem war Daun durch Geburt und Neigung Mitglied
der herrschenden Kaste und schon als solches daran interessirt, daß (wie der
alte Krsovitz es optimistisch nennt) Oestreich „darin ausgezeichnet blieb, daß
es sich an die einmal hergebrachte Ordnung hielt". Nichts desto weniger
stand die von Khevenhüller, später von Daun vertretene Reformpartei bei
der höheren Wiener Gesellschaft und namentlich beim Hofkriegsrath im übel¬
sten Geruch. Der Vizepräsident dieser Behörde Graf Neipperq, „eÄiuaraäs
as äskaueue et ne guerre" des Kaisers Franz, genoß bei Maria Theresia
weitreichende Autorität und war dabei ein ausgemachter Reactionä'r. Wäh¬
rend seine im Civilfach dienenden Freunde unablässig gegen Kaunitz agitir-
ten, wußte er zu bewirken, daß weder Daun, noch Browne. sondern Prinz
Karl von Lothringen bei Beginn des Feldzugs von 1757 an die Spitze der
Armee gestellt wurde. Schon im Jahre 1756 hatte derselbe Mann durch
die Nachlässigkeit, mit der er die Ausrüstung leitete, unsägliches Unheil an¬
gestiftet, und zwei Mol den Versuch gemacht, den vom bayrischen Erbfolger¬
kriege her gut beleumdeter Obristlieutenant Laudon von der activen Armee
abzuhalten: der eingewanderte Livländer gehörte ja nicht zur Kaste. — Die¬
sem Verhalten entsprach denn auch das Resultat: Ende Juli 1757 stand die
Sache für Preußen so ungünstig, daß der König Sachsen fast vollständig
räumen mußte und daß seine Armee unter dem Eindruck einer ganzen Reihe
von Schlappen stand — der innere Krieg aber, der das östreichische Obercom-
mando zerriß, machte jede Benutzung der mühsam errungenen Vortheile un¬
möglich: Neipperg sah als Gegner Kaunitz's dem ganzen Kriege mißgünstig
zu, Daun intriguirte gegen Lothringen, und neun kostbare Herbstwochen gin¬
gen auf diese Weise unwidervringlich verloren. — Im August war Laudon
zur Reichsarmee übergeführt worden; in dieser herrschte eine Unordnung und
Systemlosigkeit, welche die Desorganisation des östreichischen Heeres noch
bei weitem übertraf, an dem französischen Hilfscorps übrigens einen wür¬
digen Alliirten fand. Die Briefe des Helden über den Zustand dieser Ar¬
meen erklären zur Genüge, warum derselbe sich nach kurzer Frist wieder zu
den Oestreichern versetzen ließ; sie bilden außerdem einen bemerkenswerthen
Beitrag zur Geschichte jener Zeit.
1758 hatte Daun endlich den Oberbefehl erhalten. Wiederum errangen
die Oestreicher eine Reihe wichtiger Erfolge und wiederum fehlte es ihnen
an Einsicht und Energie zur Verfolgung derselben. Daun, der die Ge¬
fährlichkeit des Wiener Terrains aus langjähriger Erfahrung kennen mochte,
war zu keinem selbständigen Vorgehen zu bringen und überdies von Ver¬
räthern umgeben. Nach Collin und Hochkirch blieb er ebenso unthätig, wie
nach dem Gefecht von Domstädel und da Oestreichs Verbündete, die Russen
und Franzosen, sich zu gemeinsamer Action nicht entschließen konnten, be¬
hauptete das Genie ihres großen Gegners, der nie einen Vortheil unbenutzt
ließ, auch dieses Mal das Feld. Nichtsdestoweniger blieb Dann auch für das
nächste Jahr in seiner Machtstellung und Laudon wurde mit seinem Corps unter
den Oberbefehl des russischen Generals Grafen Soltykow gestellt. — Indem wir
die übrigen Einzelheiten des Feldzugs von 1759 übergehen, erwähnen wir nur
noch, daß das vorliegende Werk eine Reihe interessanter Detailaufschlüsse
über das Verhältniß der russischen Hilfstruppen zu Oestreich und genauen
Bericht über die Verhandlungen zwischen Soltykow und den östreichischen
Befehlshabern enthält.
Die folgenden Abschnitte, in denen Laudon bereits als Feldzeugmeister
auftritt und an den Kriegsoperationen selbständigen Antheil hat, nehmen
successive an Ausführlichkeit zu und sind namentlich wegen der Mittheilungen
aus dem Briefwechsel Laudon's mit Kaiser Franz I. und Kaunitz von Wich¬
tigkeit. Was den Gang der Kriegsereignisse und deren Darstellung anlangt,
so herrscht allerdings die Tendenz vor, die östreichischen Mißerfolge wesent¬
lich auf die Verkehrtheiten des Wiener Systems zurückzuführen und diese zu
Hauptverbündeten Friedrichs zu machen. Die Vergleichung mit der Schäfer-
schen Darstellung des siebenjährigen Krieges und dem noch heute wichtigen
Archenholtzschen Buch setzt den Leser aber leicht in den Stand, hier die rich¬
tige Grenze zu ziehen und im Einzelnen größere und kleinere Redactionen
eintreten zu lassen. Wie unheilvoll die Hoskciegsraths - Wirthschaft auf den
Gang der Ereignisse und die Thätigkeit der östreichischen Generale eingewirkt
hat, ist immerhin erst durch Janko seinem vollen Umfange nach nachgewiesen
worden und der Verfasser hat sich durch die Ungeschminktheit seiner Ent¬
hüllungen unter allen Umständen ein bleibendes Verdienst erworben. — Es
klingt fast unglaublich, was man aus Laudons Verhandlungen mit dem
Hofkriegsrath erfährt. Nicht nur, daß Dauns Eifersucht gegen den glückli¬
cheren und talentvolleren Nebenbuhler trotz aller Erfolge desselben auf Un¬
kosten des östreichischen Interesses ungenirt ihr Wesen treiben darf—Laudon
hat (z. B. im Jahre 1760) alle Mühe, sich in Wien auch nur die Erlaubniß
zu energischen Schlägen gegen den Feind auszuwirken; er, der seine Vorsicht
in einer langen Reihe von Dienstiahren außer Zweifel gesetzt hat, muß förm¬
liche Versprechungen darüber abgeben, „sich niemals auf das Hazardiren ein¬
zulassen und allemal pünktlichen Rapport abzustatten", und nur Kaunitz's
mächtiger Beistand ist im Stande, ihm die gewünschten Vollmachten zum
Siege wenigstens bedingungsweise zu verschaffen. Selbst als Laudons glän¬
zende Erfolge bei Landshur und in Glatz die Kaiserin bewogen hatten, ihm
ein selbständiges Commando zu übertragen („. . . es geht an Euch mein ge¬
messener Befehl, Alles dasjenige, was ihm nach seiner eigenen Einsicht und
nacb den Umständen meines Dienstes ersprießlich erscheint, ohne weitere Be¬
denken und Rückfrage zu unternehmen") — selbst dann hört die Vormund¬
schaft Dauns und des Kriegsraths nicht auf und der ruhmgekrönte Sieger
zeigt sich fortwährend sehr viel besorgter vor der Feindschaft der Wiener
Machthaber und ihrer Genossen, als vor der Tapferkeit seiner Gegner. Und
daß diese Rechnung eine richtige war, erfahren wir aus jedem neuen Capitel
unseres Buchs mit zunehmender Deutlichkeit. In der Schlacht bei Liegnitz
wird Laudon von Dünn so absichtlich und perfid im Stich gelassen, daß der
sonst so kalte, ruhige und vorsichtige Mann seinen versammelten Officieren
nach Verlust des Treffens öffentlich sagt: „Im vorigen Jahre hat wich
Soltykow getäuscht; damals erklärte ich, er würde mich zum zweiten Male
nicht mehr täuschen. Heute ließ mich der Feldmaischall im Stich; aber auch
er soll diese Freude nicht zum zweiten Male haben." Daun. dessen Gemahlin
bei Hofe eine große Rolle spielt, bleibt nichtsdestoweniger in Amt und Würden;
auch nach dem Verlust der Schlacht bei Torgau steht er unerschüttert in der
Gunst seiner Monarchin und nur seiner Wunden wegen legt er den Ober¬
befehl nieder. Dieser wird nicht Laudon, sondern erst dem Grasen Browne,
dann dem Grafen Lary übertragen, obgleich der Sieger von Kunnersdorf
schon damals der einzige östreichische Feldherr war, der auf eine große Reihe
gewonnener Schlachten zurückblicken konnte und das volle Vertrauen der
Armee besaß.
Zum Ueberfließen wurde das Maß dieser Thorheiten aber erst angefüllt,
als Laudon im Jahre 1761, seine berühmte Überrumpelung der Festung
Schweidnitz ausführte. Schon aus früheren Berichten wußten wir, daß die
mangelnde Erlaubniß des Hofkriegsraths zu dieser glänzenden That, Laudon der
Gefahr kaiserlicher Ungnade so nahe gebracht hatte, daß die Kaiserin Elisabeth
von Rußland dem bedrohten Helden unter der Hand Uebertritt in ihren
Dienst und den Feldmarschalls-Stab anbieten ließ. Den ganzen Umfang
der Gefahr, welche dem Sieger von Schweidnitz drohte, hat erst das Jan-
ko'sche Buch bloß gelegt. Auf dem Tisch Maria Theresias lag das vom Hof¬
kriegsrat!) gegen Laudon gefällte Urtheil bereits zur Unterschrift fertig, als
Franz in das Cabinet seiner Gemahlin trat. „Ist mir doch leid um den
Laudon", sagte die Kaiserin, indem sie unterschrieb, „daß er den Streich
gethan — aber ich kann thu nicht retten." Erst als Franz geltend machte,
daß Laudon sich mu ihm unter der Hand verständigt und auf seine (oeö
Kaisers) Verantwortung gehandelt habe, wurde Maria Theresia stutzig. „Wie
zufällig ergriff sie die Dinte statt der Streusandbüchse und goß jene über
das Document, das sie zum zweiten Male nicht mehr unterschrieb." In der
Folge scheint die Schaam über diese verbrecherische Thorheit so groß gewesen
zu sein, daß das damals vom Hofkriegsrath gefällte Veidammungsurtheil
vernichtet oder doch für die Nachwelt unzugänglich gemacht worden ist.
Mindestens hat Herr v. Janko, dem die Archive geöffnet waren, über den
Inhalt desselben Nichts in Erfahrung bringen können.
Das letzte Dritttheil unseres Werkes hat es mit Laudons Thaten in
den Türkenkriegen (1788 bis 1790) und seinem Ende zu thun. Während die
Geschichte des siebenjährigen Krieges schon vorher allen wichtigen Punkten
nach bis ins Detail bekannt war und der Janko'schen Darstellung nur übrig
blieb, die einzelnen Lücken, welche bezüglich der inneren östreichschen Krieg-
sührungsgeschichle bestanden, auszufüllen und zu ergänzen und berichtigend
einzutreten, wo wegen UnVollständigkeit des bisher zugänglichen Materials
Schiefheiten entstanden waren, ist die Geschichte des Türkenkrieges hier zum
ersten Mal quellenmäßig in wirklich wissenschaftlicher Weise verarbeitet. Lau-
don's ältere Biographen haben sich fahl ausschließlich an der Aufzählung der
einzelnen Schlachten und gewisser auf dieselben bezüglicher Anekdoten genügen
lassen; die Schristen Rautenstrauchs („Tagebuch des jetzigen Krieges") und
Volneys „Ueber den jetzigen Türkenkrieg") sind beide von 1788 daMt, haben
es darum nur mit dem ersten Theil dieser Campagne zu thun und sind
überdieß, wie in der Natur der Sache lag, ohne jede Kenntniß der amtlichen
Quellen geschrieben. Schon aus diesem Grunde und noch mehr wegen der
Gründlichkeit der Arbeit, gebührt dem zehnten Buch unserer Biographie,
welches die Geschichte jenes Krieges aus nahezu hundert Seiten ausführlich
behandelt, entschiedenes Verdienst und eine Stellung in der Militairliteratur
unserer Zeit. — Wenn wir noch hinzufügen, daß die Schrift sich durch eine
klare, einfache, durchsichtige Schreibart auszeichnet und weiteren Kreisen
ebenso zugänglich ist. wie Fachleuten, so glauben wir, oerselben einen An¬
spruch aus Verbreitung auch außerhalb Oestreichs nachgewiesen zu haben.
Va. lalliodst, äsmoer-leis smssiz et son Evolution aetuslls. —I. Dubs,
die schweizerische Demokratie in ihrer Fortentwickelung. — Hilty, Theoretiker und
Idealisten der Demokratie. — Gengel, die Erweiterung der Volksrechte.
Die Schweiz hat das eigenthümliche Vorrecht, politische Ideen ohne
große Gefahr für ihre eigene Entwickelung leicht und schnell praktisch zu ver¬
werthen und politische Versuche zu machen, die den großen Nachbarstaaten,
wenn sie Aehnliches wagten, schon mehr als einmal theuer zu stehen kamen,
während diese von jenen Versuchen mit ihren Erfolgen und Mißerfolgen
vieles lernen können, ohne für das jeweilige Lehrgeld mithaftbar zu sein.
Die Ideen und Bestrebungen, welche in größeren Staaten sich oft nur mit
Mühe entwickeln und Bahn brechen, arbeiten sich in der kleinen Schweiz
leichter heraus und werden zu Thatsachen, durch die ihre wahre Bedeutung
und Tragweite erst recht an den Tag tritt. So spiegelte das Vaterland
der Teilen trotz seines eigenen gesunden nationalen Lebens oft die innersten
Geistesregungen der Nachbarländer auf seinem Boden wieder und wurde,
besonders in Zeiten der Krisis, schon mehrmals zu einem Höhenmesser des
politischen Lebens in Europa.
In unserem Jahrhundert erfüllt die Schweiz diesen Beruf der internatio¬
nalen Versuchsstation erst seit 1830. Bis damals hinderten sie die Fesseln
des alten Bundesvertrags von 1814 an jeder freien eigenen Bewegung. Die
französische Julirevolution hatte für die Schweiz fast noch mehr als für
Deutschland die Befreiung aus längst unerträglich gewordenen Zuständen
zur Folge. Ein neues Leben entfaltete sich nach allen Richtungen und durch
eine Reihe von mehr und weniger bedeutenden Revolutionen fand in den
verschiedenen Cantonen eine Umgestaltung der staatlichen Verhältnisse statt.
Gleichzeitig empfing die Schweiz aber gerade auch in jenen Jahren bedeutende
Einflüsse von Deutschland her durch die Masse politischer Flüchtlinge, welche
in dem schönen Lande zwischen Jura und Alpen ein Asyl gewannen, wo sie
für ihre in den Hörsälen der Universitäten und in der heimischen Literatur
gewonnenen theoretischen Anschauungen einen fruchtbaren und oft nur zu
dankbaren Boden für praktische Verwerthung vorfanden. So fand in den
Alpenthälern damals eine große Ablagerung politischer Ideen statt, welche in
den Nachbarstaaten einstweilen zur praktischen Unfruchtbarkeit verdammt waren,
sich aber hier auf republicanischen Boden schnell zu thatsächlichen Gestaltungen
entwickelten und in dieser Form dann auf die Importländer zurückwirkten.
Aehnliche Wechselwirkung fand dann wieder 1847—1848 statt, wo der
Sonderbundskrieg, der Vorläufer der französischen und der deutschen Revo¬
lution, der Schweiz ihre neue Bundesverfassung bewirkte, durch welche sie
zu einem selbständigeren nationalen Leben als sie jemals vorher besessen, er¬
hoben wurde. Eine Menge deutscher und französischer Flüchtlinge kehrten,
nachdem bei ihnen zu Hause die Revolution triumphirt, aus der Schweiz in
ihr Vaterland zurück, um für die aus hier gemachten Erfahrungen gewonne¬
nen Ideen Anhänger zu werben und deren Verwirklichung zu betreiben. Bald
darauf sandte die inzwischen auf beiden Seiten des Rheins eintretende Reac¬
tion wieder freiwillige Exulanten in der Schweiz, wo sie die Folgen der
unterdessen glücklich durchgeführten neuen Staatsorganisation mit jenen der
verunglückten französischen und deutschen Bewegung zu vergleichen Gelegen¬
heit fanden.
Trotz dieses innigen Wechselverhältnisses ist schon öfter geklagt worden,
daß den schweizerischen Zuständen und politischen Bewegungen von deutscher
Seite — von französischer gar nicht zu reden — zu wenig Beachtung ge¬
schenkt werde und daß namentlich in der periodischen Presse das was in der
Schweiz vorgeht, im Allgemeinen nicht so dargestellt zu werden pflegt, wie
es für beide Länder, für die Schweiz um der Ehre der Wahrheit, für Deutsch¬
land um des praktischen und theoretischen Nutzens willen, vielleicht wünschens.
werth wäre. Es mag dies allerdings mehr zufällige Folge davon sein, daß es
meist politische Flüchtlinge waren, welche die Correspondenz mit ihrem Vater¬
lande vermittelten und daher mit ihrem einseitigen Maaßstabe maaßen, was
nur mit seinem eigenen gemessen werden sollte. Viel Unwesentliches wurde
so zu ungebührlicher Bedeutung aufgeblasen, manches Wesentliche zu wenig
beachtet und so die Verhältnisse aus ihrer richtigen Perspective verrückt. Diese
Erscheinung dauert noch heute, wenn auch in geringerem Maaße, fort oder
es ist an deren Stelle das leere Nichts getreten, seit die große Mehrzahl der
Flüchtlinge wieder in die Heimath zurückkehrte und gleichzeitig das Ringen
für den Ausbau der deutschen Einheit und Freiheit das Interesse für die
Nachbarrepublik in den Hintergrund geschoben hat.
Wir hoffen mit diesen einleitenden Worten genug zu unserer Entschuld!-
gnug gesagt zu haben, wenn wir die Aufmerksamkeit Ihrer Leser für einige
Augenblicke auf die neueste politische Bewegung in der Schweiz zu lenken
versuchen. Den Anlaß dazu bieten die Eingangs citirten Schriften, nament¬
lich die des Herrn Tallichet, welche, obwohl in unsern Augen sich etwas zu
conservativ gegenüber den neuesten Bestrebungen verhaltend, doch soweit außer¬
halb der Parteiströmungen steht, um unserem Zwecke einer möglichst objectiven
Darstellung am meisten zu entsprechen. Die Meinungen sind natürlich bis zur
Stunde noch sehr getheilt und es wäre sehr anmaßlich für Einen, der nicht
einer bestimmten Partei praktisch dienen will, wenn er sich hier ein end-
giltiges Urtheil erlauben wollte. Ein solches kann erst der praktische Erfolg oder
vielmehr die praktischen Folgen, die aus den gegenwärtigen Versuchen hervor¬
gehen werden, an die Hand geben. Wie aber die spätere Geschichte die beste
Richterin über diese Dinge sein wird, so muß auch hier die vorangegangene
Geschichte als die beste Erklärerin gelten für die Bestrebungen der Gegen¬
wart. Daß dieser Aufschluß erst von einem Einzigen versucht wurde, müßte
mehr als befremden, wüßte man nicht, daß in der Schweiz die politische
Schriftstellerei viel weniger von Gelehrten, als von praktischen Staatsmän¬
nern gepflegt wird, welche die politischen Hergange wohl erlebt, selten aber
studirt haben und daher mehr den unmittelbaren praktischen, als den theore¬
tischen Gesichtspunkt, mehr den Blick in die nächste Zukunft als in die
Vergangenheit, die sich bei ihnen gewissermaßen von selbst versteht, walten
zu lassen pflegen. —
Die gegenwärtige Bewegung datirt schon von einigen Jahren her. Schon
lange zeigte sich überall im Volke eine gewisse Unbehaglichkeit und Unzu¬
friedenheit. Die theils durchgeführten, theils mißglückter Verfassungsrevisio¬
nen in Genf, der Waadt, in Bern Anfangs der sechsziger Jahre waren die
Vorläufer der jetzigen Umbildung; ebenso die versuchte und nur zum Theil
durchgeführte Revision der Bundesverfassung gegen das Ende dieses Jahr-
zehends. Da kam plötzlich die Züricher Bewegung am Ende des Jahres
1867, ohne daß man bisher eine Ahnung von ihrer Vorbereitung gehabt
hatte. Die Locher'schen Pamphlete schienen nur der Funken zu sein, welcher
den kaum bemerkten Zündstoff in Flammen setzte. Aber auch nachdem die
Bewegung durch die bekannte Volksabstimmung, bei der sich vier Fünftel der
Bürger für Totalrevision durch einen Verfassungsrath ausgesprochen, zu einem
ersten Abschluß gekommen war, wußte man deren Ursache nicht auf ihre
ersten Bestandtheile zurückzuführen. In dieser Beziehung war Zürich das
getreue Abbild der übrigen Schweiz und deshalb hatte jene Bewegung einen
so weitgehenden Wiederhall gefunden. Die nächsten Nachdarcantone Zürichs
folgten diesem fast unmittelbar und man fühlte schon jetzt, daß der Bund
selbst schließlich mit in dieselbe hineingezogen würde.
Um diese Erscheinung zu erklären, wirft Herr Tallichet einen Blick auf
den Charakter der politischen Systeme, die unter dem Namen der „Dreißiger
Regierungen" die Vorgänger der bis in die Gegenwart hineinreichenden
radicalen Aera waren. Dieselben hatten Vieles mit dem französischen Libe¬
ralismus jener Zeit gemein und namentlich haftet ihnen der Doktrinarismus
an, welcher sie endlich ihrem Untergang um die Mitte der vierziger Jahre
entgegenführte. Dieser Doktrinarismus der damaligen Machthaber wähnte,
wenn man die konstitutionelle Form habe, so besitze man alles was zum
Wohl des Gemeinwesens von nöthen sei, und diese übertriebene Achtung vor
der Form machte die Regierungen schwach und unschlüssig gerade in Mo¬
menten der Krisis. Dazu kam, daß die gebildeten Classen des Bürger¬
standes, welche damals das Staatsruder führten, in der nämlichen Zeit, wo
sie das Volk durch ihre liberalen Doctrinen zu sich emporheben zu können
meinten, sich immer mehr von ihm absonderten und entfernten, indem sie
sich immer enger zusammenschlossen und zuletzt sast eine Art von Kaste bil¬
deten. Eine Reaction gegen diesen doktrinären Liberalismus warf dann in
einer Reihe von cantonalen Revolutionen seit 1845 (Zürich) und 1846 (Bern)
die bisherigen Systeme zu Boden. Ihr Zweck war Erweiterung der Volks¬
rechte, wie man sich heutzutage ausdrücken würde, ihr letztes Ziel Neuge¬
staltung des eidgenössischen Bundes im Sinne größerer nationaler Einheit
und Freiheit.
Im Gegensatze zu den gestürzten Regierungen gaben sich die siegreichen
Führer der verschiedenen cantonalen Erhebungen eine ^äst dictatorische Ge¬
walt, indem sie sich auf die bisher von den Liberalen vernachlässigten Massen
des Volks stützten, die gesetzgebenden Räthe mit compacten Mehrheiten be¬
völkerten und die Liberalen, deren Talente und sociale Stellung sie fürchteten,
möglichst von jenen ausschlossen. Starke Regierungen und ergebene Große
Räthe — das war der Protest des Volkes gegen den bisherigen Mißbrauch
der Kammerberedsamkeit, gegen die correcte, aber impotent gewordene
Theorie, — derselbe Protest, der sich in Frankreich 1848—18S1 und in ähn¬
licher Weise in Deutschland wiederholte.
Einige zwanzig Jahre dauerte nun dieses radicale Regime, und wenn auch
in verschiedenen Cantonen verschiedene Schwankungen in den Parteiverhält¬
nissen stattfanden und auf kürzere oder längere Perioden selbst die Conser-
vativen oder die Altliberalen die Oberhand gewannen, so blieb sich doch im
Großen und Ganzen der Charakter der Zeit gleich: es war durchaus der
Geist des Radicalismus. welcher demselben das Gepräge gab und die neueste
demokratische Bewegung, wie sie von der Ostschweiz aus sich immer weiter
über die übrigen Cantone zu verbreiten beginnt, kann nur aus dieser radi¬
calen Anschauungsweise erklärt werden. —
Nach Herrn Tallicher liegen die letzten Gründe der gegenwärtigen demo¬
kratischen Bestrebungen in der Fortentwickelung des schweizerischen Radikalis¬
mus, der die letzten Consequenzen seines Princips ziehen zu wollen scheine.
Wenn der Verfasser auch zugibt, daß der letztere trotz aller von ihm keines¬
wegs verschmähten demoralisirenden Mittel es verstanden, dem Volke einen
größern Antheil am öffentlichen Leben zu sichern und ihm das Zeugniß aus¬
stellt, daß ohne ihn vielleicht nie eine so gründliche Reform der Bundes¬
verfassung zu Stande gekommen wäre, so kann er doch nicht umhin, ihm
den gewichtigen und sich auf eine ganze Reihe von jetzt noch fortwirkenden
Uebelständen beziehenden Vorwurf zu machen, daß er seine alten besiegten
Gegner, die Dreißiger Liberalen, nach Kräften von den Staatsgeschäften aus¬
geschlossen, sie als Aristokraten und Volksfeinde verschrieen und unmöglich
gemacht habe, während die eigenen Führer die Massen unter dem Scheine
als dienten sie ihnen, während sie in Wirklichkeit sich von ihnen stützen ließen,
nach ihrem Belieben lenkten. Die Liberalen zogen sich in Folge dessen un¬
muthig zurück und waren zuletzt nicht einmal mehr im Stande, eine nennens¬
werte Opposition in den Großen Räthen zu organisiren.
Die Schwächen dieser radicalen Politik sollten sich jedoch allmälig ent¬
hüllen. Sie bestanden darin, daß nicht nur die compacten Massen, auf welche
die starken Regierungen aufgebaut waren, mehr von Leidenschaften, Vor¬
urtheilen und Schlagwörtern als von Principien geleitet wurden, sondern
daß diese Politik in der Regel sich auf eine einzige hervorragende Persön¬
lichkeit stützte und in Schlaffheit und Unthätigkeit verfiel, sobald diese zurück-
trat. Die demokratische Grundlage mochte noch so breit sein, wenn man
nicht die Lücken auszufüllen verstand, die unter den Volksführern entstanden,
so mußte endlich der Augenblick eintreten, wo das System zerfiel und die
Fehler, die man während des Kampfes mit den alten Gegnern übersehen
hatte, sich straften. Allmälig ward es dem Volke bewußt, daß man sich mehr
seiner bedient, als ihm gedient hatte, und wenn es auch nach alter Ge¬
wohnheit noch eine Zeit lang fortfährt, für seine Führer zu stimmen, weil
keine organisirte Opposition mehr da ist, so macht sich doch früher oder später
bei irgend einem unvorhergesehenen Anlaß plötzlich die Unzufriedenheit unter
einem beliebigen Vorwande Luft.
Wir sehen also die Radicalen im Grunde denselben Fehler begehen, dessen
sich früher die Liberalen schuldig gemacht. Diese meinten einst die Massen
zu sich emporheben zu können, ohne ihnen entgegenzukommen; jene ließen sich
zwar zu denselben herab, aber nur, um ihnen zu folgen, statt sie zu sich
emporzuziehen. Sie formirter sich als eng geschlossene Oligarchie, obschon sie
sich auf die Massen stützten. Besonders in kleinen Gemeinwesen ist aber, die
Ausschließung irgend einer Classe der Staatsbürger nicht blos ein Fehler,
sondern auch ein Verlust für das Ganze, und indem so der Radikalismus
die durch ihre sociale Stellung und Geistesbildung charakterisirte Classe von
den Geschäften ausschloß und das Volk unter dem Scheine, ihm Alles zu
geben, was es bedürfe, in eine Art von patriarchalischen Zustande zurück¬
zuführen suchte, ließ er ihm schließlich kein anderes Recht, als dasjenige, ge¬
führt zu werden, — geführt zu werden, selbst zur Ausübung des höchsten
Rechtes seiner Souverainetät, zur Abstimmung, für die ihm die Candidaten
schon zum voraus bezeichnet und bestimmt wurden. Die intelligentesten Ra¬
dikalen haben zuletzt selbst eingesehen und eingestanden, daß dies jedenfalls
eine der wichtigsten Ursachen der gegenwärtigen allgemein verbreiteten Un¬
zufriedenheit ist. So sagt Herr Gengel, ein entschiedener Anhänger des
Referendums, der Initiative, des Veto, in seiner obengenannten Schrift:
„Die Ausübung der Volkssouverainetät durch das Recht, die Volksvertreter
zu wählen, ist sehr dem Zufall anheimgegeben. Zunächst ist der Wahlact
an bestimmte Zeitperioden gebunden und da fällt der Moment der Wahl
nur sehr selten mit demjenigen zusammen, wo das Volk einen wahren Aus¬
druck seiner Willensmeinung abzugeben im Stande ist, sodaß dann der Act
keinen Sinn mehr hat. Diese Wahlart läßt ferner den Gewählten nach der
Wahl außer aller Berührung mit dem Wähler. Was weiß der Wähler von
dem Thun und Lassen des Gewählten? Durch das Recht der Abstimmung
über die Verfassung wird die Volkssouverainetät jedenfalls viel entschiedener
festgestellt, als durch das Wahlrecht. Wenn aber das Volk nur über die
Verfassung, nicht auch über die Gesetze abstimmen darf, so entstehen eigent¬
lich zwei Souverainetäten: jene des Volks in Bezug auf die Verfassung und
jene der Behörden in Bezug auf die Gesetzgebung und Regierung. Und
außerdem gibt es keinen organischen Zusammenhang zwischen der Verfassung
und der Gesetzgebung." Hiergegen läßt sich kaum etwas einwenden; nament¬
lich gelten diese Bemerkungen, wenn keine stark organisirte Opposition vor¬
handen ist. Wahlrecht und selbst die Abstimmung über die Verfassung sind
dann die größten Illusionen. Die Regierung wird versucht, ihre Macht, die
keine rechte Controle besitzt, zu mißbrauchen, und andererseits wird der Geist
des wahren Fortschritts eingeschläfert. So ist es in der Schweiz gekommen:
der Radicalismus hat sich als der einzig wahre Ausdruck des Volkswillens
hingestestellt. gegen welchen jede Opposition fast als ein Verrath erscheint; er
hat ganz nach seinem Belieben regiert und die Folge ist ein dumpfes, all¬
gemeines Mißbehagen; das Volk hat das Vertrauen zu sich selbst und zu
seinen Führern verloren.
Der Verfasser wirft hier einen Seitenblick auf die großen Nachbar-
Völker der Schweiz und findet da eine ganz entsprechende Unbehaglichkeit,
die, wenn auch in verschiedenem Maaß, auf dieselben Ursachen zurückweise.
Das „allgemeine Stimmrecht" wird immer mehr zur Grundlage des öffent¬
lichen Lebens in Europa: die Regierungen stützen sich immer mehr auf
die Massen und suchen hierin das Mittel, die gebildeten Classen hinter diese
zurückzuschieben. In der Schweiz hat der Radikalismus wenigstens Auswege
offen gelassen; das Volk kann die Macht wieder an sich nehmen, kann seine
Organisation ändern. An einem solchen Punkte der Entwickelung befinden
wir uns gegenwärtig, Das Volk hat angefangen, sich seiner Bedürfnisse be¬
wußt zu werden und nach neuen Formen zu deren Befriedigung zu suchen.
Fast alle Vorschläge, die bisher in diesem Sinne gemacht wurden, bezwecken,
das Volk wieder in den Besitz der von ihm delegirten Gewalt zurückzubringen,
und ihm die Ausübung derselben so direct wie möglich in die Hand zu
geben. In dieser Richtung fordert man Referendum, Initiative, Veto, directe
Wahl der Regierung durch das Volk, Vertretung der Minderheiten, Plate-
formsystem, Trennung von Staat und Kirche u. a. in.
Das Problem der heutigen Schweizer Demokratie heißt: wie soll dem
Volke die Macht gegeben werden, seinen Willen zu jeder Zeit zur Geltung
zu bringen? Unter den verschiedenen Vorschlägen, die zu diesem Ende
hervorgetreten sind, hat bisher keiner mehr von sich reden gemacht, als der¬
jenige der Einführung des Referendums, d. i. der Volksabstimmung über
die einzelnen Gesetze. Hören wir nun einige Stimmen, die sich zu Gunsten
dieser Institution aussprechen. Herr Hilty aus Bündten, wo das Referen¬
dum schon seit alter Zeit zu Recht besteht, ist einer seiner beredtesten Lob¬
redner. Er führt als Vorzüge desselben Folgendes an: 1) Es gibt eine
sichere und ruhige Constituirung der wahren Volksmehrheit, aus welcher dann
eine ebenso große Beruhigung des ganzen Volkes selbst, basirt auf demokrati¬
schen Principien, hervorgeht; 2) es findet bei demselben keinerlei Art von
Volksbeherrschung statt; 3) es ist das beste Mittel, alle Bürger mit den
öffentlichen Angelegenheiten bekannt zu machen und sie für dieselben zu
interessiren. Mag diese Bekanntschaft auch noch so oberflächlich sein, sie ist
doch immer noch eine größere, also ohne Referendum. 4) Das Referendum
ist ein natürlicher Factor im öffentlichen Leben; es vertritt gewissermaßen
die eine der beiden Kammern und in dieser Art von Zweikammersystem
müssen die gesetzgebenden Großen Räthe einerseits und das Volk andererseits
mit einander übereinstimmen, damit ein Gesetz rechtsgiltig werde. Zur Be¬
kräftigung weist Herr H. auf die drei Cantone hin, in welchen das Referen¬
dum eingeführt war und noch ist, auf Graubündten, Wallis und Baselland.
Von den Einwürfen treffen die des Herrn Tallichet zuerst die bezeichne¬
ten Exemplificationen; unter jenen drei Cantonen, meint er, sprechen wenig¬
stens zwei eher gegen als für das Referendum. Denn in Wallis wurde
dasselbe unter der Zustimmung aller Parteien 1848 wieder abgeschafft und Basel-
land gilt seit seiner Verselbständigung bekanntlich nicht mit Unrecht für den
mindestgut regierten Schweizercanton. Was Graubündten betrifft, so weiß
man in Bezug auf sein politisches Leben auch nichts Besonderes zu rühmen,
und doch ist dort das Referendum schon sehr lange in Uebung. Aber selbst
wenn dasselbe sich bewährt hätte, müßte man erst seine historische Entwicke¬
lung, die guten oder Übeln Folgen, die es gehabt, vor Augen stellen, man
müßte wissen, ob es nicht in ganz specieller Weise der Vergangenheit, den
Institutionen, den Sitten jenes Ländchens, das so vielfach sich von den anderen
Cantonen unterscheidet, entspricht, sodaß seine Erfolge eben besonderen indi¬
viduellen Umständen zu verdanken wären, die sich nirgends sonst in der Schweiz
vorfinden. Ueber Alles dies gibt uns jedoch weder Herr Hilty noch sein Lands-
monn Herr Gengel irgendwelche Aufschlüsse. Gründe geben sie zwar viele,
Thatsachen aber keine. Es steht somit Theorie gegen Theorie und ein Be¬
weis ist vor der Hand unmöglich. Zu diesen selbst übergehend beleuchtet
Tallichet zunächst den Vorzug des Referendums, daß es in sicherer und
ruhiger Weise die wahre Volksmehrheit kundgeben soll, woraus dann eine
ebenso große Beruhigung des Volkes selbst, gegründet auf demokratischen
Principien, hervorgehe. Aber Völker wie Individuen seien naturgesetzmäßig
stets nur unter Kämpfen fortgeschritten; wer dem Volke durch das Referendum
solche Kämpfe ersparen will, der zeigt sich befangen in eben jener Anschauung,
die den Radicalismus seit so vielen Jahren unfruchtbar machte, in der Idee,
daß jede Opposition durch Constituirung einer großen demokratischen Partei
unterdrückt werden müsse, die vermöge ihrer Zahl eine unwiderstehliche Ge¬
walt im Staate bilde. Das Referendum ist nur der letzte Ausdruck dieser
leichtlebigen Politik. In der Schweiz sind alle Reformen in übertriebener
Weise leicht gemacht worden und darum eben haben so viele hochgepriesene
Neuerungen so wenig Gutes hervorgebracht. Statt das Volk zu seiner wirk¬
lichen und wahren Souverainetät gelangen zu lassen, hat man aus ihm ein
bloßes Werkzeug gemacht. Denn die Souverainetät kann sich nur unter
Mitwirkung des gesammten Volks verwirklichen. Minderheit sowohl als
Mehrheit müssen gehört werden. Wenn jedoch ein Volk oder Völkchen seine
Herrschaftsrechte ausübt, ohne zu wissen, was es thut, so ist es eben „Werk¬
zeug", und thut es dies, ohne etwas wissen zu wollen, so wird es ein
Despot. Opposition muß geduldet werden, die ihre Gründe frei darlegen
darf, ohne zum voraus durch das Gefühl der Vergeblichkeit ihrer Anstrengungen
entmuthigt zu sein. Dies aber findet gegenwärtig nicht einmal in den
Großen Räthen statt und nun verlangt man vom Volke, daß es thue, was
nicht einmal die von ihm eigens dazu gewählten Vertreter thun! Herr T.
nennt an einer anderen Stelle das Referendum eine Uebertreibung gerade
desjenigen Systems, welches die gegenwärtige Unzufriedenheit hervorgerufen.
Es beschränke die Volkssouverainetät. indem es das Volk sehr häufig zwinge,
da Ja oder Nein zu sagen, wo es sich lieber gar nicht ausgesprochen und
die Verantwortlichkeit für ein Gesetz, dessen Folgen sich noch nicht voraus¬
sehen lassen, lieber der Legislatur überlassen hätte. Auch sei die Verbesserung
eines Gesetzes viel leichter, wenn dieses nicht vom Volke feierlich sanctionirt
ist. Aber auch illusorisch sei das Referendum, insofern es dem Volke nur
über Gesetze Competenz gebe, während die Regierungsthätigkeit sich über eine
Menge von Dingen erstrecke, die ebenso wichtig oder noch wichtiger sind,
als die Gesetzgebung — ganz abgesehen von der rein negativen Gewalt, die
dasselbe dem Volke einräume.
Die Freunde des Referendums rühmen an demselben ferner die Beseiti¬
gung jeder Art von Volksbeherrschung und Bevormundung und die dadurch
bewirkte erhöhte Kraft und Reinigung des Volkscharakters. Erst durch das
Referendum, meinen sie, trete das Volk in seine volle Mündigkeit ein. Allein
der Verfasser findet im Gegentheil, daß dasselbe die Volkssouverainetät „zer¬
stückele", nicht nur, indem es das Volk und die gesetzgebenden Räthe ein¬
ander als Gegner gegenüberstelle, sondern auch, indem bei der in der Regel
nothwendigen gemeindeweisen Abstimmung über die Gesetze der wahre Aus¬
druck der Volksmeinung unmöglich gemacht werde. Die localen Interessen, die
localen Matadore, die Dorfmagnaten werden hier den Ausschlag geben, wie
denn auch schon jetzt, was von Herrn Dubs hervorgehoben wurde, das Re¬
ferendum hauptsächlich von solchen Leuten befürwortet wird, welche an die
Stelle der Volkssouverainetät, mit deren Hilfe es ihnen bisher nicht gelungen,
in den Großen Rath zu kommen, nun die Gemeindesouverainetät zu setzen
suchen, mit der sie eher eine Rolle zu spielen hoffen.
Ferner soll das Referendum das Volk in einer bisher noch nie dage¬
wesenen Weise für das öffentliche Leben erziehen und interessiren. Allein
dies würde nur dann wahr sein, wenn das Volk im Stande wäre, alle
Phasen der Gesetzgebung, über die es abzustimmen hat, zu verfolgen, wie
dies die Aufgabe der gesetzgebenden Behörden ist. Kann man nun der Masse
der Bevölkerung zumuthen, nach gethaner Tagesarbeit ihre wenigen Muße¬
stunden noch dazu zu verwenden, sich mit Fragen zu beschäftigen, auf die
ihre Erziehung und Bildung sie nicht vorbereitet hat? Nein, sondern diese
Dinge werden nur in den Wirthshäusern besprochen werden, wo die Schön¬
redner und Dorfmagnaten den Reigen führen und die Abstimmungen des
souverainen Volkes werden, nur diesen und den Parteiintriguen zu statten
kommen. In Summa, das Referendum reizt das Volk nur zur oberflächlichen
Kenntnißnahme von Gesetzen und öffentlichen Fragen, weil nun einmal ein
gründliches Verständniß demselben von vornherein unmöglich ist.
Endlich soll das Referendum ein natürlicher Factor im öffentlichen Leben
sein, gewissermaßen die eine der beiden Kammern im Zweikammersystem ver¬
treten. Der gesetzgebende Rath und die Volksabstimmung über dessen Ela¬
borate — diese beiden Factoren müßten mit einander übereinstimmen,
damit ein Gesetz in Kraft erwachse. Jener würde dadurch keineswegs, wie
die Gegner behaupten, zu einer bloßen Vorberathungscommission herabgesetzt,
vielmehr würde die legislatorische Gewalt ihm ebenso gut zukommen, wie
dem Volke selbst. Und dennoch, entgegnet Herr T., bildet das Referendum
keine wahre zweite Kammer. Denn wenn eine solche zu etwas frommen
soll, so muß sie aus anderen Elementen bestehen, als die erste; sie muß
Garantien einer selbständigen Erkenntniß bieten, sie muß die ihr unterbreite¬
ten Gegenstände öffentlich discutiren, ihre Motive bekannt geben, Amende-
ments stellen können. Das in Gemeinde- oder Bezirksversammlungen ver¬
einigte Volk entspricht aber keiner dieser Anforderungen. Die Abstimmung
wird hier zu einer stummen, rohen Thatsache, deren Motive man nicht zu
erkennen vermag.
Der Radicalismus hat übrigens nicht ohne Erfolg eine Art von „reprä¬
sentativen Referendum" eingeführt, indem er in die Großen Räthe eine
Menge von Männern wählen ließ, an die keine anderen Anforderungen ge¬
stellt wurden, als Stimmgebung. Auf solche Weise wurden sie zu eigent¬
lichen Vertretern der Massen. Aber gerade weil diese ihre Wähler nur zu
gut vertraten, insofern sie keine eigenen Ideen, keine Initiative besaßen und
nur einfach den Volksführern folgten, nahm schließlich die Unzufriedenheit im
Volke immer mehr überHand. Das unmittelbare Referendum würde aber
offenbar die Fehler dieses repräsentativen nur noch vermehren.
So lange das Volk nicht zu jeder Zeit berechtigt ist, seine Regierung —
.natürlich unter schützenden Formen nach beiden Seiten hin — zu ändern,
so lange bleibt seine Souverainetät eine Täuschung, gebe man ihm sonst, was
man wolle. Die Fiction der Macht stumpft den Sinn für die Prüfung der
ihm unterbreiteten Gesetze ab, den Wahlen der Vertreter wird immer weni¬
ger Gewicht beigelegt, und so ist der verhängnißvolle Weg gebahnt, auf dem
die gegenwärtige Krise , herbeigeführt worden. Die vollziehenden Be¬
hörden nehmen immer mehr die eigentliche Gebieterstellung ein, sie werden
immer weniger controlirt; denn was Jedermanns Sache, wird bald Nieman¬
des Sache. Das Referendum erscheint sonach als eine Art politisches Opium.
Es stärkt das verderbliche Princip der Mehrheiten, welches die Jndivi-
dualitäten und Charaktere immer mehr zu vernichten droht. Die Unter¬
drückung der Minderheiten practieirt sich in der Schweiz nun schon seit
zwanzig Jahren. Wir Neuen erfahren, was die Alten schon wußten: daß
jedes politische System an der Uebertreibung seines eigenen Princips zu
Grunde geht.
Die Einführung des Referendums in einer Mehrheit von Cantonen
hätte ohne Zweifel, wie dies jetzt schon vielfach und laut verlangt wird, die
Aufnahme desselben auch in die Bundesverfassung zur Folge. Nun
aber hat unser Bundesrecht eine zwiefache Basis: die selbständigen Cantone
und die Gesammtnation. Jeder dieser Factoren ist in einer eigenen Kammer
vertreten. Um das Referendum in diesen Organismus einzuführen, müßten
sowohl die Cantone als das ganze Volk befragt werden. Wenn nun aber
diese beiden verschieden poliren? Offenbar würde das Volk den Sieg davon
tragen. Dann würde aber auch das Zweikammersystem fallen und man
wäre bei dem Einheitsstaat angelangt. Die Schweiz besteht aber aus drei
Nationalitäten, deren eine die beiden anderen so sehr an Zahl überwiegt,
daß ihr eine stete Mehrheit bei den Volksabstimmungen gesichert bliebe. Die
stets in der Minderheit bleibenden beiden anderen würden sich bald von ihren
sprach- und stammverwandten Nachbarnationen angezogen, vom Schweizer¬
bunde abgestoßen fühlen. Denn niemals würde sich eine Minderheit von
Cantonen durch, eine an Sprache, Abstammung und Sitten verschiedene
Mehrheit beherrschen lassen.
Die Gründe, die Herr T. im Obigen gegen das Referendum geltend
macht, sind zum Theil schon von Herrn Dubs aufgeführt worden. Nament¬
lich schließt sich Jener in Bezug auf die Einführung desselben in den Bund
ganz der Meinung Dubs' an. Wie das Referendum, so wird von diesem
auch das Veto bekämpft. Hierin tritt ihm ferner Herr Hilty zur Seite, der
jedoch dafür die von Herrn Dubs empfohlene Initiative verwirft und ein
Bundesreferendum wenigstens für die Verfassung, die organischen Ge¬
setze und die Verträge mit dem Auslande eingeführt haben möchte.
Wir können es uns um so eher versagen, unsern Kritiker auch über die
beiden anderen dem Referendum analogen Institutionen, des Veto und die
Volksinitiative, zu hören, da dieselben vor dem nämlichen Princip wie
das Referendum fallen. Hingegen ist eine Zusammenstellung der von ande¬
ren Seiten gemachten Vorschläge lehrreich.
Um den Uebelständen der periodischen Wahlen zu begegnen, wollte Dubs
dem Volke das Recht einräumen, seine Vertreter zu jeder beliebigen Zeit ab¬
zuberufen und dafür eine längere. 7—8-, statt wie bisher nur 3—4tägige Amts¬
dauer einführen. Ein viel größeres Interesse des Volks sowohl an der Wahl sei¬
ner Vertreter als am Gange der Politik müßte die Folge dieser Neuerung
sein. Dubs schlägt serner directe Wahl der Regierung durch das Volk vor,
wodurch zwei Behörden geschaffen würden, die von einander unabhängig und
doch gemeinsamen Ursprungs wären. Die Allmacht der Großen Räthe würde
dadurch gebrochen und das Volk könnte diese oder die Regierung oder beide
Behörden zugleich abberufen, so wie jede von ihnen das Recht hätte, im
Confliktfalle ans Volk zu appelliren und dieses zwischen ihnen entscheiden zu
lassen. Um dem Uebelstande abzuhelfen, daß bei directer Wahl der Regie¬
rung durch das Volk dieses keinen guten Verwaltungsbeamten wählen könnte,
weil es dieselben nicht zu kennen in der Lage sei, müßte dann ferner die
eigentliche Regierung von der Verwaltung getrennt und diese letztere Be¬
amten von längerer Amtsdauer übertragen werden. So könnte sich die Re¬
gierung ganz der eigentlichen Regierungsthätigkeit widmen, ja sie könnte,
ohne daß der regelmäßige Geschäftsgang darunter litte, öfter gewechselt wer¬
den, so oft das souveraine Volk eine solche Aenderung für nöthig hielte.
Bereits eingeführt ist dieses System in den Cantonen Genf und Baselland
und ganz neuerlich in Thurgau und Zürich. Herr Hilty verlangt dagegen
statt dieser Vorschläge, die er einer sehr scharfen Kritik unterzieht, die Ver¬
tretung der Minderheiten und das Platesormsystem, sowie noch häufigere
periodische Wahlen, als schon jetzt bestehen. Die directe Wahl der Regierung
durch das Volk würde nämlich nach ihm factisch die Organisation der Re¬
gierung auf der Basis der konstitutionellen Monarchie herbeiführen, der Re¬
gierungsrath würde gegenüber den Verwaltungsbeamten an die Stelle des
Fürsten treten, und was die beliebige Abberufung der Regierung betrifft, so
dürfte es gerade dann, wenn es am dringendsten geboten schiene, äußerst
schwer halten, dieses Recht auszuüben u. s. w.
Wir ersehen aus dem Bisherigen, daß ein verbreitetes Gefühl, man
kann sagen der Volksinstinkt die Richtung angibt, in der die Reformen ge¬
sucht werden müssen, deren unsere Demokraten bedürfen. Dieses Ziel ist die
größere und wahrere Theilnahme des Volks an seinen öffentlichen Angelegen¬
heiten. Nicht das Ziel, sondern nur die Wege, die zu demselben hinführen
sollen, sind falsch. Das Referendum, das Veto, die Initiative sind Täu¬
schungen, Vorspiegelungen. Die einzig wahren Reformen bestehen nach
Tallichet vielmehr in der Einführung des ächten und wahren Repräsen¬
tativsystems. Dieses haben wir in der Schweiz nie gehabt. Es handelt
sich somit um eine gründliche Reform der Principien unserer öffentlichen In¬
stitutionen. Die Schwächen dieser letzteren sind von den drei oft genannten
Autoritäten anerkannt. Sie sind, um es kurz zu sagen, in Duodez die näm¬
lichen, wie die der „kaiserlichen Demokratie" in Frankreich. Das Volk ist nur
zum Scheine souverain, es wählt seine Vertreter, aber nicht zwanzig Bürger
können in der Regel diejenigen Männer wählen, denen sie wirklich ihr Ver¬
trauen schenken, die ihre Anschauungen theilen und ihren Wünschen Worte
zu leihen vermöchten. In die Hand solcher Vertreter legt das Volk seine
Rechte für 2, 3, 4 Jahre vollständig nieder. Und dies nennt man Demo-
kratie oder Volksherrschaft! Allmälig verbreitet sich dann mit Nothwendig¬
keit jene Enttäuschung, welche fast regelmäßig periodisch wiederkehrt. Nun
tritt die einzige Seite hervor, wo die Volkssouverainetät eine Wahrheit ist:
das Volk kann seine Verfassung revidiren. Aber selbst hier stoßen wir auf
die Übeln Folgen des Princips: einerseits hat das Volk während der Jahre
seiner Unthätigkeit an politischem Sinn und Energie verloren, es fühlt das
Uebel, vermag aber nicht das Heilmittel dagegen zu entdecken oder es an¬
zuwenden. Andererseits verlangt man oft eine Revision, nur um sich der
bisherigen Vertreter zu entledigen. Aus Schaam, den wahren Grund anzu¬
geben, betritt man den Umweg, einzelne Verfassungsänderungen vorzuschlagen,
die entweder unreif oder unnöthig oder geradezu gefährlich sind. So war
es bei der letzten Revision in der Waadt, so in Zürich.
Schon dies wäre schlimm genug; aber noch mehr: bei einer Revision
bedürfen die Volksführer des Beistandes der Massen und so lange sie dieser
nicht ganz sicher sind, sehen sie sich genöthigt, durch Concessionen von oft
zweifelhaftem Werthe einzelne Gruppen zu gewinnen, die dann zusammen eine
Mehrheit bilden. Dies geschah bei mehreren unserer Revisionen, am auf¬
fallendsten in Bern 1846. Der rechte Name dafür ist politische Bestechung:
die Bürger werden verführt, gewisse Dinge anzunehmen, die sie verworfen
haben, nur um andere zu erlangen, die sie herbeiwünschen. Dadurch wer¬
den aber die Revisionen nur immer gefährlicher und schädlicher. Auch Re¬
ferendum, Veto u. s. w. vermögen den häufigen Verfassungsrevisionen kein
Ende zu machen, wie oft sie auch zu diesem Zwecke empfohlen werden;
denn sie geben dem Volke keine wirksame Macht über seine Regierung. Man
wird auch dann wieder die Menschen ändern wollen und zu diesem Zwecke
Revision verlangen.
Aber wie die Sache besser machen? Die vorgeschlagene Wahl der gesetz.
gebenden Räthe auf unbestimmte ,Dauer, wobei sie zugleich zu jeder Zeit
abberufen werden können, und die Vertretung der Minderheiten enthalten
Keime einer radicalen Reform, die viel weiter geht, als es auf den ersten
Blick den Anschein hat. Herr Hilty meint zwar, das Prinzip der Abberufung
würde nur zum System der konstitutionellen Monarchie führen. Dies ist
aber nicht richtig und es handelt sich vielmehr nur darum, ob diese Einrichtung
unsern republikanischen Institutionen angepaßt werden kann und ob sie gute
Früchte zu tragen vermag. Erläuternd gibt Tallichet zu diesem Punkte ein Bild
des constitutionellen Lebens, wie es seit der Regierung der Königin Victoria in
England sich ausgebildet hat. Das Königthum, sagt er, hat dort aufgehört, ein
unentbehrliches Element zu sein. Es dient zwar vortrefflich zum Zwecke der
sogenannten Repräsentation, aber je aufgeklärter und politisch gebildeter
ein Volk ist, desto weniger bedarf es einer solchen sichtbaren Verkörperung
der Staatshoheit. Seine Vorzüge, wenn es sich darum handelt, einen sichern
und schnellen Wechsel der Regierung zu vollziehen, sind unbestreitbar in einem
großen Lande; in einem kleinen Gemeinwesen sind sie entbehrlich. Die Präro¬
gative des Fürsten, vermöge deren er das Ministerium ernennt und die
Kammer auflöst, sind gegenwärtig selbst in England eine reine Fiction: in
der That und Wahrheit wird das Ministerium im Gegentheil stets durch
die Kammermehrheit gewählt. Bei einem Conflicte mit dieser zieht sich jenes
entweder zurück oder es appellirr an das Land durch Auflösung der Kammer,
wodurch die Souverainetät des Volkes anerkannt wird, welche hier auf
wirksame Weise ausgeübt werden kann. Die Dazwischenkunft des Fürsten
ist fast immer eine bloße Form. Unter allen Umständen wird dieser seine
Minister anhören und nie ihnen seinen Willen aufdrängen. Ueberall ist hier
der Fürst ein Zwischenglied, dem keine endgiltige Entscheidung zusteht. Falls
derselbe z. B. versuchte, seinen persönlichen Willen durchzusetzen, so würde
ihm das Parlament damit antworten, daß er das neue Ministerium zur
Demission zwänge; ernsthafte Staatsmänner setzen sich aber nicht der Gefahr
aus, sofort wieder beseitigt zu werden. Somit ist es die Kammer, welche
das Ministerium wählt und dadurch die Politik des Landes bestimmt.
Ein solches System hat nun offenbar nichts Unvereinbares mit der Re¬
publik, besonders in kleinern Staaten; ja der Fürst kann hier selbst aufs
vortheilhafteste durch unmittelbare Berufung ans Volk ersetzt werden. Die
Vortheile dieses Systems aber sind eine volksthümliche und zugleich starke
Regierung, vollständige Verantwortlichkeit des gesetzgebenden wie der voll¬
ziehenden Behörde gegenüber dem Volke: beide können zu jeder Zeit auf
gegenseitige Veranlassung durch Volksentscheid entfernt werden; daher regel¬
mäßige Beziehungen der Abgeordneten zum Volke und der Regierung zur
öffentlichen Meinung; große Comvetenzen der Regierung, die ihr ohne Ge¬
fahr übertragen werden dürften, weil sie bei deren Mißbrauch sofort gestürzt
werden könnte. Endlich zieht dies System Staatsmänner heran und ver¬
leiht den Kammerdebatten ein lebendiges, das Volk durchdringendes
Interesse.
Die von Dubs vorgeschlagene directe Wahl der Regierung durch das
Volk würde das Gleichgewicht der Gewalten stören; sie käme der Ernennung
des Ministeriums durch den König und des ersteren Verantwortlichkeit nur
gegen diesen gleich. Wohin dies führt, sah man in Preußen, Genf, in den
Vereinigten Staaten. So fortgeschritten übrigens ein Volk auch sein mag,
es wird sich nie in der günstigen Lage befinden, die Männer zu kennen,
welche die zum Regieren nothwendigen Eigenschaften besitzen und noch
weniger die, welche zusammen in die Regierung passen. Die An¬
stellung dieser letzteren müßte vielmehr in der Weise geschehen, wie
sie gegenwärtig in England Brauch ist. Beim Rücktritt des Mini¬
steriums ist der Führer der Kammermehrheit das natürliche Haupt der
neuen Regierung. Dieses wählt seine College« unter Berücksichtigung der
Wünsche der Kammer; es trägt die Hauptverantwortlichkeit und damit ge¬
bührt ihm auch das Recht, der Politik des Ministeriums die Richtung zu
geben. Im Uebrigen sind die anderen Mitglieder ihm gleichberechtigt. Sein
Verhältniß zu diesen ist dem des Ministeriums zur Kammermehrheit analog.
So entsteht eine einheitliche starke Regierung, die wie ein Mann vorgeht.
Ein solches System hat nichts unvereinbares mit der Republik, nicht einmal
mit der jetzt in den Großen Räthen der Schweiz üblichen Wahl der Regie¬
rung mittelst Scrutiniums. Es braucht nur richtig verstanden zu werden.
Allein ohne eine gründliche Reform des Wahlsystems könnte das
vorgeschlagene constitutionelle System nur sehr langsame und mangelhafte
Früchte bringen. Denn damit die Vertretung eine wahre sei, müssen alle
wichtigeren Gruppen der Bevölkerung, welche gemeinschaftliche Anschauungen
und Interessen haben, ihre Stimme in den Räthen der Nation geltend
machen können. Es müßten also auch die Minderheiten nach Verhältniß
ihrer Zahl und Bedeutung vertreten sein. Wo keine ächte Opposition,
da ist in wirksamer Weise nur eine Meinung vertreten und diese richtet sich,
wie sich dies gegenwärtig zeigt, am Ende selbst zu Grunde. Das Volk ruft
schließlich nach Reformen, es möchte die ihm nicht mehr adäquate Kammer
beschränken und verfällt auf Referendum, Veto, Initiative und dergleichen,
als ob man eine Obrigkeit dadurch verbesserte, daß man sie zur Ohnmacht
verurtheilt.
Gegen die persönliche Vertretung hat man eingewandt, sie zersplittere
die nationale. Das heißt mit anderen Worten, man wolle keinen indivi-
dualisirten Volkswillen. Aber besteht das Volk nicht aus Bürgern, deren
jeder seine eigene Individualität hat? Ist es weniger das Volk, wenn es
ins Unendliche getheilt ist in Bezug auf die Einzelheiten, aber Eins und ge¬
einigt in Bezug auf die großen Fragen der Gemeinschaft? Das Volk ist
nicht, wie so mancher Radicale und Demokrat meint, ein Wesen ohne Fleisch
und Blut, dessen einzig wahrer Interpret sie selbst sind. Es ist eine Ge¬
sammtheit von lebendigen Wesen, deren jedes seine eigenen Begehren, Ueber¬
zeugungen, Interessen hat, die sich gruppenweise einander nähern und von
einander entfernen. Je besser diese Gruppen vertreten sind — nicht durch
solche Männer, bei denen der besondere Gruppencharakter verwischt, sondern
bei denen er möglichst ausgeprägt ist — ein desto getreueres Abbild des
Volkes wird die Kammer darstellen. So wird sie die Wünsche der beson¬
deren Volksgruppen ausdrücken, während die Regierung die Aufgabe hat,
die verschiedenen Anschauungen und Interessen in Uebereinstimmung und das
allgemeine Interesse gegenüber dem besondern zur Geltung zu bringen, —
wozu schließlich stets die Mehrheit führen wird.
Tallichet's politische Resormgedanken finden die schweizerischen Ver¬
fassungen viel zu complicirt, mit zuviel Detailbcstimmungen überbürdet. Ihre
wirklich wichtigen Vorschriften gehen daher in der Masse der Einzelheiten,
die der Gesetzgebung vorgreifen, verloren und werden zu todten Buchstaben.
Der Luxus von Sicherheitsbestimmungen hat seinen Grund in der Allmacht
der gesetzgebenden und vollziehenden Räthe und würde sofort entbehrlich,
wenn eine dauernde und unmittelbare Verantwortlichkeit der letzteren be¬
stünde. Diese aber wird nicht durch das vorgeschlagene System der „directen
Volksregierung" erreicht, sondern durch die Einführung des englischen Systems,
wie es oben skizzirt worden. Dieses kann vollständig auch in die demokra¬
tischen Republiken eingepaßt werden. Es fehlt diesen zwar ein Rad der con-
stitutionellen Monarchie, der Fürst; aber diesen ersetzt T. durch directe Be¬
rufung an das souveraine Volk, — dies erst wäre das wahre Referendum.
Indessen müßte diese Berufung nur in den äußersten Fällen vorgenommen
werden, bei einem Conflikt zwischen Gesetzgebung und Vollziehung, aus dem
es keinen anderen Ausweg gäbe. In einem solchen Falle werden in der
Regel beide Gewalten gerne das Volk zwischen sich entscheiden lassen. Es
bliebe somit nur noch die Möglichkeit übrig, daß die Regierung gegen den
Willen des Volkes von der Mehrheit des Großen Raths gestützt würde.
Hier aber hätte sich dann die öffentliche Meinung der Opposition im Großen
Rath« als ihres Organs zu bedienen und dieser Pression der Meinung des
Landes würde die Mehrheit kaum lange Stand halten.
Man wendet zwar ein, daß wenn das Volk nur selten berufen werde
sich auszusprechen, seine Theilnahme am öffentlichen Leben bald auf Null
sinken würde. Allein dies ist unhaltbar; vielmehr führt gerade dieses System
ganz von selbst zu einer gründlichen Discussion der öffentlichen Fragen und
damit zum allgemeinen Interesse an denselben, was wiederum die dauernden
Beziehungen zwischen der öffentlichen Meinung und den Volksvertretern ver¬
mehren muß — eine Einrichtung, die unendlich besser als die einfache Ab¬
stimmung mit Ja oder Nein über die einzelnen Gesetze — „die Volksrechte
erweitert!" Bei einer solchen Organisation würden auch die Staatsmänner
mehr Anerkennung finden, mit mehr Schonung und Würde behandelt werden
und es fänden sich dann eher als jetzt Männer, die ihre Kraft dem Staate
zu weihen sich entschlössen. Allen nützlichen Reformen würde ferner die Bahn
erleichtert, ohne daß es nöthig wäre, zu Verfassungsrevisionen zu schreiten,
und wenn auch der Kampf um jene bei einem solchen Gleichgewicht der Ge¬
walten zuweilen heiß würde, so müßte er darum doch fruchtbringend und
für das Ganze wohlthätig sein.
Alle diese Vorschläge des Herrn T. sind, wie man sieht, nicht unprak¬
tisch, nicht geradezu unausführbar. Bei der gegenwärtigen Organisation der
schweizerischen Verfassungen wäre, formell genommen, nichts leichter als die
sofortige Revision derselben im Sinne jener Ideen. Was an diesen aus¬
zusetzen, ist leider nur, daß sie bei der obwaltenden Geistesströmung in den
Massen und ihren Führern weder Verständniß noch Anklang finden werden.
Dies ist aber an sich kein Beweis gegen die Richtigkeit. Achtung verdienen
diese Ausführungen nichtsdestoweniger.
Tallichet kommt am Schlüsse seiner Schrift auch auf die kirchliche
Frage zu sprechen. Zwischen den von ihm geprüften Vorschlägen des
Herrn Dubs auf eine Wiederherstellung der zerfallenen Kirche durch den
Staat auf demokratischer Grundlage und des Herrn Hilty auf vollständige
Trennung beider entscheidet er sich für letztere. Die wesentlichste Freiheit,
welche die Schweiz noch zu erringen hat, ist nach ihm diejenige, welche das
religiöse Leben von der Vormundschaft des Staates emancipirt; denn diese
letztere ist die Ursache des so verbreiteten Mangels an Muth, ein freies Wort
offen auszusprechen, der so allgemein gewordenen Weichlichkeit und Energie«
losigkeit im öffentlichen wie im Privatleben. Napoleon I. beschützte und
bezahlte nicht vergebens alle Culte. Eine Religion, die sich nicht selbst
aufrecht zu halten vermag, ist nicht werth, auf künstliche Weise ge¬
schützt zu werden. Sollte die Freiheit allein nur auf dem Gebiete der Re¬
ligion keine Lebenskraft entfalten? In allen Ländern, welche die Freiheit be¬
sitzen oder anstreben, beginnt man der Bedeutung derselben auch für die
Religion sich bewußt zu werden. England schafft die irische Staatskirche ab
und bald wird es den Staatskirchen von Schottland und England nicht
anders ergehen. In Deutschland wird die Frage stark discutirt, in Italien,
selbst in Frankreich verlangen Viele die freie Kirche im freien Staate. In
der Schweiz taucht die Idee überall auf: in Genf ist ohne Zweifel die Mehr¬
heit für Trennung, in Neuenburg sind ihr die Geistlichkeit und eine große
Zahl von Laien gewogen und die Radicalen hatten dieselbe in ihr Nevisions-
programm aufgenommen. Auch in Bern wird sie von den Radicalen ge¬
fordert und in der ganzen nördlichen und östlichen Schweiz, in Zürich,
Aargau, Thurgau, Se. Gallen beschäftigt diese Frage die Geister und ge¬
winnt sie immer mehr für sich. Auch in dieser großen Angelegenheit der
Rückkehr des Protestantismus zu seinem ursprünglichen Geiste der Freiheit
und Einigung wäre es die Aufgabe der Schweiz, den Weg zu zeigen und
die Bahn zu öffnen.
Der Borschlag, die Kieler Universität nach Hamburg zu verlegen, ist in Ihrer
Zeitschrift (Ur. 41 vom 8. Octbr. 1868) wiederholt und ausführlich besprochen
worden. Wir verzichten darauf, die mannigfachen Aeußerungen der Tages¬
presse über diesen Plan zusammenzustellen; es genügt, daß der Plan im Ganzen
mit Beifall aufgenommen worden ist. Neuere Vorgänge in Hamburg selbst
sind sür die vorliegende Frage von Interesse. Die Bürgerschaft hat in der
Sitzung vom 5. Mai d. I. einen aus ihrer Mitte hervorgegangenen Antrag
wegen Reform des Johanneums und des akademischen Gymnasiums auf das
Letztere beschränkt, und für die Prüfung dieses Gegenstandes eine Commission
von sieben hervorragenden Mitgliedern der Versammlung bestellt. Es sind
dies die Herren Dr. Baumeister, Dr. Buel, Dr. Klauhold, Dr. Banks, Lip-
pert, Zacharias und Dr. May. In der Debatte sprach einer der Redner
(Halben) dafür, daß das academische Gymnasium zu einer philosophischen
Facultät unter besonderer Berücksichtigung der Staats - und naturwissenschaft¬
lichen Disciplinen, sowie in Verbindung mit den bestehenden Anstalten sür
Mediciner, erhoben werde. Also im Wesentlichen neben der philosophischen
auch eine medicinische Facultät. Wir sehen dem Berichte der genannten
Bürgerschaftscommission mit Spannung entgegen.
Der alte Einwand, daß Hamburg einseitig dem commerciellen und ma¬
teriellen Interesse ergeben sei und zum Sitze einer Hochschule wenig tauge,
spielt bei den Gegnern unseres Projects noch immer die Hauptrolle. Möge
sich Niemand täuschen lassen durch Vorurtheile, geschöpft aus oberflächlicher Be¬
rührung mit vereinzelten Kreisen und Personen, und durch banale Redensarten,
wie sie im Vaterlande die Eifersucht der Städte und Landschaften zahlreich
in Umlauf gesetzt hat. Hamburg ist ein Welthandelsplatz, auf dessen Größe
die Nation mit gerechtem Stolze blickt. Diese Freude kann nur gehoben
werden durch die Wahrnehmung, daß unsere Stadt trotz der Abwege, welche
Wohlleben und Reichthum den Bürgern stellten, ein wahrhaft wissenschaft¬
liches Leben in ihren Mauern zu erziehen gewußt hat. Es ist kaum ein
geistiges Interesse, welches dort nicht eben so sehr um seiner selbst, wie um
seines practischen Nutzens willen Pflege und Achtung gefunden hätte. Man
braucht nur das Hamburgische Adreßbuch nachzuschlagen, um über die statt-
liche Reihe wissenschaftlicher Vereine und Institute, welche daselbst aufgeführt
sind. Ueberblick zu gewinnen. Vollzählig ist die Reihe. Und wer dann das
Geleistete kennt, weiß zugleich, wie diese Stadt allen Zweigen menschlichen
Wissens stets erneuten Antrieb und unerschöpfliche Stoffe gewährt. Aber
die Fülle deS Wissenswerthen ist es nicht allein; weil Hamburg ein reges
und selbständiges Geistesleben entwickelt hat, ist eine deutsche Universität hier
am Platze.
Niemand wird die sittlichen Gefahren unterschätzen, welche die Berfüh.
rungen großer Städte der studirenden. von häuslicher Zucht befreiten Jugend
bringen. Aber andererseits müssen wir gestehen, daß es mit dem hergebrachten
Lobe der Sittlichkeit kleiner Universitätsstädte nicht soweit her ist, wie ge¬
wöhnlich angenommen wird. Die großen Universitäten in kleinen Städten
haben dies Lob nie verdient, und die Erinnerung an Würzburg, Göttingen
u. A. bedarf für den', der die Augen offen hat, keines weiteren Commentars.
Es ist ferner fraglich, ob die wüste Völlerei, das ziellose Treiben studenti¬
scher Vereine, welche an kleineren Universitätsorten hauptsächlich im Schwange
gehen, nicht verhältnißmäßig mehr Opfer fordern, als die Verlockungen der
großen Städte. Und der Vorzug, welchen in letzterwähnter Beziehung ein¬
zelnen kleinen Universitäten die Lage des Orts ehedem gab, ist nicht mehr
vorhanden, seit die meisten derselben benachbarten Großstädten durch Eisen¬
bahnen nahe gerückt sind. Was die Stadt Kiel speciell betrifft, so stehen die
Sittenzustande derselben zu Folge der großen Militair- und Marinebevölke¬
rung hinter denen mancher Großstadt zurück.
Die Verlegung der Kieler Universität nach Hamburg ist endlich als po¬
litisches Tendenzmanöver mit der Richtung wider die sogenannte particu-
laristische Partei Schleswig-Holsteins signalisirt und hervorgehoben worden,
daß verschiedene Führer dieser Partei der Kieler Universität angehören. Un¬
serer Meinung nach ist diese Deutung grundfalsch. Denjenigen Kieler Pro¬
fessoren, welche dem politischen Interesse nicht abhold sind, wird es nur lieb
sein können, neben dem allgemeinen Felde, welches sie bearbeiten, auch dem
reich entwickelten communalen Leben der mächtigen Hansestadt näher zu
treten. Jene irrig angenommene Bedeutung kann die Hamburger Universität
mithin nicht haben. Ein dauerndes und großes politisches Gewicht aber
würde die Anstalt gewinnen gegen den Norden, namentlich in Concurrenz
mit der Universität in Kopenhagen. Die Beziehungen, welche der ham¬
burgische Handel mit Dänemark, insbesondere Jütland, sowie mit den scan-
dinavischen Reichen angeknüpft hat, würden der neuen Universität am Knoten¬
punkte des cimbrischen Eisenbahnnetzes eine erhöhte Anziehungskraft verleihen.
Ihre Wirksamkeit soll den Aufgaben, welche Deutschland gegenüber den nor¬
dischen Staaten zu lösen hat, fördernd zu Gute kommen.
Das Verbleiben der Kieler Universität an ihrem gegenwärtigen Sitze ist
wohl ebenso fraglich, wie die Neubegründung einer solchen etwa in Heppens.
Wenn die Bewohner Kiels sich gegen diese Erkenntniß noch sträuben, so darf
dies nicht Wunder nehmen; es fehlt viel, daß die Schleswig-Holsteiner über-
Haupt die Tragweite der über sie ergangenen Veränderungen völlig erkannt
hätten. Man kann die Zukunft ruhig abwarten. Binnen kurzer Zeit wird
Kiel als Hauptkriegshafen der Ostsee einen völlig entsprechenden Charakter
erhalten haben. Eine Stadt, die zum Schutz der Marineanlagen in eine
Festung ersten Ranges umgewandelt werden wird, darf eine Hochschule mit
ihren kostbaren Baulichkeiten, Sammlungen an Büchern und Instrumenten.
Kunstsachen, naturwissenschaftlichen und archäologischen Seltenheiten nicht be¬
herbergen. Der Apparat einer Universität, an dem der Fleiß und die wissen¬
schaftliche Tüchtigkeit vieler Generationen geschaffen haben, ist ein nationales
Gut, das der Gefahr kriegerischer Zerstörung überall nicht auszusetzen ist.
Der Rückgang der Kieler Universität ist eine so oft besprochene That¬
sache, daß wir uns ausführlicher Bemerkungen darüber enthalten dürfen; es
ist bekannt, daß die Zahl der Studirenden seit dem Winter 1866 um ca. 90
abgenommen und sich auf ISO—160 reducirt hat. Die Verluste treffen
die juristische, medicinische und die philosophische Facultät; auch das laufende
Halbjahr zeigt eine Abnahme gegen das vorige. Die oft versuchte und auch
in der Universitätschronik für 1868 wiederholte Erklärung, daß die schleswig¬
holsteinische Jugend durch die Ordnung des Justizwesens auf preußischem
Fuße von dem Nechtsstudium abgeschreckt worden sei. ist irrthümlich. Die
verhältnißmäßig starke Zahl der Juristen (82) am Ende des Jahres 1866
beruhte darauf, daß eine große Anzahl älterer Rechtsbcflissener in Kiel ver¬
weilte, um der Vorzüge des seitdem aufgehobenen einzigen Amtsexamens noch
theilhaft zu werten. Im Jahre 1867 sind nicht weniger als 40 Juristen in
diesem Examen geprüft worden; die damalige größere Frequenz der Juristen ist
also den abnormen Verhältnissen des staatlichen Uebergangszustandes zuzuschrei¬
ben. Ebenso lockten schon im Jahre 1866 die wechselvolle politische Lage der
Herzogtümer und ein daran sich knüpfendes beschleunigtes und chancenreiches
Avancement viele ältere Juristen nach Kiel. Dazu war die Anziehungskraft
des herzoglichen Hofes und die mannigfachen hieran sich schließenden In¬
teressen nicht ohne fühlbaren Einfluß auf den allgemeinen Besuch der Uni¬
versität.
Die Aushebung des sogenannten Bienniums. der Verpflichtung studiren-
der Landeekinder zum zweijährigen Besuche Kiels, war ein Schlag, von wel¬
chem die Universität sich nicht erholen wird. Dies um so weniger, als die
eingeborenen Juristen, Mediciner und Schulamtscandidaten nicht mehr an
ein nur in Kiel abzulegendes Examen gebunden sind, sondern unter den Prü¬
fungsbehörden der Monarchie wählen können. Seitdem wandert unsere aca-
demische Jugend mit Vorliebe anderen Universitäten zu. Die Beseitigung
jener Beschränkungen war eine selbstverständliche Consequenz der Union
Schleswig-Holsteins mit den älteren Provinzen; der Staatsregierung ist
zwar nachzurühmen, daß sie den Folgen jener Neuerungen durch Ergänzung
der Lehrkräfte von vornherein vorzubeugen bemüht gewesen ist, jedoch ohne
irgend einen Erfolg. Ja selbst in den Kreisen der Hochschule haben Un»
geduld und' Entmuthigung Platz gegriffen; der Wunsch, die Universität nach
Hamburg verlegt zu sehen, zählt grade unter den academischen Lehrern zahl¬
reiche Anhänger.
Zum Schluß seien einige Bemerkungen über die Ausführung dieses Planes
gestattet. Zunächst darf man sich Glück wünschen, daß der in den Herzog-
thümern angesammelte Fonds von 72,000 Thalern für den Bau eines Univer¬
sitätsgebäudes noch nicht verwendet worden ist. Ferner dürfte das Budget
der Kieler Universität mit dem des Hamburger academischen Gymnasiums
und der verbundenen Anstalten zu vereinigen und aus dem Gesammtbetrage
von ca. 130,000 Thlrn. jährlich als einem Normalbudget die in Hamburg
zu gründende Universität zu dotiren sein. Die weiteren Kosten sür Anstel¬
lungen oder Bauten u. s. w. wären nach einem festzusetzenden Verhältnisse,
etwa der Bevölkerungszahl Hamburgs und der Provinz Schleswig-Holstein
zwischen Preußen und Hamburg zu theilen. Die Ausgaben würden von der
Hamburgischen Bürgerschaft und dem preußischen Landtage bewilligt. Diese
Vorschläge mögen Manchem ungenügend und schwerfällig erscheinen, was
gern zugegeben sein soll; indeß darf auf ein gewisses Wohlwollen beider Re¬
präsentationen gegenüber der jungen Schöpfung sicher gerechnet werden. An¬
dererseits ist zu erwarten, daß wenn nur erst einmal angefangen ist, das Be¬
dürfniß neue und bessere Organisationen herbeiführen würde. Die Ueber-
tragung aller Universitätsangelegenheiten auf den norddeutschen Bund, welche
neuerdings befürwortet worden ist, braucht nicht vorauszugehen, umgekehrt
würde eine Preußen und Hamburg gemeinschaftliche Universität solche befördern.
Nächst der Budgetangelegenheit ist die Frage der Stellenbesetzung er¬
heblich. Die Berufungen könnten jedesmaliger freier Vereinbarung zwischen
Hamburg und Preußen überlassen sein, oder etwa von Jahr zu Jahr alter-
niren, oder auch so geordnet werden, daß unter Berücksichtigung der Facul-
tätsvorschlage die Oberschulbehörde Hamburgs der preußischen Krone eine
Anzahl Candidaten für jede Vacanz präsentirte. Möge nun Solches oder
Anderes beliebt werden — kommt nur die Hamburger Universität überhaupt
zu Stande, so wird jede irgend vernünftige Einrichtung, mag sie auch im
Einzelnen noch Wünsche übrig lassen, mit Freuden begrüßt werden. Zum
ersten Male wäre einem großen städtischen Gemeinwesen selbstthätiger
Antheil an dem Wohl und Wehe einer deutschen Hochschule ver¬
liehen. Freilich kann nicht davon die Rede sein, kleinen Universitätsstädten
ähnliche Vorrechte zu übertragen, wie sie der Stadt Hamburg bezüglich
einer in ihr zu gründenden Hochschule zukämen. Aber es macht doch einen
höchst unerquicklichen Eindruck, die meisten deutschen Hochschulen von den
Einwohnern ihres Sitzes bisher nur als Objecte bürgerlicher Nahrung, gleich-
sam als wissenschaftliche Garnisonen angesehen zu wissen.
Von den slavischen Ländern Oestreichs hat in den letzten Jahren Böh¬
men die öffentliche Aufmerksamkeit am lebhaftesten beschäftigt. Daß es hier
Deutsche sind, welche mit dem slavischen Elemente im Kampfe liegen, daß
diese Deutschen, ungleich ihren übrigen unter Fremde versprengten Stammes¬
genossen an Energie und Thatkraft hinter den Gegnern zurückstehen und trotz
aller gouvernementalen Unterstützung in eine secundäre Rolle gedrängt wer-
den, das hat wenigstens in Deutschland dazu beigetragen, gerade dieses
östreichische Kronland in den Mittelpunkt des öffentlichen Interesses zu
drängen. Namentlich die czechische Pilgerfahrt nach Moskau schien einen
handgreiflichen Beleg für die panslavistiichen Aspirationen des östreichischen
Slaventhums zu liefern und Befürchtungen vor dem Ueberhandnehmen russi¬
scher Einflüsse in Oestreich zu nähren. Dazu kam, daß Böhmen als Haupt¬
träger der föderalistischen Partei in dem inneren Staatsleben des Kaiserstaats
eine beträchtliche Rolle spielte und für den gefährlichsten Gegner jener deutschen
und liberalen Partei galt, welche seit nunmehr anderthalb Jahren in Wien
das Wort führt oder zu führen scheint.
Die Bedeutung Böhmens für die Entwickelung der östreichischen Dinge
kann nicht geleugnet werden. Aber sie wird sicher vielfach überschätzt. Schon
ein Blick auf die Karte beweist, daß dieses Land von den eigentlichen Cen¬
tren des Slaventhums zu weit abliegt, als daß es jemals als Stützpunkt
einer panslavistischen Gefahr in Betracht kommen könnte. Wenn das böhmisch,
deutsche Element auch an Rührigkeit hinter dem czechischen zurücksteht, so
bieten doch schon die gewichtigen materiellen Interessen, an die dasselbe ge¬
bunden ist, gewisse Bürgschaft darüber, daß die Deutschen in der Stunde
ernster Gefahr auf dem Platze sein und bei der Entscheidung mitsprechen
werden. Dazu kommt, daß die gegenwärtig an der Moldau maßgebende
Richtung, die jungczechische von jenem Spiel mit panslavistischen Utopien,
welches die Palazky und Rieger im Sommer 1867 aufnahmen. Nichts wissen
will und seit Jahr und Tag gegen jede Annäherung an Rußland protestirt.
Zeugniß dafür gibt die lange und erbitterte Polemik des „Lork-ssponäenee
tseköyue" gegen die panslavistischen Organe der Petersburger Presse, welche den
Böhmen vergeblich einzureden versuchten, ihr Geschick sei von dem der ostslavi¬
schen Welt abhängig und müsse mit diesem identificirt werden. Die kurzathmige
Begeisterung für das Großrussenthum, die sich noch im vorigen Sommer
wiederholt manifestirte (wir erinnern an das Jubiläum des Prager Landes-
museums und die mehrtägige Palazky - Feier) hat sich bereits gegenwärtig
überlebt und von einem Zusammenhange zwischen den czechischen Bestre-
bungen und der Oestreich drohenden panslavistischen Gefahr kann im Ernste
eigentlich nicht die Rede sein.
Besteht eine solche Gefahr überhaupt, so ist Galizien ein ungleich wich¬
tigerer und bedrohterer Punkt als das immerhin halb germanisirte Böhmen.
Gleich der Mehrzahl der an der Ostgrenze unseres Culturgebiets liegenden
Länder im Allgemeinen wenig beachtet, erinnert Galizien uns periodisch
immer wieder daran, daß eS der Boden ist, auf dem ein wichtiges Problem
der Zukunft entschieden werden wird. Vor etwa zwei und einem halben
Jahre hatte die Spannung zwischen den hier lebenden zwei slavischen Völkern
einen so hohen Grad erreicht, daß man eine Katastrophe unvermeidlich glaubte;
im vorigen Sommer erhielt der Optimismus der cisleithanischen Liberalen
von dieser Seite her einen empfindlichen Stoß; in der vorigen Woche haben
die zu Ehren der Grablegung König Kasimirs des Großen in den galizischen
Städten inscenirten Demonstrationen die gesammte slavisch-polnische Welt
erschüttert. Obgleich die östreichische Regierung sich gern die Miene gibt,
mit den polnischen Patrioten auf dem besten Fuß zu stehen, zeigt sie jedes
Mal eine gewisse Unruhe, wenn das öffentliche Leben dieser Provinz stärker
zu pulsiren beginnt. Und in der That haben hier die verschiedensten Gründe
zusammengewirkt, um eine dauernde Befestigung östreichischer Einflüsse zu
erschweren und dem deutschen Beamtenthum, auf welches dieselben sich sonst
stützen einen Damm entgegen zu ziehen. Kaum eine andere Provinz des viel-
gliedrigen Kaiserstaats ist durch seine geographische Lage zu den großen Fra¬
gen der Zukunft in ein so direktes Verhältniß gesetzt, wie das Königreich
Galizien und Lodomerien. Im Westen, ausschließlich von Polen bewohnt, ist
es der classische Boden aller polnischen Zukunftsträume, die Operationsbasis
für alle Agitationen, welche in Posen, dem Königreich und den Provinzen
des Generalgouvernements Kiew unternommen werden; östlich von dem
Flüßchen San leben 210,000 Ruthenen, durch Polenhaß, Abneigung gegen
die römisch-katholische Kirche und Hoffnung auf eine Umwälzung der agra¬
rischen Verhältnisse dem russischen Interesse naturgemäß verbündet. Hier ist
zugleich die Poststraße für alle Intriguen, welche nach Ungarn gesponnen
werden, um die dort lebenden, in den nordöstlichen Comitaten besonders zahl¬
reichen Slaven in beständiger Erregung gegen das magyarische Element zu
erhalten. Die südlich an dieses vom Wiener Congreß zusammengebackene
Königreich grenzende Bukowina bewohnen 173,000 Rumänen, von ebenso
viel Ruthenen in Schach gehalten, aber doch zu dem jungen Staate gravi-
tirend, der bestimmt ist. bei der Lösung der orientalischen Frage ein gewich¬
tiges Wort mitzusprechen. Seit 1849 hat die Bukowina zwar aufgehört eine
galizische Provinz zu sein, aber factisch steht sie mit dem Königreiche noch
gegenwärtig in enger Verbindung.
So erscheint jeder der verschiedenen Theile Galiziens als Träger eines
besonderen Interesses. Im Westen werden seit Jahr und Tag Versuche ge¬
macht, einen polnischen Reservestaat zu bilden, der im entscheidenden Augen¬
blick zum Kern des neuen Polen werden und Oestreich in die Lage versetzen
kann, die angrenzenden Provinzen der beiden Nachbarmonarchien in sein
Interesse zu ziehen. Offensive Absichten gehen hier mit defensiven Hand in
Hand, denn der ruthenische Theil Galiziens kann jeden Tag zu russischer
Einmischung Veranlassung geben. Die Kleinrussen, welche hier leben, stehen
zu dem polnischen Adel genau in demselben Verhältniß wie die Weiß - und
Kleinrussen, Samogitier und Lithauer der anstoßenden russischen Provinzen.
Alles was gebildet und zur herrschenden Classe gehört, denkt und redet pol¬
nisch, betet lateinisch. Adel, Intelligenz und höhere Geistlichkeit sind ent¬
weder von lechischer Abstammung oder sie bestehen aus Kleinrussen, die polo-
nisirt und katholisirt sind und ihren Ursprung aus jenem Bauernvolk, für
welches Graf Franz Stadion die Bezeichnung „Ruthenen" erfand, nach
Kräften verleugnen. Aber während die Städte und Edelhofe deuUich den pol¬
nischen Charakter tragen und von denen des rein-polnischen Westgalizien
kaum zu unterscheiden sind, arbeitet das flache Land seit zwanzig Jahren
daran, sich von dem polnisch-katholisch-aristokratischen Einfluß zu emancipiren
und eine ächtrussische Physionomie anzunehmen. Zwar hat der gemeine
Mann an diesen Bestrebungen in der Regel noch keinen directen Antheil; er
haßt den Polen nur als den Herrn, dem er bis vor zwanzig Jahren den
Robot (Frohne) leisten mußte, hat auch wohl von dem stammverwandten
Volk und Staat von Moskau etwas gehört, ist im allgemeinen aber auf
einer zu niedrigen Stufe der Bildung, um sich viel um Politik zu kümmern.
Dafür fehlt es nicht an Leuten, die ihre Lebensaufgabe darin fehen, diesen
Sinn in ihm zu wecken. Der griechische oder griechisch - unirte Pope des
Dorfs, der jüngere Schulmeister, der Bauernsohn, der in der Stadt höhere
Bildung erhalten und zu den Füßen „national" gebliebener Lehrer des
griechisch-unirten Seminars gesessen hat, sehen in der Gleichstellung des unter¬
drückten Stamms mit dem herrschenden ihre Lebensaufgabe, nähren gegen
Polen und Lateiner (katholische Priester) den gleichen Haß, wie die Demo¬
kraten Großrußlands und haben ihren Idealismus in Moskau oder in
Kiew.
Bis zum I. 1847 wurde die Existenz dieses Stammes, der heute die
flagranteste Gefahr für Oestreich ist, fast vollständig ignorirt und die Polen
wußten dafür zu sorgen, daß jede directe Beziehung zwischen ihren russischen
Bauern und der Wiener Regierung unterbunden war und Galizien allent¬
halben für ein rein polnisches Land galt. Erst als der Aufstand von 1847
ausbrach und jene Schlächtereien von Tarnow und Lissagora herbeiführte,
da die loyalen Bauern den k. k. Beamten ganze Wagenladungen ermordeter
polnischer Verdächtiger verkauften, mußte die „ruthenische" Nationalität an¬
erkannt und als besonderer Volksstamm den zahlreichen Stämmen'coordinirt
werden, welche die Bevölkerung des Staats bilden, dem ein ruthenisches
Actenstück von 1847 den Namen eines „k. k. Unterthansvnterlandes" gab.
Das Bauernvolk, welches die polnischen Revolutionsversuche der 40er Jahre
bändigen geholfen hatte, war eine Zeit lang das Lieblingskind der reaktio¬
nären Wiener Staatskunst. Man sah es nicht ungern, daß die Bewohner
des östlichen Galizien ein Gegengewicht gegen die Polen bildeten, man unter¬
stützte ihre Bestrebungen zur Herstellung einer nationalen Literatur und
Bildung und legte besonderes Gewicht darauf, daß diese werdende Nationa¬
lität eine ergebene Dienerin der Habsburgischen Dynastie und des bureau¬
kratischen Centralisationssystems abgab.
Aber diese Freude sollte von kurzer Dauer sein. Als sich die Stellung
der Polen nach der östreichischen Krisis von 1859 durch Agenor Goluchowski's
Einfluß besserte und in Wien mit ihnen gerechnet wurde, erklärten die ver¬
verstimmten Führer der Ruthenen, das Volk sei dieses Namens und seiner
isoltrten Nationatät müde — es gebe in Galizien keine Ruthenen, sondern
nur noch Russen und zwar Russen, welche den Kaiser und Selbstherrscher
aller Reußen als den Schutzherren ihres Stammes ansehen. In den maa߬
gebenden Kreisen der Gebildeten wurde das Schlagwort ausgegeben, daß es
mit der specifisch-ruthenischen Literatur Nichts sei und daß diese in die gro߬
russische Literatur aufgehen müsse. Aus den Zeitungen und Journalen ver¬
schwanden die lateinischen Schriftzeichen, deren man sich wenigstens zum
Theil bedient hatte, großrussische Bücher und 'Redewendungen kamen in
Mode und auf kirchlichem Gebiet machte sich das Bestreben geltend, die
Verwandtschaft mit dem orientalischen Christenthum zu betonen und den
Gottesdienst von allen katholischen Einflüssen zu reinigen. Als um dieselbe
Zeit der große Umschlag in Rußlands innerer Politik erfolgte, die Leibeigen¬
schaft aufgehoben, die Presse freigegeben, demokratischen und nationalen Ein¬
flüssen Thor und Thür geöffnet wurde, nahm der russische Einfluß von Tag
zu Tage zu und wandte sich bald auch die Aufmerksamkeit der Moskaner
Journalisten und Tagespolitiker dem „verlassenen Bruderstamm" am San
und Dnjester zu. Die literarischen Vereine von hüben und drüben traten in
directe Beziehungen, tauschten Druckschriften und Sympathien aus. russische
Reisende besuchten die ostgalizischen Städte und erinnerten sich und ihre neu-
gefundenen Stammesbrüder wehmüthig an die Zeiten, da Halicz und Wladimir
die Sitze rechtgläubiger Großfürsten, die Vormauern mongolischer, später pol¬
nischer Ueberfluthung gewesen waren. Als vollends der polnisch - lithauische
Aufstand ausbrach und die Kunde von den bauernfreundlichen Thaten
Murawjew's nach Lemberg brachte, wurden die russisch-ruthenischen Wechsel¬
wirkungen immer zahlreicher und inniger. Während Rußland das stolze
Polenthum ins Herz traf und die lithauischen und weißrussischen Bauern
zu Herren des Landes zu machen suchte, das dieselben bis dazu als Sclaven
bebaut hatten, nahm der polnische Einfluß in Wien seit dem Sturz Rech¬
bergs fortwährend zu, schien Galizien immer mehr eine polnische Provinz
werden zu sollen. Die aus Großpolen verbannten Edelleute und Priester
fanden westlich vom Dnjester freundliche Aufnahme; andererseits zogen an¬
gesehene russisch-galizische Gelehrte über die Grenze, um als Lehrer und Be¬
amte an der Nussification der ehemals polnischen Länder ehrenvollen Antheil
zu nehmen. Die Spannung zwischen den Cabinetten von Wien und Peters¬
burg konnte nur dazu beitragen, die russischen Sympathien in Ostgalizien zu
nähren und je enger das Bündniß zwischen den k. k. Machthabern und den
Polen wurde, desto entschiedener gingen die Ruthenen in das großrussische
Lager über. Die Situation nahm mehr und mehr den Charakter eines offenen
Krieges an. Während die Wiener Presse über das Geschick der unglücklichen
Polen Rußlands Thränen vergoß, erklärten der Golos und die Moskausche
Zeitung, daß die rechtlose Stellung der russischen Nationalität in Galizien
nicht länger zu dulden und mit der Ehre des großen slavischen Staats
unvereinbar sei, der an der Grenze bisher müssig zugesehen habe. Man
bewies haarscharf, daß die polnisch - lithauische Frage nur in Galizien
gelöst werden könne und daß alle Versuche zur Absorption des polnischen
Elementes durch das russische vergeblich seien, so lange das Polenthum in
Oestreich genährt und mit dem Schweiß und Blut der Ruthenen großgezogen
werde. Oestreichischer Seits wurde mit Klagen über systematische Aufreizung
k. k. Unterthanen durch russische Agenten und Bücherspeditionen geantwortet.
Die Hauptrolle spielte indessen die Agrarfrage. Obgleich der Robot in ganz
Oestreich seit 1848 abgelöst worden war, ließ die Stellung der galizischen
Bauern noch immer viel zu wünschen übrig und die Unzufriedenheit der¬
selben wuchs in demselben Maaß, in dem die auf Ruin des polnischen Adels
gerichtete Tendenz der russischen Regierung deutlicher hervortrat.
Dieser Umstand war für den ferneren Verlauf der Dinge entscheidend.
Dieselben Bauern, welche noch kurz zuvor außer Stande gewesen waren, den
Enthusiasmus ihrer gebildeten Führer für Großrußland ganz zu verstehen
und deren Eifer für Adoption der großrussischen Schriftsprache zu theilen,
sahen jetzt, daß die Sache eine sehr praktische Seite habe und standen nicht
an, dieser größere Aufmerksamkeit als bisher zu Theil werden zu lassen. Die
großrussische Agitation machte immer glänzendere Geschäfte und ihre Trägerin,
die Partei der Swätojurzen*) nahm an Ausbreitung und Ansehen zu. Das
Organ dieser Partei, die zwei Mal wöchentlich zu Lemberg erscheinende, von
Bogdan Dedizki u. M. Ploschtschanski redigirte Zeitung „Slowo" hat voll¬
ständig das Aussehen eines russischen Journals. Die Lettern sind von den
in Moskau und Petersburg üblichen kaum zu unterscheiden und haben die
altslavonischen Schriftzeichen vollständig verdrängt, die Sprache schließt sich
der großrussischen genau an und nur das Feuilleton enthält zuweilen in der
eigentlichen Landesmundart geschriebene Artikel; der politische Theil bringt
neben polemischen Auslassungen gegen polnische und deutsch-östreichische Zei¬
tungen hauptsächlich Nachrichten aus Rußland und macht die Nussifications-
maaßregeln in Litthauen und Polen zu den Hauptgegenständen seiner Be¬
trachtung, nicht selten mit deutlicher Anspielung darauf, daß das jenseit der
Grenze gegebene Beispiel dereinst in Galizien nachgeahmt werden müsse. In
kirchlicher Beziehung wird das griechische Element in der unirten Kirche be-
sonders betont und auf Ausmärzung aller römisch-katholischen Einflüsse hin¬
gearbeitet; die unirte Geistlichkeit, welche nicht nur als nationale Lehrerin
in Betracht kommt, sondern das Hauptmaterial für die russischen Reichstags¬
und Landtagsmitglieder abgibt, ist von Alters her entschiedene Gegnerin des
Katholicismus und vergißt es nicht, daß der Druck, der auf ihr Volk Jahr¬
hunderte lang ausgeübt wurde, nicht nur auf nationalen Vorurtheilen be¬
ruhte, sondern den propagandistischen Eifer der Jesuiten zum Haupthebel hatte.
Die Partei der großrussisch gesinnten Swätojurzen ist trotz des Ein¬
flusses, den sie übt, in den niederen Classen aber noch nicht so einflußreich,
wie bei der russisch-galizischen Intelligenz. Die älteren Popen und Schul¬
meister bekennen zum Theil noch ein specifisch-kleinrussisches Glaubensbekenntniß,
halten an den Eigenthümlichkeiten ihrer Sprache und Literatur fest und
wünschen nicht sowohl mit den Großrussen, als mit ihren kleinrussischen
Brüdern vereinigt zu werden. Während die Swätojurzen direct nach Peters-
burg und Moskau blicken, sehen die Anhänger des Kleinrussenthums Kiew
für ihre eigentliche Hauptstadt an und erwarten von dorther das Heil. Be¬
kanntlich gibt es auch in Rußland selbst eine kleinrussische Partei; am Aus-
gang der fünfziger Jahre gründete der bekannte Kostomarow ein kleinrussisches
Journal „Oßnowa" welches sich zur Aufgabe machte, die Eigenthümlichkeiten
der kleinrussischen Sprache zu erhalten und auszubilden, eine Literatur dieses
Dialects und ein an die ruhmreichen Erinnerungen der Ukraine anknüpfendes
specifisch-kleinrussisches Bewußtsein zu schaffen. Dieses Bestreben sand anfangs
Anklang und wurde von einer Anzahl talentvoller Volksdichter und Novel¬
listen unterstützt, unter denen namentlich Marko Wowtschek genannt zu werden
verdient. Als die Moskausche Zeitung aber nach Niederschlagung des pol¬
nischen Aufstandes die neue, ausschließlich nationale Aera einleitete und ihre
Treibjagden nach „Separatisten" begann, wurden nicht nur die Finnländer,
Liv-, Est-, Kurländer, Greusier u. s. w. sondern auch die harmlosen Ukraino-
philen (so nannte man die kleinrussische Literatenpartei) als Staatsseinde und
Gegner der Reichseinheit denuncirt auf die Proscriptionsliste gesetzt. — In
Galizien machte der Fanatismus der Moskaner Publicisten, die dem Klein«
russenthum ohne allen Grund den Krieg erklärt hatten, einen peinlichen Ein¬
druck und die Journalisten des Slowo hatten alle Mühe denselben zu ver¬
wischen. Sie konnten aber nicht verhindern, daß ein Theil der galizischen
Parteiführer fortan eine reservirte Stellung einnahm und offen erklärte, bei
aller Einsicht in die Nothwendigkeit einer Annäherung an Rußland, auf die
Eigenthümlichkeiten des Vaterlandes nicht ohne Weiteres Verzicht leisten zu
wollen. Diese specifischen Kleinrussen denken sich das Verhältniß ihrer Hei¬
math zu dem Moskaner Grohrussenthum als ein förderatives, während die
Swätojurzen ganz direct auf das Aufgehen in den großrussischen Stamm
und den von diesem geschaffenen Staat losarbeiten. Während die Partei des
Slowo so rasch und überstürzt in das großrussische Lager übergangen ist, daß
die Masse der Nation ihr nicht folgen konnte, üben die Anhänger des Klein-
russenthums auf dieselbe schon darum beträchtlichen Einfluß, weil sie in der
Sprache des Volks reden und an dessen gewohnter Sprach- und Schreibweise
festhalten.
Beide Parteien vermeiden es der mächtigen polnischen Gegner wegen,
offen gegen einander aufzutreten, und obgleich die Kleinrussen in der Stille
von der östreichischen Regierung gegen die praktischen und gefährlichen Swäto¬
jurzen unterstützt werden, ist das äußere Verhältniß ein erträgliches. Die
ländlichen Popen und Schulmeister, welche die Details des Conflicts, nicht
verstehen, gehen mit beiden Richtungen und stehen jedes Mal unter d^em
Einfluß, der zur Zeit und am Ort der stärkere ist. Die Swätojurzen zeigen
im Allgemeinen größere Rührigkeit, laufen aber nicht selten Gefahr, dem
Verständniß des Volks entrückt zu werden, das erst in neuester Zeit für die
importirtre großrussische Literatur, mit der es überschwemmt wird, Verstand,
riß zu gewinnen begonnen hat.
Eine dritte Gruppe bilden die sogenannten historischen Ruthenen, welche
besonders unter dem halb-polnisirten, übrigens wenig zahlreichen russischen
Adel vertreten sind, zum Katholicismus neigen und an der geschichtlichen
Verbindung ihres Stammes mit dem Polenthum festhalten, ohne ihre Natio¬
nalität darum zu verleugnen. Daß sie eine Rolle spielen, hat seinen Haupt¬
grund in der Unterstützung, welche ihnen die Regierung und die Polen zu
Theil werden lassen, um ein Gegengewicht gegen das vordringende Russen-
thum zu gewinnen; Graf Goluchowski soll an der Bildung und Ausbrei¬
tung dieser Partei besonders lebhaften, wenn auch indirecten Antheil genom¬
men und namentlich die Preßorgane derselben begünstigt haben. — Erwähnt
sei noch, daß der größte Theil des ruthenischen Adels das Schicksal der edlen
Geschlechter Lithauens und Weißrußlands getheilt hat. d. h. vollständig und
nicht selten fanatisch-polnisch und natürlich auch katholisch geworden ist.
Viele berühmt gewordene polnische Adelsgeschlechter sind ursprünglich ruthe¬
nischen (oder, wie man früher sagte, rothrussischen) Ursprungs, u. A. die Fa¬
milie Sobieski, der der berühmte Befreier Wiens. König Johann, angehörte.
In den letzten Wochen hat die von Smolka geführte polnische Demokratie
einen Versuch zur Annäherung an die Ruthenen gemacht, auf welchen wir
in der Folge näher eingehen werden; die „historischen Ruthenen" würden
die natürliche Brücke zu einer Annäherung der beiden feindlichen Nationali.
täten bilden. — Russischer Seits wird gegen Alles, was nicht mit den Swäto-
jurzen geht, geeifert, am lebhaftesten natürlich gegen die „historischen Ruthe¬
nen"; erfahrenere und gemäßigtere Publicisten Petersburgs hört man übrigens
nicht selten darüber klagen, daß der blinde fanatische Eifer, mit dem die gro߬
russische Presse gegen das specifische Kleinrussenthum eifert und die Maaßlosig-
keiten der Swätojurzen durch Dick und Dünn vertheidigt, dem russischen
Staatsinteiesse in Galizien nicht selten empfindlichen Schaden gethan habe.
Seit dem Rücktritt Schmerlings ist das früher so innige Verhältniß der
Wiener Regierung zu den Ruthenen mehr und mehr gelockert worden; über
der Furcht vor Rußland und dessen panslawistischen Zukunftsplänen haben
die Grafen Belcredi und Reuse die Verdienste ihrer alten Verbündeten um
die Sache des Centralismus und das schwarzgelbe Banner ziemlich gründlich
vergessen. Selbst die Thorheit des vorjährigen Lemberger Landtags"), der
mit Austritt aus dem Reichstage und Anschluß an die Ungarische Reichs-
Hälfte drohte, hat die Rechnung des Reichskanzlers auf polnische Unterstützung
gegen Preußen und Rußland nicht durchstrichen und nach wie vor versucht
man in Wien aus der Hegung der im gesammten übrigen Europa proscri-
birten polnischen Nationalität eine Drohung gegen die beiden Nachbarstaaten
zu machen. Nur ein Mal — wenn wir nicht irren im Frühjahr vorigen
Jahres — wurde von Wien aus der Versuch gemacht mit den Selbständigkeits-
Bestrebungen der Ruthenen einen Compromiß zu schließen. Verschiedene
Blätter, die man für Organe von Regierungsstimmungen hielt, machten den
Vorschlag, die bisher einheitliche Verwaltung Galiziens aufzulösen und das
Land in zwei Hälften zu theilen. Der rein polnische westliche Theil des
Königreichs sollte Krakau zur Hauptstadt erhalten, Ostgalizien (wo die Polen
nur in den Städten eine compacte Masse bilden) von Lemberg aus ver¬
waltet werden. Der Plan war in doppelter Beziehung klug ausgesonnen.
Krakau. ist eine verarmende, von Jahr zu Jahr herabkommende Stadt, die
von der Errichtung einer größeren Anzahl höherer Justiz- und Verwaltungs¬
behörden einen gewissen Aufschwung zu erwarten hätte und deren Bürger
das neue Project darum mit Begeisterung aufnahmen. Die Ruthenen wur¬
den wiederum mit der Hoffnung geködert, eine selbständige Provinz zu bilden
und ihre Zukunftspläne wenigstens zum Theil unter der Aegide des Staats
ausführen zu können, der zur Zeit noch Herr im Lande ist. Trotzdem daß
das Localinteresse Krakaus an diesem Project einen Riß in die Einheit der
polnischen Partei zu bringen drohte, sah man demselben in Petersburg mit
entschiedener Besorgniß entgegen, denn kam die Trennung zu Stande, so
war es um das beste Theil des russischen Einflusses unter den Ruthenen
geschehen, zwischen diesen und dem Wiener Cabinet ein wenigstens vorläufiger
Frieden hergestellt.
Die Gründe, welche einen Verzicht auf diese viel versprechende Unter¬
nehmung herbeiführten, sind uns nicht näher bekannt. Genug, daß die Polen
gegen dieselbe Front machten und die Lemberger Journale ebenso eifrig
gegen den Eigennutz der Krakauer Spießbürger polemisirten, wie die Organe
der polnisch-preußischen Presse. Dem polnischen Patriotismus ist jeder Ge¬
danke an den Verzicht auf polnisch gewesenes Land in Galizien ebenso an¬
stößig wie in Westpreußen, Posen, Samogitien, Russisch-Litthauen und West¬
rußland. Der Glaube an die Möglichkeit einer Wiederherstellung der alten
Grenzen ihrer königlichen Republik gehört zu den unvertilgbaren Irrthümern
eigentlich aller polnischen Parteien und ist nicht der letzte Grund, aus dem
alle Erhebungs- und Consolidations-Versuche der letzten Jahre kläglich ge¬
scheitert sind. Er steht in dem engsten Zusammenhang mit jenem urtheils¬
losen Eigensinn des unglücklichen Volks, der jede Abschlagszahlung verschmäht
und das Wielopolskische System in Warschau ebenso zu Fall gebracht hat,
wie die Goluchowskische Politik in Lemberg. Wie groß der Einfluß ist, den
die Fabel von den „alten Grenzen" aus die Geschichte des Aufstandes (1863)
geübt hat, wissen die meisten polnischen Führer; sie hat an dem Abschluß
der preußisch-russischen Convention einen ebenso erheblichen Antheil gehabt,
wie an der russischen Nationalbegeisterung, die erst wachgerufen wurde, als
es sich um den Besitz der westlichen und nordwestlichen Provinzen (General-
Gouvernement Kiew und Wilna) handelte. Und dennoch hat es keiner dieser
Parteiführer gewagt, von der harten Lehre, die man empfing. Vortheil zu
ziehen und den Genossen Beschränkung auf die Territorien zu rathen, welche
noch von compacten polnischen Massen bewohnt werden.
Auf die neusten Vorgänge und die Rolle, welche die Todtenfeier König
Kasimirs gespielt hat, werden wir das nächste Mal ausführlich zurückkommen.
^.Ixkonzö Rover: Liswire universelle an lIMtrö. Band 1 u. 2. Paris,
Frank 1869.
Jener Zug nach dem Fremden und in die Fremde, wie er unserm
deutschen Volkscharakter eignet, hat in edleren deutschen Naturen immer nur
in Gestalt der Ueberzeugung oder der Fiction existirt, „daß alles Beste uns
national sei." Auch in der Periode buntester Nachahmungssucht tritt bei
ihnen das Bestreben leuchtend hervor, den Geist, den man daheim unter den
Verhältnissen traurigster Zersplitterung und Beschränkung nach allen Seiten
zu dämpfen suchte, durch einen frischeren Hauch aus der Fremde zu beleben.
Die Zeit aber, in der unsere Literatur zur Selbständigkeit zu erwachen be¬
gann, war zugleich die, in der sich zeigte, daß die höchsten literarischen Schätze
der Fremde auch uns ein theures Eigenthum geworden, oft noch mehr, als
sie es dem Lande geblieben, das sie einst erzeugt; daß der Geist, der aus
ihnen durch alle Jahrhunderte spricht, tief in Blut und Leben eingedrungen,
in unsern nationalen Schöpfungen sich neu verkörperte.
Dagegen sind unsere Nachbarvölker in ihrem gesammten Treiben
von dem umgekehrten Credo ausgegangen: daß Alles, was ihnen irgend¬
wie — durch Race und Klima, durch Gewohnheit oder Zufall — national
sei, auch das Beste sein müsse. Weshalb sie denn fast alle materiell und
geistig mit Erfolg colonisirt haben, indem sie die Weise fremder Nationen
mit entschlossener Hand durch ihre eigene verdrängten, während wir Deutschen,
gewohnt, im eigenen Vaterlande die localen und individuellen Eigenthüm¬
lichkeiten mit heiliger Scheu zu respectiren, in der Fremde mit dem frommen
Bestreben, „den Heiden auch Heiden zu werden", nur allzugründlich zum Ziele
gelangt sind; wenn wir auch andererseits um so besser verstanden, fremde
Kolonisten im eigenen Lande zu verwerthen. Besonders aber haben unsere
Nachbarn im Westen jenen Zug in ihrer Literatur bewährt, bei der wir
immer und immer wieder zu klagen finden, daß für die Würdigung fremder
Geistesarbeit das eigene nationale Herkommen der nächste und leider zumeist
einzige Maaßstab zu sein pflegte. Wo ein tüchtiges Werk diese Schranken
durchbricht und die literarischen Schätze anderer Nationen von höherem und
unbefangeneren Standpunkt aus redlich zu würdigen und so ein internatio¬
nales Verständniß im ächten Sinne anzubahnen sucht, verdient es unsere
ausdrückliche Anerkennung und in dieser Hinsicht freuen wir uns, auf einem
so wichtigen Gebiete, wie das der Literatur des Dramas ist, in dem sich
die Geister ohne Unterschied der Nation immer am leichtesten in ihren
höchsten Empfindungen begegnet haben, auf die in der Ueberschrift genannte
sehr achtungswerthe Erscheinung aufmerksam zu machen.
Man wird bei einem Franzosen von vorn herein weder die philologische
Akribie noch die philosophisch vertiefte Anschauung des deutschen Forschers
erwarten, ebensowenig den nüchternen Sinn des Engländers für die Ver¬
arbeitung historischer Details und die Kritik der praktischen Lebensweisheit.
Die Franzosen sind in unserer Zeit, wofür im Alterthume die Griechen den
übrigen Völkern galten, die geborene nMo eomosäa. Kein anderes Volk weiß
wie sie die gesellschaftlichen Zustände der unmittelbaren Gegenwart so photo¬
graphisch treu in Bühnenwerken wiederzugeben, darum, weil die Schaustellung,
auf die das wirkliche Leben bei ihnen in allen seinen Erscheinungen bewußtvoll
ausgeht, dem Leben der Bühne viel näher verwandt ist, als die Zustände
irgend eines anderen Volkes. Die Leichtigkeit, mit der ihre Feder jede Hand¬
lung samisch zu reproduciren weiß, hat dann freilich auch eine Verflüchtigung
und Veräußerlichung ihrer Arbeiten zur Folge, die wir Deutschen ihnen am
wenigsten vergeben. Ihnen bleibt eben die Bedeutung des Theaters wesent¬
lich die primitiv wörtliche: die Welt des Schauens. der glänzenden Formen
in überraschender Ausstattung, geschickt bewegter Action, elegantem Dialog;
die Forderung einer unverbrüchlichen ästhetisch-ethischen Idee überlassen sie
uns „Ideologen". Darum ist auch für sie eine Geschichte des Theaters
etwas wesentlich verschiedenes von dem, was wir unter einer Geschichte des
Dramas verstehen. Sie wird nicht wie diese darauf ausgehen, den dauernd
poetischen oder vorübergehend historischen Werth dramatischer Werke dar-
zulegen, sondern das relativ oder absolut Interessante daraus hervorzuheben.
Und da der Franzose daheim einen unverhältnißmäßigen Werth auf das
Glänzende der äußern Erscheinung und der geistigen Verkehrsformen legt, so
ist es natürlich, daß er bei fremden Nationen mit Vorliebe sich dem Glanz¬
vollen und Pikanten zuwendet. Wie sehr hiergegen das blos innerlich
Werthvolle zurückstehen muß, davon kann man sich überzeugen, wenn man
z. B. die Citate aus deutschen Klassikern bei den geistreichsten französischen
Autoren überblickt (eine Aufgabe, deren umfassendere Bearbeitung sich, bei¬
läufig gesagt, lohnen würde), oder noch einfacher, wenn man bedenkt, in
welchen Verkleidungen „Faust" und „Mignon" den Parisern zum ersten
Male genußrecht geworden sind. Und da er gern auch in seinen wissen¬
schaftlichen Arbeiten auf Leserinnen rechnet und so gut wie unser Dichter
weiß, „was ein weiblich Herz erfreue in der groß'Fnd kleinen Welt", so
liebt er es, dg.ut.es nouvsÄutss, wo er sie findet, in bunten schimmernden
Musterproben vorzulegen. Es ist, um es kurz zu sagen, in dem Bewußtsein,
nur daheim das ächt und tadellos Geschmackvolle zu haben, immer mehr oder
weniger unter dem Gesichtspunkte des Curiositätensammlers, daß er das
Fremde den Seinigen darbietet, weshalb seine ausgedehnteren Studien aus¬
ländischer schöner Literatur von Chateaubriand's „Mills du LKristiainsmö"
bis zu Victor Hugo's „Shakespeare" mehr lose aneinander gereihte, zier¬
lich ausgelegte Einzelheiten oder elegante Gedankenpromenaden, die mit
Grazie aus dem Hundertsten ins Tausendste sich verlieren, als organische
Schöpfungen sind.
Das vorliegende Werk geht, wie erwähnt, in seinen Absichten über diese
Traditionen hinaus, ohne sie jedoch in der Ausführung gänzlich zu verleug¬
nen. Hat doch Herr Royer in früheren Jahren mit Vorliebe fremdländische
Stoffe zu Novellen verarbeitet, namentlich in pikanten Zügen ein Bild des
Orients zu geben gesucht; lockt doch auch er sein Publicum damit, daß er
interessante Details. Entdeckungsreisen in Gebiete verspricht, die zum Theil
ganz unbekannt und unzugänglich waren, — sein Publicum, das nicht nur
aus Gelehrten, sondern aus allen, die das Theater nur als einen angenehmen
Zeitvertreib betrachten, bestehen müßte. Ein solches Publicum dürfte denn doch
wohl in Deutschland selbst für einen Verfasser populärster Vorlesungen zu gemischt
gelten; irgend etwas von ästhetischen und idealen Principien würde er ihnen
doch anmuthen oder als Grundlage darbieten, und daß auch solche sich po¬
pulär und zierlich geben lassen, zeigt die Einleitung zu A. W. Schlegels
sonst ja oft hinlänglich französtrenden Vorträgen. Aber die Voraussetzung
oder Mittheilung von ästhetischen Principien weist Herr Royer auch noch
ganz ausdrücklich zurück, wie uns dünkt, nicht ohne ein gewisses Hohnlächeln
für unseren deutschen Brauch. Es ist jedoch unausbleiblich, daß sich dies in
der Folge rächt; ohne Kritik kann nun einmal auch eine Literaturgeschichte
nicht bestehen, und gerade an Stellen, wo ein auf festen Principien ruhen¬
des, tief eingehendes ästhetisches Urtheil unumgänglich war, sieht sich der Ver¬
fasser meist von dem seinigen verlassen und genöthigt, auf die Aussprüche an¬
derer französischer Autoritäten, wie Guizot, PH. Chasles u. A. hinzuweisen,
die freilich für den deutschen Forscher nicht immer als vollwichtig zu gelten
vermögen.
Indeß wir sind in Hinsicht auf fremde literaturgeschichtliche Werke doch
in unseren Ansprüchen oft übermäßig heilet. Ich erinnere nur daran, wie
wenig sich z. B. das große Werk Mures über altgriechische Literatur trotz
Welckers gewichtiger Empfehlung bei uns Anerkennung verschafft; wir soll¬
ten aber bei jenem Buche, und so auch hier berücksichtigen, wie viel der
Verfasser für seine Landsleute geleistet, und werden dabei bald inne werden,
wie viel der von dem unsrigen so verschiedenartige Gesichtspunkt des fremden
Forschers auch für uns Beachtenswerthes und Belehrendes in sich schließt;
und da wir in unseren dramatischen Theorien nur zu oft die Rücksicht auf
das samisch Wirksame vernachlässigen, so muß es uns von besonderer Wich¬
tigkeit sein, die Ansichten eines der erfahrensten französischen Bühnentechniker
kennen zu lernen. Das ist Herr Royer; was ihn aber vor seinen Lands¬
leuten noch vortheilhaft auszeichnet, ist sein Bestreben, den absoluten Werth
ausländischer dramatischer Production zu erkennen und zur Geltung zu
bringen, ein Bestreben, das er seit Jahren durch die That bewährt hat. Als
früherer Director des Ooeontheaters ist er es namentlich gewesen, der fremde,
auch deutsche Dramen dem Pariser Repertoire einzuverleiben suchte. Und
wenn er sein Publicum so gut kannte, daß er ihm immer nur die wirksamsten
Bearbeitungen darbot und späterhin, zum Director der großen Oper berufen,
auch dieser die ergiebigsten Einnahmen zu eröffnen verstand, so bleibt es doch
ein ehrendes Zeugniß sür ihn, daß er bei alledem den Sinn für das Aechte
und Höchste in der dramatischen Kunst sich gewahrt und im vorliegenden
Buch ausdrücklich den Zweck verfolgt, die dramatischen Schöpfungen des Aus¬
landes von allen verstümmelnden und verunstaltenden Bearbeitungen zu eman-
cipiren und jedes werthvolle Werk in seiner Integrität genießbar zu machen.
Hier reicht ihm der Deutsche die Hand: das sind die Wege Lessings und
Schröters, auf denen auch unser jüngster Dramaturg Lorbeeren gepflückt,
die uns in seinem Werke über das Hofburgtheater zu dauerndem Nutzen
aufbewahrt bleiben.
Herr Royer glaubt an den edlen und hohen Beruf der Schaubühne
und sucht überall nachzuweisen, wie eine Verachtung und Verdammung der¬
selben immer nur aus einem zeitweiligen Verfall des Dramas sich erzeugen
konnte. Darum ist er sich auch bewußt und bekennt es mit einer musterhaften
Freimüthigkeit, wie tief das moderne französische Drama an unmoralischen
Elementen krankt und wie wenig die bloße elegante Form den Mangel an
ächtem Gehalt ersetzen kann. Das Gefühl von der Würde eines Vorwurfs
verläßt ihn nie und gibt seinem Stil eine gewisse Weihe; überall findet man
Aufrichtigkeit und Wärme, nirgend Pedanterie und hohle Phrase. Dabei
liest sich das Buch — auch anderwärts ein seltener Fall — in allen Theilen
gleich interessant; und doch zeigt Herr Royer sehr wenig von dem Brillant¬
feuerwerk blendenden Esprits, mit dem seine Landsleute die nichtigsten wie
die gewichtigsten Materien überschütten; ja er scheint es geflissentlich zu ver¬
meiden, auch wo die Sache selbst dazu einläd, diesen leichten Flug zu wagen.
Dafür versteht er die Kunst, in seiner ernsten Weise gut zu gruppiren und
die dramatischen Situationen, deren Wirksamkeit er in praktischer Thätigkeit
erfahren, selbst zu uns reden zu lassen. Holtet sagt einmal, um sich zu ent¬
schuldigen, daß er einige seiner geringeren Sachen wieder drucken lassen, es
fänden sich oft auch in sonst unbedeutenden Stücken vereinzelte Motive und
Anregungen, um deretwillen ein Kenner sie nicht ungern erhalten sehen
würde. Solche Motive weiß Herr Royer mit besonderem Geschick zu finden
und hervorzuheben und er begnügt sich, dies zu thun, wo die Analyse des
ganzen Stückes unerquicklich oder anstößig wäre. In der That mußte näm¬
lich vieles sehr skizzenhaft gehalten werden, da der ganze ungeheure Stoff in
fünf Bänden bewältigt werden soll. Der Verfasser beherrscht sein Material
dergestalt, daß die zwei vorliegenden Theile wirklich bereits bis zur Schließung
der englischen Bühne durch die Puritaner führen. Seine Auswahl ist immer
taetooll und ohne grobe Lücken; bei bedeutenderen Werken versäumt er nie,
zu eigener Durchforschung anzuregen.
Am kärglichsten ist das römische und griechische Alterthum weggekommen.
Es lag dies, wie der Verfasser versichert, ausdrücklich in seinem Plane, „weil
die Werke, die uns aus dieser Epoche geblieben, allzubekannt seien", — ein
Axiom, nach dem Herr Royer auch an späteren Stellen verfährt, das aber
mit dem oben ausgesprochenen Hauptzweck des Buches gerade hier am
wenigsten in Einklang zu bringen war. Eine tiefere Würdigung der antiken
Dramen, vielleicht selbst Wiederaufführungen der bedeutendsten anzubahnen
(meines Wissens ist nur mit der Antigone ein sehr vorübergehender Versuch
gemacht worden) würde in Frankreich, dessen classische Tragödien so viele
Irrthümer über das antike Wesen in Geltung erhalten haben, besonders
verdienstlich gewesen sein. Doch liegt, die Wahrheit zu sagen, dieses Gebiet
überhaupt den Studien des Verfassers ferner; wenigstens kommen hier aller¬
hand unerfreuliche Versehen vor; wir wollen nur das stärkste notiren: wenn
er sagt, Sophocles habe den Menschen wie er ist, Euripides dagegen den
Menschen wie er sein sollte zeichnen wollen, so ist das ein bon mot, das auf
einen Lesefehler in des Aristoteles Poetik zurückzuführen scheint, wo vom
Gegentheil die Rede ist.
Auch das indische und chinesische Theater wird nur im Umriß dargestellt,
wenn schon um vieles genügender. Es folgen die neulateinischen Dramen
in guter Uebersicht; der Christos paschon („ohnehin ein griechisches Werk")
wird kurz abgefertigt, dagegen ist Hroswitha als „ein Stern ohne Gleichen
an diesem Wolkenhimmel der dramatischen Kindheitsperiode" warm gewürdigt,
ohne daß freilich der Verfasser in der Frage nach der Aechtheit ihrer Komö¬
dien bestimmte Stellung zu nehmen vermag.
Die Glanzpartie der vorliegenden Bände ist die Darstellung der Mysterien
und Passionsspiele. Daß die Worte eines unserer jetzigen deutschen Historiker,
die er seinen Schülern zuzurufen pflegte: „Der Prüfstein des ächten Ge¬
lehrten sei das Maaß von langer Weile, das er zu ertragen vermöge", kein
bloßer Scherz sind, wird jeder, der sich in die Massen jener weitschichtigen
und monotonen Dichtungen selbst einzuarbeiten versuchte, mit Seufzen er¬
fahren haben. Hier hat nun Royer zum ersten Mal vereinigt, was auf der
Pariser Bibliothek von Materialien vorhanden war und dieselben in vor¬
trefflicher Ordnung beschrieben, überall interessante Stellen hervorgehoben und
zu der weiteren Durchforschung und Verwerthung vieler nie abgedruckter und
fast unbenützter Manuscripre als einer Aufgabe, Schweißes der Edlen werth,
die nachdrücklichsten Hinweise gegeben. Gern wollen wir ihm dafür zu gute
halten, wenn er bei einer Handschrift von mehreren Myriaden Versen be¬
kennt, er habe, da sie schwierig zu entziffern sei, erst angefangen, sie zu lesen;
ein Bekenntniß, das deutschen Gelehrten seltener begegnen wird. Auf
die Jnscenirung der Mysterien, worüber bekanntlich noch sehr entgegen¬
gesetzte Ansichten herrschen, ist er näher eingegangen und hier kommen ihm
die Erfahrungen seiner Bühnenleitung besonders zu statten. Wichtig ist, daß
er für jene Aufführungen im Widerspruch zu der noch immer landläufigen
Meinung von einer Uebereinandersetzung verschiedener Bühnen die Neben¬
einanderstellung derselben definitiv nachweist.
Herr Royer ist trotz seines Geschmackes für die Reize der Fremde doch
durch und durch Franzose und die altfranzösischen Mysterien gelten ihm für
schöner als die aller anderen Länder. Auch die weltliche altfranzösische
Literatur stellt er sehr hoch. Es ist seine besondere Freude, die Anfänge der¬
selben wieder aufgraben zu helfen, und er ruft seinen Landsleuten mit pa¬
triotischem Kummer zu, wie es möglich sei, daß in Deutschland und Italien
Lehrstühle für dieses Idiom existirten und ein deutscher Professor (Bartsch)
eine sorgfältige Chrestomathie desselben habe herausgeben können, während in
Frankreich die Universität es vernachlässige und die große Menge es für
barbarisch ansehe.
Die synchronistische Darstellung des Buchs erweist sich schon auf dem
Gebiete der Mysterienliteratur, wo der Einfluß der verschiedenen Nationen
aus einander deutlich hervortritt, als die richtige. Wie irrig es für die späteren
Zeiträume ist, die Geschichte des Dramas in Monographien zu zerlegen,
welche die Nationen getrennt behandeln, ist von anderer Seite schon klar
genug nachgewiesen worden. Doch können wir nicht sagen, daß wir in der
Zerstückelung des Stoffs nach Jahrhunderten, wie sie sich bei Royer findet,
überall das Richtige sehen. Es mußten hier öfter größere Zeiträume zu¬
sammengefaßt, mitunter auch bei kleineren stillgestanden werden, wie das auch
gegen Ende des zweiten Bandes dem Verfasser selbst zum Bewußtsein ge¬
kommen ist.
Für das Studium ausländischer Theaterstücke in minder zugänglichen
Sprachen hat Herr Royer befreundete Männer zu Rathe gezogen; so für die
altniederländischen Dramen (die uns theils aus einem Breslauer Abdruck,
theils in Haupts Zeitschrift bekannt geworden) Herrn Victor Wilder, den
bekannten Wiederentdecker der „Gans von Cairo"; für das slavische Theater
Herrn Alexander Chodzko. Freilich haben sie ihm nach diesen beiden Richtungen
nur spärliche Auszüge mitgetheilt. Um so bedeutendere Ausbeute hat dagegen
Herr Chodzko auf dem Gebiete der persischen Mysterien geliefert. Hier galt
es denn auch eine wirkliche Bereicherung des Literaturstoffes. Die Epoche
aus der diese Mysterien, oder wie sie ursprünglich heißen, leaöiäs, stammen,
ist freilich kaum annähernd zu bestimmen. Nach der Aussage persischer Ge¬
lehrter sind sie ursprünglich arabisch in sehr früher Zeit zum Preise der
Allem geschrieben und vor einem schulischen Publikum aufgeführt worden.
Sie sind durchweg stilvoll und ergreifend in ihrer lyrischen Einfachheit. Das
erste heißt „der Bote Gottes"; da wird durch den Engel Gabriel dem
Propheten Muhamed eröffnet, daß seine beiden Enkel nach Gottes Rathschluß
für die Erlösung der islamitischen Völker sterben sollen, und er nicht nur
selbst dies billigen, sondern auch die Zustimmung der Eltern, ihre Kinder in
den Tod zu geben, erlangen müsse. Am schwersten erreicht dies Muhamed
bei der Mutter, deren Klage wahrhaft erschütternd ist. — Es folgt „der
Tod des Propheten". Da bietet Muhamed, der aus Versehen einen Beduinen
geschlagen, diesem zur Ausübung des Vergeltungsrechtes seinen Rücken dar,
und nachdem er so der menschlichen Gerechtigkeit genuggethan, überliefert er
sich der göttlichen, dem Todesengel, so sehr seine Tochter diesen abzuwehren
sucht, mit der Bitte, um seinetwillen das Volk zu verschonen.
In dem nächsten Stücke, der „Usurpation Abubekrs" wird dargestellt,
wie dieser Fürst, nach schulischen Begriffen im unrechtmäßigen Besitz des
Kalifats, dem rechtmäßigen Erben Ali nach dem Leben trachtet und nur
durch eine Stimme, die aus den Tiefen der Erde zu ihm spricht, abgehalten
wird, die Hinrichtung desselben vollziehen zu lassen. Es folgen ferner
Märtyrergeschichten wie der Tod Alis, der Tod Moslems und seiner Söhne,
endlich „das Haupt des Imaus Hussein", in welchem Stücke Adam, Abraham,
Christus, Moses. Muhamed, Eva und die Jungfrau Maria auftreten. Diese
alle nämlich kommen, um dem abgeschnittenen Haupte jenes Märtyrers ihre
Trauer zu bezeugen, das seinerseits ihnen in frommer Rede antwortet. Die
Scene ist in einem Kloster, wo das Haupt einstweilen niedergelegt worden;
der Prior desselben, geblendet von all den wunderbaren Prophetenvisionen,
die sich seinen Augen darbieten, tritt am Schlüsse des Stücks zum Islam
über. In der Würde und Feinheit des Gefühlsausdrucks zeigen diese Dramen,
für deren geschmackvolle Analysen wir Herrn Royer besonders dankbar sind,
ebensowohl eine Verwandtschaft mit der antiken Tragödie, wie in ihrer Ten¬
denz andererseits mit den mittelalterlichen Mysterien.
Zu dem abendländischen Theater zurückkehrend zeichnet Herr Royer mit
vieler Klarheit den Uebergang aus der Periode des Glaubens in die des
Zweifels und der kirchlichen Opposition, wie er sich auf diesem Gebiete dar.
stellt. Einen wärmeren Antheil vermag er freilich als guter Katholik, dem
die Greuel der Bartholomäusnacht durch den Scheiterhaufen Servets wett
gemacht erscheinen, an den revolutionären Leistungen nicht zu nehmen, doch
hat er den Inhalt des „kranken Papstes" von Theodor Beza, (eines Stückes,
das trotz der Bekanntheit seines Titels bei der Seltenheit des Buches nur
sehr Wenigen zu Gesicht gekommen ist) durch gute Reproduktion wieder in
Erinnerung gebracht. Hier sängt nun die deutsche Literatur an, sich in
deutlicheren Umrissen zu zeigen und wird im folgenden Bande bis zum Ende
des 16. Jahrhunderts (den Schluß bildet eine Scene aus der „Susanne"
Herzog Heinrichs von Braunschweig) fortgeführt. Sie ist meist nach Kurz
dargestellt. Bei Gelegenheit des Hans Sachs, dessen Charakteristik er seinen
Landsleuten sehr mit Recht im Anschlusse an das goethesche Gedicht gibt,
rügt er nachdrücklich, daß sich kein Exemplar der Originalausgabe seiner
Werke auf der Pariser Bibliothek befinde. — Auslassungen wären öfter an¬
zumerken; eine gewisse Unsicherheit zeigt sich namentlich in den Streiflichtern,
die gelegentlich auf die späteren Epochen fallen. So sollte z. B. einem
Literaturhistoriker von Goethes Studium der alten deutschen Volksbücher
aus Wahrheit und Dichtung so viel bekannt sein, daß er nicht behaupten
dürfte, unser Dichter habe gewähnt, das Liebesverhältniß des Faust zur
Helena zuerst erfunden zu haben. — Volle Gerechtigkeit spendet Royer uns
Deutschen für das Verdienst, Shakspeare zuerst wieder zu Ehren gebracht
zu haben. Auch mit der blinden Shakspearemanie, die er uns in der Folge
vorwirft, hat er leider im Allgemeinen nicht unrecht, was unsere neueste
Geschichte des Dramas zur Genüge beweist; wenn er aber behauptet, Frank-
reich allein habe den Dichter gewissenhaft und nach Gebühr beurtheilt, so
dürfen wir, weil das eine unsrer starken Seiten berührt, schweigen, ohne
für überzeugt zu gelten. Seine Charakteristik Shakspeares und seiner Werke
ist skizzirt, aber nach dem Plan des Buchs, Bekannteres nicht ausführ¬
licher zu behandeln, in ihrer Art genügend; nur sind die Quellen seiner
Dramen für ein wesentlich historisches Werk zu wenig berührt. Vereinzelt
steht die interessante Vergleichung des Cymbeline mit dem altfranzösiichen
Mirakelspiel „Otho König von Spanien" und der Lopeschen LastölvineZ /
Nontöses mit Romeo und Julia. Bei Besprechung der apokryphen Werke
hätten gerade die bedeutendsten, wie Oldcastle und London Prodigal nicht
fehlen dürfen.
In der italienischen Literatur wird man viele Namen kleinerer Geister,
aber keinen von hervorragender Bedeutung vermissen; mit Vergnügen aber
mißt man die Nacherzählung der zahllosen Schmuzereien. die auf diesem Ge¬
biete zu finden und von Rhyparographen so vielfältig mit unerfreulichster
Sorgfalt zu Tage gefördert worden sind; an guten Inhaltsangaben und
Mittheilung interessanter Scenen fehlt es auch hier nicht. Auf dem Gebiete
des spanischen Theaters ist Royer durch gute Vorarbeiten bekannt und gibt
besonders anziehende Schilderungen über Cervantes und Lope. Hinsichtlich
des portugiesischen hat er das Verdienst, den Gil Vicente. um derentwillen
einst Erasmus portugiesisch lernte und den er unter seinen Zeitgenossen für
den größten Dramatiker erklärte, der aber trotzdem noch in keine fremde
Sprache übersetzt worden, wieder gründlich gelesen und durch elegante Aus-
züge (solche fehlen übrigens doch auch uns nicht ganz) erneutem Studium
empfohlen zu haben.'
Das classische französische Tbeater ist in seinen Anfängen geschildert;
hier erwarten wir in der Ausführung von Herrn Royer wirklich Hervor¬
ragendes, da er sich von den Vorurtheilen der classischen Schule völlig eman-
cipirt zeigt und uns nicht mit überflüssigen Lobreden dieser Dichtung zu lang¬
weilen, wohl aber ihre Stellung und ihren Einfluß neu zu charakterisiren
verspricht.
So ist denn das Werk, wie viele Ausstellungen auch dem Philologen
und Historiker daran noch übrig bleiben, eine unzweifelhaft interessante und
werthvolle Erscheinung, die wir selbst Angesichts der neuesten preisgekrönten
Geschichte des Dramas aus deutscher Feder durchaus nur mit warmer
Achtung zu begrüßen haben, denn seine Lichtseiten, die wir hier gern hervor¬
gehoben haben, sind es gerade, die dem Kleinschen Buche mehr als billia und
erträglich ist, abgehen. An gelehrten Kenntnissen ist Klein Herrn Royer
sehr überlegen, wie denn bei diesem zuweilen recht derbe Schnitzer begegnen;
an Bildung übertrifft er ihn weitaus. Seine Combination des Materials
ist klar und reizvoll, der Stil von einer Würde und Anmuth, wie sie jedes
ästhetische Object, namentlich eine Geschichte der schönen Literatur, gebieterisch
fordert, der Stoff derart beherrscht, daß auch bet knappen Umriß überall das
Wesentliche hervortritt und doch durch angemessene Details belebt, durch die
neuesten Entdeckungen bereichert wird.'
An dem Buche des Herrn Klein dagegen könnte der Leser die bei aller
Mannhaftigkeit unsorgfältige Compilation, die Unsicherheit des Planes, die
Langeweile der Analysen nur dann in Kauf nehmen, wenn nicht der Ein¬
druck der Zuchtlosigkeit und der Neigung zum Unflätigen, die des Ver¬
fassers geschmacklos vordrängende Polemik macht, den Glauben an sein Urtheil
in ästhetischen Dingen überhaupt verdürbe. Es ist hart, zu gestehen, daß das
französische Werk trotz seiner bescheideneren Anlage für das empfangende
Publicum werthvoller ist als dieses gleichzeitige deutsche, das, wenn fort¬
gesetzt wie angefangen, alle Aussicht hat, eine Nationalcalamität zu werden,
selbst wenn noch ein Dutzend Academieen Herrn Klein zum Ehrenmitglied
ernennen sollten.
Die Wandgemälde des Landgrafensaales auf der Wartburg
von Moritz von Schwind. In Holz ausgeführt von A. Gader, Text von Arns-
wald. II. Aufl. Verlag von A. Dürr in Leipzig.
Wenn der Geschmack unseres Publikums an historischer Malerei und sein Glaube
an die Fähigkeit monumentalen Wandschmuckes im großen Sinne wieder so lebendig
wird, wie er bei unseren Altvordern gewesen, dann wird man Moritz v. Schwind
ein gut Theil Verdienst daran zuschreiben müssen. Denn wie dem Vvlksverständniß
die höchsten Wahrheiten durchs Herz vermittelt werden, so leitet auf bildnerischem
Gebiet der Anblick des Edel-Anmuthiger am sichersten zum Erhabenen an. Diese
Empfindung wird Jeder mitnehmen, der die bunte Menge der thüringer Wanderer
vor den Gemälden der glücklich erneuten Wartburg beobachtet. Die Bilder des
Landgrafcnzimmers, die, als Teppichfries gedacht, an den Wänden dieses festlichen
und doch traulichen Raumes entlang ziehend große Erinnerungen des Fürstenhauses
erzählen, das dort blühte, gehören ohne Frage zu den gelungensten und über¬
zeugendsten Arbeiten des Meisters, der eben jetzt wieder ein großes Werk höherer
Decorationskunst im Wiener Opernhause vollendet. Hier bewährt Schwind in der
Weise, wie er die Chronik bildlich wiedergibt, dieselbe Kunst, die seine reizende
Mährchenerfindung auszeichnet. So deutlich und einfach er seine Gegenstände aus¬
spricht, immer haben sie eine Fülle von guter Laune und herziger Munterkeit, die
unwiderstehlich wirken. Und es ist erfreulich, wahrzunehmen, daß dieser Eindruck
nie durch Beimischung fremdartiger Elemente hervorgerufen wird, sondern durchaus
durch die Sache selber und durch rein künstlerische Mittel. Der Gruppenbau der
Figuren steht wie die gesammte malerische Behandlung des Cyklus stets im Einklang
mit der Eigenthümlichkeit der Flächen, die er benutzt, die Stilisirung ist auch dem
ungeschulten Auge so verständlich, daß es sie kaum als solche gewahr wird, das
Kostümliche ist bei aller Neuheit der Erfindung sofort geläufig, Landschaft und
Beiwerk anmuthend und geschmackvoll. So bekommen denn in der That die besten
dieser Bilder — Schmidt von Ruhla, Eselsuche, Friedrich der Freudige — völlig
die Klassicität der Volksbücherpoesie, die dem Gebildetsten nicht leer, dem Unge¬
bildetsten nicht schwer ist, sondern Allen genußreich. — Die Gader'schen Holzschnitte
sind ganz geeignet, die Sprache der Originale klangvoll wiederzugeben, wie denn
überhaupt keine bessere Vervielfältigungsart dafür zu finden wäre. Der Text, der
dem entsprechend vielleicht etwas mehr Chronikalisches hätte bewahren können,
bemüht sich, dem Eindruck mit Wärme zu folgen; das Ganze — elegant-geschmack¬
voll wie Alles, was die Verlagshandlung bietet, — ist als Kunstwerk und als
Gedenkstück liebenswert!) und verdient besonders in der Zeit der Reisen, die Thüringen
und zumal die Wartburg bevölkert, neu in Erinnerung gebracht zu werden. —
Wenn Regierungen und Völker Europas vor zwanzig und vor dreißig
Jahren nach den Neuigkeiten aus Paris fragten, so geschah das, weil der
Lauf der Dinge in der französischen Hauptstadt auf die innere Entwickelung
der übrigen Staaten Einfluß übte und man von ihnen lernen zu können
glaubte. Heute hat dieselbe Frage eine wesentlich andere Bedeutung. Man
wirst sie auf, weil man wissen will, ob es mit der Verzweiflung der Fran¬
zosen an sich selbst, bereits so weit gekommen ist, daß sie nach einer auswär¬
tigen Verwickelung greifen müssen, um ihren inneren Bankerott zu maskiren.
Sieben Wochen sind seit den Hauptwahlen zum gesetzgebenden Körper
Frankreichs vergangen und noch immer gestehen die genausten Kenner fran¬
zösischer Dinge achselzuckend ein, daß die Lage sich nicht übersehen lasse.
Charles de Mazade hat das Geheimniß dieser Lage in ein kurzes aber treffen¬
des Wort zusammengefaßt: „I/adLönee ü'dominos capables as 5-6 wesurer
avölz les oireoustg.i»och> Weder der Kaiser noch die Nation vermag Männer
ausfindig zu machen, die genau wissen, wie dem kranken Staat zu helfen ist
und deren Namen irgend geeignet wären das Vertrauen des Landes zu wecken.
Die Hauptwahlen fielen im Sinne der extremen Parteien aus, die entweder
blindes Vertrauen zu der kaiserlichen Regierung oder unversöhnliches Mißtrauen
gegen dieselbe auf ihre Fahnen «/schrieben hatten; die Nachwahlen zeigten,
daß die Franzosen vor den Consequenzen ihres eignen Willens zurückschreckten,
sobald dieselben klar zu Tage lagen und sprachen sich demgemäß im Sinne des
gemäßigten Liberalismus und eines monarchischen Constitutionalismus aus; die
bisherige Opposition, die man noch eben desavouirt hatte, erhielt eine Art von
Vertrauensvotum. Dann folgten jene halb revolutionären, halb kindischen Auf¬
tritte in den Straßen von Paris, welche einige Tage lang ganz Europa beschäftig¬
ten und dann vergessen wurden, noch bevor man nur über ihren Ursprung und
ihre Bedeutung ins Klare gekommen war. Alle Welt erwartete eine Meinungs¬
äußerung darüber, wie der Kaiser die Lage auffaßte, aber der Kaiser schwieg
hartnäckig und wenn er sprach, schien er den Leuten sagen zu wollen: Ich
weiß selbst nicht, was ich denken soll. Das Schreiben an den Baron Mackau.
eines der jüngsten und unbedeutendsten Mitglieder der bisherigen Ma¬
jorität, ließ ein striktes Beharren bei dem bisherigen System und dessen
Männern erwarten; der Brief an den Präsidenten Schneider betonte dagegen
das Gewicht, welches der Kaiser auf die Meinung des gesetzgebenden Körpers
legte. Dann erfolgte der Zusammentritt dieses Körpers und eine wilde
Fluth von Drohungen und Unzufriedenheitsäußerungen' ergoß sich über die
Regierung, welche trotz der verwerflichen und unredlichen Mittel, die sie
beim Wahlkampf angewandt hatte, moralisch unterlegen war. Das Gefühl,
daß es in der bisherigen Weise nicht fortgehen könne und daß eine Entschei¬
dung, eine verhängnisvolle Krisis des inneren Staatslebens bevorstehe, be¬
mächtigt sich aller Theile der zu den Wahlprüfungen einberufenen Volks¬
vertretung. Bis in die Reihen der Majorität greift die Furcht um sich,
hinter den Verhältnissen zurückzubleiben, von deren Entwickelung sich doch
Niemand eine deutliche Vorstellung machen kann und denen Niemand ge¬
wachsen ist. Die Tiers-Partei bringt eine Jnterpellation ein, welche Ver¬
antwortlichkeit der Minister verlangt; nach einem Augenblick verlegenen
Schweigens drängt man sich von allen Seiten zur Unterzeichnung derselben,
selbst die Majorität wird mit fortgerissen und identificirt sich mit einem
Verlangen, welches über dieselbe Politik, zu der sie sich bisher bekannt hatte,
rücksichtslos und unbarmherzig den Stab bricht. Herr von Mackau, der
Musterdeputirte von Vorgestern, der Mann, den der Kaiser zum Zeugen für
die Nothwendigkeit seiner Unnachgiebigkeit aufgerufen hatte, unterschreibt, der
Herzog von Mouchy unterschreibt auch und ihnen folgt eine ganze Anzahl von
Leuten, die eingestandener Maaßen die Wetterfahne zum Regulator ihrer
Handlungen und Meinungen gemacht hat. Die Regierung, deren Weisheit
bisher darin bestanden hatte, leise Winke zu ignoriren und es zum Aeußersten
kommen zu lassen, ehe sie von ihrer vorgefaßten Meinung abgeht, — die
Regierung wartet nicht einmal ab, daß diese Jnterpellation der Kam¬
mer übergeben und nach förmlicher Constituirung derselben in den Bu¬
reaus geprüft wird; sie antwortet, noch bevor sie eigentlich gefragt
worden ist, und antwortet mit einer ganzen Reihe von Zugeständnissen,
die sowohl den Einfluß des gesetzgebenden Körpers auf, die Staats¬
verwaltung erhöhen, als dem Selbstgefühl des Hauses genug thun sollen.
Während ganz Paris unter dem Eindruck dieser kaiserlichen Botschaft
steht, die verschiedensten Ansichten über dieselbe abgegeben werden, die
öffentliche Meinung sich noch nicht geklärt hat, heißt es bereits, daß das alte
Cabinet in voller Auflösung begriffen sei und daß der Kaiser sich nach neuen
Rathgebern umsehe. Den Grund dieser Eile weiß Niemand anzugeben, denn
noch sind die Wahlprüfungen nicht beendet, noch ist die neue Kammer nicht
constituirt, noch sind die kaiserlichen Zugeständnisse nicht an den Senat ge¬
gangen, der diese Verfassungsänderungen begutachten und registriren soll. Noch
mühen Journale und parlamentarische Clubbs sich mit der Aufstellung mehr
oder minder unwahrscheinlicher Ministerlisten ab und schon steht eine neue'
Ueberraschung vor der Thür: das officielle Journal kündigt die Ver¬
tagung der Kammer so brüsk und so unerwartet an, daß nicht nur die
Opposition zu leidenschaftlichen Aeußerungen des Aergers und der Un¬
zufriedenheit gedrängt wird, sondern selbst hoch kaiserliche Arkadier aus
ihrer Verstimmung kein Hehl machen. Die fünfundfünfzig ungeprüft ge¬
bliebenen Mandate gehören meist den Gliedern dieser Partei an und der
Kaiser muß dieselben in sein Haus laden, um sie durch persönlichen Zuspruch
zu begütigen. Statt der Pause, die nach dieser athemlosen Hast gouverne-
mentaler Entschließungen von allen Seiten erwartet wird, erfolgt endlich die
Bildung des neuen Cabinets! Und dabei sind die zahlreichen Zwischenfälle
und Episoden, welche auf kaiserliche Berathungen mit Staatsmännern der einen
und der anderen Richtung kommen, nicht einmal mitgezählt.
Die widerspruchsvollen Maaßregeln der Regierung sind einander so rasch
gefolgt, daß Urtheile über ihr Facit bis jetzt noch nicht gefällt worden sind,
ja eigentlich auch nicht gefällt werden konnten. Der alte Thiers hatte ganz
Recht, wenn er behauptete, die Situation in den Tuilerien habe sich alle
zwei Stunden verändert und eine Nachricht über die Lage, wie sie morgens
um zehn Uhr gewesen, sei um zwölf Uhr veraltet, um zwei Uhr Nach¬
mittags bereits vergessen. Gegenwärtig steht die Zusammensetzung des neuen
Cabinets im Mittelpunkt der allgemeinen Aufmerksamkeit und in der That
ist sie geeigneter zals alles Uebrige, um die Stellung der Regierung zu
charakterisiren.
Die kaiserliche Botschaft verleiht der Volksvertretung eine Reihe neuer
Rechte, deren relativer Werth von allen Seiten und namentlich von der eng¬
lischen Presse anerkannt worden ist. In Frankreich hat man das Haupt¬
gewicht auf die Bestimmung gelegt, welche die Vereinbarkeit des Minister¬
postens mit der parlamentarischen Thätigkeit ausspricht und von der man
auf die Wahrscheinlichkeit oder doch Möglichkeit eines constitutionellen Ma¬
joritätenregiments schloß. Wir lassen ununtersucht, ob und in wie weit ein
solches für Frankreich heilsam wäre — daß der Kaiser daran noch nicht gedacht
hat. ist zweifellos. Die Spannung, mit der die Franzosen der Bildung des
neuen Cabinets entgegensahen, beweist sogar, daß sie selbst sehr genau wußten,
die Ministerliste werde nicht aus der Majorität, sondern aus der kaiserlichen
Willkür hervorgehen. Steht die Sache doch überhaupt so, daß die Bedeutung der
gegenwärtigen Krisis, nicht sowohl darin besteht, ob und in wie weit das neue
System einen constitutionellen Charakter erhält, sondern darin, daß mit dem alten
System des rein persönlichen Regiments gebrochen worden ist und daß der Kaiser
die Nothwendigkeit einer Annäherung an die Wünsche der liberalen Majorität
anerkannt hat. Darauf was im Einzelnen geschieht, kommt es zunächst noch
nicht an, die Hauptsache ist. daß das zweite Kaiserthum überhaupt den Cours
gewechselt und neuen Händen das Staatsruder anvertraut hat.
Die Wahl die der Kaiser getroffen, hat das Vertrauen zu der neuen
Wendung der französischen Dinge nicht gehoben. Die Ministerliste besteht
aus einer Anzahl bisheriger Bureauchefs und den Namen wenig populairer
Glieder der zur Tiers - Partei neigenden konservativen Schattirung. Be¬
fremdend ist zunächst die Ostentation, mit welcher der Kaiser ein völlig neues
Cabinet geschaffen: warum Lavalette dem Fürsten de la Tour d'Auvergne
Platz machen, statt Duruy's, ein untergeordneter Gesinnungsgenosse dieses
Unterrichtsministers eintreten mußte, ist um so weniger abzusehen, als Niet
im Amte blieb und von andern Gliedern des neuen Cabinets bekannt ist.
daß Nouher sie empfohlen hat. Es liegt der Verdacht nah. daß die fast voll¬
ständige Neubildung des Ministeriums ein auf die französische Nationaleitel¬
keit berechnetes Effectstück war, und daß das alte Cabinet nach dem Austritt
Rouher's im Grunde dieselbe Bedeutung gehabt hätte, wie diese neue Rathgeber¬
schaft des Kaisers. Weder Herr Leroux, noch der Unterrichtsminister Bourbeau,
weder Chasseloup-Laubat noch der hochbetagte Düvergier lassen irgend er¬
rathen, auf welches neue Ziel der Kaiser lossteuert und in wie weit er an
neue Mittel zur Befestigung seiner Regierung denkt. Nach wie vor herrscht
in dieser Beziehung Ungewißheit — das Einzige, was man positiv weiß, ist,
daß die beliebten Verfassungsänderungen ernst genug gemeint sind, um nicht
in Rouher's Hände gelegt zu werden und daß der Kaiser den Ausfall der
letzten Wahlen für das Symptom einer veränderten Volksstimmung ansieht.
In Paris tröstet man sich damit, daß das neue Ministerium nur ein
Uebergangscabinet sei, dem ein liberaleres folgen werde. Als ob es mit dem
Mehr oder Minder von Liberalismus gethan wäre und als ob irgend ein
Grund zu der Annahme vorläge, daß der Kaiser weiter zu gehen Willens
sei, als er bereits gegangen! Wo ist der Mann, wo ist die Partei, von
der erwartet werden könnte, sie vermöge Frankreich aus der Rathlostgkeit zu
reißen, in welche dieses Land gerathen ist, nachdem es fast die ganze Speise¬
karte möglicher Staatsformen durchgekostet hat? Selbst am Vorabende ihres
Bankerotts kann die kaiserliche Regierung getrost fragen, wer unter den leben¬
den Politikern Frankreichs mit dem Volk, das nach der Revolution von 1848
sich selbst aufgegeben hatte, weiter gekommen wäre als sie, und so heillos
der gegenwärtige Zustand auch ist— sie braucht die Antwort nicht zu scheuen.
Nicht darin besteht die Schwierigkeit, daß die Regierung nicht zu den Maa߬
regeln gebracht werden kann, von denen das Land seine politische Gesundung
erwartet, sondern dann, daß es kein Programm gibt, welches das öffentliche
Vertrauen hat, keinen Mann, dem man die Fähigkeit zur Durchführung eines
solchen zutraut. Vielleicht noch niemals ist eine liberale Oppositionspartei
von der Masse des französischen Volks so kühl und ablehnend behandelt worden,
wie die gegenwärtige Linke und der sinkende Credit des alten Regimes hat
mit den Fortschritten der Opposition nur sehr wenig zu thun gehabt. Die
Ereignisse der letzten Tage haben nicht wenig dazu beigetragen die ganze
Lahmheit, Zerfahrenheit und Ueberzeugungslosigkeit dieser Partei bloszu¬
legen, welche eigentlich nur von den Mißgriffen der Rouher und Haus¬
mann, nicht von ihrem eigenen Programm gelebt hat, Picard hat sich von
der Majorität seiner Genossen getrennt, die beabsichtigte Parteikundgebung
hat unterbleiben müssen und der innere Bruch zwischen der Linken und der
äußersten Linken ist nur mühsam verkleistert worden. Daß das nicht dazu
beitragen kann, die dem Kaiser imputirten parlamentarischen Absichten zu
stärken, werden selbst die Optimisten einräumen müssen, welche bereits von heil¬
samen Einflüssen der neusten französischen Krisis aus die übrigen europäischen
Staaten und namentlich auf Deutschland träumten.
Ziemlich gleichzeitig mit der kaiserlichen Botschaft an den gesetzgebenden
Körper wurde der Rechenschaftsbericht der belgisch-französischen Eisenbahn¬
commission veröffentlicht. Außer der Erlaubniß zur Errichtung von Transit¬
zügen (Basel-Antwerpen und Basel-Rotterdam-Amsterdam) hat die fran¬
zösische Ostbahncompagnie keine wesentlichen Errungenschaften zu registri-
ren gehabt, und diese Angelegenheit, die wochenlang von sich reden machte,
ist vor der Hand von der Tagesordnung abgesetzt. Dafür, daß sie zu ge¬
legener Zeit wieder hervorgeholt werden kann, haben die gleichzeitig ver¬
öffentlichten Entwürfe für künftig abzuschließende Verträge mit der belgischen
Staatsbahn und der Compagnie Lüttich-Limburg gesorgt und trotz ihrer
Beschäftigung mit den brennenden Tagesfragen der Heimath hat die Pariser
Presse Zeit gehabt, die Holländer bei Veröffentlichung dieser Actenstücke vor
den Plänen preußisch-deutschen Ehrgeizes zu warnen und zum Anschluß an
die Politik der großen Nation einzuladen. — Ein bleibendes Interesse ist der
geschlossenen Phase der belgisch-französischen Eisenbahnverhandlungen übrigens
schon gegenwärtig gesichert. In Berlin und London wird man der freund¬
lichen Theilnahme eingedenk bleiben, die Graf Beust den Brüsseler Staats¬
männern bewiesen hat, als Frere-Orbans Verhalten im belgischen Parlament
den wilden Sturm französischer Drohungen hinaufbeschwor. Dieses kleine
Capitel aus der Geschichte der k. k. auswärtigen Politik ist lehrreicher, als
es die Lektüre ganzer Bände von Wiener Rothbüchern sein kann, es gibt
den besten Commentar zu jenen Versicherungen unerschütterlicher Friedens¬
liebe ab, welche auch in diesem Monat ihre Runde durch die Zeitungen mach-
ten. Die stillen Wünsche des Reichskanzlers für das Zustandekommen des
Südbundes, die in der neuesten Sammlung diplomatischer Actenstücke ausdrücklich
zugestanden werden und die k. k. Beurtheilung der belgisch-französischen Wechsel¬
beziehungen haben zum Ueberfluß bestätigt, was unbefangene Zuschauer der
neuesten östreichischen Aera längst wußten: daß des Grafen Beust sogenannte
liberale innere Politik nur Mittel zum Zweck ist und daß Oestreich die erste
sich ihm darbietende Gelegenheit benutzen wird, um genau da anzuknüpfen,
wo es im Jahre 1866 stehen blieb. Nirgend scheint man das genauer zu
wissen wie in Ungarn, wo man den Friedenswünschen der Wiener Negierung
auch neuerdings wieder die richtige Auslegung gegeben hat. „Noch haben wir
den Frieden nöthig."
Seit dem Schluß des ungarischen Landtags und jener leidenschaftlichen
Debatten über den Entwurf zur Umgestaltung der Rechtspflege, welche die
Stellung des Justizministers Hvrvath zu erschüttern Miene machten, stehen die
Vorgänge in den slavischen Ländern des Kaiserstaats wieder im Mittelpunkt
der Interessen. Die vielbesprochene Angelegenheit des Bischofs von Linz
hat durch eine mit der Verurtheilung beinahe gleichzeitige Begnadigung die¬
ses Prälaten unerwartet raschen Abschluß gefunden und von den Verhand¬
lungen der Delegationen weiß man wenig mehr, als daß das um 6—7 Mill.
Gulden erhöhte Kriegsbudget den wichtigsten Punkt derselben bilden wird.
Wenn es wahr ist, daß die Ausschüsse der beiden parlamentarischen Körper
die Erhöhung der Osfiziersgehalte und die Verpflegungssummen ihrem ganzen
Umfange nach zu bewilligen entschlossen sind, so ist der übrig bleibende
Spielraum für Streichungen ein verschwindend geringer und das auf vier
Millionen berechnete Deficit für 1870 unvermeidlich. — Mindestens in einem
großen Theil der Monarchie wird Fragen dieser Art aber ebenso gleichgiltig
zugesehen, wie allen übrigen Dingen, welche das Interesse des Gesammtstaats
berühren; namentlich in den von Slaven bewohnten Grenzländern werden
die nationalen Händel und Eifersüchteleien allen übrigen Rücksichten vorgesetzt.
In Böhmen versucht man es, die utraquistischen Traditionen des Czechen-
thums durch eine Gedächtnißfeier zu Ehren Johann Huß's aufzuwärmen, ein
Bestreben, dem der russische Panslavismus mit besonderer Befriedigung zu¬
sieht, weil ihm die „Entkatholisirung" des czechischen Königreichs eine der
wesentlichsten Bedingungen zur Herstellung eines wahrhaft slavischen Pro¬
gramms bedeutet. In Galizien hat die Bestattung der Gebeine Kasimirs
des Großen eine ungewöhnliche Erregung der polnischen Gemüther hervor¬
gerufen, natürlich aber zu gleicher Zeit den Polenhaß der Ruthenen unter
die Waffen gerufen. Vergebens müht die von dem Schwärmer Smolka ge¬
führte polnische Demokratie sich ab, eine Verständigung mit den russischen
Stimmführern zu bewirken — in der slavischen Welt sind nationale und
religiöse Instincte, nicht Principien durchschlagend und die Vergeblichkeit-
der Smolkaschen Rundreise durch die ostgalizischen Städte kann schon
gegenwärtig für unterschrieben gelten. — An der Südgrenze der ungarisch¬
östreichischen Monarchie, in Serbien, hat die Volksvertretung eine neue Ver¬
fassung votirt, die sogleich eingeführt worden ist. Die Verhandlungen sind
dieses Mal stiller und discreter geführt worden, als früher, wo die Skup-
tschina es in der Regel für ihre Hauptaufgabe hielt, möglichst viel nationalen
Staub aufzuwirbeln, die Aufmerksamkeit der in den beiden Nachbarstaaten
lebenden Serben zu erregen und der Welt zu beweisen, daß der großserbische
Gedanke nicht aufgegeben, sondern nur vertagt sei. Die gegenwärtige Re¬
gierung scheint ein anderes Programm befolgen und sich auf ihre häuslichen
Angelegenheiten beschränken zu wollen; seit sie die Führung der Geschäfte
übernommen, sind die Besorgnisse verstummt, welche noch vor anderthalb
Jahren weit verbreitet waren und in Constantinopel besonders ernst genom¬
men wurden.
Auch in Rumänien ist seit dem mißglückter Attentat auf den Minister
Cogolnitscheano die Ruhe nicht wieder gestört worden. Seit der Pariser
Conferenz hat die Pforte sich auf ihrem eigenen Gebiet wie in den
europäischen Vasallenstaaten überhaupt einer Ruhe zu erfreuen gehabt, wie
sie ihr lange nicht zu Theil geworden war. Auch der griechisch-bulgarische
Kirchenstreit hat nach den neuesten russischen Nachrichten eine Wendung ge¬
nommen, wie sie der Regierung des Sultans nur erwünscht sein kann. Be¬
kanntlich nähren die Bulgaren schon lange den Wunsch der Unterordnung
unter die griechische Kirche und Geistlichkeit, welcher sie sich seit Jahrhunder¬
ten fügen mußten, ledig zu werden; sie verlangen, daß der Gottesdienst aus¬
schließlich in ihrer Sprache gehalten werde, daß sie ihre Geistlichen selbst
wählen dürfen, daß in den von ihnen bewohnten Bezirken die Bischöfe von
einer bulgarischen Synode und zwar aus der specifisch bulgarischen Geistlichkeit
ernannt und bloß durch den Sultan (nicht den Patriarchen) bestätigt werden
sollen u. s. w. — kurz, vollständige Emancipation und Gleichstellung mit den
Griechen. Diese Vorschläge wurden von dem Patriarchen Gregorius von
Constantinopel verworfen, obgleich die türkische Regierung dieselben moralisch
unterstützt und ihre Annahme empfohlen hatte. Natürlich wurden bulgari¬
scher Seits die Gegenvorschläge des Patriarchen gleichfalls verworfen und die
Spannung der Gemüther erreichte einen so hohen Grad, daß in den bulgari¬
schen Kirchen bereits für den Sultan, als den Befreier des Bulgarenvolkes von
dem griechischen Joche gebetet wurde. In dieser Verlegenheit und aus Aerger
über die Parteinahme der Pforte für die bulgarische Sache, wandte der Patriarch
sich auf den Rath des russischen G esandten Jgnatjew an, die höchste
russische Kirchenbehörde, den spröd zu Petersburg, um derselben die Ein-
berufung eines griechisch-rechtgläubigen Concils vorzuschlagen und diesem die
Erledigung des griechisch-bulgarischen Kirchenstreits anheim zu stellen. Der
spröd (dessen Abhängigkeit von der Regierung, beziehungsweise seinem vom
Kaiser ernannten Oberprocureur ^gegenwärtig der Unterrichtsminister Graf
Tolstoy) notorisch ist) schwankte längere Zeit mit seiner Antwort; fiel dieselbe
im Sinne des Patriarchen aus, so konnten der Pforte ernsthafte Verlegen¬
heiten bereitet werden, denn die pcmslavistischen Wortführer waren längst darüber
einig, daß das Concil nur in Rußland und zwar in Kiew, der Wiege der rus¬
sischen Kirche, abgehalten werden dürfe und daß diese Gelegenheit im Sinne
und Interesse des orientalischen Christenthums ausgebeutet werden müsse.
Aber dieser Kelch ist an Abdul-Aziz und dessen Ministern glücklich vor¬
übergegangen. In seiner neuerdings erfolgten Antwort spricht der russische
spröd sich wider Erwarten gegen die Wünsche Jgnatjews und des Patriar¬
chen aus; das Concil — so heißt es in der Antwort — sei zur Zeit nicht
rathsam, da dasselbe für den Fall bulgarischer Unnachgiebigkeit zu einer Kirchen¬
spaltung führen könne, der Patriarch möge darum nicht müde werden, mit
den Bulgaren in versöhnlicher Weise zu unterhandeln u. f. w. Da auch
die Bulgaren sich mit dem Gedanken einer Entscheidung durch das zu be¬
rufende allgemeine Concil einverstanden erklärt hatten und die Zustimmung
der griechisch-orthodoxen Synoden von Athen. Belgrad, Bukarest und Kar-
lowitz ohne große Mühe zu beschaffen gewesen wären, so lag die Sache aus¬
schließlich in der Hand Rußlands und der Sultan hat allen Grund, mit der
vorläufigen Ablehnung der Petersburger Oberkirchenbehörde zufrieden zu
sein. — Die Streitigkeiten der Pforte mit dem Vicekönig von Aegypten
sind dagegen noch nicht ausgeglichen. Der Sultan sieht in den von Aegypten
projectirten Handelsverträgen ebenso eine Verletzung des Einsetzungs-Fermans,
wie in jenen Einladungen zur Eröffnung des Suezkanals, welche das „Jour¬
nal de Turquie" als ungiltig und unberechtigt bezeichnet hat. Der Ent¬
schluß der Pforte, die Aufhebung der Capitulationen auf dem einen oder
dem anderen Wege durchzusetzen, scheint trotz der bekannten Abneigung
Rußlands gegen den bloßen Gedanken an eine solche Concession, ernst¬
lich gefaßt zu sein; die türkische Denkschrift, welche die UnHaltbarkeit des
gegenwärtigen Zustandes ausführlich erörtert, ist den Großmächten be¬
reits übergeben und hat alle Aussicht, wenigstens von Oestreich und
England berücksichtigt zu werden. Von analogen neueren Schritten des
Vicekönigs, der die Abschaffung der Consulargerichtsbarkeit gleichfalls seit
längerer Zeit betreibt und besonderes Interesse daran hat, der Pforte
den Vorsprung abzugewinnen, — ist in letzter Zeit Nichts bekannt ge¬
worden. Bei der Abhängigkeit des Khedive von dem Wohl- oder Uebel¬
wollen der Westmächte, ist übrigens wenig wahrscheinlich, daß die Differenzen
zwischen diesem und der Regierung von Constantinopel größere Proportionen
gewinnen und die Sicherheit der Pforte stören.
Während die Lage der orientalischen Dinge in früherer Zeit regelmäßig
den Gegenstand von ausführlichen Debatten im englischen Parlament bildete,
ist sie dieses Mal unerörtert geblieben. Dafür hat der brittische Premier sich
ausführlicher als bisher über Englands Stellung zur Ausbreitung der russi¬
schen Macht in Mittelasien ausgesprochen und durch seine Aeußerung, daß
an einen Conflict zwischen den beiden großen Staaten zunächst und wahr¬
scheinlich noch für viele Jahre nicht zu denken sei, einen Theil der Besorg¬
nisse widerlegt, welche bisher an dieselbe geknüpft wurden. In Rußland, wo
man den Beziehungen Lord Mayos zu Afghanistan mit Mißtrauen zugesehen
und von dem neuen Generalgouvemeur Ostindiens eine entschieden anti¬
russische Politik erwartet hatte, haben die von Gladstone gesprochenen Worte
um so angenehmer berührt, als sie ziemli'es unerwartet kamen; freilich hat
eines der Organe der Moskaner Presse die hämische Bemerkung nicht unter¬
drücken können, daß Englands friedliche Sprache gegen Rußland wahrschein¬
lich mit der Alabama-Angelegenheit in engem Zusammenhange stehe. Zur
Zeit will man übrigens von auswärtigen Verwickelungen in Rußland noch
weniger hören, als in England. Die nationale Partei fürchtet durch einen
Krieg ihren Einfluß beschränkt und die Regierung von den „nationalen"
Zielen abgelenkt zu sehen, auf-deren Erreichung mit aller Macht hingearbeitet
wird. Dieses Ziel ist nach wie vor die Ausrottung aller westeuropäischen
Einflüsse in den Grenzprovinzen, den polnischen wie den deutschen, und nimmt
alle disponiblen politischen Kräfte reichlich in Anspruch. Der Kampf gegen
die katholische Kirche in Polen und Litthauen wird immer schwieriger und
gefährlicher, denn nachgerade haben alle Würdenträger dieser Kirche dem
Petersburger katholischen Consistorium den Dienst aufgesagt; dieses Consistorium
hat seinerseits wiederum gegen die von Moskau her andrängende nationale
Partei einen schwierigen Stand, denn diese kann ihm nicht vergessen, daß es
der projectirten Einführung der russischen Sprache in die katholischen Gottes¬
dienste Litthauens Schwierigkeiten in den Weg gelegt und dieselbe wider¬
rathen hat. So lange diese Maaßregel aber nicht durchgeführt ist, fehlt der
Russification der Schule in Litthauen jeder feste Boden und wollen die neuen
Schulordnungen Nichts sagen; das eigentliche Volk sieht die Schule nur als ein
Filial der Kirche an und die von dieser gesprochene Sprache ist ihm die maa߬
gebende. Selbst die Verwandlung der Warschauer Hochschule in eine russi¬
sche Universität bietet nach russischer Anschauung keine Garantie gegen den
Polonismus. Man hat einem Theil der Professoren gestatten müssen, vor¬
läufig, d. h. bis zur Erlernung der russischen Sprache, — polnisch zu lesen, und
bei dem Mangel russischer Lehrkräfte liegt der Gedanke nah. daß diese
provisorische Concession mit der Zeit den Charakter eines Definitivums an¬
nehmen werde. Die Russen wissen die polnische Widerstandskraft und das
polnische Geschick, mit mißliebigen Gesetzen Versteckens zu spielen, ebenso
genau abzuschätzen, wie die Lahmheit der eigenen Initiative und die Armuth
an brauchbaren Streitkräften. Steht die Sache doch noch gegenwärtig so,
daß (die Universität Dorpat ausgenommen) nahezu die Hälfte aller akademi¬
schen Lehrstühle unbesetzt ist und die sämmtlichen russischen Hochschulen zu¬
sammen nur einen einzigen Professor des römischen Rechts haben! Wo soll
da der Ueberfluß von Kräften herkommen, den man zur Russification der
ausgedehnten Grenzländer nöthig hat? — In den Ostseeprovinzen hat
neuerdings eine Demonstration stattgefunden, die in den russischen Haupt¬
städten um so peinlicher berührt hat, als ihr absolut nicht beizukommen war.
Zur Feier der vor fünfzig Jahren erfolgten Aufhebung der Leibeigenschaft in
Livland ist in Dorpat ein chemisches Sängerfest gefeiert worden, zu dem nicht
die Deutschen, sondern die Ehlen die Initiative ergriffen und das den
Charakter eines Verbrüderungsfestes der beiden Nationalitäten angenommen
hat, die man in Moskau für Todfeinde auszugeben gewohnt ist, obgleich
sie durch das gleiche religiöse Bekenntniß die gleiche Bildungssubstanz und
eine siebenhundertjährige gemeinsame Geschichte eng genug mit einander ver¬
bunden sind. Der Krieg, den die russische Demokratie gegen das baltisch¬
deutsche Element führt, ist ja im Namen der „unterdrückten Letten und
Ehlen" unternommen worden, und wenn diese sich auf die Seite ihrer angeb¬
lichen Unterdrücker stellen, ist der Feldzugsplan, den die Politiker an der
Newa und Moskwa ausgearbeitet haben, so gut wie unmöglich geworden,
denn ein Kampf gegen Deutsche, Letten und Ehlen hat wenig Aussicht auf
Erfolg. Für das Ungeschick, mit welchem dieser Kampf geführt wird, ist
eine im Lause der letzten Wochen erfundene neue Censurmaaßcegel besonders
charakteristisch: sämmtliche in Dorpat, Pernau, Reval und Mitau erscheinende
lettische und chemische Zeitschriften werden in Riga der Präventivcensur unter¬
zogen, und zwar der Censur durch Convertiten der griechischen Kirche, welche
als Seminarlehrer direct unter dem Einfluß des Rigaer griechischen Erz-
bischofs stehen. Die beträchtlichen Entfernungen, welche Riga von den übri¬
gen Druckorten entfernen, machen natürlich jeden Aufschwung der lettischen
und chemischen Journale unmöglich und der blinde Eifer der „rechtgläubigen"
Censoren gegen jedes Preßerzeugniß in protestantischen Sinn belehrt das
das Landvolk darüber, wo es die wahren Feinde seiner Bildung zu suchen
hat. — Einen herben Verlust haben die baltischen Provinzen neuerdings
durch den Tod des im Jahre 1864 seiner nationalen Gesinnung wegen ab¬
gesetzten livländischen Generalsuperintendenten Dr. Walter erlitten, eines frei¬
sinnigen und patriotischen Theologen, der sich namentlich um die Sache der
Volksbildung große Verdienste erworben hat und in den vordersten Reihen
stand, als es den Kampf gegen die Propaganda der griechischen Kirche galt.
Indessen auf dem politischen Gebiet der Vernichtungskrieg gegen
die westeuropäischen Elemente in den Grenzprovinzen nach wie vor auf
der russischen Tagesordnung steht, ist die Aufmerksamkeit weiterer Kreise
häuptsächlich auf die Ausbreitung des russischen Eisenbahnnetzes gerichtet.
Wöchentlich werden neue Concessionen ertheilt und das Vertrauen des Publi¬
kums in die neu zu bauenden Bahnen ist so groß, daß die Actien schon im
Voraus gezeichnet sind und zu den höchsten Preisen verkauft werden, ehe
irgend welche Erhebungen über die Rentabilität dieser Schienenwege gemacht
worden sind. Binnen der letzten fünf Jahre sind in Rußland mehr Eisen¬
bahnstrecken gebaut worden, als sonst in dreißig Jahren und noch immer
tauchen neue Unternehmer und neue Concessionsgesuche auf. Ausländer und
Inländer, Provinzialvertretungen und freie Genossenschaften suchen einander
nach Kräften Concurrenz zu machen. Die wichtigste der neuconcessionirten
Bahnen ist die Linie Kowno-Libau, welche die Bestimmung hat, den pol¬
nischen und westrussischen Export, der seinen Weg bisher nach Königsberg
und Memel nahm, in den genannten Kurländischen Hafen zu dirigiren. —
Natürlich hat der Schwindel mit der soliden Unternehmungslust Schritt ge¬
halten und schon seit längerer Zeit hört man über die Leichtfertigkeit der
Börsenspeculation und namentlich des Actienhandels in Petersburg klagen.
Um den Unwesen der Privatbörsen und künstlich gemachten Course abzu¬
helfen, hat die Regierung die Zahl der Tage, an denen officielle Cours-
notirungen an der Petersburger Börse vorgenommen werden, von drei aus
fünf in der Woche erhöht. — Ueber den Kirgisenaufstand an der Grenze
Turkestans (den grundlose Gerüchte maaßlos übertrieben hatten), liegen neuere
Nachrichten nicht vor.
Während der Julimonat den meisten europäischen Staaten politische
und parlamentarische Ferien gebracht hat, sind die beiden Häuser der Volks¬
vertretung Englands vollauf mit der Discussion und endlichen Erledigung
der irischen Kirchenbill beschäftigt gewesen. Jede der Wendungen, welche
diese wichtige Angelegenheit" genommen, ist überraschend gewesen und hat die
Vorhersagungen der Tagespresse Lügen gestraft. Als die Gladstone'sche Bill
die zweite Lesung im Hause de'r Gemeinen passirt war, galt sie für bereits
gesichert, denn daß das Oberhaus eine große, von der Majorität der Nation
gewollte Maaßregel zurückgewiesen hätte, war seit einem Menschenalter nicht
mehr vorgekommen, nach Annahme der d'Jsraelischen Haushalterbill höchst un¬
wahrscheinlich geworden. Nach der ersten Lesung bei den Lords wandte das
Blatt sich aber, und ziemlich allgemein wurden eine Niederlage des Cabinets,
ein Conflict der beiden Häuser u. s. w. vorhergesagt. Die Nacht vom 18.
und 19. Juni entschied wider viles Erwarten die principielle Annahme
des neuen Gesetzes und jetzt wurde der Triumph Gladstones als bereits
entschieden verkündet. Als aber die Lords bei der Specialdiscusfion eine
ganze Reihe wichtiger Amendements einbrachten und namentlich den Satz
gestrichen sehen wollten, welcher die Ueberschüsse der der bisherigen Staats¬
kirche zuständigen Einnahmen ausschließlich zu nicht kirchlichen Zwecken
bestimmte, gewann der Pessimismus nochmals die Oberhand und wurden aufs
Neue Scheitern der Bill, Conflict der beiden Häuser, Einberufung einer Herbst¬
session u. f. w. an die Wand gemalt. In der elften Stunde trat dann
abermals eine unerwartete Wendung ein: Gemeine und Lords einigten sich
in der Srille über die an der Bill vorzunehmenden Aenderungen, Gladstone
setzte seinen Wunsch, die Ueberschüsse zu nicht kirchlichen Zwecken verwandt
zu sehen mit Hilfe einer klug formulirten Clausel durch und der „Conflict"
war ausgeglichen, noch bevor er erklärt war. Unnachgiebiger hat die Pairie
sich in der Frage nach Abschaffung des Testeides sür die beiden alten Uni¬
versitäten bewiesen; übrigens liegt die Vermuthung nah, daß die Ablehnung
nicht sowohl der Sache selbst, als der Verschwommenheit des Glaubens¬
bekenntnisses galt, welches den alten Eid ersetzen sollte. — Die Alabama An¬
gelegenheit ist noch in der Schwebe und wird wahrscheinlich erst im nächsten
Jahre wieder in Wendung kommen, da dem Schluß des Parlaments eine
halbjährige Ruhezeit folgen soll; Gladstones Weigerung auf die Jnterpella¬
tion Henry Bulwers einzugehen, legt die Vermuthung nah, daß neue Ver¬
handlungen zwischen den beiden Regierungen bereits wieder im Gange sind.
In Spanten, das seine Cortesversammlung am 13. d. M. auf vier
Monate vertagte, hat die Zersetzung der neu geschaffenen Verhältnisse ihren
unaufhaltsamen Fortgang genommen. Das nach Erlaß des Regentschafts¬
gesetzes gebildete Ministerium hat ^sich wiederholt umgestalten müssen und
krankt auch in seiner gegenwärtigen Zusammensetzung an der Uneinigkeit
und dem gegenseitigen Mißtrauen seiner Glieder, von denen jedes seine
Specialpolitik und seinen speciellen Ehrgeiz hat. Herrera, der Justizminister,
hat auf Andrängen der monarchischen Demokraten zurücktreten müssen, Fi-
guerala und Prim vertrugen sich so schlecht, daß der erstere, nachdem er be¬
reits wiederholt mit seinem Abschied gedroht hatte, zurücktrat und durch
Ardcmaz ersetzt wurde, Rivero, der Präsident der Cortes, steht in offenem
Gegensatz gegen das gesammte Ministerium. Die Schwäche und Zerfahren¬
heit der Negierung hat den Muth der karlistischen und republikanischen Parteien
gehoben; die erstere versucht sich in,it einer Reihe von bis jetzt verunglückten
Schilderhebungen, an denen, wie es heißt, der Prätendent Don Carlos per¬
sönlichen Antheil genommen hat, die Republikaner bilden eine Liga, die sich
allmälig über die ganze Halbinsel verbreitet und neuerdings durch einen
in Madrid lagerten Centralausschuß einheitlich geleitet wird. — Die Verwirrung
der Gemüther in Spanien droht bereits das benachbarte Portugal anzustecken.
Seit der Ministerkrifis in Lissabon ist die Bevölkerung in eine gewisse Gährung
gerathen und aus Madeira wird von einer republikanischen Bewegung be¬
richtet, die bereits die Absendung von Truppen nothwendig gemacht hat.
Wenig besser sieht es in Italien aus, wo der Finanzminister Cambray-Digny
um seine Existenz kämpft und durch Menabrea nur mühsam auf seinein Posten
zurück gehalten wird. Trotzdem, daß die von der Kammer angeordnete Unter¬
suchung über angebliche Bestechungen in der Tabaksangelegenheit resultatlos
geblieben ist, dauert die Erregung der Gemüther in der Hauptstadt und den
Provinzen fort und kann die Regierung es zu keiner festen Position bringen.
Ueber die von Baiern beantragten Collectivschritte gegen Ausschreitungen des
bevorstehenden ökumenischen Concils ist Menabrea noch nicht schlüssig ge¬
worden, doch hat er seine Geneigtheit deutlicher als bisher bekundet. In
Rom scheint man entschlossen, aus dem bisherigen Wege weitergehen und
lieber ohne jede Betheiligung der Regierungen tagen, als sich durch Mitthei¬
lungen über die Vorlagen die Hände binden zu wollen. Auf eine vollständige
Vertretung des Episcopats wird Pius IX. übrigens verzichten müssen, da
nahezu die Hälfte der geladenen Kirchenfürsten theils wegen ihnen bereiteter
Schwierigkeiten, theils wegen eigener Bedenken dem Concil fern bleiben
wird. Das Sekretariat hat Fehler, der Bischof von Se. Pölten, die Leitung
der Section zur Vorberathung staatsrechtlicher Fragen Cardinal Reischach
übernommen; im Uebrigen weiß man schon jetzt, daß das italienische Epis-
copat die übrigen Elemente numerisch überragen und das eigentlich aus¬
schlaggebende sein wird.
Bei uns in Deutschland herrscht seit dem Schluß des Zollparlaments
und des Reichstages eine ziemlich vollständige politische Windstille. Aber
das Gefühl des Unbehagens, welches von den letzten Verhandlungen dieser
Körper zurückgeblieben ist, nimmt eher zu als ab. Zwar machen die dem
neuen Bundesstaat feindlichen Parteien weniger als jemals von sich reden
und scheint selbst der welfische Legitismus an Lust und Kraft für die Agita¬
tion beträchtlich eingebüßt zu haben; die Organe des vaterlandsfeindlichen
Particularismus ergehen sich in Phantastereien so kindischer Art, daß Schlüsse
auf ihre Erschöpfung und auf die Verzweiflung an. der eigenen Sache den
eigenen Anhängern nahe gelegt sind. Dafür nehmen aber auch in den
nationalen Kreisen Verstimmung und Indifferenz sichtlich zu. Das aber¬
malige Scheitern der Tarifreform hat den Glauben an die Brauchbar¬
keit des Zollparlaments, mit dem es schon seit Jahr und Tag nicht
mehr weit her ist, vollends erschüttert, dessen zu geschweigen. daß an
die Möglichlichkeit einer Competenzerweiterung dieses Parlaments von
Niemand mehr gedacht wird. Auf die politische Parteistellung im Reichs¬
tage hat der Gegensatz der materiellen Interessen, der im Zollparlament
das große Wort führte, nur verwirrend gewirkt. Und die Lage des Reichs¬
tags war an und für sich peinlich und schwierig genug. Das Verhältniß
desselben zum Bundeskanzler ist seit der Ablehnung der Steuervorlagen
nicht mehr von diesem Körper selbst, sondern von den Resultaten des
bevorstehenden Landtags abhängig. Findet die Finanznoth der Regierung
keine Abhilfe, so sind neue Steuervorlagen an den Reichstag unvermeidlich
und diese können nur dazu führen, die bereits vorhandene Kluft zu erwei¬
tern. Wenn uns gar, wie in den letzten Tagen geschehen ist, gesagt wird,
daß es mit dem Deficit gar nicht so schlimm sei. als es von Herrn v. d. Heste,
bei dessen lakonischer Einbringung der Vorlagen gemacht worden, daß die Ein¬
nahmen sich in unerwarteter Weise gehoben und die Voranschläge überschritten
hätten, so kann das die Lage nur erschweren, nicht erleichtern und die Volks¬
vertretung in der Meinung bestärken, daß sie keine Steuern bewilligen darf,
ehe ihr voller Einblick in die Finanzverhältnisse, ehe ihr die Möglichkeit
geboten worden, die Verwendungen zu controlliren. Eine Finanzverwaltung,
die je nach den wechselnden Bedürfnissen des Tages Muthlosigkeit oder Zu¬
versicht, üble oder gute Laune zeigt, hat es sich selbst zuzuschreiben, wenn
man ihr mißtrauisch entgegentritt, zumal wenn sie im Dienst einer inneren
Politik steht, die nicht nur die Majorität gegen sich, sondern gar keine Partei
hinter sich hat. — Dieser innern Politik, die in den letzten Jahren wesentlich
von dem Succurs gelebt hat, welcher ihr durch die Erfolge der nationalen
Staatskunst des Bundeskanzlers geboten wurde, ist in dem abgelaufenen
Monat zugemuthet worden, wenigstens für einige Zeit auf eigenen Füßen
zu stehen. Graf Bismarck hat sich von dem Amte des preußischen Minister¬
präsidenten förmlich beurlauben lassen und wie die Offiziösen übereinstimmend
berichten, wird dieser Urlaub bis über die Eröffnung des Landtags hinaus
dauern und die Herren v. d. Heydt, v. Muster, v. Eulenburg u. s. w. für
die bevorstehende parlamentarische Campagne auf sich selbst und ihre eigenen
Kräfte anweisen. Wem bewiesen werden soll, daß Graf Bismarck für den
preußischen Staat unentbehrlich ist, ob der Opposition, ob dem Ministerium
selbst, ist zunächst noch dahin gestellt. Vom Standpunkte der preußischen
Opposition aus, mag die erschwerte Stellung des in eine Anzahl zusammen¬
hangsloser Theile aufgelösten Cabinets als Vortheil erscheinen, weil sie dem
nächsten Landtage die Erfüllung seiner Pflicht wesentlich erleichtert — wir, die
wir die Sache nach ihrer Wirkung auf das außerpreußische Deutschland be¬
urtheilen, können in dem zeitweise» Ausscheiden des Ministerpräsidenten nur
eine neue Calamität, eine Erschwerung der ohnehin unbehaglichen Lage sehen.
Die Dinge liegen einmal so, daß das Geschick des preußischen Staats und
die nationale Sache im deutschen „Auslande" zusammenfallen, daß jede dem erste¬
ren bereitete Schwierigkeit auf die letztere zurückwirkt. Selbst wenn sich erwarten
ließe, daß die Verlegenheit des führerlos gewordenen Cabinets zu einer Um¬
bildung des Ministeriums führen könnte, bliebe ein momentaner innerer
Bankerott der preußischen Politik für die nationale Sache eine Verlegenheit.
Aber es ließe sich dann doch hoffen, daß dem Stillstande frischere Bewegung
folgen und den Verlust ausgleichen werde. Von Hoffnungen dieser Art sind
wir aber noch weit entfernt. Sehr viel näher liegt die Befürchtung, nach
den ersten ministeriellen Niederlagen werde Graf Bismarck zu Hilfe gerufen
werden, um einen Conflict beizulegen, dessen Ausgleichung ihn um den besten
Theil seines nationalen Einflusses bringen würde. Die mit dem Namen des
Bundeskanzlers wenigstens zur Zeit identificirte Sache des jungen deutschen
Staates hätte dann für das alte preußische Ministerium die Zeche zu zahlen.
Ob seine Mittel nach dem Rückschläge, den wir seit 1867 ohnehin erlebt
haben, wohl dazu ausreichen werden?
Der eigentliche Kern des Volks, die gebildete Mittelclasse, ist mit ihren
Interessen allerdings zu tief in den neuen Staat hineingewachsen, als daß sie den
Bestand desselben von den einzelnen Stadien der Vor- und Rückbewegung abhän¬
gig glauben könnte. Aber es läßt sich nicht leugnen, daß an die Stelle des ver-
trauensvollen Eifers, der sich noch vor Jahresfrist zeigte, eine gewisse Abspannung
und Gleichgiltigkeit getreten ist. Wohl weiß man, daß den neugeschaffenen
Verhältnissen zuviel gesunde Kraft inne wohnt, als daß dieselben schon bei
den ersten Hemmungen in Frage gestellt erscheinen könnten — aber schon
seit geraumer Zeit haben die Vorgänge auf unserer politischen Bühne ein
ziemlich laues und unaufmerksames Publikum; die Einen meinen, erfreuliche
Dinge bekomme man doch nicht zu hören, die Anderen sehen den gesammten
und gegenwärtigen Zustand als ein Provisorium an, das erst nach einer Ab¬
rechnung mit Frankreich und mit dem Süden zu definitiver Gestaltung
gelangen wird. Und von einer solchen Abrechnung scheinen wir doch zur Zeit
entfernter denn je zu sein. — In den s. g. arbeitenden Classen gravitiren
die Interessen schon seit Jahren nach einer andern Seite hin. Namentlich
in den größeren Städten Norddeutschlands hat die Lauheit der Massen für
rein politische Fragen in demselben Maaße zugenommen, in dem sich der
Eiser für eine Lösung des großen socialen Problems im Sinne der Lassalleschen
Ideen, erhitzte.
Obgleich die socialistische Bewegung ihre Kinderschuhe noch nicht aus¬
gezogen hat, gewinnt sie in Deutschland doch mehr und mehr an Bedeutung.
Verdunkelt wird dieselbe freilich durch das selbstische, aufgeblasene und prin¬
cipienlose Gebühren der socialistischen Wortführer, die seit ihrem Eintritt in
den Reichstag außerhalb wie innerhalb ihrer Anhängerschaft den Rest ihres
bescheidenen Credits eingebüßt haben. Das Zeitalter jener Secessionen, welche
die Jüngerschaar Lassalles zerrissen und in eine ganze Anzahl von Fractionen
und Fractiönchen zerspalteten, ist im letzten Monat durch eine Versöhnung der
feindlichen Brüder Schweitzer und Meute geschlossen worden. Aber diese Aus¬
söhnung hat bis jetzt einen Erfolg gehabt, der die Erwartungen, die sich an
dieselbe knüpften, diametral entgegenläuft. Die große Masse der Arbeiter
ist dem von den beiden Präsidenten gegebenen Beispiel nicht uur nicht ge¬
folgt, sondern hat an dem eigenmächtigen Friedensschluß derselben Veranlassung
zu einer Lösung der bisherigen Bande genommen. Der allgemeine deutsche Ar¬
beiterverein, oder vielmehr die verschiedenen Vereine, welche diesen Namen führ¬
ten, sind in voller Auflösung begriffen, eine Coterie steht gegen die andere
auf, ein Wortführer beschuldigt den andern des Verraths, der Käuflichkeit und
des Unterschleiss und die Resultate jahrelanger Agitationsarbeit sind so gut
wie verloren, die sauer verdienten Arbeiterpfennige, welche an dieselben
gewandt wurden, ins Wasser geworfen. Nichtsdestoweniger liegt es
ziemlich nah, von dieser Krisis eher Vorschub als Rückgang der Sache des
deutschen Socialismus zu erwarten. So lange die bisherigen Männer an
der Spitze der Bewegung standen, war von derselben Nichts zu fürchten, denn
diese Männer bewiesen bei jeder Gelegenheit, daß ihnen alle die Eigenschaften
fehlten, deren es zu erfolgreicher Demagogie bedarf; schon als Leute, die
eigentlich der Bourgeoisie angehörten, hatten sie bei dem Arbeiterstande keinen
eigentlichen Boden, und Vertrauen in ihre Redlichkeit und Ueberzeugung
haben sie bei Niemand zu erwerben verstanden. Von der Vormundschaft
dieser Schwätzer frei geworden. wird die Arbeiterbewegung brutalere Formen
gewinnen, die Phrasen und Theorien von ihrem Programm streichen und
sich wesentlich auf die Cultivirung des Feldes legen, auf dem sie ihre
Existenz bisher am fühlbarsten geltend gemacht hat — das Feld der Strikes,
die mit den Lassalleschen Ideen zwar nichts zu thun haben, aber sehr viel
einschneidender und imposanter wirken, als hochtönende Resolutionen und
theoretische Beschlüsse. Diese Strikes. die gegenwärtig in einer ganzen Reihe
norddeutscher Städte chronisch geworden sind, gewöhnen die betheiligten
Classen an beständigen Kampf mit den Arbeitgebern, eine systematischen
Feindschaft gegen das Capital. Taucht einmal ein ächter Demagog? auf,
so findet er den Boden ungleich besser bearbeitet vor, als wenn die Apostel
Lassalles noch ein halbes Jahrzehnt das große Wort geführt und die Noth
ihrer Anhänger mit Anweisungen aus die Casse des künftigen Arbeiterstaats
zu beschwören versucht hätten.
Die Zeit, in der Lamartine aus dem Leben geschieden ist, steht in schnei¬
dendem Gegensatz zu der Periode, in der er wie ein glänzendes, blendendes
Gestirn am Horizonte der französischen Literatur auftauchte: zu jener Periode
eines großartigen Aufschwungs, in welcher der Genius der französischen Li¬
teratur die Fesseln abwarf, die alle Stürme, welche über Frankreichs Boden
hinweggebraust waren, nicht zu lösen vermocht hatten. Die künstlerisch bil¬
dende Triebkraft, die während der langen Regierung Ludwigs XIV- zu voller
Entfaltung gelangt war und wenigstens in formaler Beziehung den literari¬
schen Erzeugnissen des 17ten Jahrhunderts den Stempel classischer Vollendung
aufgedrückt hatte, wirkte und schuf ungeschwächt auch noch während des 18ten
Jahrhunderts, freilich in anderem Geiste und auf ganz andere Ziele gerichtet,
als in der Zeit Ludwigs XIV. Aber die Form blieb im Wesentlichen die¬
selbe; die Sprache war zu einem Abschluß gelangt, den Gesetzen der Dar¬
stellung, welche das große Zeitalter der Literatur herausgearbeitet und als
bindende Norm festgestellt hatte, unterwarfen sich auch die Weltstürmer des
18ten Jahrhunderts. Die neue Weltanschauung kleidete sich in die alte
Form und fand grade dadurch in den höchsten Kreisen, in der vornehmsten
Gesellschaft Eingang. Mochte auch der zum Theil von germanischen Ein¬
flüssen angeregte neue Geist mit der alten zierlichen und steifen Form in
Widerspruch stehen, mochten in einzelnen Schriftstellern auch die Keime lite¬
rarischer Neugestaltung die Schranken des überlieferten Gesetzes zu durch¬
brechen streben, im Wesentlichen blieb die alte Regel herrschend, und selbst
von der romantisch angehauchten Denk- und Schreibart Rousseaus kann
man höchstens behaupten, daß sie die künftige literarische Revolution vor¬
bereitet habe.
Selbst die Revolution von 1789, so gewaltsam und erschütternd ihr
Verlauf auch war, hatte doch auf Kunst und Literatur einen nur verhältni߬
mäßig geringen Einfluß geübt. Sie hatte in gewissem Sinne die centrali-
sirende Arbeit der Könige vollendet und die Trümmer des mittelalterlichen
Staats, welche das Königthum, soweit es durch dieselben in seiner Allmacht
nicht beschränkt wurde, hatte bestehen lassen, für alle Zeiten in gewaltigen,
erschütternden Stößen weggefegt. Aber als der Sturm vorübergezogen war,
zeigte sich, daß seine Wirkungen auf den Volkscharakter doch nur oberfläch¬
liche gewesen waren und daß durch die Begebenheiten, welche die alte Gesell¬
schaft zertrümmert und auf das Princip der Gleichheit eine neue Gesellschaft
begründet hatten, nur die Staatsallmacht, die Abhängigkeit des Individuums
von der Gesammtheit aufs Höchste gesteigert war. Napoleon war wie der
Erbe, so auch der Testamentsvollstrecker der Revolution; er gab der Staats¬
allmacht die feste, aller individuellen Entwickelung feindliche Form, die sie
bis auf den heutigen Tag bewahrt hat. Er verstand es, nicht nur den
Willen der Einzelnen zu binden, er erstrebte, und mit Erfolg, eine absolute
Herrschaft über die öffentliche Meinung, um durch sie jede geistige Regung
in der Nation zu überwachen und zu leiten, und die öffentliche Meinung
war und ist eine gewaltige Macht in Frankreich, fast so gewaltig, wie die
Mode, die ja gewissermaßen nur ein Zweig der öffentlichen Meinung ist.
So bewegte sich denn auch die geringe künstlerische und literarische Thätigkeit
des kaiserlichen Frankreich ganz in dem engen Kreise der Classicität. Aber
trug schon in der Blüthezeit der Literatur die classische Form den Charakter
des Einförmigen und des Zwanges an sich, wie viel mehr mußte dies der
Fall sein in einer nur in Folge der Oberflächlichkeit des französischen Geistes
in den alten Bahnen gewohnheitsmäßig sich fortbewegenden Zeit. In der
Malerei und Plastik wurde bei aller technischen Virtuosität die römische Toga
zur Carricatur; in der Literatur wurde aus der Classicität ein steifes, ge¬
spreiztes Zopfthum, wie es Napoleon, dem im Gegensatz zu fast allen großen
Männern der Sinn für das Ideale gänzlich versagt war, liebte. Jede freie
Regung, nicht nur auf dem politischen, sondern auch auf dem inneren, geisti¬
gen, literarischen Gebiete war ihm ein Greuel. Wer sich dem Druck seines,
jede Individualität mit Vernichtung bedrohenden Systems entziehen wollte,
wurde zum Gegenstand seines unversöhnlichsten Hasses. Die Regel war ihm
Alles, nicht nur in der Verwaltung des Staates, sondern auch in den Ge¬
bieten, in denen jeder Fortschritt zu einer Veränderung der Regel führt, in
dem jeder schöpferische Geist, sobald er die unerläßliche heilsame Schule des Ge¬
setzes durchgemacht hat, selbst zum Gesetzgeber wird und der künstlerischen
Production eine neue Form vorzeichnet, innerhalb deren sich dieselbe so lang
bewegt, bis ein erneuter Umschwung auch ein neues Ideal der Classicität
ausstellt.
Auch in Frankreich trat endlich die Zeit ein, wo der Geist des
literarischen Schaffens der alten Form überdrüssig wurde, und so bildeten sich
unter dem Kaiserthum die kräftigen Anfänge jener Richtung aus, die als
Romantik der vertrockneten, geistlos gewordenen Classicität gegenübertrat
und die grade in Frankreich, wo sie in noch viel höherem Grade berechtigt
war, als in Deutschland, eine völlige Revolution in der Literatur hervorrief,
indem isle die politisch-sociale Revolutian von 1789 auf das geistige Gebiet
hinüberleitete. In dieser großen Bewegung, die nach harten, bis in die
zwanziger Jahre sich hineinziehenden Kämpfen zum Siege der neuen Ideen
führte, nimmt Lamartine eine der ersten Stellen ein. Sein poetisches Schaffen
reicht bis in die Mittagshöhe der neuen Richtung. Mit ihrem Verfall wer¬
den allmälig auch die Accorde seiner Leier dumpfer und matter, bis sie end¬
lich ganz verstummen. Als unter dem zweiten Kaiserthum der Materialis¬
mus und das unverhüllteste Nützlichkeitsprincip jedes ideale Streben geflissent¬
lich zu unterdrücken suchten, und — da die Romantik bereits ihre Triebkraft
verloren hatte, ohne dem französischen Geiste ein dauerndes ideales Streben
eingehaucht zu haben, — mit leichter Mühe wirklich unterdrückt hat, war
Lamartine bereits todt. Seine dichterische Kraft war erlahmt mit der
Schule, der er, ohne ihr im strengen Sinne des Wortes anzugehören, nahe
gestanden hatte. Er sah — und das ist die tiefe Logik in dem Leben dieses
einst so hoch-, ja nicht selten überschwänglich gefeierten Dichters — mit
dem Verfall der nationalen Poesie auch seine eigene Kraft versiegen. Er,
der zarteste, reizbarste, idealste aller französischen Dichter, der begeisterteste
Vorkämpfer wider den Materialismus auf allen Gebieten des Lebens, sah
sich gezwungen, seine letzten Kräfte daran zu setzen, um seine materielle
Existenz zu fristen. Aus dem begeisterten Dichter, der die irdischen Güter
nur als Mittel angesehen hatte, um sein ideales Streben mit dem Schim¬
mer äußeren Glanzes zu umgeben, war ein "rasch und flüchtig arbeiten¬
der Schriftsteller geworden, dem in seiner literarischen Thätigkeit die ein¬
zige Eristenzquelle übrig geblieben war. Grade wie in Frankreich die Ro¬
mantik abstirbt, ohne, soweit sich bis jetzt beurtheilen läßt, den Saamen
einer fortschreitenden Entwickelung gestreut zu haben, fand auch Lamartine,
nachdem er über den Standpunkt seiner Jugend hinausgewachsen war, die
Triebkraft zu einer Metamorphose, zu einem auf ein höheres Kunstideal gerichte¬
ten Fortschritt nicht mehr in sich. Er beklagte Frankreichs Verfall und Knecht¬
schaft; und sein Loos, gleichviel ob durch eigene Schuld oder in Folge der
Gewalt äußerer Verhältnisse, war ein Spiegelbild Frankreichs, ein Mikrokos¬
mus des französischen Treibens geworden; nur mit dem Unterschiede, daß
er auch in der Zerrüttung seiner äußeren Umstände seine Seele frei erhielt
und seine Feder niemals in dem Dienst des Despotismus oder der Gemein¬
heit erniedrigte.
Alphonse de Lamartine, geboren 1792, stammte aus einer begüterten
Adelsfamilie, deren Mitglieder indessen, da sie sich von dem Treiben des
Versailler Hofes fern hielten, und nach einigen Jahren Militärdienstes
meist auf ihren Gütern zurückgezogen lebten, eine Rolle in der Geschichte des
Äueien regiiris nicht gespielt haben. Sein Vater, wie seine Oheime huldigten
den freieren Anschauungen, die in dem liberalen Theil des französischen
Adels vorherrschend waren. Wie ihre Vorbilder Lally Tollendal, Mounier:c.
sagten sie sich von der Bewegung los, als diese die Grenze überschritt,
welche die aristokratisch constitutionelle Partei ihr vorschreiben wollte,
In der Schreckenszeit nebst der Mehrzahl seiner Verwandten in den Kerker
geführt, wurde auch Lamartine's Vater mit dem Schaffst bedroht und erst
durch Robespierres Sturz der Freiheit wiedergegeben. Auf dem im Beau-
jolois, nicht weit von Macon gelegenen Gute Milky verlebte der junge
Alphons die Jahre der Kindheit in freiem Verkehr mit den Kindern der
Landleute die Ziegen hudert, nach Gefallen auf den Bergen herumstreifend,
die Seele mit den erhabenen und lieblichen Eindrücken einer- an landschaft¬
lichen Schönheiten reichen Natur erfüllend. Die früh sich entwickelnde reli¬
giöse Stimmung seiner Seele verdankte er besonders der Einwirkung seiner
Mutter, einer hochgebildeten, von einfacher aber tiefer Frömmigkeit erfüllten
Frau, deren Leitung er sich unbedingt hingab und die in jeder Beziehung
auf seine Entwickelung den größten Einfluß geübt hat. Seine wissenschaft¬
liche Ausbildung erhielt er in dem damals in hohem Ansehen stehenden
Jesuiten-Pädagogium zu Belley in Savoyen, dem er auch in späteren Jahren,
als er keineswegs für einen Anhänger der geistlichen Erziehung gelten konnte,
eine dankbare Erinnerung bewahrte. Nach Vollendung seiner Schulstudien
brachte er wiederum einige Zeit auf dem väterlichen Gute zu, lernte später
das ungebundene hauptstädtische Modeleben der reichen Jugend in Paris
gründlich kennen, wurde denselben indessen noch rechtzeitig durch eine längere
Reise in Italien entrissen. Eine tragisch-romantische Episode dieser Reise hat
er später in der anmuthigen auch den „Cvnfidences" einverleibten Novelle
„Graziella" mit idealisirenden Pinsel geschildert. Nach des glühend gehaßten
Napoleon Sturz schloß er sich, der Familientradition getreu, mit Begeiste¬
rung den Bourbonen an, ohne an den reactionairen Tendenzen der Ultras
Gefallen zu finden, im Gegentheil von der Hoffnung erfüllt, die ja Anfangs
auch von den Führern der liberalen Partei getheilt wurde, daß die Bour¬
bonen ihren Beruf darin sehen würden, die Freiheit mit der Legitimität,
das Frankreich von 1789 mit dem alten Königthum zu versöhnen. Freilich
waren die Umrisse seines Freiheitsideals sehr unbestimmt und schwankend,
und man kann, ohne dem Dichter Unrecht zu thun, behaupten, daß er sich
an dem magischen Zauber des Wortes Freiheit berauschte, ohne mit dem¬
selben einen klaren politischen Begriff zu verbinden. Ueberhaupt war
Lamartine's politisches Interesse damals nur gering. Sein Ehrgeiz strebte
nur nach dem Lorbeer des Dichters. Seine Seele erfüllte sich ausschließlich
mit dichterischen Bildern und Idealen, und die realen Angelegenheiten des
politischen und socialen Lebens gewannen für ihn erst Interesse, wenn es ihm
gelang sie mit dem Glanz der Poesie zu umkleiden. Freiheit und König¬
thum, Religion und Liebe — Alles erschien ihm im Gewände der Poesie
oder wurde, sobald es ihm nahe getreten war, von seiner rastlosen Thätig-
keit in dichterische Gebilde umgewandelt, nicht selten zu Nebelgestalten ver¬
flüchtigt.
Trotz der Erfolge der Frau von Staöl und Chateaubriands, der in den
herrschenden Kreisen ebenso als Dichter wie als begeisterter Roycilist gefeiert
wurde, behauptete die Classicität doch in den ersten Jahren der Restauration
noch ihren ererbten Platz. Sie blickte mit Hochmuth auf die ersten Re¬
gungen des Romanticismus herab, ohne die Kraft in sich zu fühlen, den
jugendlichen Vorkämpfern der neuen Richtung ebenbürtige Jünger Boileaus
entgegenzustellen. Da erschienen 1820 Lamartine's Nöäit>g.t>ion3, die um so
mehr Aufsehen erregten, als Lamartine, obwohl von der immer mächtiger
fluthenden neuen Strömung getragen, doch äußerlich zu keiner Schule hielt,
sondern durchaus selbständig und eigenartig auftrat, indem er die höch¬
sten Gegenstände des menschlichen Denkens und Empfindens in den Kreis
seiner dichterischen Betrachtungen erhob und sich zu dem Anspruch verstieg,
umwälzend und neugestaltend in das ganze geistige Leben der Nation ein¬
zugreifen und den Skepticismus des 18. Jahrhunderts durch die Fluch einer
volltönenden, mit dem Zauber eines die Sinne umstrickenden Wohllauts
und einer schimmernden, bilder- und wortreichen Darstellung ausgerüsteten
Poesie, wegzuschwemmen. Und in der That war die Wirkung, die Lamar¬
tine's erste Dichtungen auf die Zeitgenossen, und zwar keineswegs blos auf
erclusive Kreise, sondern ganz allgemein ausübte, eine außerordentliche,
und man kann wohl behaupten, daß der Beifall, den sein Erstlingswerk
fand, beträchtlich über den Werth desselben hinausging. Die äußerlich noch
herrschende, innerlich bereits abgestorbene classische Richtung konnte nicht
mehr das ästhetische und das geistig-sittliche Bedürfniß der an sich selbst
und an der Welt irre gewordenen Nation befriedigen. Man sehnte sich
nach einer Quelle der Verjüngung, nach einem Trank der Erfrischung.
Wer es nun wie Lamartine verstand, Vorstellungen und Ideen, die in der
gebildeten Gesellschaft lange Zeit geächtet gewesen waren und für Fana¬
tismus und Aberglauben galten, in eine schöne und bestechende Form
einzukleiden, konnte des Erfolges sicher sein. Man fühlte sich in anmuthig¬
ster Weise ästhetisch angeregt, und konnte den Ideen, die in so schöner
Form auftraten, das Bürgerrecht in den Salons nicht versagen, zumal da
man sich recht gut in eine gewisse Begeisterung für des Dichters Ideale hin¬
einlesen konnte, ohne sich deshalb zu einer geistlichen und sittlichen Ein- und
Umkehr gezwungen zu sehen und geradezu mit den alten Vorstellungen zu
brechen.
In der Reise in den Orient bezeichnet Lamartine als die Grundstim¬
mung seiner Seele die Begeisterung für die Natur und für ihren Schöpfer.
Er selbst knüpft diese doppelte Begeisterung an die Eindrücke, die er in der
Kindheit durch den ununterbrochenen Verkehr mit der Natur und durch den
Einfluß seiner Mutter empfangen hatte. Die beständige Anregung und das
volle Austönen dieser Begeisterung war ihm bei seiner ausschließlich dichte¬
rischen mit unglaublicher Leichtigkeit schaffenden Begabung ein Bedürfniß.
Eine verstandesmäßige Analyse der dieser Begeisterung zu Grunde liegen¬
den Gedanken lag ihm fern. Die Metaphysik widerstrebte seiner Natur,
wie wir gerade unter den begabtesten Franzosen der neueren Zeit (wir
erinnern z. B. an Tocqueville, einen der glücklichsten Beobachter und scharfem
Denker in allen politischen Dingen) eine entschiedene Abneigung finden, die
höchsten Probleme, die dem menschlichen Geiste gestellt sind, zum Gegen¬
stande des Nachdenkens und der Forschung zu machen. Ueber alle Anwand¬
lungen des kritischen Zweifels erhob er sich durch die Phantasie.
Die religiösen Vorstellungen Lamartine's sind einfach und natürlich.
Die Macht und die Liebe Gottes, wie sie sich in der Natur und der Leitung
der menschlichen Schicksale ausspricht, die Hilfsbedürftigkeit des Menschen und
seine Erhebung zu Gott im Gebet, die Unterwerfung des Menschen unter
den göttlichen Willen, die Unsterblichkeit der Seele — das sind die Gegen¬
stände, die er in der ersten Sammlung der Meditationen, wie auch in den
Harmonien vorzugsweise behandelt. Von poetischer Paraphrase der specifisch
katholischen Dogmen oder einer Begeisterung für katholisches Kirchenthum
und Hierarchie finden sich kaum vereinzelte Ansätze. Ebenfalls hält er sich
von der nebelhaften Mystik frei, wie er allerdings auch der Tiefe des Mysti¬
cismus entbehrt. Je einfacher nun aber der Inhalt ist, um so mehr ist die
Wirkung seiner Poesie von der Ausführung, von der Form bedingt. In der
modernen Lyrik (und Lamartine ist, selbst wo er Streifzüge in andere Gat¬
tungen der Poesie unternimmt, doch immer Lyriker) kann der Dichter seinen
Gegenstand in doppelter Weise zum Ausdruck bringen. Entweder er gibt
den poetischen Gedanken die Empfindung, welche ihn ergreift, in kürzester und
knappster Form wieder, oder spinnt seine Gefühle zu ausführlichen Betrach¬
tungen und Reflexionen aus. Ersteres vermag natürlich nur ein Dichter,
der wie Goethe, mit solcher Kraft und Klarheit empfindet, daß die zum
Bewußtsein gebrachte Empfindung gleichsam unwillkürlich die den Inhalt
entsprechendste Form annimmt, und daß das Bewußtwerden dessen, was
des Dichters Seele erregt, bereits zur dichterischen Production wird. Der
Leser muß beim ersten Blick von der Wahrheit der Empfindung frappirt sein.
Er muß durch den Ton des Gedichts so lebendig in des Dichters Stim¬
mung versetzt werden, daß er seine eigene Stimmung in die Worte des
Dichters gefaßt zu sehen glaubt. Das Gedicht soll die Situation, aus der
es hervorgegangen ist, und die Einwirkung dieser Situation auf des Dichters
Seele wiederspiegeln. Es soll die lyrischen Gedanken in der concretesten, mit
dem Inhalt sich völlig deckenden Form wiedergeben. Aber eben die Wahr¬
heit und Energie der Empfindung gibt den Gedichten die allgemeine Be¬
deutung; sie wirkt in den Lesern die Empfänglichkeit für die Auffassung des
Gedichts und bringt die dunkeln und unklaren, in ihm schlummernden Ge¬
fühle ihm selbst zum Bewußtsein; das Lied ist der Hebel, welches den empfäng¬
lichen, aber zu selbständiger Production unfähigen Seelen die Gabe der Re-
production, d. h. des ästhetischen Genusses mittheilt.
Für diese im deutschen Walde erwachsene Lyrik fehlt es Lamartine so¬
wohl an Energie und Tiefe der Empfindung wie an concentrirter Kraft der
Darstellung. Lamartine ist eine reflectirende Natur. Und je entschiedener
er jede metaphysische Speculation abweist, um so leidenschaftlicher strebt sein
beweglicher Geist, seine Gefühle zu analysiren und zu beschreiben. Wäh¬
rend die oben geschilderte Art dichterischer Productivität den poetischen Ge¬
danken in seiner Unmittelbarkeit in die einfachste, kürzeste und treffendste
Form zusammenzieht, ergeht er sich mit Behagen ins Breite; er entlehnt, so
entschieden und ausschließlich lyrisch seine Begabung auch ist, doch häufig vom
Epiker die Form. Er erzählt, wenn wir uns so ausdrücken dürfen, seine
Empfindungen und Gefühle. Er unterwirft die Gegenstände, die seine Seele
anregen, immer einem dem philosophischen Gedankenprocesse analogen Gefühls¬
processe. Dies Verfahren würde den Leser sehr bald ermüden und mit Ueber-
druß erfüllen, wenn er es nicht verstände, durch die vollendete Handhabung
aller Darstellungsmittel sein Thema in mannigfaltigster, stets anmuthiger
Weise zu variiren, und den Geist, wenn der Gedankeninhalt erschöpft zu sein
scheint, durch immer neue, in den früheren Dichtungen weniger plastische
als glänzende Bilder und Schilderungen zu fesseln. Er entfaltet eine poeti¬
sche Rhetorik, die in ähnlicher Weise auf den Leser wirkt, wie das Wort des
Redners auf den Hörer, die ihn bald zwingt, seine Aufmerksamkeit auf den
Grundgedanken des Gedichtes zu concentriren, ihn bald, wenn er ermüdet ist,
durch anmuthige Abschweifungen erheitert und durch den Zauber prachtvoller
Verse entzückt und fesselt. Eines der glänzendsten Beispiele seiner poetischen
Beredsamkeit finden wir gleich in der zweiten an Lord Byron gerichteten Be¬
trachtung. Der Dichter ist von Byron's dämonischer Genialität aufs Tiefste
ergriffen, es kämpft in ihm die begeisterte Bewunderung mit dem Schauder,
den Byron's unheimliche, übermenschliche, gegen alles Bestehende sich aus¬
lehnende Leidenschaft in seiner weichen Seele erregt. Er vergleicht ihn dem
Adler, der sein Horst auf schroffen Klippen am Rande des Abgrundes baut
und von zuckenden Gliedern und bluttriefenden Felsen umgeben, seine Wollust
in dem Schmerzensschrei seiner Opfer findet und vom Sturm gewiegt in sei.
nem freudigen Triumphe einschläft. So sei den Ohren Byron's der Schrei
der Verzweiflung das süßeste Concert; das Unheil ist sein Schauspiel,
der Mensch sein Schlachtopfer; seine Seele taucht wie Satan in den Ab¬
grund und sagt, Gott und dem Lichte entfremdet, der Hoffnung ewiges
Lebewohl; sein unüberwindliches Genie singt dem finstern Fürsten des Un¬
heils Lobgesänge. Lamartine verweist ihn auf die Schranken des Menschen
und seines Geistes. „Nicht wissen und dienen ist das Gesetz unseres Wesens.
Küsse das Joch, das du zerbrechen wolltest; steige herab vom Range der
Götter, den zu erklimmen deine Kühnheit sich unterfing. Beschränkt in sei¬
ner Natur, schwankend in seinen Wünschen, ist der Mensch ein gefallener
Gott, der sich des Himmels erinnert, sei es (wie in einer zu dem vorher¬
gehenden Gedanken, der jedes Entweder-Oder ausschließt, nicht ganz stim¬
menden Alternative hinzugefügt wird), daß er das Gedächtniß seiner ver¬
lorenen Bestimmung bewahrt, sei es, daß die unermeßliche Tiefe seines Ver¬
langens ihm seine künftige Größe weissagt; unvollkommen oder gefallen, der
Mensch ist ein großes Geheimniß. Aus Eden verbannt, sitzt er an den ver¬
botenen Thoren und hört von fern die harmonischen Seufzer der eigenen
Liebe und die himmlischen Concerte der Engel. Wehe dem, der aus der Ver¬
bannung des irdischen Lebens die Töne vernimmt, die aus der Welt seiner
Sehnsucht an sein Ohr klingen. Sobald er vom überirdischen Nektar ge¬
kostet hat, sträubt seine Natur sich gegen die Wirklichkeit. Er berauscht sich
im Schlummer mit Träumen und erkennt sich nicht wieder im Augenblicke
des Erwachens. Auch ich habe vom Giftbecher gekostet; auch meine Augen
haben sich geöffnet, ohne zu sehen; die Welt ist dem Hochmuth ein ver¬
schlossenes Buch, und alles Sinnen und Trachten hat mich nicht zur Erkennt¬
niß geführt. Ich habe Gott überall gesucht, ohne ihn zu begreifen, ich habe
überall das Uebel gesehen, wo das Gute doch sein konnte; ich habe Gott
gelästert, da ich ihn nicht erkennen konnte. Da senkte sich einst ein Licht von
Oben in meinen Busen und zwang mich zu segnen, was ich verflucht hatte.
Und ohne dem beseligenden Hauche Widerstand zu leisten, erhob sich meine
Harfe zu einem Lobgesang auf den Höchsten." Es folgt nun ein begeisterter,
ganz Ergebung in den göttlichen Willen athmender Hymnus: „Preis Dir in
Zeit und Ewigkeit, ewige Vernunft höchster Wille! Magst Du mich be¬
stimmt haben, die Welt zu erleuchten, oder ein vergessenes Atom zu sein,
Preis sei Dir! Preis sei Dir, wenn mich auch das Unglück verfolgt. Du
hast mich getränkt mit dem Wasser Deines Zornes. Preis Dir. Ich
habe den Tag Deiner Gerechtigkeit gesucht; er ist angebrochen zu meiner
Strafe. Preis Dir! — Ein Wesen blieb mir; ich sah es langsam hin¬
schwinden und sterben. Verzeih' der Verzweiflung einen Augenblick der
Lästerung. Ich wagte — ich bereue." Er schuf das Wasser, um zu fließen,
den Sturm, um zu brausen, die Sonne, um zu leuchten, den Menschen, um
zu leiden. Die unbelebte Natur gehorcht bewußtlos. „Ich allein opfere mit
Liebe meinen Willen; ich allein gehorche mit Einsicht. — Ich liebe Deinen
Willen, selbst wenn er mich straft. Preis Dir, Preis Dir! Schlag', vernichte
mich! Du wirst nur einen Ruf hören: Preis Dir auf ewig! So wende auch
Du Dich zum Himmel, Gott hat das Genie für die Wahrheit geschaffen.
Vielleicht wird auf Deinen Ruf ein Strahl der lebendigen Flamme in Deine
Seele dringen, und Du wirst um uns die Klarheit des Lichtes verbreiten,
die Dich dann umfluthen wird." Nach einer begeisterten Anerkennung des
Dichtergenies Byrons schließt er mit der wiederholten Aufforderung an den
Dichter, seine Stelle unter den auserwählten Kindern des Lichts einzunehmen,
die Gott geschaffen hat, um zu siegen, zu glauben und zu lieben.
Die in den allgemeinsten Umrissen verworfene Analyse dieses bei allen
Mängeln großartigen Gedichtes vermag natürlich nicht einen Begriff von der
Gewalt der Darstellung zu geben, die der Dichter in demselben entwickelt.
Sie wird im Uebrigen aber die Eigenthümlichkeiten des Dichters ziemlich zur
Anschauung bringen. Es liegt in Lamartines Natur, daß er sich von dem
Bhronschen Genius zugleich angezogen und abgestoßen fühlte. Er bewun¬
dert in der dämonischen Gewalt seiner Natur eine Gabe, die er selbst nicht
besitzt. Die Zweifel, die Byrons Seele bis in ihre tiefste Tiefe erschüttert
haben, er kennt sie wohl; aber sie haben ihn doch nur leise und oberflächlich
berührt. Seine ächt romantische Natur, unfähig mit ihnen zu ringen, hat
mit ihnen wohl gelegentlich gespielt, aber sie nicht im Kampfe überwunden;
der Dichter untersagt sich, die „ziellosen Selbstgespräche der Vernunft"; er
hat sich aus dem Zweifel in den Glauben, aus der Auflehnung in die Er¬
gebung geflüchtet. Vor der Lebhaftigkeit des Empfindens tritt in dem
Dichter die Tiefe des Denkens entschieden zurück. Seine Empfindungen aber
beherrscht er, er lenkt sie nach seinem Herzensbedürfniß. Er schwelgt in den
Gefühlen, die sein leicht beweglicher, empfänglicher Geist in seiner Seele her¬
vorgerufen hat, und berauscht sich an den bezaubernden Tönen der Harfe,
die er selbst gestimmt hat. Und sie berauschen auch den Leser, so daß er
leicht die einzelnen Dissonanzen überhört, die durch die Harmonie hindurch¬
klingen. Dissonanzen, die sich in einer gewissen Unbestimmtheit und Unklar¬
heit kundgeben und ihre Quelle darin haben, daß der Dichter sich über Be¬
denken, die nur durch eine ernste Gedankenarbeit überwunden werden konn¬
ten, vermittelst glänzenden Aufschwungs seiner beweglichen, an Bildern und
Anschauungen reichen Phantasie hinweghebt.
Wenn in den poetischen Betrachtungen auch die Liebe eine Stelle ge¬
funden. wenn durch die nachdenkliche, schwermuthsvolle Stimmung, in die
der Dichter sich mit Vorliebe hinein versenkt, weil sie die Grundlage seiner
productiven Thätigkeit bildet, zuweilen, besonders in dem zweiten Theile der
Meditations, der neben einigen großartigen (wir erinnern an die Ode an
Napoleon) die anmuthigsten seiner Gedichte enthält, die Freude an heiterem
Lebensgenuß und die Erinnerung an die brausende Jugendlust und Jugend¬
frische in ost heiteren Accorden nachklingt, so hat er in den Narmonies reli-
ZieusLZ sich in eine religiöse Stimmung hineingesungen, die sich zuweilen bis
zu einer der Natur des Dichters garnicht recht entsprechenden Weltverleug¬
nung steigert. Er klagt sich in Wendungen, die an das horazische xarou8
Ä6oruin eultor erinnern, an, seine Harfe zu weltlichen Tönen entweiht zu
haben (wobei er wohl besonders einige Gedichte der „Neuen Betrachtungen"
im Auge hat). Er legt das feierliche Gelübde ab, nur dem ewigen Namen
Gottes zu singen. Sein Leben soll nur noch ein ewiger Begeisterungstaumel
(Mure) sein, seine Seele ein Lobgesang, sein Herz eine Lyra und jeder Athem¬
hauch ein Accord zum Lobe des Höchsten.
Ein eigentlich dogmatisches oder gar streng katholisches Element tritt
übrigens auch in den Harmonien nicht hervor. Auch in ihnen ist sein
Standpunkt der des allgemeinen Gottesbewußtseins, des einfachen, jeder con-
fessionellen Bestimmtheit entbehrenden Monotheismus. Gott ist ihm, von
einigen pantheistischen Anklängen abgesehen, der geoffenbarte, persönliche
Gott. Er ist ihm der Vater der Natur, der Urquell der Liebe, Tugend und
Begeisterung, der Lenker der Welt und der menschlichen Geschicke, zu dem der
Mensch sich im Gebete erhebt. Lamartine ist tolerant gegen jedes besondere Be-
kenntniß, wie er in seiner Reise in den Orient, — obgleich dieselbe offenbar
grade darauf berechnet ist, sein religiöses Bewußtsein zu beleben und mit be¬
stimmten, wir möchten sagen, plastischen Bildern zu füllen, — wiederholt auch
dem Muhamedanismus Gerechtigkeit widerfahren läßt und an einigen Stellen
sogar mit großer Anerkennung von den Bekennern desselben und von der Leben¬
digkeit ihres Gottesbewußtseins spricht. Die Offenbarung Gottes in der Natur
ist ihm die tiefste Quelle der Religiosität, wie er denn in dem allerdings
einer späteren Periode angehörigen Steinmetzen von Saint-Paul, dem Hel¬
den einer übrigens vielfach verfehlten, von übertriebenen, naturwidriger
Zügen entstellten Dorfgeschichte, einen Mann zeichnet, der ohne jede Bildung
(er kann weder lesen, noch schreiben), ohne jede religiöse Unterweisung, nur
durch die Betrachtung der Natur und den erhebenden und läuternden Ein¬
fluß eines tragischen Lebensschicksals zur tiefsten Erkenntniß des göttlichen
Wesens gelangt ist.
Wie in den Harmonien die religiöse Stimmung gesteigert ist. so hat
auch die Darstellung im Vergleich zu den Betrachtungen noch an Pracht
und Farbengluth gewonnen, worin wir indessen, da bei Lamartine nicht sel¬
ten die Fülle der leicht fließenden Darstellung den Gedankengehalt über¬
wuchert und der Glanz oft der Durchsichtigkeit, die Farbenfülle der Be-
heimathen der Zeichnung Abbruch thut, keinen wirklichen Fortschritt sehen
können.
In dem 1836 erschienenen Jocelyn begibt sich Lamartine aus der Lyrik
in das Gebiet der erzählenden Poesie, zeigt aber mit diesem Versuche nur,
daß die Lyrik sein eigentliches Feld ist. Der Gang der Erzählung ist ein¬
fach. Die poetische Reflexion tritt überall in den Vordergrund. Die psy¬
chologischen Vorgänge, die Stimmungen, Gedanken und Leidenschaften in der
Seele des Helden werden mit einer gewissen Breite geschildert, die vielfach
an die Stimmungsschilderungen in den „Betrachtungen" und den „Harmo¬
nien" erinnert. Schon die äußere Anlage der Erzählung, für welche die
Form eines von Jocelyn geführten Tagebuches gewählt ist, war ganz dazu
angethan, der Reflexion einen weiten Spielraum zu gestatten. Die gro߬
artige Alpennatur, in welche der Dichter den Haupttheil der Erzählung ver¬
legt hat, fordert zur Naturbetrachtung und Naturschilderung heraus. Und
grade in dieser Beziehung nimmt das Gedicht eine der ersten Stellen in der
französischen Literatur ein. Wenn in den früheren Gedichten die Natur¬
schilderung dazu diente, den Hintergrund oder das Motiv einer Seelen¬
stimmung abzugeben und nicht selten nur die Versinnlichung eines inneren
Zustandes, eines Gefühls, eines Gedankens bezweckte, oder wenn die Natur
nur als Spiegelbild des göttlichen Wesens oder als das Feld der göttlichen
Schöpferkraft erschien, so tritt in Jocelyn die Beschreibung und Schilderung
der Landschaft und der Naturscenen verhältnißmäßig selbständig auf.
In einer Reihe unvergleichlich schöner, mit wunderbarer Naturtreue bis in
die kleinsten Einzelheiten ausgeführte Gemälde führt uns der Dichter bald
die ärmlichen Hütten der Bergbewohner vor Augen, bald die großartigsten
Alpenlandschaften, bald in der hellsten Beleuchtung der Mittagssonne, bald
im dämmernden Licht des Mondes. Das Erwachen der reichen Alpennatur
im Frühling, das Rauschen der Gebirgsströme, das Auf- und Abwogen der
herbstlichen Nebel, das wüthende Brausen des winterlichen Orkans, die feier¬
liche Ruhe des Schneefeldes in den verschiedendsten Beleuchtungen — all'
diese bald lieblichen, bald furchtbaren und wilden Naturscenen entfalten sich
mit dramatischer Lebendigkeit und Anschaulichkeit vor unseren Augen. Der
ganze Reichthum des französischen Sprachschatzes wird erschöpft, um der
Schilderung die möglichste Genauigkeit und Anschaulichkeit zu geben, und
man muß bekennen, daß von dem formgewandten Meister gehandhabt, die
Sprache in der Darstellung aller in die Sinnenwelt fallenden Erscheinungen
wirklich Außerordentliches leistet. Zuweilen gibt der Dichter so viel Detail,
daß die Aufmerksamkeit von dem Kern der Schilderung abgelenkt wird; auch
ist die häufige Verwendung nicht selten ziemlich gesuchter Gleichnisse zur Ver¬
deutlichung äußerer Gegenstände zu tadeln, da das Gleichnis) oft der
reproducirenden Einbildungskraft des Lesers weniger bestimmte Umrisse bietet
als der verglichene Gegenstand selbst ohne jede Vergleichung ihm bieten
würde. Aber von diesen Einzelheiten abgesehen, sind die Schilderungen in
diesem Gedichte Meisterstücke poetischer Malerei, dem entsprechend, was wir
in der Malerkunst als Stimmungslandschaft zu bezeichnen Pflegen. Denn bei
allem Streben nach realistischer Naturtreue kommt doch (was wir keineswegs
als Fehler bezeichnen wollen) in jedem Bilde die Stimmung des schildern¬
den zum Durchbruch, und so wenig wie in der Erzählung verleugnet der
Dichter in der Schilderung die lyrische Natur seiner Begabung.
Der Held der Erzählung, Jocelyn, der mit allen geistigen und körper¬
lichen Vorzügen ausgestattete Sohn einer mäßig bemittelten Wittwe, faßt,
um seinen Antheil an der väterlichen Erbschaft seiner Schwester zuzuwenden
und dadurch deren Verheirathung mit dem Sohn eines wohlhabenden Nach¬
barn zu ermöglichen, den Entschluß in den geistlichen Stand zu treten. Alle
Bemühungen der Mutter, die von dem eigentlichen Motive seines Entschlusses
keine Ahnung hat, ihn von dem verhängnißvollen Schritte zurückzuhalten,
sind vergeblich. Er weist alle Einwendungen mit der Hinweisung auf den
inneren Beruf, der ihn zum geistlichen Stande ziehe, zurück. Wird nun —
diese Frage drängt sich dem Leser unwillkürlich auf — der Held wirklich durch
einen inneren Beruf zum geistlichen Stande hingezogen, oder ist seine Welt¬
entsagung nur ein edelmüthiges Opfer, welches er dem Lebensglück seiner
Schwester bringt? Ueber diesen Punkt läßt uns der Dichter in Ungewi߬
heit, und auch der Verlauf der Erzählung gibt über denselben keine volle
Aufklärung. Ist es die Gewalt des inneren Berufes, einer mächtigen Be¬
geisterung oder nur die Gewissenhaftigkeit in der Bewahrung seines Ge¬
lübdes, die Jocelyn später in dem Kampfe gegen die tiefe Neigung seines
Herzens unterstützt? Der Dichter scheint das Erstere zu wollen, der Leser
dagegen gewinnt den Eindruck, daß nur die Gewissenhaftigkeit, keineswegs
die Begeisterung für den geistlichen Beruf, mit seiner Liebe kämpft; und es
läßt sich nicht leugnen, daß in dieser Ungewißheit ein großer Fehler des
Gedichtes liegt.
Die Stürme der Revolution vertreiben Jocelyn, noch ehe er die Weihen
empfangen hat, aus dem Seminar. Hoch in den Alpen der Dauphins findet
er in einer Höhle, der Adlergrotte, einen Zufluchtsort, der nur einem alten
Hirten bekannt ist. Der Hirt versorgt ihn von Zeit zu Zeit mit Lebens¬
mitteln und durch ihn allein steht er mit der Außenwelt in Verbindung.
Nachdem er noch nicht lange in dieser furchtbaren, aber an erhabener
Schönheit reichen Wildniß verweilt hat, gelingt es ihm, zwei Flüchtlinge,
Vater und Sohn, den Händen verfolgender Nationalgardisten zu entreißen
und in seinem sicherem Versteck zu verbergen. Der Vater, tödtlich verwundet,
stirbt; mit dem kaum dem Knabenalter entwachsenen Jüngling von mädchen¬
hafter Schönheit und Anmuth knüpft er ein Freundschaftsband, welches von
Tage zu Tage an Innigkeit zunimmt. Die Freundschaft Jocelyn's nimmt
bald einen so schwärmerischen, leidenschaftlichen Charakter an. daß wir uns
peinlich berührt fühlen würden, wenn wir nicht ahnten, daß Laurence ein
Mädchen ist. Meisterhaft geschildert ist dieses Keimen und allmälige Wachsen
der Leidenschaft, die alle Symptome der Liebe an sich trägt, während Jocelyn
sie noch als Ausdruck inniger Freundschaft für seinen jugendlichen Gefährten
hält. So unbefangen ist Jocelyn, daß auch Laurences leidenschaftliche An¬
hänglichkeit, die durch ihre jungfräuliche Zurückhaltung hindurch blickt, ihm
nur als liebevolle Hingebung eines jüngeren Bruders erscheint, der in dem
älteren Bruder seine einzige Stütze hat, seiner Leitung und Belehrung be¬
darf und sich ihm mit unbedingtem Vertrauen anschließt und unterordnet.
Nur in einzelnen Momenten, wenn Laurences leidenschaftliche Natur die
Fesseln der Zurückhaltung zu durchbrechen droht, durchzuckt ihn die Ahnung,
<Zus ootts ü.ins, xrotonäo ü, l'ohn cui 1a, roZarcle-
?g.it aiinor ot trömir! et an'it kaut xi'Lnäo Zarclo.
Die Schilderung dieser Situation ist reich an unvergleichlicher Schönheit;
aber für die Bedenklichkeit des Verhältnisses ist sie doch zu gedehnt. Der
Leser sehnt sich nach einer rascheren Lösung des Knoten, und athmet auf,
als sie endlich durch Zufall herbeigeführt wird. Sobald Jocelyn das Ge¬
schlecht der bei einem Schneesturm, als sie um ihn zu suchen der Gewalt
des furchtbarsten Unwetters trotzte, verwundeten Laurence erkennt, wird
er sich sofort seiner Liebe bewußt. 6<ztts aveugls u>midi6 n'«ztg,it M'un toi
amour. Er liebt und wird mit leidenschaftlicher Gluth geliebt. Lange
kämpfen Pflicht und Liebe in ihm. Endlich trägt die Liebe den Sieg davon;
er entschließt sich, sobald ihrer beider Sicherheit dies gestattet, an ihrer
Seite ins Leben zurückzukehren. In der sicheren Zuversicht ihrer nahen Ver¬
bindung genießen sie in vollen Strömen die Reize des Frühjahrs und Sommers
in ihrer Einsamkeit, als Jocelyn eines Tages von dem Hirten aufgefordert
wird, seinen alten in einer benachbarten Stadt eingekerkerten und zum Tode
verurtheilten Bischof, den frühern Vorsteher seines Seminars zu besuchen. Er
folgt der Einladung, erstarrt aber vor Schrecken, als der Bischof ihn auffordert
sich zum Priester weihen zu lassen, um ihn dann mit den Sterbesakramenten zu
versehen. Nach einem kurzen aber heftigen inneren Kampfe entschließt er sich,
seinem Herzen zu folgen und dem Laurence gegebenen Worte treu zu bleiben:
er offenbart dem Bischof das Geheimniß seiner Liebe. Der Greis, in dem
sich der Glaubenseifer bis zum Fanatismus steigert, weit entfernt seine
Liebe als Entschuldigung gelten zu lassen, betrachtet sie vielmehr als ein
Verbrechen und fordert von ihm Entsagung; Jocelyn weigert sich lange.
Aber die leidenschaftliche, wilde Beredsamkeit des Bischofs, erschüttert, man
kann kaum sagen seinen Willen, sondern seiner Nerven. Willenlos, wie von
einer magischen Gewalt gezwungen, sinkt er vor ihm in die Knie und nach¬
dem er in diesem Zustande der Gebundenheit, der Bezauberung die Weihe
empfangen, steht er als Priester auf — und das Drama seiner Liebe ist
zu Ende.
Es ist ersichtlich, daß sich in dieser erschütternden Katastrophe der Fehler
der Einleitung in etwas veränderter Gestalt wiederholt. Ließ den Leser die
Einleitung über Jocelyn's Motiv in Zweifel, so gewinnt man hier den Ein¬
druck, daß er ganz ohne Motiv gehandelt, daß er willenlos, betäubt sein
Schicksal über sich hat ergehen lassen. Sein ferneres Leben ist eine fort¬
gesetzte von beständigen inneren Kämpfen unterbrochene Resignation. Jocelyn
sieht die Geliebte ohne von ihr bemerkt zu werden, in Paris als gefeierte
in das frivole Treiben der Hauptstadt versunkene Weltdame wieder. Er
belauscht sie als sie nach einem brausenden Feste in der Stille der Nacht auf
den Balkon ihres Hotels tritt. Sie flüstert seinen Namen; ihre Liebe zu ihm
ist unverändert geblieben; sie stürzt sich in den Strudel der Vergnügungen
nur. um das peinigende Gefühl ihres Seelenschmerzes zu betäuben. Sein
Gelübde hindert ihn, sie zu retten. Unter nagenden Vorwürfen wegen der
Schwäche, die er in der entscheidenden Stunde dem Bischof gegenüber ge¬
zeigt, kehrt er in seine Gebirgspfarre zurück. Er waltet seines Amtes als
treuer Hirte seiner Heerde, als ein Vater der Armen; aber Nichts ver¬
mag seiner Brust den Frieden wiederzugeben. Da wird er eines Tages zu
einer schwer erkrankten Reisenden gerufen: im Dämmerlicht tritt er an ihr
Lager: er erkennt Laurence, hört ihre Beichte, erfährt aus ihrem Munde, daß
sie dem Geliebten ihrer Jugend im Herzen treu geblieben ist, daß sie sich er¬
löst fühlen würde, wenn sie nur noch einmal seine Stimme vernähme. Er
gibt sich zu erkennen, ertheilt ihr die Absolution, friedlich und versöhnt
scheidet sie aus dem Leben. Vor der Adlergrotte, neben dem Grabe ihres
Vaters findet sie ihre Ruhestätte und neben ihr Jocelyn, als er nach einer
langen Reihe von Jahren aus einem Leben voll Ergebung, Entsagung,
treuen Pflichterfüllung scheidet; aus einem Leben, auf das der friedliche Ab¬
schied der Geliebten, der er in der letzten Stunde Trost spendend zur Seite
gestanden hat. einen Strahl der Versöhnung und eines milden Friedens
wirft.
Unstreitig bezeichnet in manchen Beziehungen Jocelyn in der Entwicke¬
lung des Dichters einen Fortschritt. Die Schilderung hat an Klarheit und
Bestimmtheit gewonnen, die Freiheit und Leichtigkeit in der Beherrschung
der Form tritt fast noch bewunderungswürdiger hervor als in den Medi-
tationem und Harmonien. Dennoch zeigt sich im Joeelyn Lamartine's Dichter¬
genius bereits als im Niedergange begriffen. Er selbst bezeichnet den Jvcelyn
als Episode eines großen umfassenden dichterischen Ganzen, welches die
Menschheit zum Gegenstande haben sollte. Schon das Ungemessene des
Planes zeigt, daß die epische Poesie nicht das Feld war, auf dem sein Dichter¬
geist sich mit vollem Erfolge entfalten konnte. Lamartine hat in Joeelyn
eine überaus einfache Handlung über die Maaßen weit ausgesponnen, und
trotz der Ausführlichkeit in den Schilderungen der inneren Seelenzustände des
Helden, gewinnen wir nicht einmal völlige Klarheit über die Motive des¬
selben. Lamartine's poetische Weltanschauung konnte eben nur in der Lyrik
zu Ausdruck gebracht werden.
Mit dem Joeelyn ist des Dichters Entwickelung abgeschlossen. Er ist über
den Standpunkt seiner glänzenden Jugendperiode hinausgewachsen. Die ein-
einsachen, aber kräftigen Stimmungen, die ihn zu dichterischer Thätigkeit
begeistert hatten, deren reflectirende Analyse recht eigentlich der Gegenstand
seiner Dichtung war, hatten sich erschöpft, ohne zu einer höheren Entwicke¬
lungsphase den Grund zu legen, seine späteren Dichtungen sind nur noch
schwache Nachklänge der früheren Periode. Von der Mitte der dreißiger
Jahre an hört Lamartine geradezu auf Dichter zu sein. Weder die phan¬
tastische Wildheit, zu welcher er sich in der „Wallfahrt nach dem Orient"
schraubt, jenem Buch, das in einer wollüstigen Trunkenheit geschrieben zu
sein scheint, welche recht eigentlich die Reaction gegen die spiritualistische
Empfindsamkeit der früheren Periode bildet, noch irgend eines seiner Gedichte
späterer Zeit haben die Bedeutung der Meditation erlangt oder in der Nation,
der sie bestimmt waren, wirklich Wurzel geschlagen. Dann folgten jene
unglücklichen Versuche des Dichters, zum Geschichtsschreiber zu werden, die
wenigstens außerhalb Frankreichs wesentlich dazu beitrugen, Lamartines Ruhm
zu schädigen, die literargeschichtliche Bedeutung seiner früheren Arbeiten in
Frage zu stellen und die sittlichen Schwächen seines Charakters blos zu legen.
Daß die Vorzüge des Styls und die Fähigkeit, auf historische Namen ge¬
tauften Ausgeburten dichterischer Phantasie den Schein geschichtlichen Lebens
zu geben, namentlich der Geschichte der Girondisten eine gewisse Popularität
gesichert und dieselbe auch außerhalb Frankreichs verbreitet haben, kann an
dem Urtheil nichts ändern, welches über diesen aufgeputzten historischen Ro¬
mane längst feststeht. Der Politiker und der Geschichtsschreiber Lamartine
haben ihr Möglichstes gethan, den Dichter von dem Platz, den er sich er¬
obert hatte und der ihm in der Geschichte der zwanziger und der dreißiger
Jahre gebührte, zu verdrängen — dessen zu geschweige«, daß die National¬
betteleien, die er sich am Abend seines Lebens gefallen ließ, zu den stolzen
Anfängen seiner Jugend in peinlichen Contrast stehen und den weltver-
achtenden Idealismus, der aus den Meditations und Harmonies spricht,
empfindlich genug Lügen strafen. Damit ist die Bedeutung, welche La¬
martine für die Jahre nach der Restauration hatte, aber nicht aufgehoben
und seine aus dieser Periode herstammenden Gedichte werden nicht nur
bleiben, so lange französische Gedichte gelesen werden, sondern zugleich einen
interessanten Wendepunkt in der französischen Bildungs- und Literaturgeschichte
dauernd bezeichnen. An diesen haben wir durch die Betrachtung der Medi¬
tations und des Jocelyn in einer Zeit erinnern wollen, die wesentlich unter
dem Eindruck der traurigen zweiten Hälfte von Lamartine's Lebensgang steht.
Verglichen mit der gegenwärtigen Phase der sittlichen und literarischen Zu¬
stände Frankreichs, erscheint der Zeitabschnitt, der in der Geschichte französi¬
scher Poesie durch den Namen Alphons Lamartine charakterisirt ist, bei aller
Kränklichkeit und innerer Hohlheit immer noch als ein begünstigter.
Die Verhandlungen des ersten Zollparlaments über die Ermäßigung
der Zollsätze auf Roheisen und Eisenfabrikate haben die schon längst ange¬
bahnte Ueberzeugung, daß die Einführung des EinPfennig-Eisenbahnfracht¬
tarifs als Vorbedingung dieser Ermäßigung dringend nothwendig ist,
wesentlich befestigt.
Der Beweis dieser Nothwendigkeit ist mehr wie ein Mal geführt worden.
Dennoch wird es nicht überflüssig sein, die nachstehenden Mittheilungen über ein
in der Gegend von Hagen gelegenes Puddlings und Walzwerk (ohne Hochofen,
aber mit einer Production von 30 Mill. Pfund fertigen Eisens und Stahls im
Jahr) beispielsweise anzuführen, weil dieselben besonders schlagend sind. Es wird
daselbst ein Quantum von 42 Mill. Pfund Roheisen verbraucht. Dieses
Roheisen wird von verschiedenen Orten bezogen und das Werk muß nach
den noch bestehenden heutigen Tarifen die beigesetzten Frachtsummen dafür
bezahlen, während die zweiten Zahlen die Fracht zum Einpfennigtarif an¬
geben. Es werden bezogen an:
mithin gegen einen durchgeführten Einpsennigtaris mehr 44,746 Thaler.
Die vorstehenden Zahlen beweisen bis zur Evidenz, welch enormer Unter¬
schied zwischen den noch bestehenden Eisenbahnfrachten und dem Einpfennig¬
tarif liegt und wie drückend, ja lähmend die Ersteren auf aller Eisenfabrica-
tion lasten, ohne daß sie auch nur für die Eisenbahngesellschaften eine wirk¬
liche Nothwendigkeit wären.
Es ist nur das Gebot einer dringenden Nothwendigkeit, daß sich unsere
Eisenindustrie, die des billigen Bezugs von Rohproducten und Hilfsstoffen nicht
entbehren kann, wenn sie bei der stetig wachsenden ausländischen Concurrenz
siegreich bleiben will, immer wieder an diejenige Macht wendet, welche durch ihre
Gesetzgebung allein das factische Monopol der Eisenbahnen ermöglicht hat,
— an den Staat. Weil dieser nicht mehr der engherzige Territorialstaat
ist, der er zur Zeit der Begründung unseres Eisenbahnwesens war, sondern
der aus dem Bedürfniß der Nation hervorgegangene große deutsche Staat,
liegt die Hoffnung auf Abhilfe näher, als jemals früher, zumal der §. 45 der
Verfassung des norddeutschen Bundes das Verkehrsleben und dessen Regelung
direct unter die Aufsicht des neuen Bundes stellt.
Ein wichtiger Fortschritt ist im Laufe der letzten zwei Jahre bereits ge¬
macht worden. Seit dem 16. Octbr. 1867 haben die Verwaltungen der Kö¬
niglichen Ostbahn, der Warschau-Wiener und Warschau-Bromberger Bahnen
die Vereinbarung getroffen, für Eisen und Blech einen Specialtarif gelten zu
lassen, nach welchem — 63V2 Meile — mit S^/z Sgr. incl. Expeditions¬
gebühr, mithin zu Einem Pfennig pro Centner und Meile zur Berechnung
gebracht werden. Da die gedachten Verwaltungen, bevor sie sich zur Ein¬
führung des Einpfennigsatzes entschlossen, die Rentabilitätsfrage reiflich in
Erwägung gezogen, und vorhandene Erfahrungen ihrem Entschlüsse zum
Grunde gelegt haben, so liegt der Anspruch nahe, ihr Beispiel demnächst auch
von anderen Bahnen nachgeahmt zu sehen. Neuerdings sind diese Erfah¬
rungen durch den Bericht bestätigt worden, welchen der Präsident Geheimer
Gommerzienrath Mevitten in der Generalversammlung der Rheinischen Eisen¬
bahn am 29. Mai dieses Jahres erstattete und in welchem es u. A. heißt:
„Die Erfahrung des letzten Jahrzehnts hat dargethan, daß der
Transport der Massengüter sehr wesentlich durch die Höhe der Fracht be¬
dingt und bei niedrigen Tarifen in den meisten Fällen einer Steigerung
auf das Doppelte und mehr fähig ist. Ist auch der Nettoertrag bei
einem Transport des doppelten Quantums Massengut zum Einpfennig¬
tarif schwerlich höher, ja wahrscheinlich ansehnlich geringer, als bei einem
Transport des einfachen Quantums Massengut zu IV2 Pfennig, so ist doch
die niedrige Tarifirung der Massengüter vom erheblichsten und sehr oft
absolut maßgebenden Einfluß für die Entwickelung der Industrie im
Bahngebiete, und dadurch für die Entwickelung des Gütertransports über-
Haupt. Kohlen und Erze bilden heute die Unterlage fast der
der gesammten modernen Industrie, und wie namentlich die Ent¬
wickelung der Macht und der Steuerkraft der Länder von der höchsten
Bedeutung, so ist auch für die meisten Bahnen der billigstmöglich e
Transport dieser und anderer Massengüter die Grundbedingung für
die Entwickelung der Industrie im Bahngebiete überhaupt.
Die finanzielle Bedeutung des Transportes von Massengütern ist frei¬
lich für die einzelnen deutschen Bahnen eine sehr verschiedene, aber allen
kommt es in größerem oder geringerem Maße zu gut. wenn die industrielle
Thätigkeit des Inlandes gesteigert, wenn unser Vaterland durch die ein¬
sichtsvolle Mitwirkung der als Factoren der industriellen Pro-
duction so maßgebenden Eisenbahnen mehr und mehr befähigt
wird, mit den fortgeschrittenen Industriestaaten England, Belgien und
Frankreich auf dem Weltmarkte zu concurriren."
Die Wichtigkeit der Einführung des Einpfennigtarifs für die einzelnen
Artikel, namentlich für Kohlen, ist bereits durch zahlreiche Ersahrungen fest¬
gestellt worden. Ein Beispiel statt vieler. Während Bremen 1859 nur 139
Last deutsche Steinkohlen bezog, hatte dieser Hafenplatz 1867 schon 8690 Last
bezogen, so daß durch sie 92 Procent des ganzen Kohlenbedarss gedeckt
würden.
Und dennoch, wie weit sind wir auch im Kohlengeschäft von dem zu er¬
reichenden Ziele noch entfernt. Während Belgien in 1868 nach England
72,234,420 Centner Kohlen ausführte, importirte letzteres in 1867 24.856,800
Centner nach Deutschland. Selbst im Jahre 1869 ist die Einfuhr eng¬
lischer Kohlen nach Berlin laut vorliegender amtlichen Ausweise noch um
200,000 Centner gestiegen.
Jedenfalls hat aber das im Kohlengeschäft bereits Errungene zur
Genüge bewiesen, wie großartig die Eisenindustrie sich entwickeln würde,
sobald auch ihr der Einpfennigtarif zu Gute kommt, dieser Tarif überhaupt
ganz allgemein auf Erze, Kalksteine und andere Rohstoffe angewandt würde.
Dieselbe Erfahrung lehrt, wie die Einsührungdieses billigeren Tarifs nicht allein
dem Kohlenbergbau und der Eisenindustrie, sondern auch den Eisenbahnen
selbst in dem alsdann eintretenden Massentransport den größten
Nutzen bringen würde.
Und nicht allein durch den Massentransport, auch noch in anderer Weise
würden die niedrigeren Eisenpreise den Eisenbahnen von wesentlichem Vor¬
theile sein. Das Bedürfniß derselben zur Erneuerung ihres eigenen Eisen¬
materials beträgt erfahrungsmäßig etwa fünf Procent und belief sich im
verflossenen Jahre auf mehrere Millionen Centner. Bei Neubauten berech¬
net sich der Bedarf auf etwa 22,000 Centner verarbeiteten Eisens aller Art
(per Meile). Bei gleichzeitig fortschreitender Volksbildung würde übrigens der
Consum überhaupt noch einer weit bedeutenderen Steigerung fähig sein, da in
vielen Gegenden Deutschlands noch heute viele Gegenstände, namentlich Wirth,
schaftsgeräthe im Gebrauche sind, welche zumeist aus Holz gefertigt sind, ob¬
gleich alle begünstigten Culturvölker dieselben längst durch aus Eisen ge¬
fertigte Geräthe ersetzt haben. Wie groß ist in dieser Hinsicht noch der
Unterschied zwischen Deutschland und Großbritanien?
„Das Cisen" — heißt es in einem neueren englischen Werke — „ist
eines unserer Lebensbedürfnisse, ist die civilisatorische Weltmacht und das
Hauptinstrument in der Kürzung und Erleichterung der menschlichen Arbeit
geworden. Fast ist es unmöglich, noch einen Gebrauch aufzuzählen, wozu
es gegenwärtig nicht verwendet wird. Wir reisen auf eisernen Straßen, ge¬
zogen von eisernen Rossen; wir durchfurchen den Ocean in eisernen Schiffen
und Dampfern mit eisernem Takelwerk und getrieben von eisernen Ma¬
schinen; wir werfen große eiserne Brücken und Tunnels über unsere, so wie
unter unsere Flüsse und Straßen; wir errichten Wohnungen und Packhäuser
von Eisen für unsere Colonialbesitzungen und schließen unser Geld und unser
Fleisch in eiserne Schränke ein. Sogar die glatten Pflastersteine werden in
Glasgow, Albany und anderen Städten durch eisernes Pflaster abgelöst. Riesen¬
hafte Anker werden für Leviathanschiffe geschmiedet. Dampfkesselplatten ver-
fertigt, die 1^ Tonnen oder 30 Centner wiegen, so wie Maschinenschafte
von 4 Tonnen und Cylinder von 28 bis 30 Tonnen. Hunderte von Meilen
elektrischen Drahts und unterseeische Kabeln werden abgerasselt mit magischer
Eile, eingefaßt, aufgewunden und verschifft. Tausende von Wasserröhren
und Meilen von Gasröhren werden von unseren Verschiffungshäfen aus nach
allen Colonien und Ländern auf dem Erdball versandt. Ueber 3 Millionen
Tonnen Eisen sind zu unseren eigenen Eisenbahnlinien gebraucht worden
und 300,000 Tonnen sind alljährlich erforderlich, um sie in Stand zu halten.
So geschickt sind unsere Werkleute, daß sie das dehnbare Erz in fast infini¬
tesimale Drähte ausziehen können, und Stücke Eisen werden so dünn ge¬
macht, daß sie sich zu unzerstörbaren Massen zusammenbinden lassen. Auch
hat sich der Hausverbrauch um das Dreifache vermehrt. Ueberhaupt ist der
Geschäftsbetrieb allein in seiner eisernen Exportbranche in fünf Jahren um
76°/o und in einem Vierteljahrhundert um 850°/« angewachsen."
Das kann der Engländer seiner Metallindustrie nachrühmen, welche mehr
als die Hälfte der Eisenproduction der Welt, alljährlich ungefähr 4 Millionen
Tonnen umfaßt. Der Eisenverbrauch war im britischen Reiche 1827 kaum
50 Pfund per Kopf der Bevölkerung und stieg bis 1858 auf 160 Pfund.
Soll Deutschland diesem Beispiel nacheifern, so kann das nux geschehen,
wenn seine Eisenbahnverwaltungen endlich zu richtiger Einsicht in ihren Vor-
theil und das Bedürfniß der Eisenindustrie nach ermäßigten Frachtsätzen
gelangen.
Nicht das Baucapital, nicht die Betriebskosten, nicht die Schwierigkeit
der Unterhaltung, sondern hauptsächlich die Frequenz der Gütermasse sind das
entscheidende Moment bei der Wirthschaftspolitik der Eisenbahnen. Wie
gar weit die deutschen Bahnen in diesem Punkte noch zurückstehen, beweist
der Umstand, daß dieselben im Jahre 18S8 nur 477.000,000 Centner Güter
beförderten, während in demselben Jahre der Güterversand auf den englischen
Bahnen 1,485,955,000 Centner. mithin das dreifache betrug, trotzdem daß
Deutschland 70 Millionen Einwohner und Großbritanien nur 27 Millionen
zählte. Von obigen 1.485,955.000 Centner bestanden 969.393.520' Centner
allein in Bergwerksproducten, zumeist aus Kohlen und Eisen, diesen mäch¬
tigen Bundesgenossen der modernen Industrie.
Nachdem nun auch die Rheinische Eisenbahn sich für die Einführung des
EinPfennig-Frachttarifs ausgesprochen hat und die meisten Handelskammern
in Rheinland und Westphalen ausdrücklich erklärt haben: „den ferneren Er¬
mäßigungen der Eisenzölle müßten billigere Frachtsätze sür den Massen«
transport von Rohmaterial, Halbfabricate und fertigen Eisen vorhergehen",
darf man mit Zuversicht hoffen, daß auch die übrigen Eisenbahnen nun
demselben Principe folgen, eventuell aber die Bundesregierung, nach den Er¬
klärungen des Bundescommissar Dr. Michaelis in der 35. Sitzung des Reichs¬
tages, diese allgemeine Einführung des Einpfennigtarifs für alle Massengüter
ungesäumt in die Hand nehmen wird.
Die französischen Provinzialstädte, denen nicht das Glück zu Theil ge¬
worden ist, Seehäfen zu besitzen, haben gewöhnlich nichts aufzuweisen, was
den Fremden den Aufenthalt daselbst irgendwie wünschenswert!) und ange¬
nehm machen könnte. Zwar ist die oft gehörte Behauptung, daß sie alle,
eine wie die andere, gleichförmig und nur nach Muster der Hauptstadt nor-
mirt seien, nicht richtig. Im Gegentheil, sie haben sehr verschiedenartiges Aus¬
sehen: die eine ist Festung und Militairstadt; eine andere ist fast ausschlie߬
lich von kleinen Rentnern bewohnt und ihre stillen Straßen, die kleinen
reinlichen Häuser mit dem sorgsam gepflegten Blumengarten davor erinnern
fast an holländische Art; eine dritte ist der Sitz einer zahlreichen steifen Be¬
amtenwelt; wieder eine andere hat durch Bergbau, oder durch einen be¬
stimmten Handels- und Industriezweig ein sehr charakteristisches Gepräge er¬
halten. Was allen gemeinsam anhaftet, das ist allerdings erdrückende Lange¬
weile, geistiger Stillstand bei aller Handelstüchtigkeit, wissenschaftliche Gletch-
giltigkeit selbst in den Städten, die Aeademien besitzen. In ihrer Vergangen¬
heit allein liegt das künstlerische und wissenschaftliche Interesse, das wir an
diesen Orten nehmen, dieses aber ist oft bedeutend genug. Der Norden,
die Heimath des Spitzbogenstils, ist reich an herrlichen, profanen wie reli¬
giösen Gebäuden aus dem Mittelalter, die Touraine besitzt die schönsten
Renaissanceschlösser, im Süden endlich finden wir überall Ueberreste einer
blühenden Vorzeit. Es ist mehrfach darauf hingewiesen worden, welchen
Einfluß die ungemein zahlreichen noch bestehenden römischen Bauten auf die
Entwickelung der Architectur in Südfrankreich gehabt haben: eine gewisse
großartige tüchtige Tradition ist hier nie verloren gegangen. Der Süden,
der Sitz vieler Colonien und Municipalstädte, vieler kleiner Herrschaften, an
Protestanten viel reicher als der Norden, hat sich überhaupt am meisten
Individualität erhalten.
Durch die Ueberreste einer dieser alten gallisch-römischen Städte wollen
wir heute eine kleine Wanderung antreten, das reiche Lugdunum vor unsern
Augen wiederum erstehen lassen.
Ueber wenige Orte ist die Zerstörungswuth so verheerend gezogen wie
über Lyon; von wichtigeren Gebäuden ist kaum ein Stein auf dem anderen
geblieben. Aber ein großartiges Museum, durch frühe Ausgrabungen be¬
reichert, von bedeutenden Gelehrten zu allen Zeiten befördert, jetzt unter der
einsichtigen Leitung des Directors Herrn Martin-Daußigny geordnet und
einer wissenschaftlichen Benutzung zugänglich gemacht, vereinigt das haupt¬
sächliche was an römischen Alterthümern in der ganzen Umgegend gefunden
worden ist. Namentlich sind es die Inschriften, die den reichsten Gewinn
bieten, diese alten grauen Steine, an denen das Publicum gelangweilt und
mit erstaunten mitleidigem Lächeln über die armen Thoren, die sich an diesen
„visux cailloux" abquälen, vorübergeht. Sie sind vortrefflich unter Arkaden
im Hofe des Palais des Beaux-Arts aufgestellt. —
Die Lage Lyons ist ebenso schön wie günstig: in der fruchtbarsten
Gegend, an der Vereinigung zweier schiffbaren Flüsse erhebt sich die Stadt
terrassenförmig auf den felsigen baumgekrönten Uferhügeln und auf der
schmalen Halbinsel zwischen Rhüne und Saone. Ein solcher Punkt muß zu
jeder Zeit bewohnt gewesen sein; doch wurde eine römische Colonie erst nach
des Dictators Cäsar Tode hingesandt, unter L. Munatius Plancus, der auch
als Gründer von Basel, einer andern wichtigen Handelsstadt, genannt wird.
Kaiser Claudius, in Lyon geboren, vereinigte die bis dahin getrennten römi¬
sche und gallische Städte, und gab ihnen volles römisches Bürgerrecht. Bei
dieser Gelegenheit hielt er eine Rede, von der Tacitus uns den ungefähren
Inhalt wiedergibt. Der Sitte gemäß wurde das kaiserliche Schriftstück mit
vergoldeten Buchstaben in Erz gravirt. Ein sehr bedeutendes Fragment dieser
Erztafel wurde 1528 aufgefunden und vom Rathe der Stadt erworben; jetzt
ist es in die Wand des Vorzimmers zum Museum eingelassen. Es ist eins
der größten und besterhaltenen dieser Art von officiellen Documenten.
Durch rasches Wachsen stieg Lyon zu blühendem Wohlstande; schon
Augustus hatte es zur Provinzhauptstadt gemacht und religiös war es Mittel¬
punkt von ganz Gallien. Am Zusammenflusse von Rhone und Saone war
nach endlich wiederhergestelltem Frieden dem göttlich verehrten Kaiser Augustus
und der Göttin Rom« ein prachtvoller Tempel errichtet und von Drusus
eingeweiht: hier versammelten sich die Abgeordneten der drei Theile des
Landes, und beriethen über gemeinsame religiöse Angelegenheiten, wohl auch
über finanzielle Unternehmungen. Das sind die sogenannten diss (ÄiMae.
Die Versammlung hatte eigenes Vermögen, eigene Casse und Verwaltungs¬
personal, eigene Sclaven und Freigelassene, über dies alles belehren uns die
Inschriften. Die Münzen geben uns ein Bild von dem prachtvollen Altar,
der vor dem Tempel stand. Zwei Porphyrsäulen, die diesen geschmückt, tragen
noch die Apsis der uralten Basilika von Se. Ainay («S«v«r<,s, von den
Märtyrern?); doch die Verhältnisse des kaiserlichen Tempels waren zu groß
für die kleine christliche Kirche, die mächtigen Säulen wurden entzwei gesägt.
Aber die Einrichtung des hochberühmten Altars, sein Schmuck mit Leuchtern
und Bildern der Victoria wurde beibehalten und die Ausrüstung der christ¬
lichen Altäre Lyons ist heutzutage noch im Ganzen dieselbe, wie die des heid¬
nischen Altars, auf welchem beständige Wolken von Weihrauch zu Augustus
stiegen, auch einem Erlöser, dem Retter aus dem unsäglichen Elend der
Bürgerkriege. Lange suchte man vergebens nach den Ruinen dieses Heilig-
thums: endlich erkannte man, daß die Stelle der Vereinigung beider Flüsse
eine andere geworden; natürliche Anschwemmungen und künstliche Dämme
hatten sie weit hinaus vorgerückt. Vor nicht langer Zeit fand man auch
unweit der Basilika von Se. Ainay Trümmer, die höchst wahrscheinlich zur
Bekleidung jenes Altars gehörten: mächtige Marmorplatten, mit Eichen¬
kränzen und Sinnbildern geschmückt; der Anfang des Wortes Romas ist
noch erhalten in großen schönen im Stein eingehauenen Buchstaben, die jeden¬
falls mit Bronze ausgelegt waren. Auch sie befinden sich in den Arkaden
des Palais des BeauMrts.
Noch an einem zweiten Orte hat das Christenthum die Erbschaft heid¬
nischer Cultur angetreten. Auf dem hohen rechten Ufer der Saone ließ
Trajan ein prächtiges, von Säulenhallen umgebenes Forum errichten, ähnlich
wie er in Rom zu gleichem Zwecke Bauten aufführte. Die wenigen Reste
erlauben nicht, eine Restauration dieser Bauten auch nur zu entwerfen; die
Versuche, die in diesem Sinne gemacht worden, sind ein Spiel archäologi¬
scher Phantasie, abgesehen davon, daß sie mit der Steifheit und Kälte be¬
haftet sind, an der die französische Nachahmung antiker Architektur immer
leidet. Das Wasser erhielt dieses Forum durch ein zehn Stunden langes
Aquäduct, von dem in einiger Entfernung von der Stadt noch Spuren vor¬
handen sind, es hatte colossale Arbeiten erfordert, darunter nicht weniger als
18 Brücken. Trajcin's Werk stürzte im Jahre 840 ein, und aus dessen
Trümmern wurde eine der heil. Jungfrau geweihte Capelle gebaut. Das ist
der Ursprung der berühmten Notre-Dame de Fourvieres (eorum vetus).
Hieher wallfahren jährlich Tausende von kinderlosen Ehepaaren, um von der
wunderthätigen Mutter Gottes Familiensegen zu erflehen. Die Wände der
Kirche sind ganz von ex volo bedeckt; die Murillosche Madonna aus dem
Louvre kommt in allen möglichen und unmöglichen Arten immer wieder, von
der kunstvollen Copie bis zum abscheulichsten Oel- und Farbendruck herab.
Ausgrabungen, die an diesem Hügel veranstaltet wurden, haben manche
Trümmer zu Tage gefördert, die Spuren von Feuer tragen; es sind höchst
wahrscheinlich Ruinen von den Gebäuden, die durch einen großen, uns von
den Schriftstellern berichteten Brand in Nero's erstem Regierungsjahr zer¬
stört wurden.
Die Unterwerfung von Gallien war so vollkommen, daß die Gegenwart
zahlreicher Truppen in den Städten nicht nothwendig schien. So war auch
in Lyon die Besatzung keine starke. Wie bei uns die Garderegimenter nicht
allein in der Hauptstadt concentrirt, sondern theilweise auch in bedeutendere
Prooinzialstädte verlegt werden, so war es auch im römischen Reiche; in
Lyon^ lag eine der stadtrömischen Cohorten. die dreizehnte, fast die ganze
Kaiserzeit hindurch. Die Stadt galt doch, obgleich von der Grenze entsernt,
als. wichtiger Posten, namentlich nach der Rolle, die sie im Kriege zwischen
Clodius Albinus und Septimius Severus (197 p. <ü. n.) gespielt hatte.
Das Commando daselbst wurde nur erprobten und zuverlässigen Männern
anvertraut, z. B. Verwandten der kaiserlichen Familie. So setzte Kaiser
Gordian III. seinen eigenen Schwiegervater als Befehlshaber Lugdunuum's ein.
Die Bedeutung von Lyon lag in seinem Handel; eine ganze Welt von
Industrien und Gewerben bietet sich uns in den Inschriften dar; selbst die
gewöhnlichsten Grabsteine gewinnen dadurch Interesse, daß die Familie des
Verstorbenen nicht verabsäumte, Stand, Beruf und Ehren desselben möglichst
ausführlich mitzutheilen. Von jeher hatte der Franzose die Neigung viel
zu plaudern, die alltäglichsten Dinge mit großem Wortaufwande vorzu¬
bringen, und diese Liebhaberei übertrug er auch auf seine Grabschriften, welche
indeß oft von dem esxrit. entfernt sind, den bereits der alte Cato den Galliern
zuerkannte.
Lyon war der Mittelpunkt des gallischen Weinhandels; die sonnigen
Hügel Burgunds, die sanft ansteigenden Ufer der Saone waren wie jetzt mit
Rebenpflanzungcn bedeckt, deren feurige Producte nicht blos im einheimischen
Lande verbraucht, sondern auch bis nach Italien und nach dem Norden hin
exportirt wurden. Wohl ging es schon damals dem Germanen wie den
Kneipqesellen in Auerbach's Keller; gegen den Römer mit seinen Steuern
und Militairstaaten sträubt er sich mit aller Macht, „doch seine Weine trank
er gern"! Nicht nur die Weinhändler waren sehr zahlreich, sondern eine
ganze Classe von Schiffern auf der Rhone und Saone war ausschließlich mit
dem Transport der Weine beschäftigt; sie fuhren mit ihren langen, schmalen
Kähnen bis Marseille, wo dann die Weinschläuche auf größere Schiffe ge¬
laden wurden. An den Flußufern standen große Lagerhäuser und wir er¬
kennen eine ähnliche Erscheinung wie jetzt in der Halle gux vins zu Paris.
Die bedeutenden Handelshäuser besaßen neben dem allgemeinen Magazin ein
kleines Comptoir, so daß eine förmliche Hüttenstadt neben den lang hin¬
gestreckten Weinschuppen entstand; diese hatten ihre eigene Polizei und
eigene Aufseher.
Die Zollbeamten fehlten auch nicht; eine 2Vsprocentige Steuer bestand
für alle möglichen Aus- und Einfuhrartikel, und der Wein wird beson¬
ders unter den besteuerten Gegenständen genannt; auch die Pelze, das Ge¬
treide, womit Lyon wie ganz Gallien einen bedeutenden Handel trieb, waren
diesem Zolle unterworfen. An fast sämmtlichen Heerstraßen können wir die
Stationen dieser Mauthbeamten erkennen, und sie bis in die Alpenpässe
verfolgen.
Die Schifffahrt wird durch die Lage der Stadt natürlicherweise beför¬
dert und sie scheint auch blühend gewesen zu sein. Die Schiffer, wie die
übrigen Handwerker und Gewerbetreibenden, sehen wir hier in Genossen¬
schaften vereinigt, die an unsere Zünfte und Gilden erinnern; wenn wir von
dem splenäiäissiwum corpus llautarum hören, denken wir unwillkürlich an
die hochwohllöbliche «Schifferzunft. Von ihren Satzungen wissen wir indeß
so gut wie nichts; wir wissen, daß sie Vorstände hatten und daß sie nur
mit Erlaubniß der kaiserlichen Regierung bilden durften. Auch wird genau
unterschieden zwischen Schiffern auf der'Rhone, Schiffern auf der Saone und
Schiffern auf beiden Flüssen. Es ist wohl kein Zufall, daß wir weit mehr
Schiffer auf der Saone finden als auf der Rhüne; denn der letztere Fluß ist
reißend und die Schifffahrt darauf jetzt noch schwierig und nicht sehr entwickelt.
Sehr zahlreich sind die religiösen Genossenschaften, bei denen jedoch die
Religion oft nur Vorwand war; jährlich wurde ein Schmaus abgehalten und
die Mitglieder genossen Grabesgemeinschaft.
In einer so gemischt bevölkerten Stadt, wohin aus allen Theilen des
Landes Kaufleute zusammenkamen, mußte eine große Unordnung in den
Münzen herrschen; demnach ist es natürlich, daß'wir sehr vielen Wechslern
begegnen.
Alle möglichen Handwerker und Kaufleute haben wenigstens durch ihren
Namen eine Spur von ihrer Existenz hinterlassen. Metzger und Wurstmacher,'
Leinenhändler und Weber, Gold- und Silberschmiede, Zimmerleute und
Schreiner, Glas-, Topf - und Metallwaarenhändler, Stuckfabrikanten, Buch¬
händler und Graveurs, Flötenspieler und Aerzte, an deren Grabsteinen wir
vorübergehen, sie alle haben gelebt, gewirkt, geliebt und gelitten. Merkwürdig
rührend ist manchmal eine bescheidene Grabschrift, die sich unter dem Wort¬
schwalle der andern durch innige Einfachheit auszeichnet: „Antulla ihrem ge¬
liebten Gemahl; ein einziges Leid hat er mir zugefügt, das war sein Tod."
Wer denkt dabei nicht an Chamisso's
Nun thatst du mir den ersten Schmerz,
der aber traf!
' Wenn wir durch diese unscheinbaren Inschriften mit dem politischen,
kaufmännischen und gewerblichen Treiben der Stadt bekannt gemachtwerden, so
gewinnen wir durch das eigentliche Antikenmuseum einen Blick in ihre Kunst,
oder richtiger in ihre Kunstindustrie.
Das Vorzimmer zur Broncesammlung ist durch den jetzigen Vorsteher aufs
geschmackvollste in ein antikes Gemach verwandelt worden. Die Wände sind
mit dem bekannten schönen pompejanischen Dunkelroth gemalt, Gesimse und
Boden mit in Lyon gefundenen Mvsaikornamenten geziert; ebenfalls musi-
vischer Arbeit sind zwei schöne Köpfe, welche die Wände ausschmücken; die
Erztafel des Claudius, bequem zu erreichen und leicht zu lesen, nimmt einen
großen Theil der linken Seite des kleinen Saales ein.
Der Reichthum der Sammlung besteht vornehmlich in Broncestatuetten
und Münzen gallischen Fundorts. Von bedeutendem .Kunstwerthe sind
nur wenige Gegenstände; ich möchte darunter einen herrlichen Junokopf und
kleine Statuetten des Hypnos, Wiederholungen nach dem bekannten schönen
Typus, hervorheben. Für die Handelsstadt charakteristisch ist das sehr häu¬
fige Vorkommen des Mercur. meist mit dem Geldbeutel in der Hand dargestellt.
In letzterer Zeit hat sich das Museum durch mehrere auswärts gefundene
Gegenstände bereichert; am wichtigsten ist wohl ein silberner Spiegel aus
Korinth, und eine archaische Aphrodite, an der die Spuren der Bemalung
noch sehr deutlich sind.
Jetzt ist Lyon ein trotz seines Handels und der blühenden Seidenindustrie
stiller und langweiliger Ort: die neuen Straßen sind völlig stillos gebaut,
mit wenigen Ausnahmen erheben sich die kahlen Häuser wie Kasernen bis zu
fünf und sechs Stockwerken. Ich stand vor der Kirche von Notre-Dame de
Fourvieres, und so sehr ich die prächtige, bis nach den Alpen ausgedehnte
Aussicht genoß, so konnte ich mich nicht von der Erinnerung an eine stolze,
für Deutschland verlorene <stadt befreien — an. Prag, das eine ähnliche
Lage hat wie Lyon. Wie viel schöner und malerischer erheben sich die Reihe
von Palästen, der Wald von Thürmen, die phantastischen Bogen und Zinnen
der alten Czechenstadt. während die Hügel der Saone von einförmigen nichts¬
sagenden Häusern bedeckt sind! Wenn ich mich aber umdrehte und die colossale
vergoldete Madonna auf dem Thurme der reich dotirter Kapelle sah, so sagte
ich mir: Hier hat das Römerthum noch nicht ausgelebt; wenn etwas Frankreich
Noth thut, so ist es die Befreiung von Rom!'
Wir übergeben unsern Lesern nachstehend eine Reihe interessanter Goethe¬
briefe aus den Jahren 1810 bis 1832, deren Mittheilung wir Herrn Dr. W.
Andreae in Hildeshetm zu danken haben. Der Inhalt derselben bedarf keines
weiteren Commentars, da der Herr Herausgeber die Verhältnisse, auf welche
diese Briefe sich beziehen, durch einleitende Noten in jedem einzelnen Falle
verdeutlicht hat. Die Veröffentlichung der beigefügten Briefe der Frau
v. Beaulieu-Marconnay (Ur. 13), Klingers und des Kanzlers von Müller
kann besonderer Erläuterung gleichfalls entbehren, da jeder derselben zu des
Dichters Person und Leben in naher Beziehung steht.
Wir lassen zunächst das Schreiben folgen, durch welches der Herr Her¬
ausgeber seine Sendung eingeleitet hat und das zum Verständniß derselben
von Wichtigkeit ist.
„Durch die Güte des Grafen Carl v. Egloffstein, eines Jugendfreundes
von Goethes Sohn, bin ich in den Besitz von 14 noch ungedruckten Briefen
Goethes gelangt, welche theils an dessen Tante, die Hofmarschallin Caroline
v. Egloffstein in Weimar (1—4), theils an deren Nichte Caroline v. Egloff¬
stein (4—13), theils an deren Schwester Julie (Ur. 14) und theils an die
Mutter der Letzteren, die Generalin und Oberhofmeisterin von Beaulieu-
Marconnay gerichtet sind (Ur. 13).
Zum besseren Verständniß mögen nachstehende Notizen über die etwas
verwickelten Verwandtschaftsverhältnisse der Damen, an welche diese Briefe
gerichtet sind, folgen.
Die Hofmarschallin Caroline v. Egloffstein war, was ihr Titel besagt,
und spielte eine nicht unbedeutende Rolle am Weimarschen Hofe.
Ihre Schwester Henriette, Generalin und Oberforstmeisterin v. Beaulieu-
Marconnay war von ihrem ersten Manne, einem Grafen Egloffstein, der
zugleich ihr Cousin war, geschieden. Sie vermählte sich dann mit dem Ge.
neral und Oberforstmeister v. Beaulieu-Marconnay in Hildesheim.
Aus erster Ehe stammten die drei geistreichen Töchter, Gräfinnen Ca-
roline (Componistin und Dichterin), Julie Malerin) und Auguste
(Dichterin), welche ebenfalls am Weimarschen Hofe lebten (Caroline war auch
längere Zeit Hofdame des Großfürsten von Rußland) und etwa 1810 nach
Mesburg bei Hannover und später in die bei Hildesheim gelegene Bene-
dictinerabtei Marienrode übersiedelten, woselbst sie auch verstorben sind. Unter
Goethes Dichtungen finden sich mehrere, die an die Gräfinnen Caroline und
Julie (starb im Januar d. I.) gerichtet sind."
Goethe an Frau Hofmarschall Caroline von Egloffstein
in Weimar.
(Der Inhalt dieses so wie auch der folgenden beiden Briefe bezieht sich
auf einen der alljährlich am 30. Januar in Weimar aufgeführten Maskenzüge.)
Sie erhalten, theure Freundin, die mir heute früh mitgetheilten Vor¬
schläge in einem Billet an Herrn Präsidenten von Fritsch sogleich beant¬
wortet zurück, um sie heute Abend in der wahrscheinlichen Session noch weiter
durchzusprechen. Wie leid thut mir's, daß ich aus meine vier Wände ein¬
geschränkt bin, sonst würde ich gewiß nicht fehlen. Ist die Sache etwas
weiter, so kommen Sie ja wohl einmal bei mir zusammen: denn das Eisen
will sogleich geschmiedet sein, wenn ein Hufeisen daraus werden soll. Grüßen
Sie mir das liebe, sonst sogenannte Kohlchen*) und sagen Sie ihr: es thue
mir leid, daß ich mir bei dieser Gelegenheit für sie nichts Heiteres erdenken
dürfe. Dagegen wollen wir dann mit Erlaubniß, wenn die Sache einmal
ausgemacht ist, für unsere schlanke Gräfin etwas aufgehen lassen. Leben
Sie recht wohl und interessiren Sie sich ja für die Sache. Es ist in mehr
als einem Sinne nothwendig, daß wir diesmal etwas zusammenbringen, das
sich darf sehen lassen. Ich hoffe mündlich bald mehr.
Januar 1810.
Hier kommt ein Abgesandter, theuerste Freundin, mit einem großen
Blatte, welches er auslegen wird. Haben Sie die Güte, ihm die nöthigen
Anmerkungen dazu zu dictiren und was am nächsten zu bestimmen erforder¬
lich wäre, zu bezeichnen.
Herr von Bielke und Bohneburg könnten Ur. 7 und Ur. 9 überneh-
men. Die Fräulein Täubner, Laßberg, Marwitz hätten Ur. 6 und 8 offen
und für die Ueberbleibende findet sich gewiß auch noch etwas Artiges: denn
wir werden noch manches einzuschalten und zu ändern haben. Sie mag vor
der Hand zu ihrer Bekleidung wählen, was ihr am bequemsten ist und ihr
gut steht. Den Charakter wollen wir schon finden. Das Nähere sagt Ueber-
bringer und empfiehlt mich zugleich,
Indem ich mich nach Ihrem Wohlbefinden, theuerste Freundin, erkun¬
dige, so bezeige ich mein Leidwesen darüber, daß Sie gestern Abend die so
unvergleichlich als mannigfaltig und kostbar gekleidete Versammlung nicht
haben mit ansehen können. Es war wohl der Mühe werth, deshalb noch
einige Noth und Angst auszustehen. Haben Sie tausend Dank für alles das
Freundliche, was Sie mir bei dieser Gelegenheit erwiesen. Dürfte ich nun
um die Gefälligkeit bitten, möglichst beizutragen, daß wir die Zeichnungen
sie seien in welchem Stande sie wollen, wieder erhalten. Wir wünschen eine
Sammlung davon zu machen und erbieten allenfalls einige davon, auf Ver¬
langen, in verificirten Copien den Interessenten zuzustellen.
Wie hat die schlanke Jägerin geschlafen?*) Hier folgen noch einige
Exemplare des Gedichts. In einigen Tagen stehen mehrere zu Befehl. Wer¬
den wir morgen das Vergnügen haben, Sie bei uns zu sehen?
Weimar, den 3. Febr. 1810.
Gegenwärtiges erhalten Sie, vortreffliche Freundin, durch den Bart¬
künstler: denn auf alle Fälle bedarf Ihr Herr Gemahl eines solchen russischen
Schmucks. Wir sehen ihn doch um 11 Uhr auf dem Schlosse? Denn ich habe
auch an ihn als Hofmarschall manches Anliegen. Stehen Sie vielleicht auch
uns bei?
Die schöne Jugend soll uns nur keine verdrießlichen Gesichter machen:
denn das wäre ein übler Schluß nach so viel Heiterkeit. Zwei Verse für
die einwandernden Italiener stehen schon auf dem Papier. Mich würde be¬
sonders der Reim von Pomeranze und Tanze verdrießen, wenn ich ihn ver¬
lieren sollte. Ich mache das Gedicht fertig: denn es ist ja nicht der
letzte Redoutenabend und wir brauchen noch manchen Spaß und Zierde auch
auf den folgenden, wo ja dieser Einfall vielleicht besser und glücklicher als
gegenwärtig ausgeführt werden kann.
Leben Sie wohl und lassen Sie uns sich empfohlen sein.
Weimar, d. 14. Febr. 1810.
Sie erhalten, theuerste Freundin, noch ein spätes Blatt von mir.
August ist angekommen und hätte schon selbst aufgewartet, wenn er nicht in
einiger Bänglichkeit befangen wäre. Die Vorklage will er dem Vater über¬
lassen. Da ich nun immer als Mieio bekannt bin, so darf ich es nicht ab¬
lehnen. Die schöne Aufforderung macht ihn verlegen. Er glaubt mancherlei
Gründe zu haben, die alle gut sind, und die vielleicht alle nichts taugen.
Er mag nur selbst kommen und Probiren, wie man sich entzieht. Wäre
nicht von einer Quadrille die Rede, so böte der Vater sich für den Sohn an,
bei dieser schönen Gelegenheit, da es sonst billig ist, daß der Sohn für den
Vater stehe.
1810. Freundlich
Goethe an Gräfin Caroline von Egloffstein, Nichte der Vorigen
(gestorben am 16. Jan. 1869 zu Marienrode bei Hildesheim).
(Ein Schreiben Goethes vom Jahre 1811, an Caroline Gräfin Egloffstein
gerichtet, die damals zu Misburg, einem in der Nähe von Hannover liegen¬
den Forsthause, lebte, wo die Egloffsiein'schen Schwestern seit der zweiten
Heirath ihrer Mutter, ehemaligen Gräfin Egloffstein, die frühesten Jugend¬
jahre verlebten und zahlreiche Beweise treuster Theilnahme des Dichters
empfingen. — Der Inhalt bezieht sich auf den Maskenzug der am 30. Ja¬
nuar 1810 bei Verlobung der Prinzessin Caroline von Weimar (Mutter der
Herzogin von Orleans) stattgefunden, wobei die Gräfin Caroline, die sich
zum Besuch in Weimar ausgehalten hatte, im Costüm der Jägerin auftrat.
Goethe selbst erschien an jenem Abende als Tempelherr und trotz seiner
61 Jahre in solcher Schönheit, daß die Anwesenden ihn nicht genug bewun¬
dern konnten. Die Zeichnerin, deren Goethe erwähnt, ist die jüngere
Schwester Julie, an der der Dichter seit ihrer Kindheit das lebhafteste
Interesse nahm; ihr angeborenes Talent hatte ihn so lebhaft gefesselt, daß er
sich ihre, in tiefster ländlicher Einsamkeit, ohne die mindeste Anleitung ent¬
standenen Compositionen durch Vermittelung des gemeinsamen Freundes,
Kanzler v. Müller, von Zeit zu Zeit kommen ließ. Müller pflegte dann
Goethes Aeßerungen über die Kunstjüngerin actenmäßig aufzuzeichnen und
derselben mitzutheilen.)
Unart. von Caroline Egloffstein. „Leider sind viele dieser Rapporte*) ver-
loren gegangen und nur derjenige übrig geblieben, welcher sich in ihrer Sammlung
kostbarer Andenken des theuern Meisters befindet und deshalb beigefügt wurde, weil
er das Vorwort der später an sie gerichteten Gedichte Goethes zu betrachten ist."
„Um wegen meiner Briefschulden nicht ganz bankrut zu werden, habe
ich mich nach Jena zurückgezogen, wo, wie Sie sehen, schöne Freundin, die
Feder nicht recht schreiben, die Dinte nicht ordentlich fließen will. Doch er¬
scheint mir das Bild der lieben Jägerin allzu lebhast, als daß ich länger
zaudern sollte für Ihren freundlichen Brief recht herzlich zu danken. Die
holde Gestalt der Abwesenden wird gar oft vermißt, Sonntags beim Ge»
sang, bei Hofe, auf der Redoute und wo nicht sonst. Ebenso fehlt auch ihre
trauliche Rede und was sonst noch alles mit ihr hinweggegangen ist.
Einer Ihrer ersten und treuesten Verehrer findet sich hier an meiner Seite,
mein August, mit dem ich sehr oft der guten und glänzenden Zeiten gedenke.
Er empfiehlt sich zum allerschönsten.
Wie es diesen Herbst und Winter bei uns ausgesehen, davon haben Sie
schon umständliche Nachricht.
Sehr ungern vermissen wir Frau Generalin v. Wangenheim, bei der ich
mein Andenken zu erneuern bitte.
Ihrer verehrten Frau Mutter danken Sie recht lebhaft für das eigen-
händige Zeichen dauerhafter Neigung und Freundschaft und bewegen die
glückliche Zeichnerin uns bald wieder etwas zu senden. Sie aber leben recht
wohl und unserer eingedenk.
Jena, 18. Jan. 1811.
(Brief von Goethe an Gräfin Caroline Egloffstein, welche als Hofdame
der damaligen Frau Erzherzogin Kaiser!. Hoheit, von Goethe stets Aufträge
für Se. Petersburg erhielt, nachdem er durch ihre Vermittelung mit Klinger,
dem Jugendfreunde einer längst vergangenen Zeit, in neue, innige Be¬
ziehung getreten war.)
„Hierbei, theuerste Freundin, ein groß Packet, enthaltend auf Ihre An-
mahnung 3 Exemplare Divan, für Klinger, Willamow und Ouwarow. Be¬
gleiten Sie solche mit einem freundlichen Schreiben. Zugleich bitte beikom¬
mende Rolle Jhro Kaiser!. Hoheit der Frau Erbgroßherzogin zu überreichen;
sie enthält, laut Aufschrift, den Prolog für Jhro Majestät die Kaiserin
Mutter begehrt, und ist so sorgfältig verpackt, daß sie gleich zu ver¬
senden wäre.
Behalten Sie mich in einem freundlichen Andenken und empfehlen mich
höchsten Orts schönstens und bestens.
Weimar, den 30. März 1821. Treulichst
(Die in dem vorliegenden Briefe Goethes bezeichnete Stelle bezieht sich
auf den, von der Gräfin Caroline von Egloffstein ihm mitgetheilten Bericht
über die furchtbare Wasserflut!), die in Se. Petersburg am 17. Nov. 1824
stattgefunden hatte.)
„Indem ich vorstehende Thorheiten aus einiger Ferne zu schauen, ge¬
wissermaßen bekräftigen kann; sage ich meiner so theuern, lieben Freundin,
daß Ihr Brief von Klinger mich gar schön getroffen und gerührt hat.
Grüßen Sie ihn zum Besten.
Leider bin ich jetzt öfter als billig vor Ihren Fenstern*); das große
Unheil will die Einbildungskraft nicht loslassen. Kommen Sie bald wieder,
zu Ihrem und unserem Heil! In einer still bewahrten Elegie werden Sie
Mitgenossen der schmerzlichsten Trennungs-Leiden gewiß theilnehmend be¬
grüßen.
Am Christabende, wo man am schmerzlichsten empfindet, den Geliebtesten
keine Kerze widmen zu können.
W., d. 24. Dec. 1824.
(Auftrag Goethes a n Gräfin Caroli ne v. Egloffstein n ach Peters¬
burg adressirt.)
„Wenn unsere theure Freundin, Gräfin Line, mir die Barometerstände
von Petersburg, und zwar nur vom Februar dieses Jahres, baldigst an¬
schaffen könnte, so geschähe mir ein großer Gefälle. Könnte man fernerhin
die Barometerstände des genannten Monats von Moskau, und wo sonst im
großen Kaiserthum beobachtet wird, gleichfalls erhalten, so würde meine Ver¬
bindlichkeit noch größer sein.
Bei der Academie der Wissenschaften findet sich wohl dies alles zusam¬
men, auch verbreitet sich der Einfluß unserer theuren -Freundin gewiß über
diese ernste Gesellschaft. Doch wird der treuen Seele unserer Guten es ge¬
wiß scherzhaft erscheinen, daß ich sie, die Allerbeständigste, daß ich sie um das
Verhalten des Allerbeweglichsten befrage,
Die schönsten Grüße und ein herzliches Lebewohl!
Weimar, den 21. IM) 1825.
Schon seit einigen Tagen gehe ich, theuerste Freundin, mit dem Ge¬
danken um, Ihnen etwas Liebes und Gutes zu erweisen; aber ich konnte
nichts finden, was meinen Wünschen und Gefühlen genügt hätte. Und so
will ich denn auch jetzt nur mit Worten ausdrücken, welchen Dank ich em¬
pfinde für den Antheil, mit dem Sie immerfort an mir und den Meinigen
festhalten, besonders auch für die treue Neigung, die Sie Ihrem Frühge¬
spielen und Hofgenossen unverändert gönnen wollen.
Sodann verzeihen Sie, wenn ich diese Gelegenheit ergreife auszusprechen:
daß die körperlichen Leiden, welche Sie von Ihren Freunden, wie von der
Welt scheiden, mir höchst peinlich sind, und Sie werden meinen Zustand
schmerzlicher mitempfinden, wenn ich versichere: daß ich, bei Ihrer letzten An¬
Herkunft, mit der Hoffnung geschmeichelt habe, Sie würden die einsamen,
fast öden Stunden, die sich manchmal um mich her zu lagern drohen, durch
Ihre Gegenwart beleben und gestalten. Hiermit aber sei genug, wo nicht
zu viel gesagt!
Gönnen Sie mir Ein Wort, wo ich irgend zu Ihrer Zufriedenheit bei¬
tragen kann! Eine gestrige Absenkung nach Petersburg wird unserm Freund
ein Lächeln abgewinnen; dies verleihen Sie auch mir und bleiben einer ewigen
Anhänglichkeit versichert.
W. d. 31, Jan. 1826. unwandelbar
„Abschriftlicher Auszug,
Schreibens des Herrn Hofrath Rochlitz,
Leipzig, d. 23. Juli 1829."
„„Bei mir meldet sich zunächst die Gräfin Egloffstein. Daß ich diese,
wie weit das in wenigen Stunden möglich, habe kennen lernen, achte ich
für ein wahres Glück. Kaum erinnere ich mich einer Dame, die, bei erster
Bekanntschaft, einen so geistig aufregenden, würdig-anmuthigen, wohlthuend-
befriedigenden Eindruck und ohne irgend ein merkliches Darausanlegen, von
der ersten Minute ihrer Gegenwart auf mich gemacht und bis zur letzten
vollkommen gleichmäßig erhalten hätte. Mit ihr sollte man, wenn keine an¬
dern, doch die festlichen Tage des Jahres verleben.""
„in tiäsln getreuliche Abschrift,
mit den herzlichsten Wünschen und
Empfehlungen, wo sichs ziemen will.
Am Park, d. 28. Jul. 1829.
Anmerk. der Gräfin C. v. Egloffstein.
„Eine scherzhafte Mittheilung Goethe's an C. Egloffstein
vom Jahre 1829, welcher aber leider die Unterschrift sei¬
nes theuern Namens fehlt, da derselbe einer werthvollen
Sammlung von Autographen zum Opfer gebracht wor¬
den ist."
Die Erwiderung der Gräfin auf diese Goethesche Zusendung lautet fol¬
gendermaßen:
„Zum lieben Tag") bin ich so fern — aber treue Wünsche überflügeln
die Trennung und erreichen den ersehnten Gegenstand und rufen den frömm¬
sten Segen auf Ihr geliebtes Dasein vom Himmel herab!
Das kleine Zeichen meines Andenkens wird zur rechten Stunde in Ihren
Händen gewesen sein, und durch seine Farbe das treue Andenken der Ent¬
fernten gezeigt haben. Wie nachsichtig, wie gütig haben Sie meiner gedacht!
wie innig hat mich der Beweis Ihrer heiteren Laune erfreut, womit Sie
scherzhaft des guten Rochlitz scherzende Worte bis an mich gelangen ließen.
Könnte ich Ihnen deutlich machen, wie unschätzbar Ihr wohlwollend An¬
denken meiner Seele ist, und wie mit innigem Bestreben ich mich dessen
würdig halten möchte..
Gott segne und behüte Sie für und für und gebe Ihnen der schönen
Tage so viele als Sie uns andern schenken; — mit welchen neuen, beleben¬
den Gefühlen hat mich die neueste Lieferung Ihrer Werke erfüllt, und wie
viel süßen Trost, wie viel Ermuthigung und freundliche Erregung habe ich
daraus geschöpft. Des Himmels beste Freuden sind mit Ihnen — wem
anders könnten sie zu Theil schon auf Erden sein?!
Carlsbad am 28. August 1829.
Hierbei, meine Beste, das von Jhro Kaiser!. Hoheit mir mitgetheilte
Blatt, welches freilich von verständiger Bedeutung ist. Unser werther, oft
fördender, wohl aber auch retardirender Freund, übernahm die Schuld der
Verspätung.
Darf ich bei dieser Gelegenheit um ein gefälliges Vorwort bitten? Jhro
Kaiser!. Hoheit hatte ich vor Höchst Jhro Abreise nach Dornburg ein Bänd¬
chen zugestellt: Briefe eines Verstorbenen. Schwerlich ist dieses in
dem Augenblicke für Jhro Hoheit interessant, da man mit den Lebendigen
so viel zu thun hat. Dürft ich bitten Sich für dessen Rückgabe zu verwen¬
den: ich werde deshalb gemahnt und es steht in ruhigeren Augenblicken
wieder zu Diensten.
Weimar, d. 18. Scvtbr. 1830.
Ein Bericht der Generalin von Beaulieu-Marconnay, im Jahre
1830 für Goethe bestimm.
Dieses Schreiben enthält einen Auftrag der Frau von Türkheim (Lilli in
Goethe's Gedichten), welchen die Schreiberin seit 1793 im Herzen bewahrt,
endlich zu seiner Kenntniß zu bringen wünschte.
Die wenigen Zeilen seiner Antwort beweisen, wie tief G-zethe durch diese
Mittheilung ergriffen worden war.
„Die an mich ergangen« Aufforderung, dasjenige, was sich in Bezug
auf eine der edelsten Frauen meinem Gedächtnisse unauslöschlich eingeprägt
hat, schriftlich mitzutheilen, ersüllt mich mit wehmüthiger Freude, weil ich
mich dadurch berechtigt sehe, das heilige Vermächtnis), welches die Treffliche
einst in meinem Herzen niederlegte, dem einzig geliebten Freund ihrer
Jugend zu übergeben und auf diese Weise dem Vertrauen zu entsprechen,
dessen sie mich vor einer langen Reihe von Jahren würdigte.
Ich muß in diese zurückkehren und bemerken, daß zur Zeit der französi¬
schen Revolution, namentlich Anno 1793 und 1794 die Fürstenthümer Anspach
und Baireuth mit Emigranten überfüllt waren, besonders Erlangen, wo ich
mich damals aufhielt und sehr zurückgezogen lebte. Um so mehr mußte es
mich überraschen, zu hören, es befände sich unter den Ausgewanderten eine
Frau von Türkheim, die großes Verlangen trage, mich kennen zu lernen. Ich
konnte mir keinen anderen Grund ihres lebhaft geäußerten Wunsches denken,
als die Wahrscheinlichkeit, sie bedürfe vielleicht meiner Unterstützung, und dies be¬
wog mich, trotz meiner eigenthümlichen Abneigung vor neuen Bekanntschaften,
Frau von Türkheim zu besuchen.
Der Eindruck, den ihre Persönlichkeit im ersten Moment auf mich machte,
läßt sich mit wenig Worten bezeichnen. Ich glaubte Iphigenie vor mir zu
sehen. Die hohe, schlanke Gestalt, der milde, schwermüthige Ausdruck ihrer
zwar verblühten, aber doch noch immer anmuthigen Gesichtszüge, und vor
allen die erhabene Würde, die sich in ihrem ganzen Wesen aussprach, riefen
mir jenes Ideal edelster Weiblichkeit, so wie es Goethe darstellte, unwillkür¬
lich vor die Seele — sonderbar genug, da keine Ideenverbindung stattfinden
konnte, indem ich nicht die leiseste Ahnung davon hatte, daß Frau v. Türk¬
heim und der große Dichter jemals in vertrauter Beziehung standen. Ich
sollte aber bald erkennen, wie richtig mich meine Gefühle geleitet, denn die
vortreffliche Frau gestand mir mit rührender Offenheit, sie habe erfahren, in
welcher engen Verbindung ich mit Weimar stünde und bloß deshalb meine
Bekanntschaft gewünscht, um etwas Näheres von Goethens Leben und Schick¬
salen zu vernehmen, den sie den Schöpfer ihrer moralischen Existenz nannte.
Die Innigkeit, ja, ich darf sagen, die Begeisterung, womit sie von ihm sprach,
rührte mich unaussprechlich und vermehrte meine hohe Meinung von dem
verehrten Manne, den ich damals leider! noch nicht persönlich kannte.
Dieser Umstand verhinderte mich, dem Wunsche seiner Jugendfreundin
Genüge zu leisten, allein die theure Frau ließ es mich nicht entgelten, und
von jenem Augenblicke an entspann sich das herzlichste Freundschaftsverhält¬
niß zwischen uns Beiden. So lange ich lebe, werde ich an die genuß- und
lehrreichen Stunden mit tief bewegter Seele denken, die ich bei Frau von
Türkheim zubrachte, und ihre Tugenden zum Vorbild nehmen.
Im Laufe unserer traulichen Unterhaltungen erzählte sie mir die Ge¬
schichte ihres Herzens, woraus ich deutlich ersah, daß sie. wenn auch nicht
vollkommen glücklich, doch mit ihrem Schicksal zufrieden war, weil — Goethe
es ihr vorgezeichnet hatte. Mit seltener Aufrichtigkeit gestand mir Frau von
Türkheim, ihre Leidenschaft für denselben sei mächtiger als Pflicht und
Tugendgesühl in ihr gewesen, und wenn seine Großmuth die Opfer, welche
sie ihm bringen wollte, nicht standhaft zurückgewiesen hätte, so würde sie
späterhin, ihrer Selbstachtung und der bürgerlichen Ehre beraubt, auf die
Vergangenheit zurückgeschaut haben, welche ihr im Gegentheil jetzt nur be¬
seligende Erinnerungen darböte. — Seinem Edelsinne verdanke sie einzig und
allein ihre geistige Ausbildung an der Seite eines würdigen Gatten und den
Kreis hoffnungsvoller Kinder, in welchem sie Ersatz für alle Leiden fände,
die der Himmel ihr auferlegt. Sie müsse sich daher als sein Geschöpf
betrachten und bis zum letzten Hauch ihres Lebens ' mit religiöser
Verehrung an seinem Bilde hangen. Da ihr aller Wahrscheinlichkeit nach
nicht vergönnt sein würde, Goethen wieder zu sehen, so bäte sie mich, dem
unvergeßlichen Freunde, wenn ich ihn einst von Angesicht zu Angesicht
schaute und sich eine schickliche. Gelegenheit fände, dasjenige mitzutheilen, was
sie mir in dieser Absicht vertraut habe. —
Ihre Worte hatte ich treu bewahrt, aber eine solche Gelegenheit fand
sich nicht. Ich war damals noch zu jung und dem hochverehrten Meister
gegenüber viel zu schüchtern, als daß ich es hätte wagen dürfen, einen so
überaus delicaten Gegenstand zu berühren. Späterhin führte mich mein
Geschick aus seiner Nähe und während mancher kurzen Anwesenheit in
Weimar hielt mich die Furcht, durch meine Taubheit lästig zu werden, davon
ab. das ehemalige Verhältniß mit demselben wieder anzuknüpfen. Schon
hatte ich die Hoffnung, mich jenes heiligen Auftrages entledigen zu können,
gänzlich aufgegeben, als ich mich so freundlich dazu berufen sah und dies für
eine besondere Gunst des Himmels halten muß.
Möge der Inhalt dieser flüchtig entworfenen Zeilen die reiche Ver¬
gangenheit des erhabenen Dichtergreises wie ein milder Sonnenblick be¬
leuchten, und meine innigen Wünsche für sein Wohlergehen erfüllt werden!
Weimar, am 2. Dec. 1330.
Antwort Goethe's an Frau v. Beaulieu-Marconnay.
Nur mit den wenigsten Worten, verehrte Freundin, mein dankbarstes
Anerkennen. Ihr theures Blatt mußte ich mit Rührung an die Lippen
drücken. Mehr wüßte ich nicht zu sagen. Ihnen aber möge zu geeigneter
Stunde, als genügender Lohn, irgend eine eben so freudige Erquickung
werden.
Weimar, am 7. Dec. 1830.
Ein Brief Goethe's an Gräfin Julie von Egloffstein.
(Folgendes zärtliche Handschreiben, welches zu den Seltenheiten gehört,
da Goethe höchst ungern zu schreiben pflegte, bezieht sich auf das declama-
tonsche Talent der Gräfin Julie, dessen Goethe sich oft bediente, um sich seine
eigenen Dichtungen von ihr vorlesen zu lassen.)
„Von beiliegenden Prolog, schöne Julie, nehmen Sie eine Abschrift,
geben sie nicht aus der Hand, erfreuen mich bald mit einem glücklichen Vortrag.
W., 2. Juni 1821.
Ein Brief Klingers an Gräfin Caroline v. Egloffstein.
„Ihr edles Herz, hochverehrte Gräfin, hat Ihnen die Wahrheit gesagt,
indem es Sie versicherte, daß Ihr treuer Freund Sie nicht vergessen kann;
der geringste Zweifel an seiner Treue wäre ein moralisches Vergehen, dessen
Ihr Herz nicht fähig ist, und er lebt in dem Glauben und der festen Ueber¬
zeugung, von Ihnen erkannt zu sein. Sie sind ihm und blieben ihm. was
Sie ihm von dem Augenblicke des Anerkennens Ihres Innern waren: eine
liebliche Erscheinung, die ihn freundlich durch das Leben geleitet.
Mit Freude und Vergnügen habe ich gelesen und von dem Herrn Baron
von Beaulieu gehört, daß Ihre Gesundheit sich immer zum Bessern neiget,
ich wünsche von Herzen Dauer und Zunahme. Von mir -habe ich nichts zu
sagen, als daß meine Leiden, mein hohes Alter zu einer Art von Märthr-
thum machen und immer mehr zu machen drohen, indessen ist das Innere
in mir immer noch gleich wach und jung, zum Kampfe gerüstet, kräftig stre¬
bend, die Obermacht zu erhalten, die es bisher ausgeübt hat.
Mit Schrecken und tiefem Schmerz habe ich die Nachricht von der ge¬
fährlichen Krankheit unseres Goethe in den öffentlichen Blättern gelesen und
mit Angst die besseren Nachrichten, die Sie mir auch gegeben, erwartet: er
lebt und wird uns leben. Ich, dem die Sonne des Lebens, mit dem gleichen
Verluste*), für immer untergegangen ist, und der in dem Dunkel noch fort¬
leben muß, mußte als treuer Freund und unglücklicher, verlassener Vater am
tiefsten von allen, die Goethe lieben, gerührt und betroffen werden. Nach
diesem vermag ich nicht weiter zu gehen, ich blicke nach Ihnen, sehe Sie,
rede mit Ihnen, gehe an Ihrer Seite nach dem Pavillon der Rosen, spreche
mit Ihnen von Goethe, von allem Guten und Trefflicher und fühle den Ab¬
glanz Ihres Geistes und Herzens in mir.
Se. Petersburg, 12. Dec. 1830.
Brief des Kanzlers von Müller an die Gräfin Caroline
von Egloffstein.
Wenn Sie diese Zeilen öffnen, Theuerste! so wissen Sie schon unser aller
unersetzlichen Verlust, den Ihrigen ganz besonders. —
Er schied so sanft, so heiter, so vollkräftig bis zur letzten Stunde, daß
es nicht möglich wird zu denken, daß er uns verloren sei. Nein, er
lebt für immer und er lebt für immer in uns allen, seinen Getreuen, fort!
Vor wenig Wochen schloß er den S ten und letzten Act des neuen Faust
also ab:
„Es wird die Spur von meinen Erdentagen
Nicht in Aeonen untergehn!"
Wie wahr ist es denn nun auf ihn selbst anwendbar!
Ottilie*) übertraf sich selbst an liebevoller Pflege und auch bis jetzt noch
an Standhaftigkeit. Sie war und ist fortwährend um Sie und Ihren
Schmerz sehr bekümmert. Auch die Pogwisch. Wir wachten alle die letzte
Nacht sammt den 2 Enkeln, Vogeler und Kräuter. Früh sechs Uhr trank
er noch seinen Kaffee mit Wolf und bestellte sich Wildpret und Fische für
Mittag, hieß Ottilie auf ihr Zimmer gehen und sprach von baldiger Wieder¬
herstellung. Nicht die geringste Todesahnung war in ihm. Er scherzte um
9 Uhr. wo der Arzt ihn längst aufgegeben, noch mit Ottilie, wenn schon
sehr matt. Sein Sterben war nur ein Ausbleiben des Athems, ohne alles
Zucken noch Krampf. Daher auch die selig ruhige Miene im Tode, und
noch jetzt!
Die Hoheit und der Großherzog hatten nicht an Gefahr glauben wollen
und waren dann um so heftiger ergriffen. Beide benehmen sich hinsichtlich
meiner Vorschläge sehr würdig und bereitwillig, alles zu thun, was irgend
zu Ehren seines Andenkens geschehen konnte.
Montag früh 8 — 12 Uhr ist, auf Ottiliens und des Publicums leiden¬
schaftlichen Betrieb, jedoch gegen mein Gefühl und Rath die Parade¬
ausstellung. Abends 5 Uhr die feierliche Beisetzung in die Fürstengruft, mit
Gesängen von Zelter, Eberwein und Hummel componirt, aus Goethe's eige¬
nen Dichtungen. Röhr hält die Rede. Daß ich durchgesetzt, daß das Theater
5 Tage geschlossen bleibt, werden sie loben. Spiegel wollte durchaus nur
einmal aussetzen, ob er gleich außerdem sehr bereitwillig zu allem, ja selbst
sehr ergriffen war. Ottilie reist morgen nach Jena, auf einige Tage, bis
das Testament Dienstags publicirt sein wird.
So viel in höchster Eile. Wir sind sehr besorgt um Sie, >— strafen
Sie doch ja unsere Sorgen Lügen! Ewig der Ihrige!
„Grundsteine einer Allgemeinen Culturgeschichte der neuesten Zeit"
von Honegger. Erster Band. Die Zeit des ersten Kaiserreichs. Leipzig, I. I.
Weber 1868.
Vergegenwärtigt man sich, wie erst seit verhältnißmäßig kurzer Zeit,
Kunst-, Literatur-, Rechts-, Wirthschaftsgeschichte u. f. f. getrieben werden, so
begreift man, daß alle bisherigen Versuche allgemeine Culturgeschichte zu
schreiben als nur sehr theilweise gelungen bezeichnet werden können, daß
namentlich bei allen derartigen Versuchen eine erstaunliche UnVerhältniß-
Mäßigkeit der .Behandlung der einzelnen Culturgebiete in die Augen fällt,
daß Zufall. Neigung und subjective Willkür in den meisten Fällen aufs
Gerathewohl den Plan solcher Werke entstehen ließen. Man verfuhr eben
durchaus dilettantisch.
Uns liegt ein in umfassenden Maaßstabe angelegter Versuch vor, die
Geschichte der letzten Jahrzehnte culturhistorisch zu behandeln. Vor nicht
langer Zeit erschien der erste Band von I, I. Honegger's Werk „Grund¬
steine einer Allgemeinen Culturgeschichte der Neuesten Zeit." (Leipzig, Ver¬
lagsbuchhandlung von I. I. Weber, 1868. XII. u. 416 Seiten.) Bereits
vor drei Jahren erschien gleichsam als Vorläufer des vorliegenden Werkes
ein Buch von demselben Verfasser „Literatur und Cultur des neunzehnten
Jahrhunderts." Ueber dieses letztere spricht der Verfasser selbstgefällig aus. es
sei „ein kühner Wurf" gewesen, den er gewagt habe „als der Erste, der den
Versuch machte, in wenigen, scharfen Strichen die culturgeschichtliche Ent¬
wickelung unsers Jahrhunderts dialektisch zu entwerfen/' „Die Aufgabe scheint
gelungen", sagt Hvnegger, wobei er wahrscheinlich nicht die Aufgabe, sondern
die Lösung der Aufgabe meint. Er stattet der Kritik seinen Dank ab, weil
sie seiner „ausgeprägt individuellen Auffassung und charakteristisch subjectiven
Darstellungsweise alle Berechtigung zugestanden habe." Letzteren Act des
Zugestehens der Berechtigung bezeichnet der Verfasser etwas wunderlich als
„zwei Eigenschaften, welche der Literatur unserer Tage so ziemlich abhanden
gekommen sind."
Die „Grundsteine einer Allgemeinen Culturgeschichte der Neuesten Zeit",
ein Werk, „das sich vorsetzt, die Fundamentalpunkte des culturgeschichtlichen
Ganzen in unserem Jahrhundert herauszuheben", sollen in fünf Bänden er¬
scheinen: 1) Das erste Kaiserreich, 2) Erste Abtheilung. Die Restauration in
ihrem politischen Schwanken. Zweite Abtheilung. Die Restauration auf ihrer
reactionairen Höhe; 3) und 4) das Julikönigthum und die Bourgeoisie; 3)
Dialektischer Abriß über den gesammten Culturgang unseres Jahrhunderts und
seine Endresultate.
Von seinem früheren Werke meint der Verfasser die „Aufgabe" sei ge¬
lungen, ohne von der Lösung der Aufgabe zu reden. Sein zweites Werk
bezeichnen wir als nicht gelungen, weil er an die Lösung einer Aufgabe ge¬
gangen ist, ohne sich das Wesen dieser Aufgabe deutlich vergegenwärtigt zu
haben. Sein Buch tritt mit dem Anspruch auf, Bahn zu brechen für die
culturgeschichtliche Behandlung der letzten Jahrzehnte; es will den Weg
zeigen, auf welchem fortgeschritten werden soll; es sollen Grundsteine, d. h.
eine solide Basis geliesert werden, auf welcher etwa späterkommende weiter¬
bauen können. Der Verfasser hält sich für einen Pionier auf einem bisher
nur wenig bekannten oder so gut wie gar nicht bearbeiteten Terrain; er will
ein Baumeister sein, welcher für die Kärrner, Maurerund Zimmerleute den
Grundriß liefert. Nicht so sehr das Baumaterial will er herbeischaffen als
die leitenden Ideen für den zukünftigen Bau einer Culturgeschichte der neue¬
sten Zeit angeben. Wir erwarten somit Planmäßigkeit, Vollständigkeit in
der Anlage, ein ideelles Beherrschen des Ganzen, das Bewußtsein davon,
wie gearbeitet werden soll. Am Schlüsse der Vorrede sagt der Verfasser, er
wolle „nicht ins Detail gehen, sondern die Grundgedanken der Zeit kurz
und scharf fixiren, ihr die besondere Signatur ablauschen und das Funda¬
ment herstellen für eine weiter ausgeführte und in die Specialitäten ein¬
gehende Geistesgeschichte unserer vielbewegten und weithin strebenden Zeit."
Seinen auf das Allgemeine, Zusammenfassende gerichteten Geist charakterisirt
der Verfasser folgendermaßen: „Die Natur hat mir so viel Neigung und
Geduld gegeben, die Einzelnheiten zu studiren, aber nicht genug, mich selber
mit ihnen zu befassen. An dem Bächlein, das den großen Stromlauf schwellen
hilft, mag ich gern ausruhend verweilen; aber als Maler würde ich seine
idyllische Ruhe schwerlich zeichnen; mich locken mehr die unbegrenzten Hori¬
zonte und die Höhen. Die weitreichenden Vorstudien des Ganzen sind ab¬
geschlossen, der Organismus und die Gliederung des ungeheuren Materials
lange durchdacht u. s. f."
Büchertitel sind Wechsel, die der Verfasser ausstellt und in dem Buche
bezahlen muß. Vorreden, wie die des Verfassers lassen auf eine ungewöhn¬
liche Zahlungsfähigkeit schließen. Die Versprechungen des Verfassers sollen
uns zu der Voraussetzung nöthigen, daß wir es hier mit einem philosophi¬
schen Kopf xar exeellknos zu thun haben, daß das „ungeheure Material"
den gewaltigen Beherrscher, die Aufgabe ihren Meister gefunden habe.
Dem ist aber nicht so. Nicht „Grundsteine" finden wir ne dem Werke
Honegger's, sondern nur Bausteine , zu einer Culturgeschichte der neuesten
Zeit, und zwar meist Bausteine, die ganz formlos und unbehauen nicht im
mindesten auf einen Plan, auf einen großen ganzen Zusammenhang eines
herzustellenden Baues hindeuten, die keinerlei zukünftigen Organismus er¬
rathen lassen, die so ausschließlich quantitative Bedeutung haben, wie nur
irgendwelche für einen Bau bestimmte Materialien haben können, wie Sand
Mörtel.
Der Verfasser sagt, die „Gliederung des ungeheuren Materials sei lange
durchdacht". Betrachten wir diese Gliederung, so müssen wir zuallernächst
fragen, welche Veranlassung den Verfasser bewogen hat, bei der Periodisirung
der allgemeinen Culturgeschichte der letzten Jahrzehnte, Ereignisse der po¬
litischen Geschichte und zwar der politischen Geschichte Frankreichs zu
Grunde zu legen. Das erste Kaiserreich, die Restauration der Bourbons, das
Julikönigthum und die Bourgeoisie sollen das Prinzip der Eintheilung einer
allgemeinen Culturgeschichte abgeben? Es ist schwer abzusehen, wie der Ver¬
fasser zu der Ueberzeugung von einem solchen Zusammenhange zwischen den
politischen Krisen in einem europäischen Staate und der Geschichte der Wissen¬
schaft, Kunst, Literatur, Technik, der Reisen, Entdeckungen und Erfindungen
der Colonisation in allen übrigen Staaten gekommen ist. Da weder aus der
Vorrede noch aus dem Inhalte des ersten Bandes, noch aus der Art der Behand¬
lung der einzelnen Abschnitte irgend welche Gründe für diese „Gliederung" zu
ersehen sind, so nehmen wir vorläufig an, daß nur die Routine der
hergebrachten Eintheilung der politischen Geschichte des neunzehnten Jahr-
Hunderts, welche allerdings in der Bedeutung der politischen Ereignisse der
Jahre 181S und 1830 einen ausreichenden Grund hat, den Verfasser bestimmt
habe auch für die Culturgeschichte dasselbe Schema zu wählen. Ein solches
Verfahren wäre aber nur dann gerechtfertigt, wenn die Rückkehr der Bourbons
auf den französischen Thron etwa in der Geschichte der Chemie, oder in der
Entwickelung der modernen Sculptur ein so wesentliches Ereignis; gewesen
wäre, als sie auf dem Gebiete der Politik eine hervorragende Rolle spielt,
oder wenn die Thronbesteigung Louis Philipps eine neue Phase der Musik¬
geschichte eingeleitet hätte, oder für die Geschichte der Landwirthschaft epoche¬
machend gewesen wäre. Von einem solchen innigen Zusammenhang der
französischen Staatsgeschichte mit den verschiedenen Gebieten der Culturgeschichte
ist uns aber nicht nur nichts bekannt, sondern wir müssen auch ver¬
zweifeln aus dem Werke des Herrn Honegger zu erfahren, daß ein solcher
Zusammenhang bestehe. Der Verfasser denkt auch nicht daran, daß eine
solche „Gliederung des ungeheuren Materials" ihm die Pflicht auferlege einen
Zusammenhang der verschiedenen Culturgebiete in einer Epoche oder Periode
auszuweisen, denselben als Eintheilungsgrund darzustellen und nach irgend einem
Princip für die Gliederung zu suchen. Er nimmt ganz einfach das schon zu¬
rechtgezimmerte Fachwerk der Periodifirung der politischen Geschichte und
schüttet seine Collectanceen ganz gemächlich und sein säuberlich in die ver¬
schiedenen Rubriken, so daß die Darstellung der Geschichte der Astronomie,
der Reisen und der Colonisation, der Baukunst und der Philosophie ohne
Umstände im Jahre 1813 und im Jahre 1830 abgeschnitten wird, — sind
doch die Bourbons 1816 auf den französischen Thron gekommen und 1830
wieder vertrieben worden. Ob die Geschichte der Aesthetik oder der drama¬
tischen Kunst, ob die Geschichte der Bauernemancipation oder Baumwollen¬
spinnerei, ob die Geschichte der Zoologie oder der Theologie sich zufällig auch
in solche Perioden von 1800 bis 1815, von 181S bis 1830 eintheilen lasse,
oder ob Alles dieses sehr viel mit Karl X. oder Louis Philipp zu schaffen
habe, ob Alles das organisch eingetheilt sei, — daran denkt der Verfasser
nicht, obgleich er doch versichert, „der Organismus und die Gliederung des
ungeheuren Materials seien lange durchdacht." Wir meinen, man könne
mit demselben Rechte von einer organischen Gliederung des Materials in
einem alphabetisch geordneten Conversationslexicon sprechen. Nachschlage¬
bücher dieser Art aber haben gar nicht den Anspruch, ein Ganzes, ein System,
eine qualitative Leistung zu sein; sie enthalten und bieten Material und das
ist genug. Ebenso liefert der Verfasser des vorliegenden Werkes keine Grund¬
steine, sondern Bausteine, keinen Plan zu einem Gebäude, sondern nur hier
und da brauchbares Rohmaterial. Ebenso wenig wie ein Lager von Bal¬
ken, Brettern und Ziegeln etwas ist, worauf man „weiterbauen" kann, ist
Herr Honegger als Systematiker der Culturgeschichte des neunzehnten Jahr¬
hunderts anzusehen, wenn er sich auch dafür ausgiebt.
Es bedarf in der That nur geringen Nachdenkens, um einzusehen, daß
jedes Gebiet der Culturgeschichte seine eigene Periodisirung haben müsse.
Für die politische Entwickelung, welche wir natürlich als einen Theil der
Culturgeschichte ansehen, sind jene Zeitpunkte 181S und 1830 epochemachend,
für andere Gebiete keineswegs. Auf dem Gebiete der politischen Geschichte
sind die Jahre 1830 und 1848 Revolutionsjahre; auf dem Gebiete der Ge¬
schichte der Theologie ist etwa das Jahr 1833 ein Revolutionsjahr, als der
Zeitpunkt des Erscheinens von David Strauß' Leben Jesu; der Sturz Napoleons
in den Jahren 1814 und 1815 ist für die politische Geschichte verhängnißvoll ge¬
wesen, aber obgleich Beethovens Eroica mit Napoleon zusammenhängen soll,
sind denn doch diese Jahre in der Geschichte der Musik nicht so wichtig als
etwa die Jahre des Erscheinens der beliebtesten Opern Rossinis oder der gro߬
artigsten Symphonieen Beethovens, für die Geschichte der Baumwollindustrie
ist das Jahr 1792 als der Zeitpunkt der Erfindung des mechanischen Web-
stuhls durch Cortwright wichtiger als die auf dem Gebiete der politischen Ge¬
schichte hervorragenden Jahre 1789, 181S, 1830; das Jahr 18S0 als der
Zeitpunkt des Erscheinens von Schleiden's „Grundsätze einer wissenschaft¬
lichen Botanik" ist für die Geschichte der Botanik wichtiger als das Jahr
1848 mit all' seinen politischen Stürmen und Krisen, u. tgi. in.
Wir Protestiren daher gegen eine so willkürliche und dilettantische Peri¬
odisirung einer „Allgemeinen Kulturgeschichte", wie sie in Honegger's Werk
angetroffen wird, und verwerfen dieselbe als eine durchaus unwissenschaftliche.
Dagegen halten wir die Forderung aufrecht, daß in einer „Allgemeinen
Culturgeschichte" auf den Zusammenhang der Entwickelung auf verschiedenen
Culturgebieten hingewiesen werde. Die Jdealisirung des Mittelalters be.
gegnet uns sowohl auf politischem Gebiete als aus dem der schönen Literatur
— die Classicität der Malerei eines David erinnert ebenso wie manche politische
Institution Napoleons I. an die Vorliebe, mit welcher das achtzehnte Jahr-
hundert bei den Idealen Roms und Griechenlands verweilte; es war nicht
zufällig, daß die germanistischen Studien während der Periode der politischen
Reaction gediehen, daß die Romanlectüre in der Zeit des politischen Still¬
stands zunahm, daß der musikalische Dilettantismus in Oesterreich gerade '
zur Zeit des Metternich'schen Systems zur Blüthe gelangte. Auf solche
Wechselwirkung der Erscheinungen auf verschiedenen Culturgebieten gilt es
hinzuweisen, wenn man „Allgemeine Culturgeschichte" schreiben will. Und
eben durch solche allgemein historische Gesichtspunkte, durch den Hinweis
auf derartige Zusammenhänge hat sich die allgemein-culturgeschichtliche Be¬
handlung von der speciellen Bearbeitung der Geschichte der einzelnen Cultur¬
gebiete zu unterscheiden. So wird z. B. bei einer speciellen Behandlung
der Literaturgeschichte die ästhetische Beurtheilung der einzelnen Werke eine
ungleich hervorragendere Rolle zu spielen haben, während eine allgemein-
culturgeschichtliche Behandlung der Literatur in der Aesthetik nur einen unter¬
geordneten Maßstab bei der Beurtheilung der Bedeutung einzelner literarischer
Erscheinungen zu erblicken hat. In einer speciellen Literaturgeschichte werden
daher etwa Claurens Romane weniger Beachtung verdienen, während die
große Verbreitung derselben culturhistorisch sehr wichtig ist. Nicht die Ein¬
zelheiten der naturwissenschaftlichen Forschungen Humboldts, Bonplands,
Lavoisiers u. A. sind eulturhistorisch wichtig, sondern vielmehr die Anregung,
welche diese Studien für die geistigen Bestrebungen boten, der Einfluß, den ,,
sie etwa auf die Veränderung der Schulpläne, der Universitätsprogramme
übten u. tgi. in.; die einzelnen technischen Erfindungen haben für die Kultur¬
geschichte vorzugsweise Bedeutung, insofern sie bestimmend auf allgemeine,
bestehende Zustände einwirkten, etwa die Lage der Fabrikarbeiter umgestal¬
teten u. tgi. Es gilt, mit einem Worte, bei der Kulturgeschichte mehr auf
die Energie der einzelnen Erscheinungen, auf ihre Wirkung, auf ihren Zu¬
sammenhang mit andern Erscheinungen hinzuweisen als ihr eigenes Wesen
für sich zu ergründen; es gilt die einzelnen Momente der politischen, wirth¬
schaftlichen, literärischen, wissenschaftlichen u. f. f. Entwickelung allgemein
historisch zu würdigen, den allseitigen Fortschritt als einen organischen zu
erkennen.
Eine „Allgemeine Culturgeschichte" muß auf Vollständigkeit in der Anlage
abzielen. Sie muß ein Ganzes bieten. Der Grundriß zu einem solchen
Werke muß die Totalität des Stoffes umfassen. Mag auch die Bearbeitung
einzelner Abschnitte, die weitere Ausführung der Einzelnheiten hier und da
wegen des Mangels an Vorarbeiten noch nicht möglich sein, so muß doch
ein Schema sür die Gesammtarbeit entworfen werden, darf kein wesent¬
liches Gebiet vergessen sein; es muß ein entsprechendes Verhältniß zwischen
den einzelnen Theilen bestehen; die Reihenfolge der Abschnitte darf nicht eine
willkürliche, zufällige sein. Es handelt sich hier ebenso wie bei der Periodi-
sirung um Planmäßigkeit, um die „organische Gliederung" des Materials.
Daher ist es von Interesse die Abschnitte zu betrachten, in welche Herr Honegger
seinen ersten Band zerlegt. Sie sind folgende: 1) Consulat und Kaiserreich;
2) die einzelnen Staaten, innere Politik und Gesetzgebung; 3) Sociale Züge;
4) Erfindungen, Technik und Bauten; 6) Reisen, Entdeckungen und Koloni¬
sationen; 6) Wissenschaft und gelehrte Forschung; 7) Tagesgeschichte und
Politik. Memoiren. Journalistik; 8) Bildende Künste; 9) Theater und Musik;
10) Schöne Literatur.
Politik und Literatur sind bekanntlich die Gebiete, welche, einem her¬
gebrachten Vorurtheil zufolge, Jedermann ohne besondere Vorbereitung ver¬
steht, beherrscht, über welche zu schreiben und zu sprechen Jeder sich befähigt
glaubt. Historiker, welche ihr ganzes Leben lang politische Geschichte treiben
und schreiben, denken nur selten an ein ernsteres Studium der Staatswissen¬
schaften, während es doch nicht leicht irgend Jemand einfallen könnte, die
Geschichte der Chemie zu schreiben ohne letztere studirt zu haben oder die
Geschichte der Wirthschaft ohne in der Nationalökonomie zu Hause zu sein.
Lange Zeit wurde der Begriff der Geschichte mit dem der politischen Geschichte
verwechselt, bis endlich insbesondere die schöne Literatur, auch die Literatur
im weiteren Sinne einen Platz in allgemein-geschichtlichen Darstellungen er¬
oberte. Man betrachtete sie als eine nothwendige Ergänzung zu der Staaten¬
geschichte; man war einigermaßen vollständiger geworden. In der Behandlung
der Literatur, so flüchtig und beiläufig sie auch meist abgefertigt wurde, lag
doch eine Art Geständniß, daß die Geschichte der Staaten allein nicht mit
der Allgemeinen Geschichte verwechselt werden dürfe. In dem Maße als die
speciellen literarhistorischen Forschungen gediehen, ward auch der Allgemeinen
Geschichte von dieser Seite her Material zugetragen, und die letztere muß
Sorge tragen es zu verwenden. Anders stand es mit anderen Gebieten.
Politik und Literatur genossen ein Privilegium, — Gegenstand allgemein¬
geschichtlicher Behandlung zu werden: Volkswirthschaft, Nechtsentwickelung
u. tgi. blieben wenig beachtet.
Es ist natürlich, wenn mit dem Begriff der Culturgeschichte in neuerer
Zeit das Bestreben zum Ausdruck gelangt ist, gegen eine solche Einseitigkeit
anzukämpfen. Es soll nach Vollständigkeit der historischen Objecte gestrebt
werden. Man will alle Culturgebiete historisch betrachten. So gelangt man
zur Encyclopädie der Geschichte, und man darf sagen, daß ein solches Streben
zu dem Vielverheißendsten auf dem Gebiete der neuesten Geschichte gehört.
Herr Honegger vertritt ebenfalls dieses Streben nach einer solchen Tota¬
lität der Objecte für die Geschichtschreibung. Dieses Streben war bei ihm
die Veranlassung zu dem umfassenden Unternehmen, dessen Anfänge uns vor-
liegen, die Ueberschriften der einzelnen Abschnitte zeigen uns, daß er möglichst
vielseitig und in der Anlage erschöpfend zu sein versucht. Nichtsdestoweniger
ist er in der Auswahl seiner Stoffe willkürlich, unvollständig, dilettantisch.
Das Verständniß für die Bedeutung großer Culturgebiete, welche er gar
nicht oder nur sehr flüchtig berührt, suchen wir bei ihm vergebens. Die ganze
kirchengeschichtliche Entwickelung ist eigentlich nirgends erwähnt; Wirthschafts¬
geschichte suchen wir umsonst. In einem Grundriß zu einer Allgemeinen
Kulturgeschichte der Jahre 1800—1815, in welchem über Friedrich Schlegel
zehn Seiten hindurch gesprochen wird, in welchem erwähnt wird, daß 1811
Davy das Euchlorium (Chloroxhdul) hergestellt, und Eschenbach 1806 die Mund¬
harmonika erfunden habe, findet sich kein Wort über die Wirkungen der
Continentalsperre auf das wirthschaftliche Leben Europa's, sondern nur in
dem ersten Abschnitte über das Kaiserreich — die Erwähnung der bekannten
Erlasse Napoleons und Englands als rein politische Ereignisse. Die Frage
von der weltlichen Macht des Papstthums, für die neueste Culturgeschichte
von der allergrößten Wichtigkeit und gerade in der Zeit des Kaiserreichs in
lebhaftester Weise angeregt, hat in Honeggers Buch gar keine Berücksichtigung
gefunden, während er der Besprechung der Werke von Achin von Arnim
mehrere Seiten widmet, von der Entdeckung der Chinasäure durch Vouquelin
im Jahre 1806 und von der Erfindung der Clichirmaschine im Jahr 1803
spricht. — Der Darstellung und Kritik der Hegel'schen Philosophie sind fünf¬
zehn Seiten gewidmet, während der schon zur Zeit Napoleons wichtigen
Anfänge der literarischen Thätigkeit S. Simon's und Fourier's nicht mit
einer Silbe gedacht wird. ' Genug, es fehlen an dem von dem Verfasser „durch¬
dachten Organismus" so wichtige Glieder, daß das Ganze nothwendig als
eine Mißgeburt erscheint, wenn man es, wie der Verfasser doch wünscht, als
ein Ganzes betrachten will.
Allerdings macht der Verfasser seine Leser schon in der Vorrede auf eine
solche Unverhältnißmäßigkeit in der Bearbeitung der einzelnen Abschnitte ge¬
saßt. Er sagt: „Das Ganze wird die strengste Gleichförmigkeit des Sinnes
beherrschen, während umgekehrt die Ungleichheit des Styles und der Be¬
handlung innerhalb jedes einzelnen Bandes beim Wechsel der mannigfachen
Materien sich geltend machen werden." Diese Ungleichheit der Behandlung ist
indessen denn doch zu ausfallend. In dem Abschnitt „Wissenschaft und gelehrte
Forschung", bei welchem übrigens der Leser, beiläufig bemerkt, nicht erfährt,
wodurch sich die Wissenschaft von der gelehrten Forschung unterscheidet, ist der
Geschichte der deutschen Philosophie ein sehr viel größerer Raum (53 Seiten)
gewidmet, als der Geschichte aller andern Wissenschaften zusammen (40 Seiten.)
Bei Gelegenheit Schellings gibt der Verfasser eine allgemeine und aus¬
führliche Charakteristik der Naturphilosophie, während er bei der Geschichte
der Chemie seitenlange Tabellen von Namen und Zahlen über die Erfindun¬
gen liefert. Ueber Tieck werden acht Seiten lang ästhetische und kritische
Betrachtungen angestellt, während in dem Abschnitt „Erfindungen. Technik
und Bauten" wiederum Tabellen von Namen und Zahlen mitgetheilt wer¬
den; während über fünfzig Gedichte Thomas Moore's genannt werden, be¬
gnügt sich der Verfasser mit einer sehr flüchtigen, kurzen und allgemeinen
Charakteristik der wissenschaftlichen und literarischen Thätigkeit Bentham's. —
Dem Abschnitt über die schöne Literatur ist fast die Hälfte des Bandes (160
Seiten) gewidmet, während in dem 22 Seiten langen Abschnitte „Sociale
Züge" in einem Athem u. a. folgende Gegenstände zur Behandlung kommen:
Industrieausstellungen. Landbau. Schafzucht, Agriculturchemie, Code Napo¬
leon, Leibeigenschaft, Handel und Industrie, Finanzwirthschaft, Bankwesen.
Sparcassen. Waisenhäuser, Blindenanstalten, Herstellung des Adels in Hol¬
land, Umwandlung der Unterrichtsmethode, Sclavenhandel, religiöse Orden,
Sectenwesen, Missionsgesellschaften, Turnkunst. Nationalgarten u. s. w. —
Ebenso werden in dem Abschnitt „Technik. Erfindungen und Bauten" in
bunt durch einander gewürfelter Reihenfolge erwähnt: Eisenbahnen, Tele¬
graphen, Beleuchtung und Buchdruck, Kriegswesen und Lithographie, Kriegs¬
hafen und Canalbauten und zwar Alles dieses auf acht Seiten.
So sehen wir den Verfasser bald bei dem Allgemeinsten verweilen, bald
in das Einzelste eingehen. Hier läßt er seiner Liebhaberei, literarische Er¬
scheinungen in sehr subjectiver Weise zu besprechen, freien Lauf, dort speist er
uns mit einer kahlen Nomenclatur ab; an einzelnen Stellen stoßen wir zu¬
fällig auf philosophisch-historische Betrachtungen, an den meisten andern da¬
gegen bleibt es bei der bloßen Aufzählung des Aeußerlichsten. Hier breite
langathmige Phrasen, aus denen wir erfahren, ob etwa Jean Paul dem Na¬
turell des Verfassers zusagt, nicht aber, welche culturhistorische Bedeutung
Jean Paul's Schriften haben; dort nur dürftige aus Encyclopädien und
Fachwerken zusammengelesene Notizen, die unverarbeitet, nur äußerlich ge¬
ordnet, lediglich das Rohmaterial für Culturgeschichte abgeben. Ein solches
wüstes Nebeneinander erscheint in einem Grundriß der Culturgeschichte ebenso
unangemessen, als das unmäßig liebevolle Verweilen bei einzelnen Schrift¬
stellern, deren culturhistorische Bedeutung nicht weiter gewürdigt wird, deren
Schriften aber nach dem Maßstab der ästhetischen Kritik eingehend besprochen
werden. Solche Essay's, auf welche der Verfasser sehr stolz ist, wie aus der
Vorrede hervorgeht, gehören in literar-historische Zeitschriften, nicht in ein
Buch, welches zum Fundament einer Allgemeinen Culturgeschichte dienen soll.
Mit solchen „psychologischen Portraits" ist für eine Culturgeschichte sehr
wenig gethan, wenn sie nicht in historischem Zusammenhange mit ihrer
ganzen Zeit erscheinen, sondern in engem Rahmen und von dem Stand-
Punkt subjectiver ästhetischer Liebhaberei betrachtet werden. Bei Männern wie
Gervinus kann der Verfasser lernen, die Bedeutung literarischer Größen im Zu¬
sammenhange mit den Interessen und Bestrebungen ihrer Zeit zu würdigen,
darzustellen; mag er aber solche psychologische Portraits noch so sehr häufen, so
wird daraus noch keine Culturgeschichte, sondern nur ein Versuch literarhistorischer
Schöngeisterei. Sein früheres Buch nannte der Verfasser „Cultur und Literatur".
Er stellte letztere neben die erstere, gleichsam als schloßen Cultur und Literatur
einander aus. In seinem letzten Werke bleibt die Literatur, wie sie besprochen
wird, ebenfalls neben,außerhalb der Cultur. Ueber ihren Zusammenhang mit
den Culturinteressen der neuesten Zeit erfahren wir so gut wie nichts.
Ueberall kommt es dem Verfasser mehr darauf an, einzelne Essay's zu
schreiben als Allgemeine Culturgeschichte, sogar wenn es sich um des Ver¬
fassers Lieblingsgebiet handelt. Ueberall ist die Auswahl der Stoffe eine zu¬
fällige. Von Gentz wird acht Seiten gesprochen, während der Geschichte der
Geschichtschreibung kaum eine Seite gewidmet ist. Ueber Uhland wird sehr
ausführlich gehandelt, während Schiller und Goethe erstaunlicher Weise gar
nicht vorkommen. Romantiker wie Brentano werden mit Sorgfalt be¬
sprochen, die Classiker dagegen fast vergessen. Alles über Heinrich v. Kleist
auf neun Seiten Gesagte ist sehr hübsch und treffend, aber es nimmt sich
sehr wunderlich.aus, wenn daneben den Schillerschen Stücken etwas weniger
als eine Zeile gewidmet ist. Arndt, der Dichter, interessirt den Verfasser
viel mehr, wie Arndt's „Geist der Zeit", dessen Honegger nicht erwähnt.
Von Usteri werden eine Menge Gedichte auf mehreren Seiten namhaft
gemacht und des Breiteren besprochen, Niebuhr's dagegen, dessen römische
Geschichte 1811 zu erscheinen begann, ist gar nicht gedacht.
Der Verfasser sagt in der Vorrede, diese literarhistorischen Portraits
hätten für ihn so sehr den meisten Werth, daß er den Rest fast blos als
das zur Vollständigkeit nothwendige Material betrachte. Damit stellt er sich
das sprechende Zeugniß aus, daß er viel besser thäte, an dem Abfassen
literarhistorischer Aufsätze Genüge zu haben und keine Culturgeschichte schrei¬
ben zu wollen, am wenigsten eine solche, welche späteren Historikern zum Weiter¬
bauen als Fundament dienen soll.
Der Verfasser spricht in der Vorrede ausführlich von seinen Grundan¬
schauungen, an denen er festhalte, von seinen Ueberzeugungen, seiner Sub>
jeetivität; er sagt, er sei gewohnt, sein eigenes Denken in die Dinge hinein¬
zulegen. Wenn man aber genauer zusieht, worauf sich alles dieses bezieht,
so ist es weder irgend ein festgestellter Begriff über das Wesen der Cultur¬
geschichte, noch eine Ansicht über die Art wie die vorliegende Aufgabe zu
lösen sei, noch sonst irgend etwas, das einem wissenschaftlichen Glaubens¬
bekenntniß ähnlich sähe, sondern nur sein individuelles Geschmacksverhältniß
zur Schule der deutschen Romantik, sein „verwerfendes Urtheil über die Ro¬
mantik". Ob Herrn Honegger die Romantiker zusagen oder nicht, erscheint
uns für die Culturgeschichte, um welche es sich doch hier handeln sollte, er¬
staunlich gleichgiltig; ob seine kritische Würdigung der Schlegel und Tieck u. s. f..
gerecht oder ungerecht sei, mögen Literaturhistoriker oder ,Aesthetiker von
Fach entscheiden. Wer aber in dem Buche „Allgemeine Culturgeschichte"
suchen will, darf sich billig darüber verwundern, daß er vorzugsweise Lite¬
raturgeschichte und ästhetisches Raisonnement darin findet, und daß von den
Dichtern am Anfang des Jahrhunderts fast ausschließlich die Romantiker
und von diesen wiederum fast ausschließlich die deutschen Romantiker Be¬
rücksichtigung gefunden haben. Fast scheint es, als sei das Werk mit so
umfassenden Titel nur deshalb unternommen worden, um des Verfassers
Urtheil über die Romantiker in Deutschland drucken zu lassen. Das hätte
allerdings auch in bescheidenerer Form geschehen können. Aber „die Grund¬
gedanken der Zeit kurz und scharf zu firiren, ihr die Signatur abzulauschen"
ist schwerer, als der Verfasser sich gedacht hat, und besteht in ganz Anderem
als in dem ästhetischen Urtheil über einige Vertreter der schönen Literatur.
Wenn es sich z, B. um das Gebiet der Politik handelt, insofern es cultur¬
historisch betrachtet werden soll, so ist mit einer kurzen Aufzählung der Er¬
eignisse aus der Staatengeschichte noch sehr wenig gethan. Es muß viel¬
mehr der Sinn und Geist der Staats^ und völkerrechtlichen Entwickelung, der
Finanzen und Polizei, der Rechtsinstitutionen und der Rechtspraxis erfaßt,
das Woher und Wohin einer solchen Entwickelung gedeutet, mit einem Worte:
es muß die Summe gezogen werden.
Man hat der Geschichtsschreibung den Vorwurf gemacht, sie sei keine
Wissenschaft, weil sie bei dem Einzelnen, Besonderen stehen bleibe. Solange
es sich, wie bisher fast ausschließlich, um Staatengeschichte handelte, war ein
solcher Vorwurf nicht ungegründet. Die Behandlung der Culturgeschichte,
nicht der Culturgeschichte in dem hergebrachten Sinne, sondern in dem
Sinne einer Sittengeschichte, einer Geschichte der Jdeenrichtungen, wie der
kürzlich verstorbene H. Ritter in seinem Briefe an L. Ranke (Ueber deutsche
Geschichtschreibung, Leipzig 1867) diese Aufgabe angedeutet hat, bietet der
Geschichtsforschung Gelegenheit wissenschaftlicher zu werden. Zu einer solchen
allgemeinen Culturgeschichte werden noch viele Vorarbeiten zu machen sein,
aber, wie Ritter richtig bemerkt, man wird die Specialgeschichte anders
treiben, wenn man den Gesichtspunkt der allgemeinen Sittengeschichte fest¬
hält. Man wird, fügen wir hinzu, mit besserem Erfolge „der Zeit ihre
Signatur ablauschen", wenn man ganz anders arbeitet wie Herr Honegger.
Wir haben früher Graf Beust gegen die Anschuldigungen der officiösen
preußischen Presse vertheidigt, welche ihn bei jeder Gelegenheit als Stören¬
fried und Ränkeschmied hinstellte, aber es fällt uns schwer zu Gunsten seiner
neuesten Publikationen etwas zu sagen, mit Ausnahme der Depeschen, welche
sich auf den Conflikt mit der Curie beziehen. Es ist als ob er die sarkastischen
Bemerkungen rechtfertigen wollte, mit denen Gras Bismarck die Aufforderung
beantwortete: auch seinerseits Blaubücher zu veröffentlichen. Dan Rochbuch
enthält diesmal wirklich viel „Anschauliches", während man zufällig weiß, daß
daneben der österreichische Reichskanzler so höchst Schädliches in die Welt
hat gehen lassen, wie die Depesche vom 1. Mai d. I. in der belgischen An¬
gelegenheit, von der wohlweislich nichts gesagt ist. Graf Beust ist unzweifel-
haft ein sehr gescheidter Mann, er hat auf seinem schwierigen Posten Großes
geleistet, (eher er hat eine unglückliche Sucht, von sich reden zu machen und
über alles seine Meinung abzugeben. Diese Neigung zeigte sich schon als er
nur sächsischer Minister war und sich als solcher bewogen fand, über alle
Ereignisse der großen Politik Depeschen abzufassen, die von den europäischen
Cabinetten mit unverhohlener Geringschätzung behandelt wurden. „Ur.
liLULt est un liullLur" hieß es in den Kanzleien, zumal seine Auslassungen
meist von unerträglicher Breite waren. „Norcis-x" nannte sich Herr von
Beust in Dresden selber, — „Leribax" wäre richtiger gewesen. Der jetzige
Reichskanzler hat nun allerdings den Beruf, sich über die meisten Fragen der
europäischen Politik auszujprechen, aber er sehlt unserer An>>ehe nach, von der
Sache abgesehen, noch ost in der Form; er schreibt, wo es nicht nöthig ist,
widerlegt Einwände oder Beschwerden, die niemand erhoben hat, und zieht seine
Argumentationen zu ungebührlicher Länge aus. Aus allem, was er schreibt,
leuchtet nicht der feste klare Sinn des Staatsmannes, der unbeirrt ein großes
Ziel verfolgt, sondern der unruhige Geist eines begabten Mannes, dem vor
allem daran liegt, daß er bei allem mitspreche.
Was die einzelnen Fragen betrifft, auf welche die Depeschen des Roth¬
buchs Bezug haben, so ist hinsichtlich des JncioentpunklS, welcher im Beginn
d. I. am ernstlichsten den europäischen Frieden bedrohte, wenig aus der
Sammlung zu lernen. Gras Beust bekennten einem Erlaß an den östreichijchen
Geschäftsträger in Constantinopel ziemlich naiv, durch den Anspruch des
Conflicts zwischen der Türkei und Griechenland überrascht zu sein; andere
Fragen von größerer Wichtigkeit hätten ihn absorturt gehabt. Daß er im
Sinne des Friedens gewirkt, daß die Anschuldigung der russischen Presse,
Baron Prokesch habe den ganzen Conflikt angezettelt aus der Luft gegriffen,
glauben wir gern. Aber eine unparteiische Darstellung hätte in der den
Aktenstücken vorausgehenden Uebersicht erwähnen müssen, daß die Beseitigung
der Gefahr diesmal vor allem Preußen zu danken war. Graf Bismarck nahm
die Initiative zur Conferenz, der preußische Geschäftsträger in Paris Graf
Solms hat die Hauptrolle bei derselben im Sinne der Ausgleichung gespielt
und es ist dies um so höher zu veranschlagen, als Preußen damit in Peters¬
burg sehr mißfiel: es bewies, daß ihm die Erhaltung des Friedens höher steht
als die russische Allianz. Von einer Anerkennung dieser unbestreitbaren
Thatsache finden wir in dem Rothbuche nichts, Graf Beust benutzt den
Conflikt nur um immer wieder darauf hinzuweisen, wie man Unrecht gehabt,
sein orientalisches Programm von 1867 nicht anzunehmen. Er betont, daß
dasselbe der Türkei umfassende Reformen an gerathen, üvergeht aber mit Still¬
schweigen, daß gerade von ihm der unglückliche Vorschlag ausging, durch den
er damals hoffte, die Gunst Rußlands zu erwerben, nämlich die Bestimmung
des Pariser Friedens aufzuheben, durch die das Schwarze Meer neutralisirt ward.
Mit großer Ostentation wird die Bedeutung des neusten Austausches
von Höflichkeiten zwischen Oesterreich und Italien hervorgehoben; auch ohne
die Depesche vom 19. April an Baron Kübeck wußte man, daß das Wiener
Cabinet eifrigst in Florenz um eine Annäherung bemüht ist, welche schwerlich
nur den Character einer Pflege gemeinsamer materieller Interessen hatte.
Zum Glück ist Oestreich hier ohne Frankreich ohnmächtig und die Bedeutung
der römischen Frage sür die innere Politik Napoleons stellt einer aggressiven
Tripelallianz zwischen Wien, Florenz und Paris starke Hindernisse entgegen.
Lehrreicher für die letzten Absichten des Reichskanzlers sind die Akten¬
stücke, welche sich auf die deutschen Angelegenheiten beziehen. Die Depesche
vom 2. Dec. 1868 an Graf Wimpffen den Übeln Eindruck betreffend, den
das vorige Rothbuch in Berlin gemacht, ist schon zur Genüge in der Presse
besprochen. Sie war mindestens unnöthig und nur ein Ausfluß der oben¬
gedachten Schreibeseligkeit. Das Circular vom 6. Mai, welches die Ver¬
öffentlichung der preußischen Telegramme von 1866 in dem bekannten östreichi¬
schen Generalstabswerke bespricht, läßt den Hauptpunkt unerörtert, wie man
nämlich in Wien in Besitz des Chifferschlüssels gekommen ist. Wenn übrigens
eine Veröffentlichung von so entschieden politischer Bedeutung ohne vorherige
Wissenschaft des Grasen Beust statthaben konnte, so ist dies nur ein Beweis, daß
er obwohl erster Minister nicht ausschließlich die auswärtige Politik macht, son¬
dern daß daneben die Strömungen einer kaiserlichen Cabinetspolitik herziehen,
denn niemand wird glauben, daß der Chef des Generalstabes gewagt habe
derartige Depeschen zu veröffentlichen ohne zuvor an allerhöchster Stelle an¬
gefragt zu haben.
In den gleichlautenden Depeschen an die Gesandten in München und
Stuttgart vom 4, April gibt der Reichskanzler seinem Wunsche nach Ver¬
wirklichung des Südbundes neuen Ausdruck, Wir können diese Sympathien
auf sich beruhen lassen, da sie unserer Ueberzeugung nach stets gegenstands¬
los bleiben werden, der Südbund ist eine Unmöglichkeit. Wir müssen uns
aber gegen die Auffassung verwahren, als sei derselbe überhaupt ein Postu¬
lat des Prager Friedens. Er wird im Art. 4 nur facultative stipulirt, den
süddeutschen Saaten soll es freistehen, zu einem Verein zusammenzutreten,
und diesem ist dann .vorweg die Anerkennung Oestreichs gesichert. Im
Uebrigen ist der Grundgedanke des Prager Vertrags für den Süden die
freie Souverainetät der einzelnen Staaten, die sie offenbar auch in dem Sinne
brauchen können und gebraucht haben, sich Beschränkungen der Souverainetät
zu Gunsten Preußens aufzuerlegen.
Wir nehmen Gelegenheit, hier eine soeben erschienene kleine Schrift
von Professor Aegidi, „die Mainlinie", zu empfehlen, in der die rechtliche
Bedeutung der betreffenden Artikel des Prager Friedens bündig erläutert
wird. Wir verweisen ferner auf einen merkwürdigen Artikel in der „Augs¬
burger Allgem. Zeitung" Ur. 210, „das östreichische Rothbuch und die preußi¬
sche Einheitspolitik", deren Verfasser, obwohl entschieden antipreußisch gesinnt
und trotz der Wiederholung der Fabeln über das durch SOjähriges consti-
tutionelles Leben entwickelte Rechtsgefühl der Südstaaten, zu dem Schlüsse
kommt, daß nur in der preußischen Centralgewalt die wahre nationale Stütze zu
finden, daß dagegen der Süden, auch abgesehen vom Prager Frieden, sich
nie Oestreich anschließen könne, weil dessen liberale innere Politik nur
Mittel zum Zweck und nur durch das gebieterische Bedürfniß des Ausgleichs
mit Ungarn dictirt sei. „Einer Politik, welche dem Parlamentarismus nur
als Mittel gegen die preußisch-deutsche Mission huldigt, vermögen wir kein
nachhaltiges Vertrauen zu schenken." Außerdem dürfe man historisch nicht
unberücksichtigt lassen, daß nicht ein folgenreicher Friede mit dem Auslande
abgeschlossen sei, bei welchem nicht das Reich und namentlich der Süden den
Schaden für Oestreichs Gewinn und Entschädigung hätte tragen müssen. —
Wir können nur wünschen, daß solche Erwägungen nüchterner Realpolitik
mehr und mehr die unklaren Sympathien und Antipathien verdrängen mögen,
in denen die Mehrheit der süddeutschen Bevölkerung sich noch wiegt.
Das Resultat für Deutschland bleibt, daß der Konflikt zwischen Preußen
und Oestreich mit dem Prager Frieden nicht beendet ist, sondern stille fort¬
dauert, aber sicher zuletzt doch wieder zu einer Entscheidung durch die Waffen
führen wird. Darauf haben wir uns vorzubereiten und dies bleibt der
Gesichtspunkt für unsere Beziehungen zu Oestreich.
Das Hauptgewicht der neuesten östreichischen Politik liegt in der Hat-
tung. die sie bei der belgisch-französischen Differenz angenommen hat und
die geradezu schmählich genannt werden darf, wenn man auch vollkommen
von allen deutschen Gesichtspunkten absieht.
Es mag dem Grafen Beust unbequem genug gewesen sein, daß seine
Depesche vom 1. Mai an den Grafen Wimpffen bekannt ward, und er hat
sich gehütet, sie in sein Rothbuch aufzunehmen, und auch das abschwächende
Circular, das er zur Erklärung erlassen haben soll, fehlt. Wir finden nur
eine Depesche an den Gesandten in Dresden, welche einer falschen Auffassung
der kaiserlichen Politik seitens der sächsischen Regierung entgegenwirken soll.
Wir können uns aller Bemerkungen hierüber enthalten, da die bekannte vor¬
treffliche Antwort des Herrn v. Friesen an diesem Product schon Justiz geübt
hat. Der eigentliche Kern bleibt die Depesche vom 1> Mai, die zunächst ganz
unmotivirt war.
Es war natürlich, daß der östreichische Gesandte in Berlin mit seinem
belgischen Collegen gelegentlich über eine Frage sprach, welche die Politik da¬
mals lebhaft bewegte. Aber eine derartige Unterhaltung motivirte in keiner
Weise Rathschläge an Belgien, sich nachgiebig gegen Frankreich zu zeigen.
Belgien hatte sie nicht gefordert und brauchte sie auch nicht, es hatte sich
nur auf einen Alliirten zu stützen und dessen Rath zu beachten, nämlich Eng¬
land. Lord Clarendon hat seine Aufgabe in trefflichster Weise gelöst, er hat
in Paris seine Stimme aufs nachdrücklichste für die Unabhängigkeit Belgiens
erhoben und hat in Brüssel seinen Beistand gegen jedes unkeusche Verlangen
Frankreichs zugesagt. Mit dieser Unterstützung ist es der Klugheit und
Energie des Herrn Frere-Orban gelungen, den ungeschickten Angriff abzu¬
schlagen und in eine ziemlich offene Niederlage der napoleonischen Politik zu
verwandeln. Aber weder er noch Lord Clarendon haben viel Wesen von
ihrer Action gemacht, Graf Beust hat sich unberufen mit Rathschlägen ein¬
gedrängt, welche allgemeines Mißtrauen wachgerufen. Lord Ciarendon hat
über die ihm mitgetheilte Depesche seinen unverhohlensten Unwillen aus¬
gesprochen und in Paris war man wiederum von der Betonung der politischen
Unabhängigkeit Belgiens wenig erbaut, womit der franzosenfreundliche Rath
an das Brüsseler Cabinet verbrämt war. Der Reichskanzler hat wenig Grund,
sich über seine Einmischung zu beglückwünschen.
Die einzige Frage, in der wir seiner Haltung zustimmen und ihm besten
Erfolg wünschen, ist die des Verhältnisses zu Rom. Der Reichskanzler
scheint uns hier die einzig richtige Politik zu verfolgen, nämlich ohne Ver¬
handlungen mit Rom, die doch unnütz bleiben müssen, einseitig die gesetzliche
Regelung der confessionellen Verhältnisse im Interesse des Staates zu voll¬
ziehen, dabei aber sorgfältig sich jedes Actes zu enthalten, welcher dem Clerus
den Anschein eines Martyriums geben könnte und die katholische Bevölker-
ung aufregen müßte. Graf Trautmannsdorf, der kaiserliche Botschafter in
Rom, soll nur im allgemein versöhnlichem Sinne wirken, aber von allen Ver¬
handlungen absehen, so lange nicht die Curie freiwillig die vollendeten That¬
sachen in Oesterreich anerkennt. Auch mit der Antwort auf die Anfrage des
Fürsten Hohenlohe wegen der Stellung zum bevorstehenden Concil müssen
wir uns einverstanden erklären. Das Circular des dänischen Ministers war
wohlgemeint und mag als Avertissement in Rom etwas mäßigend gewirkt
haben, aber Verhandlungen mit der Curie über solche Punkte sühren zu nichts,
ihr letztes Wort bleibt stets das Avr xossumus, wobei der Staat natürlich
zu kurz kommt. Cr muß sich daher aus eigner Machtvollkommenheit sein Gebiet
abgrenzen, die religiöse Freiheit der Katholiken auch da achten, wo sie ihm
unbequem wird, dagegen Uebergriffe in seine Rechte und Angriffe auf Anders¬
gläubige rücksichtslos abweisen und die Priester behandeln wie alle andern
Staatsbürger. So geschieht es in Belgien und man befindet sich wohl da¬
bei, diesen Weg hat auch Oesterreich eingeschlagen. Fühlen die Laien dann,
daß sie Anhalt beim Staat gegen die Uebergriffe des Clerus haben, so wer¬
den sie sich deren erwehren, um so mehr, je vermeßner der päpstliche Ab¬
solutismus sein Haupt erhebt. Das Concil mag die Himmelfahrt Maria,
ja die Unfehlbarkeit des Papstes zum Dogma erheben, aber ein Priester
der aus einem Befehl des Papstes die Befugniß herleiten wollte, einem
Staatsgesetz ungehorsam zu sein, ist zu bestrafen wie jeder andere Wider¬
spenstige. Es ist bedeutsam, daß sich Graf Beust, indem er sich gegen jede prä¬
ventive Maßregel in Bezug auf das Concil ausspricht, nicht nur auf die
Zustimmung seines Souverains, sondern auch auf „das volle Einverständniß
der Ministerien beider Reichshälsten" berufen kann. Bei seinen deutschen
und belgischen Depeschen finden wir von solcher Uebereinstimmung nichts
erwähnt und wir können nur wünschen, 'daß er sich künftigauf solche Mei¬
nungsäußerungen beschränken möge, denen Graf Andrassy beipflichten mag.
Der Antheil des königlich sächsischen Armeecorps am Feldzuge 1866 in Oestreich.
Bearbeitet nach den Feldacten des Generalstabes. Dresden 1869. —
Der Stab des 12. Bundesarmeecorps vermochte für seine Schrift das
officielle preußische und östreichische Werk zu benutzen, die gegenwärtige Stel¬
lung des sächsischen Armeecorps im norddeutschen Bunde machte selbstver-
ständlich rein militairische Darstellung zur Pflicht. Der Verfasser hat seine
Aufgabe auf diesen Grundlagen mit Talent und Takt gelöst. Wo der
preußische oder östreichische Bericht zu rectificiren war, — und fast nur der
letztere gab zu wesentlichen Correcturen Anlaß — ist die Widerlegung in
schonender Weise durch detaillirte Darstellung des Sachverhältnisses bewirkt,
auch die Stimmung, mit welcher die früheren und die gegenwärtigen Bun»
desgenossen behandelt werden, die Anerkennung der östreichischen Waffen¬
brüderschaft und Gastlichkeit und der preußischen Kriegstüchtigkeit sind ge¬
rade so. wie sie dem wackeren Soldaten geziemen. Der Gesammteindruck
der Arbeit ist ein erfreulicher.
Für die Geschichte des Krieges bringt das Werk freilich nur einige
willkommene Ergänzungen. Wir erfahren genauer, wie das Verhältniß im
Obercommando der östreichischen Jsar-Armee war, daß der Kronprinz von
Sachsen eigentlich nur vom 26. bis zum 26. Juni das Commando über das
erste östreichische und sächsische Corps führen sollte und wir empfinden, daß
die Unsicherheit und rücksichtsvolle Halbheit in der Führung dazu beitrug,
die Operationen der östreichischen Jsar-Armee zu lähmen. deren Aufgabe von
vorn herein ungenügend präcisirt war und durch Schwankungen im Haupt¬
quartier Benedek's beträchtlich erschwert wurde. Dazu kam die auffallend
schlechte Verbindung mit dem Obercommando der Nordarmee, es klingt fast
unglaublich, daß die wichtigsten Communicationen zwischen Feldzeugmeister
von Benedek und der Jsar-Armee 2—3 Tage unterwegs waren.
Zweimal war das sächsische Corps an größeren Gefechten betheiligt, bei
Gitschin und Königgrätz. In dem Treffen bei Gitschin, am 29. Juni, unter¬
liegt die oberste Disposition beider kriegführenden Theile, der sächsisch-östreichi¬
schen und preußischen, ernstem Bedenken. Die Preußen verwendeten bei
einem Schlage, welcher doch den Zweck haben mußte, die östreichische Jsar-
Armee womöglich abzuschneiden, für den Angriff nur Hoel Divisionen, und
die Jsar-Armee unternahm auf ungünstigem Terrain, welches durch ein Wald¬
gebirge die Truppen in zwei getrennte Theile schnitt, eine Vertheidigung,
welche die Hauptmasse der Truppen in dringende Gefahr setzte. Der sächsische
Bericht hebt zwar hervor, daß um 7 Uhr Abends, wo der Rückzugsbefehl
des Feldzeugmeisters von Benedek anlangte, das sächsische Corps noch genug
intakte Truppen hatte, um den Angriff der Division Tümpling auf der
Turnauer Straße für den Rest des Tages abzuwehren. Aber es ist ebenso
offenbar, daß längere Beharrlichkeit nur eine vollständige Umgehung durch
die preußische Division Werber und ein Abdrücken der Sachsen von ihrer
Rückzugslinie zur Folge gehabt hätte. Die Stellung war bereits unhaltbar
geworden, es war höchste Zeit für geordneten Rückzug, und der Befehl Be°
nedeks war nicht Störung eines Erfolges, sondern in Wahrheit Rettung,
jedenfalls ein sachgemäßer Vorwand. Dagegen darf sich das sächsische Corps
mit Recht rühmen, daß wenige Bataillone das nächtliche Eindringen der
Preußen in Gitschin lange genug aufgehalten haben, um die ärgsten Ein¬
bußen von der östreichischen Jsar-Armee fern zu halten.
Der Antheil des sächsischen Corps an der Schlacht bei Königgrätz hat
ein besonderes militärisches Interesse. Es ist bekannt, daß Feldzeugmeister
v. Benedek den Andrang der Preußen bei den Sachsen, am äußersten linken
Flügel der östreichischen Stellung erwartete. Da war doch sehr auffallend, daß
die Disposition seines Generalstabes so wenig daran dachte, die großen
Terrainvortheile auf diesem Flügel auszunutzen. Grade bei Nechanitz und
Hradeck war der Sumpfgrund der Bistritz, welcher dort die Flanke der öst¬
reichischen Aufstellung durch eine Bogenkrümmung abschloß, für eine nach¬
haltige Vertheidigung vorzüglich geeignet. Wie die Schrift des sächsischen
Generalstabes berichtet, hatte der Kronprinz von Sachsen die richtige Auf¬
stellung, welche ein zähes Festhalten von Hradeck und Nechanitz ermöglichte,
beabsichtigt, wurde aber durch die Disposition des Hauptquartiers zum engern
Anschluß an das Centrum in eine Stellung bei Popowitz beordert, welche
den Preußen die linke Flanke völlig Preis gegeben hätte. Und erst am
Morgen der Schlacht mußten sich die Sachsen beim Obercommando eine etwas
bessere Stellung bei Problus und Prim auswirken, welche immer noch zu weit
von dem Bistritzbogen ablag und die entscheidenden Punkte Hradeck und
Nechanitz nicht genügend deckte, aber wenigstens der voraussichtlichen BaD
des feindlichen Angriffs gegenüber lag, da sie sich im Winkel von der Front¬
linie des östreichischen Centrums zurückbog. Diese Stellung harte die Uebel,
stände eines Compromisses, sie war zwar in der Front stark, aber sie war an
den Seiten durch Wald begrenzt und einer Umgehung auf beiden Flügeln
ausgesetzt. Als die Preußen mit geringen Verlusten den Uebergang bei
Nechanitz gewonnen hatten, war bei der Überlegenheit ihrer Feuerwirkung
und ihrer größeren Gewandheit im Ausnutzen des Terrains, eine Niederlage
des östreichischen linken Flügels nur für wenige Stunden aufzuhalten. Aller¬
dings wurde die Energie des preußischen Angriffs auf diesen Flügel dadurch
vermindert, daß General Herwarth von Bitterfeld für die Elbarmee nur einen
Bistritz-Uebergang bei Nechanitz vorfand und daß die Preußen durchaus keine
Vorsorge getroffen hatten, sich andere Uebergänge zu bereiten — der Befehl
zur Schlacht war der Elbarmee bekanntlich erst in der Nacht zugegangen.
Unter diesen Verhältnissen erhielt der Kampf des linken östreichischen Flügels
welcher durch die Sachsen, das ihnen als Soutien zugetheilte 8. östreichische
Corps und die 1. leichte Kavallerie-Division (Edelsheim) gebildet wurde, den
Charakter eines besondern Treffens, welches von beiden Theilen ehrenhaft
und tüchtig, aber ohne die höchsten Kraftanstrengungen geführt wurde, es
erscheint neben den großartigen Kämpfen im Walde von Maslowed und neben
dem verzweifelten Ringen um den Besitz von Roßberitz wie ein blutiges Idyll,
es hat außerdem die merkwürdige Eigenheit, daß es auf dem begränzten
Terrain des linken östreichischen Flügels den strategischen Verlauf der Gesammt-
schlacht in kleinerem Maßstabe fast genau wiederholt. Die Preußen halten
den Kampf in der Front hin und erlangen den Sieg durch Umgehung und
Eindrückung der beiden Flanken ihres Gegners. Die Sachsen lassen sich
durch die frontale Stärke ihrer Stellung und den für Oestreich im Allgemeinen
günstigen Stand des Gefechts um Mittag zu einem Heraustreten aus der
Defensive und zu einem Angriff auf die Preußen in der Front verleiten,
ähnlich wie das 2. und 4. östreichische Armeecorps im Walde von Maslowed.
Und wie die Oestreicher sich durch jene verfehlten Offensivstöße bei Maslowed
die Möglichkeit nehmen, der angreifenden 2. Armee der Preußen rechtzeitig
auf günstigem Terrain starken Widerstand entgegenzusetzen, ebenso verfallen
die Sachsen durch ihre versuchte Offensive zu sehr und zu früh den Folgen
der preußischen Umgehung, die ihnen doch nicht unbekannt gewesen war, für
deren Abwehr sie aber ungenügende Sorge getragen hatten. Die Bataillone
des 8. östreichischen Corps wurden von der preußischen Division Canstein
aus dem Walde von Hradeck gegen die vorgerückten Bataillone der Sachsen
geschleudert und die sächsischen Bataillone von beiden Seiten in der Thal¬
mulde vor Neu-Prim zusammengedrückt. Nur durch schnellen Rückzug und
unter nicht unbedeutenden Verlusten vermochten sich die Sachsen aus dieser
schlimmen Lage zu retten. Noch einmal hielten sie Stand bei Problus, aber
einem zweiten Angriff der Preußen, welche jetzt wie auf dem Exercierplatz
tambour battg.ut in der Front eindrangen, — es war nach dem Bericht von
Augenzeugen ein großer und imposanter Anblick — vermochte das erschütterte
sächsische Corps nicht zu widerstehen. Die Sachsen traten in guter Ordnung
ihren Rückzug an, von General Herwarth, der den Angriff bis dahin vor¬
sichtig, methodisch, mit ruhiger Kraft geleitet hatte, ohne Nachdruck verfolgt.
Der sächsische Bericht bestätigt, daß die Geschütze der Cavalleriedivifion Edels-
heim hinreichten, die preußische Verfolgung unmittelbar hinter dem Schlacht¬
feld zum Stillstand zu bringen. Das Lob, welches diesen Batterien gezollt
wird, unterrichtet uns, daß die 1. leichte Cavalleriedivifion wenigstens durch
Geschützfeuer an der Schlacht thätigen Theil genommen hat. Wer die Schil¬
derung des Rückzugs in dem sächsischen Werke liest und sich über die Dis¬
ciplin und feste Haltung der sächsischen Truppen in dem Chaos der Flucht
freut, der wird auch veranlaßt, immer aufs Neue auszusprechen, daß der mi¬
litärische Ertrag des Sieges noch ein ganz anderer hätte sein können, wenn
die Preußen am Abend, der Schlacht nur eine halbe Meile weiter verfolgt
hätten. Wiederholt deutet das der sächsische Bericht an.
Die Schicksale des sächsischen Corps in den letzten Wochen zdes Feldzugs
bieten einiges Merkwürdige. Unter Anderm war uns neu, daß das Corps
bei dem gestörten Rückzug von Olmütz nach Wien in acht Theile zerrissen
wurde, welche sich spät, zum Theil erst nach Abschluß der Nikolsburger Präli¬
minarien, wieder zusammenfanden. Ferner ist hervor zuHeben, daß das Corps
in dieser Zeit seine Verluste reichlich aus einer Depot-Brigade aller Waffen
von zusammen c. 5000 Mann, 968 Pferoen zu ergänzen vermochte, welche
bereits beim Abzug des Corps aus Sachsen formirt war, während einiger
Kriegswochen bei Linz gesammelt stand und durch Reservisten, die während
der preußischen Occupation Sachsens aus dem Lande gezogen waren, vermehrt
wurde. Die Ergänzung und technische Ausbildung der Truppe wurde auch
nach dem Friedensschluß mit Oestreich rüstig sortgesetzt, weil es im höchsten
Interesse des sächsischen Königshauses lag, bis zum Abschluß der Verhand¬
lungen mit Preußen, die Kriegsherrlichkeit über ein schlagfertiges Corps
festzuhalten.
Das sächsische Armeecorps hatte beim Beginn des Krieges in Böhmen
(am 25. Juni) einen Verpflegungsstand von 26,226 Mann, darunter 540
Nichtstreitende, und von 7,560 Pferden, außerdem von 4,961 Mann und
968 Pferden im Depot, also zusammen von 31,265 Mann und 8,528 Pferden.
Es verlor vor dem Feind bei (Kitschin und Königgräy an Todten 38 Officiere
579 Mann; an Verwundeten 44 Officiere 1303 Mann; an unverwundet Ge-
fangenen 4 Officiere 193 Mann, zusammen 86 Officiere und 2075 Mann,
1 Geschütz.
Die sächsische Armee hat Grund ihre Leistungen in der Campagne von
1866 als eine wohlbestandene Prüfung ihrer militairischen Tüchtigkeit zu
betrachten. Sie litt an den Nachtheilen, welche für jede Truppe und noch
mehr für die Gesechtsleitung unvermeidlich aus der Beschränkung auf einen
kleineren militairischen Organismus hervorgehen, aber in Treue gegen den
Kriegsherrn, in militairischer Zucht und sicherem Ehrgefühl waren Officiere
und Soldaten ihren Verbündeten von 1866 beträchtlich überlegen. Dies an¬
erkennende Urtheil wurde schon während dem Kriege häusig von competenten
Beurtheilern im preußischen Heere ausgesprochen.
Durch die Schrift des sächsischen Generalstabs ist d. Bl. wieder die
Pflicht auferlegt worden auf den Feldzug des Jahres 1866 zurückzukommen.
Niemals dünkt die Kruik des Zuschauers dem Handelnden widerwärtiger,
als nach einer militairischen Action, welche dem Charakter des Feldherrn die
stärkste erdenkliche Prüfung auferlegt hat; und nirgend hat der Urtheilende
mehr Ursache Anerkennung in den Vordergrund zu stellen als bei so großer
That wie eine gewonnene Schlacht ist. In Wahrheit ist auch der Feldzug
von 1866 im Ganzen betrachtet, dadurch von anderen modernen Campagnen,
z. B. dem Jahre von Magenta und Solferino unterschieden, daß die Armeen
eine sichere, correcte, kriegstüchtige Führung und Haltung erweisen und keines¬
wegs den Eindruck manövrirender Neulinge machen. Dieses Lob darf auch
den Sachsen nicht vorenthalten werden. Und die Schlacht von Königgrcitz
ist militairisch betrachtet eine der regelmäßigsten Kriegsoperationen aller Zeiten,
in modernem Sinne eine rangirte Schlacht von größter Planmäßigkeit in
der Anlage und Energie in der Ausführung und darin vielleicht jeder andern
Schlacht dieses Jahrhunderts überlegen, mit Ausnahme von Belle Alliance.
Aber was in den Leistungen unvollkommen war, darf bei aller Achtung und
Bewunderung nicht verschwiegen werden, denn dadurch, daß man scharf auf
das nicht erreichte Wünschenswerthe hinweist, wird die Wahrscheinlichkeit
vergrößert, daß ein künftiger Krieg die Mängel des früheren vermeidet. Und
daß ein neuer Kampf das sächsische Corps als fest eingefügten Hecrestheil
einer großen deutschen Armee in treuer Waffenbrüderschaft mit den Nachbarn
finden wird, das ist diejenige Folge des Feldzugs von 1866, welche uns über
die Schrecken des Bruderkrieges zwischen Sachsen und Sachsen, zwischen
Sachsen und Preußen heraushebt.
Der Entwurf zur Gewerbeordnung für den norddeutschen Bund enthielt
in seinem Titel VIII ausführliche Bestimmungen über gewerbliche Hilfskassen
für unselbständige Arbeiter. Der Reichstag glaubte die Schwierigkeiten, welche
die Berathung des ganzen Werkes nach seinem vielseitigen Inhalte fand,
dadurch vermindern zu müssen, daß er diese Materie aus dem Entwürfe aus¬
schied, aber zugleich den Bundeskanzler aufforderte, der nächsten Session ein
Gesetz vorzulegen, welches Normativbedingungen für Errichtung von Kranken-
Hilfs - und Sterbelassen für Gesellen, Gehilfen und Fabrikarbeiter anordnete
und die Beitrags- und Beitrittspflicht der unselbständigen Arbeitnehmer, sowie
die Pflichten der Arbeitgeber regeln soll. Der Bundesrath wird sich dem¬
nächst bei seinem Wiederzusammentritt mit der Berathung eines Gesetz-Ent¬
wurfs für solche Kassen beschäftigen; es ist darum wünschenswert!) die öffent¬
liche Aufmerksamkeit auf diesen eben so wichtigen als schwierigen Gegenstand
zu lenken. Die Kernfrage ist: welche gesetzliche Dispositionen getroffen werden
müssen, um die betreffenden Kassen in leistungsfähigen Zustand zu versetzen
und in demselben zu erhalten? Drei Ansichten stehen sich hier gegenüber.
1) Die Überlassung der Organisation und Verwaltung
jener Kassen an die freie Concurrenz, Uns scheint dies durchaus
unthunlich. Ueberläßt man es den Leuten, welche von der Hand in den Mund
leben für die Zukunft zu sorgen, so werden die wenigsten dies thun. Die
Freiheit würde also darauf hinauskommen, daß man die Mehrzahl der kranken
Arbeiter liegen resp, sterben ließe oder ihre Verpflegung aus Staatskosten
übernähme. Die Staatsgewalt will, wie der §. 161 des Entwurfs der
Gewerbeordnung zeigt, in richtiger Erkenntniß dieser Alternative deshalb für
jeden Fall alle Hilfsarbeiter verpflichten irgend einer Krankenkasse beizutreten,
weil dies die einzige Möglichkeit bietet die Arbeiter zur Leistung des Beitrags
für eventuelle Verpflegungskosten in Krankheitsfällen anzuhalten. Der Staat
kann also auch nicht die Verpflichtung abweisen, diese Institute in angemessener
Weise zu beaufsichtigen und ihre Leistungsfähigkeit zu überwachen, um so
weniger, als bei allen Unzulänglichkeiten der Kassen doch schließlich die An¬
stalten des Staates in Anspruch genommen würden- Außerdem stehen offen¬
bar die betreffenden Arbeiter an Bildung und Selbständigkeit nicht hoch
genug um die Verwaltung jener Kassen in allen Beziehungen wirksam zu
controliren und sind andrerseits nur zu geneigt, sich ihrer Beitragspflicht
zu entziehen.
2) Die zweite Modalität wäre die Errichtung staatlicher oder
gemeindlich erKrankenkassen mit obligatorischer Verpflichtung
zum Beitritt für alle Betreffenden. Indessen auch hiergegen sind
starke Bedenken geltend zu machen. Eine derartige Einrichtung würde einen
großen bureaukratischen Apparat erfordern und den öffentlichen Kassen ein
starkes Risico aufbürden. Das Bewußtsein, eine große allgemeine Ver¬
sorgungskasse hinter sich zu haben, lähmt bei den Arbeitern das Bestreben,
sich durch Fleiß und Sparsamkeit möglichst selbst zu helfen, während die Mit¬
gliedschaft einer Kasse, bei deren Solvenz und Verwaltung er unmittelbar
betheiligt ist, ihm ein Sporn zur Thätigkeit wird. Die Zwangspflicht, einer
von mehreren neben einander bestehenden Privatkassen beizutreten, unter denen
er übrigens frei wählen könnte, würde von dem Arbeiter weit weniger hart
gefühlt werden, als obligatorische Beiträge an eine öffentliche Centralkasse.
Verschiedene neben einander bestehende Kassen werden sich auch eine wohl¬
thätige Concurrenz machen, wenn nur die staatliche Oberaufsicht darüber
wacht, daß sie auf soliden Grundsätzen ruhen.
3) Es bleibt also nur die dritte Alternative: Privatkassen unter
staatlicher Aufsicht. Für die Organisation derselben wird es vor allem
darauf ankommen, eine zweckmäßige Oberaufsicht der Behörde mit der mög¬
lichst freien Verwaltung der Kassen durch ihre Interessenten unter voller Ver¬
antwortlichkeit des leitenden Vorstandes zu verbinden. Die Association kann
nur segensreich wirken, wenn ihr einerseits freier Spielraum gegeben wird
und andrerseits dieser freien Bewegung eine genügende Verantwortlichkeit
zur Seite steht. Die Behörde, welche möglichst im Sinne des Selfgovern-
ments zu bilden wäre, würde sich alles unnützen Eingreifens zu enthalten
haben, wesentlich als Sicherung gegen Ausschreitungen in Reserve bleiben
und sich hauptsächlich die Prüfung der Statuten jeder Kasse angelegen sein
lassen, Ueber die Statuten selbst in den Normalivbedingungen näheres zu
bestimmen, dürfte kaum practisch sein, da man dabei entweder nur in un¬
fruchtbaren Allgemeinheiten bleiben oder in ein zu großes Detail gerathen
würde. Doch ' wird der erste Gesichtspunkt der Behörde bei Prüfung der
Statuten der sein müssen, daß sie auf rationeller Basis ruhen, also nicht
falschen Humcmitätsideen huldigen, sondern nach der Analogie gut eingerich-
leder Lebensversicherungen, Pensionskassen:c. ihre Verpflichtungen und Rechte
nach bewährten Grundsätzen der Wahrscheinlichkeitsrechnung normtren. speciell
auch dem Staate wie ihren Interessenten durch einen Reservefonds an¬
gemessene Bürgschaft für Erfüllung der übernommenen Verbindlichkeit leisten.
Wird nach diesen Grundsätzen allseitig verfahren, so wird es keine Be¬
denken haben, den Kassen die Rechte juristischer Personen zu verleihen, wie
dies auch im §.- 167 des Entwurfs der Gewerbeordnung in Aussicht ge¬
nommen war.
Was nun die Interessenten der Kassen betrifft, so kann allerdings die
Vorfrage ausgeworfen werden, wer unter die Categorie der Hilfsarbeiter zu
rechnen sei, da bei dem jetzigen fabrikmäßigen Betriebe des Gewerbes die
Stückarbeit außer Hause eine große Rolle spielt- Bekanntlich arbeiten viel¬
fach Leute, welche früher kleine Meister waren, jetzt im Auftrage von größe¬
ren Etablissements oder Fabriken zu Hause, halten sich dort auch Wohl selbst
wieder Gehilfen. Indeß gerade die wechselnde Gestaltung dieser Verhältnisse
läßt eine genauere Schematisirung durch Gesetzesparagraphen nicht zu, wäh¬
rend die Behörde leicht den Punkt herausfinden wird, auf welchen es allein an¬
kommt, nämlich die Selbständigkeit oder Unselbständigkeit des Gewerbebetrie¬
bes. Ueberall, wo letzterer feststeht, muß die obligatorische Beitrittspflicht zu
einer der Kassen, deren Statuten genehmigt sind, eintreten. Und zwar muß
diese Beitritts- und Beitragspflicht ohne Unterschied für alle ortsangehörigen
wie fremden Hilfsarbeiter während ihrer Anwesenheit an einem Orte aus¬
gesprochen werden. Dieser Zwang ist das einzige Mittel, die Kassen solvent
zu erhalten, ohne ihn werden sich die Arbeiter stets den Beiträgen ganz oder
theilweise entziehen, im Vertrauen, daß schließlich die Obrigkeit doch keinen
umkommen lassen werde. — Aber mit der Proclamation dieser Beitragspflicht
ist bei allgemeiner Gewerbefreiheit und Freizügigkeit noch wenig gethan. Die
Beiträge würden trotzdem von den meisten Arbeitern nicht gezahlt werden,
dieselben würden es aus Execution ankommen lassen, und wenn eine solche
einträte, würde sie kein Object finden. Praktisch wird die Beitragspflicht
eben nur durchzuführen sein, wenn man die Arbeitgeber dafür ver¬
antwortlich macht, daß alle ihre Hilfsarbeiter einer Kasse beitreten, und wenn
man sie sür die Zahlung der Beiträge haftbar erklärt. Erst damit würde
ein richtiger Zug in die Sache kommen. Der Arbeiter könnte sich unter
den bestehenden Kassen eine frei wählen, der er beizutreten wünscht. Nach
seinem Eintritt aber müßte er bei ihr bleiben, so lange er am Orte verweilt,
wenn er nicht der Behörde nachweisen kann, daß seine Aufnahme in eine
andere Kasse gesichert ist. Beim Eintritt hätte jedes Mitglied ein Quittungs¬
buch zu erhalten, in welches die Zahlungen eingetragen werden, sei es schrift¬
lich, sei es durch Einkleben von Marken. Jeder Arbeiter wird beim Eintritt
in ein Dienstverhältniß dem Arbeitgeber sein Quittungsbuch einzuhändigen
haben, dieser hätte dasselbe zu überwachen und die für Rechnung des Ar¬
beiters gezählten Beiträge durch die Kasse eintragen zu lassen. In der Praxis
würde sich dann die Sache meistens so stellen, daß der Arbeitgeber die Zah¬
lung leistete und den Betrag vom Lohne abzöge, zumal man ihm nicht die
Einrede gestatten dürfte, daß er keinen Lohn 'sür den Arbeiter in Händen
habe. Wenn ein Arbeiter erkrankte, ohne Mitglied einer Kasse zu sein, so
müßte der Arbeitgeber, dem dabei eine Nichtbeachtung der Ueberwachungs-
pflicht, ein Verschulden zur Last fiele, die Kurkosten zahlen. Erst mit der
Beendigung des Dienstverhältnisses, welche gleichfalls in das Quittungsbuch
eingetragen wird, dürfte die Haftpflicht des Arbeitgebers erlöschen.
Werden die Verpflichtungen des Arbeiters und Arbeitgebers in solcher
Weise festgestellt, so erscheinen die Beiträge an die Kassen gesichert, so lange
die betreffenden Mitglieder an einem Orte in Arbeit stehen. Es muß aber
auch sür den Fall Fürsorge geschaffen werden, daß der ihnen angehörende Ar¬
beiter ein Dienstverhältniß löst ohne ein neues einzugehen, sodaß also kein
haftender Arbeitsgeber mehr da ist. Maßregeln für diese Eventualität sind um
so nothwendiger, als dann gewöhnlich, wie z. B. bei LtriKes oder bei Arbeit-
losigkeit die Arbeiter geringere Mittel besitzen und deshalb besonders geneigt
sein werden, sich ihrer Beitragspflicht zu entziehen. Hiergegen giebt es keine
andere Abhülfe, als den Kassen das Recht zu geben, säumige Mitglieder aus¬
zuschließen und ihre bisher gezählten Beiträge als verfallen zu erklären.
Damit aber würden sie auch das Recht verlieren, sich an dem Orte aufzu¬
halten, denn das Gesetz fordert, daß sie einer Kasse angehören; werden sie
also von derselben ausgeschlossen, weil sie ihre Verpflichtungen nicht mehr
erfüllten, so wird eine andere sie nicht aufnehmen wollen.
Schließlich wäre es noch nothwendig, den Kassen das Recht zu geben
die Beiträge eventuell erekutivisch im Verwaltungswege beitreiben zu lassen,
wie dies auch der §. 164 des Entwurfs der norddeutschen Gewerbeordnung
in Aussicht nahm. Es ist schlechterdings für die Kasse unmöglich, um wenige
Silbergroschen jedesmal gerichtlich klagbar zu werden und sich damit Kosten
aufzulegen, welche von den Verurtheilten gar nicht wieder einzuziehen sind.
Noch bleibt übrig, ein Wort von den Arbeitern zu sagen, welchen die
Kassen die Aufnahme meist von vornherein weigern werden, nämlich den
Alten und Kränklichen. Schon setzt nimmt keine Krankenkasse Mitglieder
neu auf, welche das 50. Lebensjahr überschritten haben; das Risiko der
Verpflegung würde nicht im Verhältniß zu dem kleinen Beitrage stehen.
Man könnte nun daran denken, für diese Klasse eine Art öffentlicher Kasse
zu gründen, in welche die Betreffenden ihren Beitrag zahlten, wogegen ihnen
eventuelle Verpflegung auf öffentliche Kosten gesichert würde. Dies scheint
indeß nicht zweckmäßig. Denn einerseits würden von solchen mehr oder weniger
invaliden Arbeitern doch schwerlich Beiträge regelmäßig erhoben werden können,
andererseits würde es auch nicht räthlich sein, solche noch durch specielle
staatliche Vergünstigung zum Wandern fast aufzufordern. Da wo sie einmal
heimaths- und unterstützungsberechtigt sind, muß im Krankheitsfalle für sie
gesorgt werden; wollen sie sich dennoch nach anderen Orten begeben, so
müssen sie es auf ihre Gefahr hin thun, und wollen Arbeitgeber sie wegen
etwaiger besonderer Geschicklichkeit beschäftigen, obwohl sie keiner Kasse an¬
gehören, so müssen diese auch die Haftung sür Verpflegung in Krankheits¬
fällen übernehmen.
In diesem Sinne, scheint uns, wären die Normativbedingungen zu ent¬
werfen, das Weitere könnte man der natürlichen Entwickelung getrost über¬
lassen, z. B. ob nicht die Kasse eines Ortes mit denen eines andern in Kar¬
tell treten könnte, sodaß dem Arbeiter, wenn er eine gewisse Zeit in Leipzig
regelmäßig seine Beiträge gezahlt und nun seinen 'Wohnsitz nach Berlin
verlegt, eine gewisse Summe von der correspendirenden Kasse des neuen
Aufenthaltsortes creditirt würde. Solcher Entwickelung eine festere Gestal¬
tung zu geben, wäre die Aufgabe der Statuten, die mit Zustimmung der
Behörde ja jederzeit geändert werden könnten. Die Aufgabe der bundes-
gesctzlichen Normativbedingungen wird nur sein dürfen, die Grundprincipien
festzustellen, auf welchen alle Kassen ruhen müssen. — Wir stehen in einer Ueber¬
gangsperiode; kaum je hat sich in der Geschichte eine solche Umwälzung aller
ökonomischen, gesellschaftlichen und politischen Verhältnisse so rasch, ja so
stürmisch vollzogen wie in unserer Zeit. Die festen Geleise, in denen eine
frühere Zeit sich kleinlich, aber sicher und gleichmäßig bewegte, sind ver¬
schwunden, die alten Schranken, welche bisher die freie Bewegung hemmten,
sind gefallen und mußten fallen, aber mit der Proclamation blos negativer
Freiheit ist noch wenig gewonnen. Wir sind hinaus über den kahlen Be¬
griff des Rechtsstaates, in dem das I^isser Ällerldie einzige Norm bildet. Der
Staat soll positiv eingreifen, um das Wohl seiner Angehörigen zu stützen,
soweit dies geschehen kann, ohne eine Klasse auf Kosten der andern zu be¬
günstigen, und nirgends ist diese Pflicht dringlicher als bei der Klasse,
welche durch ihre Eavitallosigkeit andern gegenüber die schwächere ist. Der
Staat ist der natürliche Vormund der wirthschaftlich noch Unmündigen.
In dieser Eigenschaft hat er aber auch den Arbeiter anzuhalten, seine
Pflichten gegen sich selbst zu erfüllen. Derselbe hat kein Recht, in den
Tag hineinlebend jeden verdienten Groschen aufzuzehren und dann im
Alter oder bei Krankheit den öffentlichen Anstalten zur Last zu fallen; er
soll in der Zeit rüstigen Erwerbs für künftige schlechte Tage sorgen.
Wenn der Staat die oben angeführte Beitragspflicht für unselbständige
Arbeiter ausspricht, übt er damit sowenig Tyrannei wie durch die all¬
gemeine Schul- oder Wehrpflicht; er wehrt' nur von sich eine Last ab, die
rein unerträglich werden müßte. Es ist recht eigentlich die Aufgabe unserer
Tage, für die neue Gestaltung des wirthschaftlichen Lebens Formen zu finden:
der freien Bewegung muß voller Raum gegeben werden, aber die Staats¬
gewalt hat darauf zu halten, daß jedem Recht auch eine Pflicht gegenüber¬
stehe. Hierin liegt die wahre sittliche und politische Erziehung, und gewerb¬
liche Kassen auf den gedachten Grundlagen würden unserer Ansicht nach
wesentlich dazu beitragen den Verhältnissen der arbeitenden Klassen festern
Halt zu geben und sie den Irrlehren socialistischer Volksbeglücker resp. Ver¬
derber zu entziehen.
Man scheint sich im Auslande über die Stellung, welche die Niederlande
zu dem belgisch-französischen Eisenbahnvertrage einnehmen, noch immer keinen
richtigen Begriff bilden zu können. Das'Amsterdamer „Handelsblad" rief
Angesichts der deutschen Zeitungsberichte aus Holland neulich aus: „Ist denn
unter den vielen hier lebenden'Deutschen keiner fähig und verständig genug,
um, was man von uns zu vernehmen wünscht, in einer solchen Weise mit¬
zutheilen, daß nicht ein Paar Zeilen nothwendig schon Irrthümer ent¬
halten?"
Die „Kölnische Zeitung" — und daran knüpfe ich zunächst an — theilte
ihren Lesern nämlich mit. daß bei uns ein Streben zur Wiedervereinigung
mit den flämischen Provinzen Belgiens bestehe, und daß wir uns deshalb
etwaigen Absichten Frankreichs auf Belgien nicht widersetzen würden. Wer
auch nur in den letzten Monaten unser politisches Treiben näher betrachtet
hat, weiß, daß diese beiden Angaben gleich irrthümlich sind. An eine Ver¬
einigung mit Flandern denkt hier nicht allein Niemand, sondern mau würde
sich derselben geradezu widersetzen. Die Parteien hier zu Lande haben bei den
letzten Wahlen einen beinahe ausschließend religiösen Charakter angenommen.
Die Conservativen und Ultramontanen hatten sich zum Angriff auf unsere
confessionslose Schule gegen die Liberalen vereinigt. Bei dem Wahlkampfe
— es mühte die zweite Kammer zur Hälfte erneuert und es mußten auch noch
einige Mitglieder für neue Wahlbezirke gewählt werden — haben die Liberalen
entschieden den Sieg davongetragen. Verschiedene Bezirke, die früher con-
servative Abgeordnete wählten, haben liberale Männer in die Kammer ge¬
sandt, so daß die ministerielle Partei — die Liberalen — die Majorität hat.
Die Conservativen sind nicht durchweg gegen die confessionslose Schule ge¬
stimmt, sie werden diese, wenn es daraus ankommt, sogar hartnäckig verthei¬
digen; sie hatten sich bei den Wahlen nur mit den Clericalen verbunden, um
mit Hilfe dieser dem Ministerium einen Stoß geben zu können. Zählen wir
nun die Mitglieder der verschiedenen Parteien in der nächsten Kammer, so
haben die Clericalen, die eine Veränderung des Schulgeseyes wollen, höchstens
über ein Viertel der Stimmen zu verfügen. Vielleicht werden noch einige
Conservative mit ihnen stimmen, um die Fühlung mit ihnen zu erhalten,
aber Gefahr für das Schulgesetz besteht durchaus nicht. Bei den Wahlen
hat sich somit herausgestellt, daß die Holländer im Großen und Ganzen
nicht nur liberal, sondern außerdem entschieden protestantisch, dem Ultramon¬
tanismus abgeneigt sind. Worauf sollte sich nun die ihnen zur Last gelegte
Neigung zur Vereinigung mit dem stockkatholischen Flandern stützen? Glaubt
man, wir hätten die Erfahrungen der Jahre 1820—30 vergessen? Nein,
wir werden uns hüten, Nachbarn ins Haus zu rufen, die uns wegen un¬
versöhnlichen Streits verlassen haben, mit denen wir nicht zusammen leben
können, ohne sofort in Kampf zu gerathen.
Vor dem Jahre 1830 gebrauchten die belgischen Ultramontanen fran¬
zösische und liberale Sympathien zur Erlangung ihrer Ansprüche; heute neigen
sie sich dem Niederdeutschlhum zu, um die belgischen Liberalen zu bekämpfen.
Würde unserem Staate durch die flämisch-belgischen Provinzen ein Zuwachs
an clericalen Elementen (die dort bekanntermaßen sehr stark vertreten sind)
zu Theil, so würde dadurch ein unversöhnlicher Dualismus entstehen.
Bis vor ungefähr 10—Is Jahren herrschte hier noch ein alter Groll
gegen Alles, was belgisch war. Diese Erinnerungen an den Aufstand und
die Lostrennung sind glücklich überwunden und man ist zu einer ruhigen
Würdigung der damaligen Vorfälle gekommen. In Folge dessen ist ein
näherer Anschluß der beiden niederdeutschen Sprachstämme, des Flämischen
und Holländischen angebahnt. Die Scheldefrage hätte beinahe das gute Ein¬
vernehmen zwischen Nord- und Süd-Niederland wieder gestört — ein Be¬
weis, daß es noch nicht feste Wurzel geschlagen hat. Aber ein Verlangen
zur Wiedervereinigung hat sich weder hier noch im Süden offenbart, ja man
ist in Holland herzlich froh, daß man von den belgischen Brüdern erlöst ist.
Nach langem Hadern zwischen unsern Parteien, nach vielem Wechsel con-
servativer und liberaler Ministerien sind wir endlich dahin gekommen, daß
die Regierung über eine große Majorität in der zweiten Kammer verfügen
kann; endlich ist die Zeit da, um durchgreifende Maßregeln zur Reform un¬
serer Zustände zu nehmen. Wir haben unsere coloniale Frage zu lösen,
mehrere Gesetze, die schon vor zehn Jahren hätten zu Stande gebracht werden
müssen, sind noch nicht einmal entworfen; andere warten der Berath¬
schlagung; unser ganzes Besteuerungswesen bedarf dringend radicaler Um¬
gestaltung. Mußten wir nicht mehr wie unklug sein, wenn wir durch Er¬
weiterung unseres Territoriums das Verhältniß unserer Parteien wieder
verrücken, jede thatkräftige Negierung unmöglich machen wollten?
Außerdem wünschen wir überhaupt keine Veränderung der europäischen
Karte, da wir dabei Nichts gewinnen, wohl aber verlieren können. Wir
wünschen mit all' unsern Nachbarn in freundlichem Verhältniß zu leben und
fürchten uns zugleich ungebührlich irgendwo Anstoß zu geben.'
Endlich hat die niederländische Regierung mit dem französisch-belgischen
Eisenbahn-Vertrag nichts zu thun. Was die Übereinkunft mit der Gesell¬
schaft der hiesigen Staatsbahnen betrifft, so handelt sichs um ein rein finan¬
zielles Geschäft, welches die Regierung nur angeht, so weit unsere Finanzen
dabei berührt werden, und worüber doch nur unsere Kammern einen end¬
gültigen Beschluß nehmen können. Es ist kaum glaublich einen strategischen
Vortheil für Frankreich darin zu sehen, daß eine Bestimmung getroffen ist,
nach welcher durchgehende Züge der französischen Ostbahn nach Rotterdam,
Vliessingen oder Utrecht gehen sollen, jedoch ausschließlich mit niederländischen
Loeomotiven und Beamten!
Da wir keine Großmacht sind, haben wir überhaupt wenig Lust dazu
uns mit auswärtiger Politik zu placken. Unsere innern Zustände sind durch¬
aus noch nicht der Art, daß wir nicht Stoff genug zur Beschäftigung hätten.
Nach dem Siege, den die Liberalen davon getragen haben, sollte man glau¬
ben, die Schulfrage wäre so ziemlich erledigt. Aber dem ist nicht so. Die
Heftigkeit der Clericalen hat bedeutend zugenommen, was wohl darin seinen
Grund hat, daß früher hauptsächlich nur die protestantischen „Antirevolu-
tionaire" die Agitation gegen die Schule betrieben, wogegen in der letzten
Zeit die Ultramontanen diese Aufgabe mit übernommen haben und dabei
mehr Talent und Energie entwickeln als jene. Das hat aber auch den Vor¬
theil, daß das Ziel dieser Partei deutlicher zu Tage tritt. Früher klagte man
über den materialistischen Geist, der im Unterrichtswesen herrsche; und da
man die Beweise für diese Behauptungen nicht liefern kann, so wendet man
sich jetzt gegen die Wissenschaft selbst. In einer öffentlichen Rede bei der
Uebergabe des Rektorats, behandelte der Professor Dozy neulich die Ursache
des Verfalls des Unterrichtswesens bei den Mohamedaner, und schrieb den¬
selben dem Umstände zu, daß die Schulen in den Händen der Priester seien.
Er schloß mit der Warnung unser Unterrichtswesen in die Hände der Kirche
zu legen. Herr Alberding-Thym, einer der ultramontanen Führer, verlangte in
der „Dietsche Warande" sofort, die Regierung solle den Professoren solche Reden
verbieten, da der Staat auf diese Weise durch einen von ihr bezahlten Beamten
seine constitutionelle Neutralität verlasse. Es ist also deutlich: die Clericalen
verlangen Unterdrückung alles Unterrichtes, der mit dem Glauben, dem Dogma,
streitet. Der Staat soll der freien Wissenschaft den Todesstoß geben, und
ein blindes Werkzeug in den Händen der Kirche werden; natürlich der
katholischen."
Herrn Groen van Prinsterer, dem Führer der „Antirevolutionäre,
wird bei dieser Thätigkeit wohl bange werden. Seine Partei ist die alt-
reformirte, welche die Aussprüche der Dordrechter Synode aufrecht erhalten
und den Staat zu diesem Zwecke benutzen will. Würde wirklich die neu¬
trale Schule beseitigt, so entstände sofort der heftigste Religionsstreit zwischen
Reformirten und Katholiken, bei welchem die Letztern wahrscheinlich den
Kürzeren ziehen würden. Was nun die „Antirevolutionäre" eigentlich wollen,
ist nicht klar. Daß sie die Schulen in ihren Händen haben wollen, wissen wir
Zwar, aber man hört Herrn Groen auch immer wieder von den revolutionären
Principien unserer Constitution reden. Ob wir wieder zurückkehren sollen
zu der frühern Republik? Das durchaus nicht, ja die „Antirevolutionäre"
sind zuweilen ultrarevolutionär. Liest man die Schriften des Herrn Groen,
dann wird man nicht viel klüger, da er seine Meinung nie irgend deutlich
sagt, es wäre dann, daß er sich auf Stahl, dessen Autorität ihm über Alles
gilt, beriefe. Nicht-Holländer können ihn am Besten aus seinen beiden Bro¬
schüren kennen lernen: I^a ?ruLse et les ?g^L-i>g,s und 1'Lmpire xrussiell
et 1'^xoes.I^pse. Aber eben als Agitator erregt der Mann sehr viel Aus¬
sehen und nimmt eine nicht unbedeutende Stellung bei unsern jetzigen Zu¬
ständen ein.
Es ist bemerkenswerth, daß an der Spitze der beiden kirchlichen Parteien
zwei bedeutende Historiker stehen: Herr Groen, der vom calvinistischem Stand¬
puncte die Fahne der Oranier hoch hält, wogegen Herr Dr. Nuyens in
seiner Geschichte des niederländischen Aufstandes die Protestanten und nicht
am wenigsten die Oranier angreift.
Die Konservativen spielen bei der Schulfrage eine traurige Rolle. Sie
haben sich früher der „Antirevolutionäre" zur Erreichung ihrer Zwecke
bedient, was ihnen aber bei den letzten Wahlen nicht gelungen ist. Ihre
Bedeutung ist dadurch sehr gesunken, und da sie doch eigentlich nur durch
persönliche Antipathien von den Liberalen getrennt sind, so wäre es besser
sie schlössen sich jetzt wieder denselben an. Aber der Stoff, aus dem sie
gebildet sind, ist derjenige der frühern Aristokraten und Regenten der Re¬
publik. In ihrer Erinnerung lebt noch immer die Zeit, wo man es bis zur
Souveränität der einzelnen Städteregierungen gebracht hatte, wo ein Bürger¬
meister von Groningen sagen konnte: Ich gehöre zu den Königen des Landes!
Nach der einen Seite bekämpfen sie die Souveränität des Volkes und berufen
sich auf die Rechte der Krone, wenn diese zu ihren Gunsten ausgelegt werden
können, während sie dieselben ohne Bedenken wieder angreifen, wo sie ihnen
im Wege stehen."
Die Conservativen und die „Antirevolutionäre haben ebenso wenig
wie die Liberalen von der Vereinigung mit Flandern etwas zu erwarten.
Es blieben also nur noch die Ultramontanen übrig, die vielleicht ihren Vortheil
dabei haben würden. Zwar erwüchse ihrer Partei dadurch ein bedeutender
Zuwachs, aber bisher haben sie behauptet, die niederländischen Katholiken
bildeten eine geschlossene Phalanx; bei ihnen herrsche vollkommene Ueberein¬
stimmung. Mit Flandern erhielten wir aber auch eine liberale katholische
Partei, die auch in Holland Anhänger finden würde, und dadurch würde
die Uebermacht der Ultramontanen in dem katholischen Lager gefährdet.
Jedenfalls ist auch von dieser Seite noch kein Wunsch zu einer solchen Ver¬
einigung ausgesprochen.
Aber auch aus materiellen Rücksichten würde man sich derselben hier wider¬
setzen. Man wird eine Wiederholung der Zustände vor dem Jahre 1830
fürchten, wo der Handel Amsterdam's sehr viel von der Concurrenz Ant¬
werpens zu leiden hatte, abgesehen noch von den schutzzöllnerischen Sympathien
der Belgier, denen unsere Neigung zum Freihandel durchaus, zuwider ist.
Es liegt nicht in der Natur unserer Zustände, daß wir aus unserem passiven
Verhalten dem Auslande gegenüber heraustreten, so lange wir nicht von
Außen dazu gezwungen werden; und das deutsche Publicum darf jeden Be¬
richt, der von anderen als diesen Gesinnungen bei uns weiß, ruhig als un¬
richtig bei Seite legen.
Wir haben in unserer letzten Correspondenz von dem Vorrechte der
Schweiz zu politischen Versuchen gesprochen. Ein solcher Versuch und zwar
in kühnen Verhältnissen ist nun die aus der Volksbewegung vom Spätjahr 1867
bis zum Frühjahr 1869 hervorgegangene neue Verfassung des Cantons
Zürich. Durch Einführung des Referendums und der „Initiative", welche seither
unter dem Namen der Volksgesetzgebung zu einem Losungsworte unserer De¬
mokraten xg.r tZxeollenoo geworden war, hat sie einen Schritt in ein bisher
unbekanntes Land gethan. Zur Stunde noch wird namentlich das Referendum
von den einen als eine konservative, den Fortschritt eher hindernde als för¬
dernde, von anderen als eine extrem radicale, jegliche geordnete Entwickelung
bedrohende Institution angesehen. Hat auch die erstgenannte Einrichtung in
drei wenig hervorragenden Cantonen schon bestanden, so sind sie für einen
materiell, intellectuell und politisch so weit vorgeschrittenen Canton wie
Zürich jedenfalls von ganz anderer Beweiskraft. Die Volksinitiative aber
ist etwas, von dessen Wirkungen man wenigstens in den größeren Cantonen
bisher keine praktischen Erfahrungen besitzt. Die übrigen wesentlichen Neue¬
rungen in der Verfassung sind theils aus ächt liberalem Geiste in bestem
Sinne des Wortes hervorgegangen, theils tragen sie das Gepräge dema¬
gogischer Versprechungen. Das Ganze ist eine sehr .heterogene Mischung,
über deren Gebrechen und Vorzüge eine nicht sehr ferne Zeit richten wird.
Die Bedeutung dieser neuen politischen Richtung für die Schweiz im
Allgemeinen haben wir in unserem früheren Artikel (vergl. Ur. 30) mit
einer Schrift des Herrn Tallichet in der Hand erörtert. Auch indem wir
hier auf den Ursprung und die Geschichte der Volksbewegung eingehen, aus
der das neue Verfassungswerk Zürichs entstanden ist, geschieht es im An¬
schluß an denselben Autor*), den einzigen bisherigen Geschichtsschreiber jener
Bewegung. Da indeß seine Darstellung nur bis zur ersten Lesung der Ver-
fassung reicht und ebenso sein Urtheil über die Gestalt, welche letztere in diesem
ersten Entwurf erhalten hatte, so haben sie für uns nur noch ein historisches
Interesse. Wir folgen ihm daher nur in soweit, als der Verfassungsentwurf
durch die die zweite Berathung nicht verändert worden ist.
Wer sich noch erinnert, mit wie allgemeinem Erstaunen man in der
Schweiz im Jahre 1867 von der plötzlich zu Tage tretenden Volksbewegung
im Canton Zürich hörte, welcher bisher nach einer sehr verbreiteten Ansicht
für einen der bestregierten und glücklichsten der Schweiz galt und der seit
mehr als 20 Jahren von derselben Regierung geleitet worden, ja wo erst
noch ein halbes Jahr vorher eine vollständige Erneuerung des gesetzgebenden
Rathes stattgefunden und wer da weiß, daß diese Bewegung der Ausgangs¬
punkt einer neuen Richtung in der schweizerischen Politik geworden, der wird
wohl die Nothwendigkeit einsehen, etwas weiter rückwärts in die Geschichte
dieses Cantons blicken zu müssen, um sich das Wesen und die Bedeutung so¬
wohl jener Bewegung selbst, als deren örtlicher und zeitlicher Fortsetzung in
der übrigen Schweiz klar zu machen.
'
Die Bewegungdatirt schon von 1830 her. Sie ist in mancher Beziehung
nur die weitere Entwickelung der friedlichen Revolution, welche damals, als
die Landschaft Zürich von der bisher allein herrschenden Hauptstadt ihren
Antheil an der Regierung forderte und ohne große Schwierigkeit auch er¬
hielt, die neue Verfassung zur Folge hatte. Das nun eingeführte, von dem
später nach Berlin übergesiedelten und dort verstorbenen ausgezeichneten
Rechtsgelehrten Dr. Friedrich Keller geleitete liberale System eröffnete für
den Canton eine der glänzendsten Perioden seiner Entwickelung. Freiheit
und Fortschritt waren überall die Losung und Zürich ging einer Reihe von
anderen Cantonen, welche Anfangs der dreißiger Jahre ebenfalls ihre Ver¬
fassungen veränderten, durch hervorragende Leistungen auf den verschiedensten
Gebieten des öffentlichen Lebens kühn voran. Nur waren die Fortschritte
etwas zu rasch und von zu wenig Rücksichtnahme auf die bestehenden Ver¬
hältnisse begleitet.
Besonders zeigte sich diese Rücksichtslosigkeit in Sachen der Religion.
Seit längerer Zeit schon war davon die Rede gewesen, den Dr. Strauß, den
bekannten Verfasser des „Lebens Jesu", als Professor der Theologie an die
Hochschule zu berufen. Im Jahre 1839 glaubte man sich endlich über die
bisher gehegten Befürchtungen in Betreff der sich in weiteren Kreisen des
Volkes geltend machenden Abneigung gegen eine solche Berufung hinweg¬
setzen zu können. Strauß wurde berufen. Da erhob sich das Volk. Die
Regierung wurde zur förmlichen Zurücknahme der Berufung und zugleich zu
einer gründlichen Reform des von rationalistischen Grundsätzen geleiteten
Volksschulwesens gezwungen. Die Achtung der Regierung war von jetzt an
dahin. Dennoch dachte dieselbe nicht an den Rücktritt. Im Gegentheil, sie
untersagte die fernere Organisation der Opposition in Volksvereinen; die
Gemeinde- und anderen Versammlungen wurden polizeilich aufgelöst. Da
verbreitete sich das. übrigens ganz unbegründete Gerücht, die Regierung wolle
die Cantone, mit denen sie eine gegenseitige Garantie der Verfassungen ab¬
geschlossen, zu ihrer Hilfe herbeirufen. Dies war entscheidend. Große Volks¬
massen, die Meisten zwar ohne Waffen, aber entschlossenen Muthes, zogen
Psalmen singend in die Stadt. Ein Angriff des Militairs zerstreute zwar
das Volk; aber die Regierung war damit thatsächlich gefallen, um sich nicht
wieder zu erheben. Der Cantonsrath, im Großmünster versammelt und neuer¬
dings von den Massen umwogt, votirte seine eigene und der Regierung Ab¬
dankung.
Eine neue Regierung, welche einige sehr konservative Elemente zählte,
deren hervorragendste Mitglieder jedoch liberal waren, und ein Cantons¬
rath mit vorwiegend reactionairen Elementen waren die nächsten Folgen die¬
ses Umschwungs der Dinge. Die Zusammensetzung des Cantonsraths und
der Regierung wurde jedoch schon bei den nächsten Wahlen im Jahre 1842
wesentlich im liberalen Sinne modificirt, indem die hervorragendsten Männer
des 1839 gestürzten Systems wieder an die öffentlichen Geschäfte gerufen
wurden und die Parteien sich von nun an in den höchsten Behörden so
ziemlich das Gleichgewicht hielten. Drei Jahre später (1843), als Zürich bei
der bekannten Berufung der Jesuiten nach Luzern, die einen großen Theil
des schweizerischen Volkes so tief verletzte, als eidgenössischer Vorort den
streng legalen Standpunkt festhalten wollte, wurde die Regierung, deren
periodische Drittelerneuerung gerade stattfinden sollte, im radicalen Sinne
verändert, und von hier an datirt das „System", welches nun volle 22 Jahre
hindurch die Politik des Ccintons leitete. Dr. Furrer von Winterthur trat
an dessen Spitze, bis er 1848 als Mitglied des Bundesraths nach Bern be¬
rufen wurde. An seiner Stelle trat nun Herr Dr. Alfred Escher, der Sohn
eines durch amerikanische Spekulationen zum Millionair gewordenen Züricher
Kaufmanns.
Dr. Escher, obschon ursprünglich Jurist, neigte sich bis nach seinem Ein¬
tritt in die Regierung mehr zu nationalöconomischen Studien hin. Sein
staatsmännisches Ideal war die Hebung des allgemeinen Wohlstandes, ein
an sich sehr schönes Ziel, welches aber nicht ungestraft verfolgt wird, wenn
es nicht Hand in Hand geht mit den sittlichen und socialen Fortschritten des
öffentlichen und des Privatlebens. Die Verdienste Escher's in jener Richtung
sind übrigens nicht hoch genug anzuschlagen. Sie erstrecken sich auch über
seinen Canton hinaus. Seinem Einfluß in der schweizerischen Bundesver¬
sammlung war u. A. die Errichtung des eidgenössischen Polytechnicums in
Zürich zu verdanken. Unter seiner Leitung gewann die zürcherische Regie¬
rung durch ihre Sorge für die materiellen Interessen des Volkes bald eine
große Popularität und eine- sast unwidersprochene Gewalt. Escher besaß eine
seltene Arbeitskraft, einen nie erlahmenden Eifer, umfassende Kenntnisse und
widmete alle diese großen Eigenschaften aufs Uneigennützigste seinem Vater¬
lande. Bedeutende öffentliche Arbeiten wurden ausgeführt, der Volksunter¬
richt und das höhere Schulwesen verbessert, dem Handel und der Industrie
ein mächtiger Aufschwung gegeben.
Ein allgemeines Wohlbehagen lohnte anfangs die Regierung für ihre Ver¬
dienste. Man ließ dieselbe immer mehr gewähren, man kümmerte sich immer
weniger um die öffentlichen Angelegenheiten, desto mehr aber um die För¬
derung der privaten materiellen Interessen. Die Wahlen wurden von Jahr
zu Jahr immer spärlicher besucht und immer mehr verliefen dieselben unter
dem Einfluß einer ziemlich centralisirten Regierung und eines von großen
Industriellen und Landwirthen geleiteten Cantonsraths. In letzterer Be¬
hörde verschwand die Opposition nach und nach fast ganz. Im Leben der
begüterten Classen war ein fühlbarer Umschwung' von den bisher bei ihnen
gepflegten mehr idealen Bestrebungen zum Materialismus eingetreten. Na¬
mentlich zeigte sich dies in einer fast zügellosen Bauwuth. Früher hatte die
Beschäftigung mit Literatur, Kunst und Wissenschaft bei den Söhnen der
reichen Familien für eine Ehre gegolten. Das machte jetzt einem rastlosen
Haschen nach Gewinn, Luxus und Genuß Platz. In politischer Beziehung
concentrirte sich durch diese Geistesrichtung die Macht immer mehr in der
Hand eines Einzigen.
Einen neuen Impuls empfing die materialistische Richtung, als Anfangs
1866 der Eisenbahnbau in der Schweiz begann. Die in den Bundesbehörden
entstandene Frage ob Privat - oder Staatsbäu, ward namentlich durch den
Einfluß Escher's zu Gunsten des erstern entschieden. Bald darauf legte er
selbst Hand ans Werk. Er gründete 18S3 die Gesellschaft der Ostbahn
(Zürich-Romanshorn), welche sich nicht lange nachher mit der Nordbahn
(Zürich-Baden-Otter) susionirte und an letztgenanntem Orte mit der schweize¬
rischen Centralbahn vereinigte. Escher trat jetzt aus der Negierung und stellte
sich an die Spitze des von ihm gegründeten Unternehmens. Unter seiner
überall Vertrauen einflößenden Leitung fand sich bald Geld zu guten Be¬
dingungen. Ein vollständiger Erfolg krönte seine Bemühungen. Die Nord¬
ostbahn, deren Bau auss Sorgfältigste ausgeführt und deren Betrieb von
Anfang an als mustergiltig erschien, wurde zur blühendsten Eisenbahngesell¬
schaft der Schweiz. Acht Procent ist seit einigen Jahren die normale Ziffer
ihrer Dividenden.
Herr Escher wußte aber auch, daß das Gedeihen einer Bahn mit dem
Aufblühen der von ihr durchzogenen Gegenden zusammenhängt. Unermüd¬
lich in neuen Combinationen zur Förderung von Handel und Industrie
gründete er in Zürich eine Creditanstalt, welche bald zum Mittelpunkt einer
Gesammtheit von andern untergeordneten Instituten wurde. Einige Mißgeschicke
der schweizerischen Creditanstalt hatten, trotz der energischen und zum Theil
höchst originellen Schritte Escher's, wodurch das Schlimmste abgewendet
und die Anstalt wieder der ernsten Industrie dienstbar gemacht wurde, doch
nicht unerheblichen Schaden angerichtet und eine gewisse dumpfe Unzufrieden¬
heit herbeigerufen. Letztere hatte übrigens noch andere, vielleicht noch wich¬
tigere Ursachen. Durch die großartige Entwickelung der Industrie, durch den
Bau der Eisenbahnen war das im Lande disponible Geld beträchlich vermindert
und außerdem waren schon ungeheuere Summen von jenem einzigen Institute
verschlungen und verwendet worden. Die kleineren Industriellen und die Land¬
wirthe hatten immer mehr Mühe sich Geld zu verschaffen. Es kamen endlich noch
die Liquidation der Creditanstalt in Verbindung mit der amerikanischen Krise
und einer dreijährigen Mißerndte (1865 —1867). Das Mißbehagen wurde
durch das unmittelbar vorangegangene Gedeihen nur noch fühlbarer. Auf
dem Lande wie in der Stadt hatte in Folge des letztern ein allgemeiner Auf¬
schwung übertriebene Ausgaben der Privaten wie der Gemeinden herbei¬
geführt, welchen jetzt ein plötzlicher Rückschlag folgte.
^n allen diesen Verhältnissen lag eine der wesentlichsten Ursachen der
Politischen Bewegung im Canton Zürich. Es zeigte sich dies in dem drin¬
gend von allen Seiten, namentlich der Landschaft ausgesprochenen Wunsche
nach Gründung einer Cantonalbank, welchem jedoch von der Regierung un¬
kluger Weise nicht entsprochen wurde. Es kamen aber noch andere schon
von früher her datirende Ursachen hinzu. Durch das 1850 an die Stelle
des Collegialsystems getretene Directorialsystem in der Regierung waren die
einzelnen Geschäftszweige der selbständigen Leitung je eines Mitgliedes der
Regierung übertragen worden. So lange noch Herr Escher in letzterer war
und dann auch noch während der Mitgliedschaft des Herrn Dubs, waren die
Gefahren dieses Systems, namentlich der Mangel an einheitlicher Führung
der Exekutive noch nicht hervorgetreten. Nachdem aber Herr Dubs in den
Bundesrath berufen worden, kam jener Mangel fühlbar an den Tag. Man
hatte zwar eine Anzahl von Direktoren, aber keine Regierung mehr. Der
Cantonsrath hatte bei Besetzung der betreffenden Stellen mehr auf tüchtige
Verwaltungsbeamte als auf politische Köpfe und darauf gesehen, daß die
Gewählten auch zu einander paßten. Die Negierung verlor dadurch ihre
Bedeutung gegenüber dem Cantonsrath und dem Lande. Jener aber wurde
vor wie nach durch Herrn Escher, auch nachdem dieser aus der Regierung ge¬
treten, durch seine Verbindung mit den großen Landwirthen und Industriellen
die mit ihrem Anhang in dieser Behörde den Ausschlag gaben, geleitet und
Escher's Einfluß war hier in der That so groß, daß kein Mitglied der Ne¬
gierung sich schmeicheln durfte, einen Antrag wider seinen Willen durchzu¬
bringen. Die thatsächliche Macht befand sich so bei einem Manne der außer¬
halb der Executive stand und keiner Verantwortlichkeit unterlag.
So waren die Regierung, die Majorität im Cantonsratl), eine mächtige
Eisenbahngesellschaft und verschiedene große Finanzcompagnien dahin gelangt
ein eng unter sich verbundenes und verschlungenes „System" zu bilden, das
von einem einzigen Willen in Bewegung gesetzt wurde. Natürlich geschah
da manches, was Herr Escher weder überwachen noch wissen konnte. Die
Mitglieder der Regierung leugneten zwar stets unter seinem Einflüsse zu
stehen und sie mochten darin vollkommen Recht haben, aber sie befanden sich
doch bei alledem mitten in einem Rädergetriebe, welchem sie sich nicht zu
entziehen vermochten.
Alles dies hatte um so schlimmere Folgen, als Herr Escher als Chef
jener großen industriellen und Finanzunternehmungen seine ursprünglich politi¬
schen Gesichtspunkte mit financiellen zu vermengen begann. Es zeigt sich dies
besonders in der Stellung Escher's als Director der Nordostbahn. Eine
Menge von Eisenbahnfragen nahmen eine hervorragende Stelle in der can-
toncilen Politik ein und pflegten stets mehr im Interesse der Privatgesell¬
schaften als im allgemeinen Staatsinteresse gelöst zu werden. Ein großer
Theil der Bevölkerung fühlte sich verletzt und hintangesetzt und sah sich einer
Macht gegenüber, gegen die jeder Kampf vergeblich schien. Denn Herr Escher
besaß außer den bereits angeführten Hilfsmitteln und Stützpunkten auch die
Kunst, sich im Cantonsrathe künstliche Majoritäten zu schaffen, welche oft
das Volksgefühl verletzten. Allmälig wuchs die Opposition selbst im Schoße
jener Behörde und die Unzufriedenheit begann sich im Volke so stark zu
regen, daß die Mehrheit des Ccintonsraths sich veranlaßt sah, durch Vornahme
einiger Reformen eine Sicherheitsklappe zu öffnen. Unglücklicherweise geschah
dies aber in einer Form, welche die Opposition reizen und sie dem System
nur noch feindseliger stimmen mußten.
Drei wichtige Veränderungen waren vorgenommen worden. Für die
Bezirksbehörden und Richter erster Instanz, die bisher durch ihre Wahlart
eine Hauptstütze des Systems gewesen, ward directe Wahl durch das Volk
beschlossen, — gegen den Willen Escher's, auf den diesmal die Majorität
nicht gehört hatte. Es wurden ferner die bis dahin ausgeschlossenen Nieder¬
gelassenen zu den Gemeindewahlen und zur Gemeindeverwaltung zugelassen.
Endlich wurde eine wesentliche Aenderung in dem Modus der Verfassungs¬
revision eingeführt. Bisher wurde jede Revision vom Cantonsratl) selbst
vorgenommen; jetzt sollte sie sowohl durch diesen als durch einen Verfassungs-
rath g.ä Koe geschehen können, und wenn 10,000 Bürger eine solche verlang¬
ten, so sollte das Volk befragt werden und beziehenden Falls ferner entschei¬
den, ob die Revision durch den Cantons- oder durch einen Verfassungsrath
zu geschehen habe. Diese Reformen besaßen eine von den Meisten nicht ge¬
ahnte Tragweite. Zur Beruhigung des Landes und zur Sicherung des
Systems waren sie angenommen worden; sie hatten aber, wenn auch erst
nach zwei Jahren, die Folge, daß die Volksbewegung erleichtert wurde, die
den Sturz des Systems bezweckte und herbeiführte.
Man fragt sich mit Recht, wie das Zürichervolk ein System, das trotz
aller seiner unbestreitbaren Vorzüge, doch mit großen Schwächen behaftet war,
so lange ertragen konnte. Die Antwort ist indessen nicht so schwer. Denn
dem Volke fehlten eben die Führer. Die öffentlichen Geschäfte hatten längst
schon aufgehört, eine eigentliche „Carriere" darzubieten und mancher, der sich
unter andern Verhältnissen gern denselben gewidmet hätte, pflegte jetzt lieber
seine Privatinteressen. Wer noch nach politischem Einfluß geizte, schloß sich
dem „System" an. Die wenigen, welche sich etwa an die Spitze einer Volks¬
bewegung zu stellen Lust gehabt hätten, waren entweder zu wenig bekannt
oder flößten zu geringes Vertrauen ein.
Ein Advocat von Zürich, Herr Dr. Friedrich Locher, hatte vermöge
seiner Praxis öfter Gelegenheit gehabt, die Mißbräuche, welche aus der frü¬
heren Wahlart der Gerichte und Gemeindeverwaltungen sich eingebürgert
hatten, aus nächster Nähe kennen zu lernen; so besonders im Bezirke
Regensberg, wo der Bezirksrath seine vormundschaftlichen Obliegenheiten
entweder schlecht oder gar nicht erfüllte und wo das Gericht erster Instanz
sich in seinen Urtheilen durch Erwägungen leiten ließ, die mit der Billigkeit
nichts, mit der Gerechtigkeit wenig gemein hatten. Hr. Locher enthüllte diese
Zustände in einem ebenso geistvoll wie scharf geschriebenen Pamphlet „Die
Freiherren von Regensberg", das sofort im ganzen Canton und weit
über denselben hinaus einen ungeheuren Wiederhall fand. Mag man sonst
über dieses Pamphlet denken, wie man will, so beruhte dasselbe doch un¬
verkennbar auf wahren Grundlagen und der Verfasser hat, wenn er sich auch
zuweilen von seinem unvergleichlichen Talente zur Satyre hinreißen ließ,
offenbar nirgend gegen sein besseres Wissen Unwahres vorgebracht. Jeden¬
falls hat er, alleinstehend und ohne Bundesgenossen, wie er Anfangs war,
einem mächtigen System gegenüber einen persönlichen Muth bewiesen, der
nicht hoch genug angeschlagen werden kann. So viel ist aber gewiß, daß
das Volk ihm Glauben schenkte. Er hatte sich zum Organ des allgemeinen
Gefühls gemacht, dem Mißtrauen, dem Unbehagen der Menge und deren
Klagen Ausdruck gegeben. Als der Kampf einmal eröffnet war, unterhielt er
ihn mit aller Kraft. Auch das zweite und dritte Pamphlet wurden so zu sagen
verschlungen. Bald mußte das Regensberger Gericht die Waffen strecken:
es wurde vollständig neu besetzt.
Herr Locher machte sich nach diesem Siege nun an den Mann, den er,
mit Recht oder Unrecht, als den eigentlichen Mittelpunkt aller Mißbräuche
im Gerichtswesen betrachtete, an den Obergerichtspräsidenten Ultner, einen
Speeialfreund Escher's. Hiermit versetzte er dem System einen tödtlichen
Streich. Jedermann fühlte dies und nahm Partei für und wider. Ein
eigenthümlicher Zweikampf entspann sich nun zwischen den beiden Gegnern,
bei dem das Publicum gewissermaßen secundirte. Hier der Präsident des
obersten Gerichtshofes, unterstützt von der Mehrheit des Cantonraths, von
den Anhängern des Systems, von diesem selbst; dort der Pamphletist, ge¬
tragen von der Menge des Volkes. Jener vertheidigte sich damit, daß er
diesen als einundzwanzigsachen Verleumder vor Gericht zog; dieser, früher
Ankläger, jetzt selbst Beklagter, indem er seine Angriffe verdoppelte und
nun nicht mehr nur die Amtshandlungen, sondern auch das Privatleben
seines Feindes vor den Gerichtshof der öffentlichen Meinung brachte. Un¬
geheure Bewegung war die Folge. Das Obergericht, welches sich in und
mit seinem Präsidenten angegriffen fühlte, verlangte eine strenge Untersuchung
seiner Amtsführung. Die bereitwillig dazu niedergesetzte Commission erklärte,
daß das Gericht kein Tadel treffe und daß die schwersten Anschuldigungen gegen
den Präsidenten in seiner Eigenschaft als Richter auf keinen ausreichenden
Beweisen beruhten; nur hätten allerdings „einige unglückliche Urtheilssprüche"
stattgefunden. Der Cantonsrath erklärte sich hiermit zufriedengestellt.
Durch diese Vorgänge hatte die politische Agitation eine bestimmte
Richtung erhalten. Das Volk hatte endlich den lang entbehrten Führer ge¬
funden. Locher war der populairste Mann des Cantons. Die radicale
Minderheit, bisher ohne alle, Action. schaarte sich um ihn und begann große
Volksversammlungen zu veranstalten und eine Petition um.Verfassungsrevision
durch eine constituirende Versammlung in Umlauf zu setzen. Statt der nöthi¬
gen 10,000 zählte dieselbe bald 27.000 Unterschriften. Der Cantonsrath
mußte nun nach Vorschrift der Verfassung die angeregte Frage dem Volke
zur Abstimmung vorlegen. Die Antwort war niederschmetternd; am 26, Ja¬
nuar 1868 verlangten 50,689 Bürger gegen 7376 die Revision und 47,776
gegen 10.0S7 beschlossen, daß dieselbe durch einen Verfassungsrath zu ge¬
schehen habe. Damit war die erste Periode der Bewegung abgeschlossen.
Fast das ganze Züricher Volk hatte an derselben Theil genommen und auf
seinen Beschluß fiel das „System" wie mit einem Schlage. Die Majorität
des Cantonsraths war wie moralisch vernichtet. Der Präsident des obersten
Gerichtshofes verzichtete unter dem Vorwande der Gefahr für seine person-
liebe Sicherheit auf weitere Verfolgung Locher's mit seinen 21 Injurien-
Processen, was neuerdings eine ungeheure Sensation erregte.
Blicken wir nun einen Augenblick rückwärts. Trotz der gewiß berechtigten
Bewegung gegen das „System" dürfen dieses und sein eigentlicher Träger,
Escher, nicht zu streng beurtheilt werden. Escher scheint das Ideal der eng¬
lischen, sogenannten Manchester-Schule zum seinigen gemacht zu haben. Prak¬
tische Befähigung in der Verwaltung der großen industriellen und Handels¬
interessen war das, was er von den Mitgliedern einer Regierung zunächst
verlangte. In dieser Richtung war die Züricher Verwaltung gut, wenn
auch etwas bureaukratisch, die Finanzverwaltung sogar sehr gut. Auch in
der Legislatur war eine Menge von Reformen ohne viel Geräusch durch¬
geführt worden, so daß sich hier das System entschieden als fortschrittlich
erwiesen hat. Bei alledem war aber die Theilnahme des Volkes an den
öffentlichen Angelegenheiten erlahmt. Es war durch keine großen politischen
Ideen mehr unter sich verbunden; der eigentliche Nationalgeist hatte all-
mälig dem Cultus der wohlabgewogenen Interessen des Privatlebens den
Platz geräumt. Die vage Empfindung von der Bedrohung des innersten
Nationallebens war es, welche den Locher'schen Enthüllungen ihre Gewalt
über die Massen gegeben. Aber weiter ging die Wirkung zunächst nicht und
bei den Pamphleten konnte man doch nicht stehen bleiben. Das Volk wußte
nur, was es nicht wollte und nachdem es dies durch seinen Beschluß über
die Verfassungsrevision ausgesprochen, sah es sich plötzlich ohne Anleitung für
weitere Wege. Es fand sich Niemand, der ihm seine geheimen Wünsche und
Gefühle gedeutet hätte und darum zerstreute sich die Action von da an in
alle möglichen Richtungen. An die Stelle einer echt nationalen Erhebung,
die im Keime vorhanden, trat die Gefahr einer verfehlten Krise. Eine Haupt¬
ursache dieser Erscheinung mochte in dem Mangel einer organisirten und
kräftigen Opposition liegen. Das System liebte die Opposition überhaupt
nicht und die Folge war, daß das ächte Repräsentativsystem von ihm mi߬
braucht ward und selbst bei der Gegenpartei in Mißachtung fiel, wie sich
bald zeigen sollte.
So gewaltig auch die Energie war, mit der sich die Volksabstimmung
für die Verfassungsrevision ausgesprochen, so darf doch vielleicht behauptet
werden, daß dieser Beschluß nicht von einem allgemeinen Wunsche getragen
war. Die Verfassung war durchaus nicht schlecht. Sie war im Laufe eines
Menschenaltxrs mehr und mehr in einzelnen Theilen geräuschlos verbessert
worden und was jetzt fehlte, hätte ganz gut auf dem Wege der partiellen oder
legislatorischen Revision erreicht werden können. Was das Volk in seiner
Mehrheit ursprünglich wollre, war zunächst der Sturz des Systems, d. h.
die Aenderung des Geistes und des Personals der obersten Behörden. Die
Verfassungsrevision sollte hierzu nur als Mittel dienen, wie dies in der
Schweiz so häufig vorkommt, weil unglücklicherweise die Verfassungen solche
Personalveränderungen nur dann gestatten, wenn eine Totalrevision be¬
schlossen wird. Eine Totalrevision bedeutet aber natürlich so viel als An¬
tastung der ganzen Organisation des öffentlichen Lebens und um eine solche
den Volksmassen wünschenswert!) und nothwendig erscheinen zu lassen, bedarf
es selbstverständlich des Aufgebots der Volksleidenschaften. Die Opposition
griff von Anfang an zu Mitteln, welche den Ursprung der Volksbewegung
falschem. Das ursprüngliche Programm der Volksführer, welches sich fast
ganz oder doch schon ziemlich abgeschwächt in dem ersten Entwurf der neuen
Verfassung wiederfindet, verrieth weder hohe Ideen, noch das Streben nach
soliden und gereiften. Reformen. Man machte Versprechungen sowohl poli¬
tischer als socialer Natur nach allen Seiten hin. Den Einen versprach man
Erweiterung der Volksrechte, Schwächung der Regierungsgewalt, Verminde¬
rung der Beamtenzahl. größere Unabhängigkeit der Gemeinden; den Andern
Steuererleichterung, vollständige und unentgeltliche Ausrüstung der Wehr¬
pflichtigen durch den Staat, Ermäßigung der Gemeindelasten für das Straßen¬
wesen, eine Staatsbank, den Bau von Eisenbahnen, Revision der Gesetze
über Schuldeneintreibung, Aufhebung der Gesetze über die Arbeitercoalitionen
und Aehnliches. Manche dieser Gesetze tragen nur zu deutlich das Gepräge
der Demagogie an sich, welcher übrigens auch einige Führer der Bewegung
nahe standen.
Unter den von den Demokraten gegen das System geltend gemachten
Beschwerdepunkten wurden Anfangs namentlich zwei in den Vordergrund
geschoben: die Stellung der Arbeiter gegenüber der Gesetzgebung und die
Gereiztheit der Landschaft gegen die Hauptstadt. In letzterer Beziehung —
auf den erstern Punkt kommen wir später zurück — warf man der Re¬
gierung eine ganze Reihe von übermäßigen Ausgaben vor, von denen die
Stadt Zürich auf Kosten des übrigen Cantons Nutzen ziehe. Darunter be¬
fand sich eine Anzahl von großartigen, Bauten in der Stadt, wie der des
Polytechnikums, eines neuen Quais und einer Luxusbrücke und einer großen
Irrenanstalt. Bei genauerer Würdigung dieser Vorwürfe scheinen dieselben
jedoch in keinem Verhältnisse zu dem Lärm zu stehen, den man mit denselben
zu machen suchte.
Im Großen und Ganzen genommen, wurde übrigens das System durch
seine eigenen Waffen geschlagen: durch die Ausschließltchkeit in der Politik und
durch seinen Materialismus. Mit den Beschwerden über die Vernachlässigung
der materiellen Interessen des Volkes mußten die Führer des letztern zunächst
auftreten, wenn sie auf weitere Erfolge hoffen wollten, da außer dem ersten
Wiederhall, den die Indignation des Phamphletisten über die Zustände des Justiz-
Wesens beim Volke gefunden, der Sinn für höhere Dinge wie erstorben war.
Auch gegenüber der Ausschließlichkeit des Systems gegen alle Andersdenkenden
griff die siegende Opposition zu derselben Waffe: sie schloß auch ihrerseits alle
diejenigen aus dem Verfassungsrathe aus, welche mit dem System in irgend
einer Verbindung gestanden hatten. Unter dem Einfluß der ersten Auf¬
regung gingen die Wähler weit über das ursprüngliche Ziel hinaus. Wäre
die Versammlung einige Monate später gewählt worden, so wären die Wah¬
len ohne Zweifel wesentlich anders ausgefallen. Jetzt aber fanden nur sehr
wenige Mitglieder des Cantonsraths Gnade und die Wahlen fielen auf viele
Männer, welche nicht nur Komines novi waren, sondern auch einer gesell¬
schaftlichen Schicht angehörten, die den Massen schon viel näher stand. In¬
dessen brachte dieser neue Zuwachs weder neue Capacitäten ans Licht, noch
wurde die Bewegungspartei erheblich durch denselben verstärkt. Unter der
Zahl der Führer fanden sich einige fähige und ehrenwerthe Männer, die sich
aber unglücklicherweise mit anderen verbanden, die — ob mit Recht oder Un¬
recht — beim Publicum nur geringes Vertrauen einflößten. Einige Mit¬
glieder von Lande zeichneten sich bei den'.Verhandlungen, namentlich über
specielle Punkte, wie das Volksschulwesen, wirklich aus. Eigentlich politische
Charactere jedoch, die sich für Regierungsstellen geeignet hätten, machten sich
bis dahin nicht bemerkbar.
Was nun die an der Verfassung vorgenommen Veränderungen betrifft,
so müssen wir wenigstens der bedeutendsten gedenken. Anlangend die Grund¬
rechte der Bürger wurde vollständige, bisher namentlich in Bezug auf ge¬
wisse Vorrechte der Beamten noch nicht bestehende Preßfreiheit eingeführt.
Bei Jnjurienprocessen kann der Beklagte künftig den Beweis der Wahrheit
antreten und muß freigesprochen werden, „wenn das als ehrenrührig Einge¬
klagte wahr ist und mit redlichen Motiven und rechtlichen Endzwecken ver¬
öffentlicht und verbreitet wurde." (§. 3.) Die Strafarten beim Crinn'nal-
verfahren werden gemildert. „Das Strafrecht", sagt §. 8, „ist nach huma¬
nen Grundsätzen zu gestalten. Die Anwendung der Todesstrafe und der
Kettenstrafe ist unzulässig." „Dem wegen eines Vergehens oder Verbrechens
Angeschuldigten, sowie dem Geschädigten ist Gelegenheit zu geben, allen Ver¬
handlungen, welche vor dem Untersuchungsrichter stattfinden, beizuwohnen,
einen Rechtsbeistand zuzuziehen und an die Zeugen Fragen zu richten, welche
zur Aufklärung der Sache dienen können" (§. 6). „Ungesetzlich Verhafteten
ist vom Staat angemessene Entschädigung oder Genugthuung zu leisten.
Zur Erzielung eines Geständnisses dürfen keinerlei Zwangsmittel angewendet
werden" (§. 7). „Jeder Beamte ist nach Maßgabe der Gesetze sowohl dem
Staate und den Gemeinden, als den Privaten für seine Verrichtungen
verantwortlich" (Z. 10). Die Civilehe wurde nur facultative eingeführt (K. 1ö). ,
Ueber die Organisation der Rechtspflege enthält die neue Verfassung
nur sehr spärliche Bestimmungen in 6 Artikeln; „Verbrechen und politische
Vergehen, ebenso Preßprozesse, in welchen ein Beklagter es verlangt, werden
durch Geschwornengerichte beurtheilt. Durch das Gesetz können auch für an¬
dere Theile der Rechtspflege (Civil- und Strafrechtpflege) Geschwornengerichte
aufgestellt werden" (§. 37). „Das Proceßverfahren soll im Sinne möglichster
Rechtssicherheit so wie rascher und wohlfeiler Erledigung geordnet werden.
Für Streitigkeiten von geringem Betrag wird ein abgekürztes Verfahren ein¬
geführt" (ez. 69).
Unter den Volks- und staatswirthschaftlichen Grundsätzen
nimmt die Einführung der Progressivsteuer für Einkommen und Vermögen
eine hervorragende Stelle ein. „Der Staat erhebt eine Erbschaftssteuer pro¬
gressiv nach der Entfernung der Verwandtschaft und der Größe der Erb¬
schaft". „Es dürfen keine neuen Steuern auf den Consum unentbehrlicher
Lebensmittel eingeführt werden- Die Salzabgabe ist sofort zu vermindern."
„Die Stimmberechtigung verpflichtet zu einem mäßigen und auf alle gleich
zu legenden Beitrag an die öffentlichen Lasten." „Steuerprivilegien zu
Gunsten einzelner Privater oder Erwerbsgesellschaften sind unzulässig" (§. 19).
„Die Cantonal- und Bezirksbeamten, sowie die Notare erhalten Besoldungen
nach Maßgabe ihrer Geschäftslast. Die Gebühren und Sporteln fallen in
der Regel an die Staatskasse" (§. 20). „Die Ausübung jeder Berufsart in
Kunst und Wissenschaft, Handel und Gewerbe ist frei" (§. 21). Die Armen¬
pflege verbleibt den Gemeinden. Jedoch unterstützt der Staat diejenigen Ge¬
meinden, welche selbst bedürftig sind, zur Erleichterung ihrer Armenlasten. Er
fördert ferner die Entwickelung des auf Selbsthilfe beruhenden Genossenschafts¬
wesens und erläßt auf dem Wege der Gesetzgebung die zum Schutze der Ar¬
beiter nöthigen Bestimmungen". „Er errichtet zur Hebung des allgemeinen
Creditwesens beförderlich eine Cantonalbcmk" (Z. 22). „Die Unterstützung
des Staates erstreckt sich auf alle Straßentlassen mit Ausnahme der Neben¬
straßen". „Die Eisenbahnen, welche um ihrer volkswirthschaftlichen Bedeu¬
tung willen außerordentliche Privilegien seitens des Staates genießen, sind
unter dessen Aufsicht dieser Bestimmung entsprechend zu verwalten. Die¬
jenigen Gebietstheile des Cantons, welche in Hinsicht auf Bevölkerung und
Verkehr' mit denen auf gleichen Linien stehen, welche mit Staatshilfe zu
Eisenbahnen gelangt sind, haben ebenfalls Anspruch auf Staatsunterstützung"
(tztz. 25 u. 26). Endlich „übernimmt der Staat die erste militairische Aus¬
rüstung der Wehrpflichtigen" (§. 27).
Der Abschnitt über „Gesetzgebung und Volksvertretung" ent¬
hält diejenigen Bestimmungen, welche der züricherischen Verfassung am meisten
ihr eigenthümliches Gepräge (das der sogenannten reinen Demokratie) geben und
durch welche sich vorzugsweise in der Schweiz eine neue Periode in der Ent¬
wickelung der Staatsformen eröffnete, indem sie seither bereits in mehreren
Cantonen die Anregung zur Nachahmung gegeben haben. Die Summe ist:
das Volk übt die gesetzgebende Gewalt unter Mitwirkung des Cantonsrathes
aus. „Das Vorschlagsrecht der Stimmberechtigten (Initiative) umfaßt das Be¬
gehren nach Erlaß, Aufhebung oder Abänderung'eines Gesetzes." „Derartige
Begehren können in der Form der einfachen Anregung oder des ausgearbei-
teten Entwurfs gestellt werden und sind im einen wie im anderen Falle zu
begründen. Wenn ein Einzelner oder eine Behörde ein solches Begehren
stellt, welches von einem Drittheile der Mitglieder des Cantonsraths unter¬
stützt wird, so muß über dieselbe durch das Volk entschieden werden. Dem
Antragsteller steht das Recht der persönlichen Begründung im Schoße des
Cantonsraths zu. insofern 2S Mitglieder des letzteren das Gesuch um per¬
sönliche Begründung unterstützen. Ebenso muß der Volksentscheid veranlaßt
werden, wenn 8000 stimmberechtigte oder eine Anzahl von Gemeindever¬
sammlungen, an denen wenigstens 5000 stimmberechtigte dafür gestimmt
haben, ein solches Begehren stellen, insofern der Cantonsrath demselben nicht
entspricht." Die Anregung bezüglich des Entwurfs ist vor der Abstimmung
immer dem Cantonsraths zu begutachtender Beschlußfassung zu unterbreiten.
Für den Fall, daß ein von der Volksinitiative ausgegangener Gesetzesentwurf
zur Abstimmung gelangt, kann der Cantonsrath dem Volke außer seinem
Gutachten auch einen abgeänderten Entwurf zur Entscheidung vorlegen
(§Z. 28. 29).
Zu diesem Rechte der Initiative kommt nun das sogenannte Referendum:
„Alljährlich zwei Mal, im Frühjahr und im Herbst, findet die Abstimmung
des Volkes über die gesetzgeberischen Acte des Cantonsraths statt. In
dringenden Fällen kann dieser eine außerordentliche Abstimmung anordnen"*).
Sehr großes Gewicht legten die Demokraten von Anfang an auf Ein¬
führung der directen Wahl der Executive durch das Volk, nach¬
dem dieselbe bisher vom Cantonsrath gewählt worden. Sie bezweckten damit
eine unabhängige Stellung der Exekutive gegenüber dem letztern, einen vvlks-
mäßigeren Charakter und größere Macht derselben. Arotz der stärksten An¬
fechtungen dieser Bestimmung von Seiten der Opposition wurde sie in die
Verfassung aufgenommen, deren §. 37 lautet: „die vollziehende und verwal¬
tende Cantonalbehörde. Regierungsrath, besteht aus 7 Mitgliedern, welche in
einem cantonalen Wahlkreise gleichzeitig mit dem Cantonsrathe durch das
Volk gewählt werden", und zwar auf drei Jahre (§. 11). In derselben
Weise werden die beiden Mitglieder des Ständeraths ebenfalls auf drei Jahre
gewählt. — Zu diesen directen Volkswahlen kommen endlich noch die schon
seit 1865 eingeführten directen Wahlen der Bezirksbeamten und Bezirksräthe
durch die Einwohner des Bezirks. Auch sie finden alle drei Jahre statt.
So kam es, daß bei den am 9. Mai d. I. stattgefundenen allgemeinen Wah¬
len in manchem Bezirke jeder Bürger etwa 40 Namen auf seine Wahlliste
zu schreiben hatte. Dazu gesellen sich in Zukunft noch die obligatorischen,
alle Jahre zweimal vorzunehmenden Volksabstimmungen über die vom Can¬
tonsrathe erlassenen Gesetze, von denen bis Ende 1870 bereits 30 von den
Behörden in Aussicht genommen sind.
Herr Tallichet stößt sich bei seiner Musterung der Verfassungsbestim-
mungen zuerst an das Recht der Initiative. Wenn ein beliebiger Bürger,
der einen beliebigen, abgeschmackten Einfall hat, unterstützt von einem Drit¬
theil des Cantonsraths oder 3000 Bittstellern, 60,000 Activbürger in Be¬
wegung setzen, den ganzen complicirten Mechanismus einer Volksabstimmung
in Gang bringen kann und sämmtliche Bürger verpflichtet sein sollen, sich
zur Abstimmung einzufinden, so scheint ihm das die Organisation der Anarchie.
Wir halten jedoch die Sache nicht für so schlimm und möchten darauf hin¬
weisen, daß es in Wirklichkeit kaum möglich sein wird, für einen abgeschmackten
Antrag ein Drittheil des Cantonsraths und S000 Bürger zu gewinnen.
Die „Initiative" hat übrigens seither bedeutende Propaganda gemacht, ebenso
das „Referendum", das jetzt auch im Thurgau und namentlich im Canton
Bern eingeführt ist, was freilich noch nichts für deren Vortrefflichkeit beweist.
Während nach Herrn T. das Referendum der Lebensfähigkeit entbehrt
und bald wieder abgeschafft werden dürfte, — was wir einstweilen sehr be¬
zweifeln — wird nach seiner Ansicht die directe Volkswahl der Regierung,
einmal eingeführt, viel schwerer wieder zu entfernen sein, weil deren üble
Folgen schwerer zu erkennen, obwohl tiefer eingreifend sind und weil die
Masse der Wähler vielmehr daran hängt, über Personenfragen, als über
legislatorische Fragen zu entscheiden. Es wird auch schwer halten sie zu
überzeugen, daß man ihnen damit kein Recht nimmt, obschon dieses angeb¬
liche Recht mehr zu ihrem Schaden als zu ihrem Nutzen ausschlägt. Nun
hat aber die Erfahrung sowohl in den Vereinigten Staaten als in den beiden
Schweizercantonen, wo dieses Recht bisher bestanden, gelehrt, daß das Volk viel
weniger Einfluß auf die Erneuerung der Executive besitzt, wenn es dieselbe
selbst wühlt, als wenn es sie der gesetzgebenden Behörde überträgt, die einer¬
seits aufs Entschiedenste genöthigt ist, der öffentlichen Meinung Rechnung
zu tragen (? eben weil dieses zu wenig geschah, kam man auf die directe
Volkswahl) und andererseits sich viel besser in der Lage befindet, die Männer
zu finden, welche die zum Regieren nöthigen Eigenschasten besitzen. Die
directe Wahl hingegen kann nur durch unverantwortliche Comites angebahnt,
geleitet und vollzogen werden. Jeder Bürger, welcher seine Stimme nicht
ganz vergeblich abgeben will, ist genöthigt entweder nach einem bestimmten
Vorschlage zu stimmen oder aus mehreren Listen steh selbst eine zusammen¬
zusetzen. Er besitzt die Freiheit die Personen, zu denen er Vertrauen hat,
zu wählen nicht und so ist es nur ein Hohn zu behaupten, bei diesem System
wähle das Volk die Executive. In Wahrheit spielt das Volk dabei nur
die Rolle eines Statisten, der auf das Stichwort einiger Leute hört, die er
vielleicht nicht einmal kennt. Alles dieses fällt um so schwerer ins Gewicht,
als die directe Wahl der Executive dieser zwar eine große Kraft verleiht,
die aber zu wenig controlirt ist. Sie ist der Legislative weit überlegen, weil
sie weiß, daß sie vom gestimmten Volke gewählt ist, während die Mitglieder
jener eigentlich nur bestimmte Wahlbezirke vertreten.
Das Uebel besteht eben darin, daß wir in der Schweiz das echte Ne-
Präsentativsystem nie besessen haben. Als wir die aristokratische und patii-
archalische Staatsform zerbrachen, behielten wir unglücklicherweise ein Princip
derselben bei, dem es vorbehalten sein sollte auch unsere demokratischen Sy¬
steme zu fälschen. Dies Princip ist die Länge der Amtsdauer und die
nur partielle Erneuerung der Großen und Kleinen Räthe.
Seit 1813 wurde dieses Princip allmälig modificirt, aber nur formell, nicht
dem Geiste nach. Man verkürzte die Amtsdauer, man führte gleichzeitige
und integrale Erneuerung der beiden Räthe ein oder vielmehr eine perio¬
dische Wiederwahl auf alle 2, 3. 4 Jahre; aber das durchaus aristokratische
Princip, daß' die einmal gewählten Räthe während ihrer Amtsdauer nicht
entfernt werden können, erhielt man aufrecht und sicherte so den Regierungen
eine gewisse Stabilität und ununterbrochene Dauer, welcher fast nie anders
als durch eine große Krise, durch Revolution oder Verfassungsrevision ein
Ende gemacht wurde. So wurden zwei einander nicht nur entgegensetzte,
sondern geradezu feindliche Principien, das aristokratische und das demokra¬
tische, an einander geschmiedet, deren zunehmender Antagonismus die Staats-
gesellschaft nothwendig in eine wachsende Unbehaglichkeit versetzen muß. So¬
bald die obersten Behörden während einer bestimmten Amtsdauer nicht ent¬
fernbar sind, ist man genöthigt sie mit Schranken zu umgeben, welche sie
Politisch impotent machen müssen, während man ihnen gleichzeitig ihre admini-
strative Unabhängigkeit erweitert. Dies ist der Zweck und wird auch die
Folge sein des Referendums und der directen Wahl der Regierung durch das
Volk. Statt auf geradem Wege zu einer gründlichen Reform zu schreiten,
verweilt man bei solchen halben Maßregeln, welche eine neue, vielleicht
schlimmere Krise herbeiführen werden.
Der Vorwurf der Unbestimmtheit trifft am meisten den Kirchen- und
Arbeiterartikel. Als vor zwanzig Jahren der Communismus in Zürich be¬
deutende Fortschritte machte, erließ der Cantonsrath ein sehr strenges Gesetz
gegen die Arbeitercoalilionen, während die Arbeitgeber sich frei vereinigen
durften, und davon auch ausgedehnten Gebrauch machten, indem z. B. ein
Arbeirer, der von einem Arbeitgeber entlassen worden, von keinem andern
mehr angestellt werden durfte und so zum Verlassen des Cantons genöthigt
ward. Ferner wurde eine zu lange Arbeitszeit eingeführt und die Fabrik¬
kinder entbehrten des genügenden Schutzes gegen übermäßige Anstrengung.
Obschon nun hier Stoff genug zu gründlichen Reformen gewesen wäre,
nahm der Verfassungsrath doch nur wieder einen sehr denk- und drehbaren
Artikel an. „Der Staat fördert und erleichtert die Entwickelung des aus
Selbsthilfe beruhenden Genossenschaftswesens. Er erläßt auf dem Wege der
Gesetzgebung die zum Schutze der Arbeiter nöthigen Bestimmungen" (§ 23).
Im Uebrigen ist das verhaßte Coalitionsgesetz durch Art. 3 aufgehoben, worin
die Gewährleistung des Vereins- und Versammlungsrechts ausgesprochen ist.
Die Annahme der Verfassung, deren Hauptzüge wir geschildert, erfolgte
durch das Volk am 18. April d. I., nachdem ein lebhafter Streit über die
Frage, ob die Abstimmung in Globo oder abschnittsweise oder artikelweise
zu geschehen habe, vorhergegangen. Das letztere war in einer mit 13,000
Unterschriften bedeckten Petition verlangt worden. Nichtsdestoweniger be¬
schloß der Verfassungsrath Abstimmung in Globo. Diese erfolgte mit 34,441
annehmenden gegen 22,351 verwerfenden Stimmen, also mit etwas mehr als
12,000 Stimmen Mehrheit. Am 9. Mai fanden die Wahlen des neuen
Cantonsrathes, des Regierungsrathes, der beiden Mitglieder des schweize¬
rischen Ständerathes und der sämmtlichen Bezirksbeamten statt. In den
Canronsrathswahlen siegte die demokratische Partei schon weniger glänzend,
als bei der letzten Abstimmung über die Verfassung, nachdem auch diese be¬
reits eine Abnahme der Stimmen der Demokraten im Vergleich mit den
Wahlen in den Verfassungsrath und diese letztere wiederum im Vergleich mit
der großen Volksabstimmung über die Verfassungsrevision, am 26. Januar
constatirt hatten. Das Verhältniß der Demokraten zu den Liberalen im
Cantonsrathe stellt sich jetzt ungefähr wie 4 oder 5 zu 3 oder 4, d. h. 110
entschiedene Demokraten zu 87 Liberalen und 20— 25 Unentschiedenen oder
Unabhängigen. Trotz ihrer geringen Mehrheit haben seither die Demokraten
das in der Schweiz so beliebte Princip des Mehrheitsdespotimus geltend ge¬
macht und ist damit eine Verlängerung der leidenschaftlichen Kampfbereit¬
schaft der beiden Parteien in Aussicht gestellt. Es ist dies umsomehr zu be¬
klagen, als die neuen höchsten Behörden zur Durchführung der Verfassung
eine Menge von Gesetzen neu zu schaffen haben, welche nur durch ein harmo¬
nisches Zusammenwirken der Parteien erzielt werden können. —
Seit dem 1. Juli besitzen wir in der Person des Grafen v. Bassewitz,
des bekannten Reichstagsabgeordneten, einen neuen Ministerpräsidenten und
Minister des Auswärtigen; sein Vorgänger, v. Oertzen, hat sich in das
Privatleben zurückgezogen. Auch in denjenigen Kreisen, welche sich sonst für
berufen halten, bei solchen Veranlassungen, die Abgehenden wie die Kom¬
menden mit den Klängen der Posaune zu feiern, vollzog sich dieser Personen¬
wechsel in größter Stille. Man las eines Tages, unter anderen Bekannt¬
machungen versteckt, die Anzeige von der erfolgten Veränderung in dem
höchsten Verwaltungsamt, und das ministerielle Blatt hatte kein Wort der
Anerkennung für den zurückgetretenen Minister, welcher in aller Stille die
Residenz verließ, und kein Wort der hoffenden und preisender Erwartung für
den Nachfolger. Es begnügte sich mit der trockenen Andeutung, die für einen
Kenner der Personen und Verhältnisse nichts Neues enthielt, daß der Per¬
sonenwechsel nicht als Systemwechsel aufgefaßt werden dürfe, weil in Mecklen¬
burg der Großherzog ein persönliches Regiment führe.
Es mag auch wohl ganz vorsichtig gehandelt sein, wenn die herrschende
Partei sich nicht zu fest an die Person des Ministerpräsidenten hängt, da
über diesem Amt in unserem Lande seit zwanzig Jahren ein besonderer Unstern
waltet. Der Ministerpräsident v. Lützow, welchem beschieden gewesen war,
in vollem Einverständnisse mit dem Großherzog dessen öffentlich erklärten
Willen, daß Mecklenburg unverzüglich in die Reihe der constitutionellen Staa¬
ten trete, zur Ausführung zu bringen und in friedlichem und gesetzlichem
Wege dem Lande die Segnungen konstitutioneller Einrichtungen zu schaffen,
sah sich genöthigt, sein Amt niederzulegen, weil er als Mann von Wort
und Ehre nicht die Hand dazu bieten mochte, das von ihm beschworene, in
anerkannter Wirksamkeit bestehende Staatsgrundgesetz wieder umzustoßen.
Sein Nachfolger, Gras v. Bülow, ein preußischer Diplomat, übernahm
zwar mit dem Ministerium des Auswärtigen auch noch das des Innern,
brachte es aber niemals zu einer genügenden Kenntniß des Landes und sei¬
ner Bedürfnisse und wurde niemals heimisch unter uns. Er ließ Andere für
sich arbeiten, während er selbst einen großen Theil des Jahres außerhalb
Mecklenburgs verlebte. Nach achtjähriger Amtsführung trat er vom Schau¬
platz zurück und es zeigten sich bald darauf die Zeichen einer unheilbaren
Geisteskrankheit, deren zerrüttenden Einwirkungen er vor Kurzem erlag.
Auf ihn folgte v. Oertzen, früher mecklenburgischer Bundestags¬
gesandter, zu dessen ersten Handlungen nach Antritt seines Ministerpostens
gehörte, daß er die bis dahin wenigstens formell offen gehaltene Frage wegen
einer Reform der ständischen Verfassung abschloß, indem er ein großherzog¬
liches Rescript an den Landtag unterzeichnete, in welchem allem „Experimen¬
tiren mit neuen willkürlichen Verfassungsformen" der Abschied gegeben und
die Absicht strengen Festhaltens an der bestehenden Landesverfassung ange¬
kündigt wurde. Herr v. Oertzen war es ferner, welcher als Vorstand des
von ihm gleichzeitig versehenen Ministeriums des Innern die weitere Aus¬
bildung der Strafe der körperlichen Züchtigung sich angelegen sein ließ.
Da man in neuerer Zeit mehrfach gewagt hat, die Mittheilungen über
die Anwendung dieser Strafe in Mecklenburg als dem Gebiet der Fabel an¬
gehörig zu bezeichnen, so wird es sich rechtfertigen, wenn wir Veranlassung
nehmen, einen kurzen Abriß der Geschichte dieses Strafmittels in unserem
Lande hier einzuschalten. Zur Zeit der Herrschaft des Constitutionalismus
wurde durch ein Gesetz vom 11. Jan. 1849 die Strafe der körperlichen Züch¬
tigung gänzlich abgeschafft. Nach Wiederherstellung der altständischen Ver¬
fassung aber wurde diese Strafe für ein Bedürfniß erklärt und unter Zu¬
stimmung von Ritter- und Landschaft durch Verordnung vom 29. Jan. 1852
für folgende Fälle wieder eingeführt: 1) zur Aufrechthaltung der Disciplin
in Gefängnissen, 2) zur Ahndung von Lügen und Winkelzügen in gerichtlichen
und polizeilichen Untersuchungen, 3) als Strafe des gewerbsmäßigen Bet¬
tels, der Trunkenheit, Völlerei und Liederlichkeit, der Unzucht, der Beleidi¬
gung der Obrigkeit und ihrer Diener, so wie der thätlichen Widersetzlichkeit
gegen dieselben, des Diebstahls, der Forstfrevel, des Betrugs und der Fäl¬
schung. Durch Verordnung vom 27. Januar 1853 wurde das Maß der
Röhrchen nach Länge und Dicke erweitert. Die von Herrn v. Oertzen die¬
ser Institution gegebene Fortbildung bestand darin, daß unter dem 2, April 1864
eine Verordnung, betreffend die Bestrafung der Dienstvergehen der Guts¬
leute auf den ritterschaftlichen Gütern, erschien, welche dem Gutsherrn das
Recht verlieh, eine Polizeistrafe bis zu 25 Hieben wegen Dienstvergehen zu
erkennen. Die Verordnung hatte auf dem Landtage nur die Zustimmung
der Ritterschaft erlangt, war dagegen von der Landschaft abgelehnt worden,
so daß dieselbe nicht blos durch ihren Inhalt den allgemeinsten Anstoß er¬
regte, sondern auch formell illegal war. Die Landschaft hatte ihre Zustim¬
mung verweigert, theils weil sie das Bedürfniß nicht anerkannte, theils weil
sie es für unzulässig hielt, dem Gutsherrn das Recht einzuräumen, auch in
Fällen, wo sein eigenes Interesse in Betracht kam, die Sache selbst zu
untersuchen und zu entscheiden. Dem Sturm des Unwillens, welcher sich
wegen dieser Verordnung durch die ganze deutsche Presse erhob, suchte Herr
v. Oertzen dadurch zu begegnen, daß er als Minister des Auswärtigen ein
Cireular an die mecklenburgischen Gesandtschaften zu Wien und Berlin er¬
ließ, in welchem er den Beistand der Mächte zum Schutze gegen die Angriffe
der Presse anrief und eine Verschärfung der deutschen Preßgesetzgebung für
ein dringendes Erforderniß erklärte. Trotz dieser ungewöhnlichen Anstrengungen
mußte schließlich doch der Rückzug angetreten werden. Durch Verordnung
vom 20. Decbr. wurde die körperliche Züchtigung als Strafmittel in gericht¬
lichen sowohl als in polizeilichen Untersuchungen aufgehoben. Doch ließ man,
abgesehen von der Fortdauer dieser Strafe zur Aufrechthaltung der Disciplin
in Straf- und Correctionsanstalten, dieselbe noch zur Bestrafung des ge¬
werbsmäßigen Bettels und der mit Unfug oder öffentlichem Aergerniß ver¬
bundenen Trunkenheit, Rohheit oder Liederlichkeit bei solchen Individuen fort¬
bestehen, welche wegen der genannten Vergehen bereits wiederholt bestraft
worden sind, wenn zugleich deren herabgesunkene Persönlichkeit die Annahme
begründet, daß andere Strafmittel ihre Wirkung verfehlen würden. Ebenso
können auch Individuen, „deren Persönlichkeit so qualificirt ist", wegen klei¬
ner, polizeilich zu rügender Diebstähle, mit körperlicher Züchtigung belegt
werden. Bis auf diesen Punkt wenigstens hatte man sich bei der Anwen¬
dung der körperlichen Züchtigung vor dem öffentlichen Unwillen zurück¬
ziehen müssen.
Mit der Stadt Rostock verwickelte Herr v. Oertzen den Großherzog
im Jahre 1863 in einen auch jetzt noch nicht beendigten Streit, indem er
das in einer Untersuchung gegen die Mitglieder des Nationalvereins zu
Rostock ergangene freisprechende Erkenntniß des Raths cassirte, ein verurthei-
lendes Erkenntniß an die Stelle setzte und den Rath im Wege militairischer
Execution zwang, das letztere an den von ihm Freigesprochenen selbst zur
Ausführung zu bringen. Dieser Eingriff in die Rechtspflege vollzog sich in
Formen, welche lebhaft an den rauhen Stil des Herzogs Carl Leopold von
Mecklenburg erinnern. „Ihr erdreistet Euch", so wurde der Rath in einem
der in dieser Sache ergangenen landesherrlichen Nescripte angelassen. Eine
Beschwerde des Rostocker Raths wegen dieser Hemmung der Rechtspflege
wird in nächster Zeit wieder an den Bundesrath abgehen, nachdem ein
Bescheid des letzteren, welcher die Beschwerde abwies, weil ihr Gegenstand in
die Zeit vor Begründung der Bundesverfassung falle, die Beschwerdeführer
zu einem neuen Antrage an den Großherzog veranlaßt hatte, durch dessen ab¬
schlägige Bescheidung der Gegenstand der Beschwerde aus der Vergangenheit
in die Gegenwart gerückt und somit der Forderung des Bundesraths genügt
worden ist.
In der eine Zeit lang die deutschen Regierungen beschäftigenden Frage
wegen einer Reform der alten Bundesverfassung stand Herr v. Oertzen auf
Seiten der entschiedenen Gegner jeder parlamentarischen Vertretung und
wollte nur zu einer Kräftigung der Executive die Hand bieten. Es war
daher eine eigenthümliche Ironie des Schicksals, daß es gerade ihm beschieden
war, als Minister des Auswärtigen und mecklenburgischem Bevollmächtigten
bei der Begründung einer Bundesverfassung mitzuwirken, welche eine nicht
einmal aus ständischer Grundlage, sondern auf dem allgemeinen Stimm¬
recht ruhende Vertretung einführte und durch die freiheitliche Richtung, der
sie namentlich auf dem wirthschaftlichen Gebiete ihre Stütze lieh, mit Allem
in Conflict trat, was die alte Landesverfassung Mecklenburgs zu ihren un¬
entbehrlichen Besitzthümern zählte, und was Herr v. Oertzen stets als das
allein Gute und Heilsame gepriesen und verfochten hatte. Dennoch hatte er
die Selbstüberwindung, der Herbeiführung des Bündnißvertrages und der
daraus hervorgegangenen Bundesverfassung seine fördernde Mitwirkung nicht
zu versagen und sich noch drei volle Jahre nach den Ereignissen des Jahres
1866 an der Spitze der Geschäfte zu behaupten. Es müssen darum sehr
dringende Gründe gewesen sein, welche ihn endlich bestimmten, die Ent¬
lassung von seinem Posten nachzusuchen.
Der jetzige Ministerpräsident, Graf v. Basse Witz, hat im Reichstage
zur Genüge dafür gesorgt, daß seine politische Richtung zur allgemeinen
Kunde gelangt ist. In Mecklenburg hat er sich bereits im Jahre 1849 als
einer der eifrigsten Agitatoren aus dem Kreise der Ritterschaft für die Be¬
seitigung der constitutionellen Staatsform bekannt gemacht. Er war einer
der drei Vertrauensmänner der wenigen rennenden Mitglieder der gesetzlich
als politische Corporation aufgelösten Ritterschaft, welche, wie es in einer
Staatsschrift des constitutionellen Gesammtministeriums aus dem Anfange
des Jahres 18L0 heißt, das Aeußerste versuchte, um von den Zugeständnissen
der früheren Landstände entbunden zu werden, und deren Bestrebungen mit
Hilfe der Bundescentraleommission in Frankfurt das alte Ständewesen wie¬
der zur thatsächlichen Geltung zu bringen, schließlich mit Erfolg gekrönt
wurden. Als Abgeordneter im Reichstage hat er sich den Ruf zu erwerben
gewußt, daß es Keiner an tiefgewurzelten Haß aller freiheitlichen Entwicke¬
lung aus dem politischen wie aus dem wirthschaftlichen Gebiet mit ihm auf¬
nimmt, und daß er keine größere Sorge hat, als das feudale Mecklenburg
gegen die Umwandlung zu schützen, zu welcher die Bundesgesetzgebung das¬
selbe immer stärker und unwiderstehlicher zwingt.
Allerdings steht der Graf hierin genau auf demselben Punkte, auf welchem
die Lenker unser Staatsangelegenheiten auch schon vor ihm standen, und nur
darin mag vielleicht ein geringer subjectiver Unterschied zwischen ihm und
seinem unmittelbaren Vorgänger liegen, daß er noch weniger geneigt sein
wird, auf die Forderungen der Zeit zu merken und dem Drucke der That¬
sachen nachzugeben. Jedenfalls wird, so lange er eine Stimme dabei hat,
die Regierung fortfahren, nach bestem Vermögen die alte Landesverfassung
bei Bestand zu erhalten und im Bundesrathe gegen eine freiheitliche Gesetz¬
gebung zu kämpfen, wo dies aber nicht gelingt, der Wirksamkeit der Bundes¬
gesetze möglichst enge Schranken anzuweisen.
Freilich wird er mit solchen Gedanken und Absichten nicht so offen her¬
vortreten, wie diejenigen seiner politischen Freunde, welche sich nicht scheuten,
auf dem letzten Landtage es vor aller Welt als die Aufgabe der Mecklen¬
burgischen Stände zu bezeichnen, die Bundesgesetze für Mecklenburg so viel
als möglich unwirksam zu machen. Und noch weniger liegt es in seiner
Natur, gleich seinem bisherigen Collegen in dem ständischen Amte eines
Landraths, dem Herrn v. Plüskow auf Kowalz, dem Norddeutschen Bunde
und feiner Verfassung offen den Fehdehandschuh hinzuwerfen. Herr von
Plüskow und sein Anhang in der Ritterschaft traten schon auf dem außer¬
ordentlichen Landtage vom September 1866 mit dem Antrage auf Verwerfung
des Bündnißvertrags hervor. Später ging Herr v. Plüskow eine enge
Verbindung mit der Welfenpartei in Hannover ein und im Februar dieses
Jahres veröffentlichte er in einem kleinen, nach kurzem Dasein wieder ein¬
gegangenen Winkelblatt des obotritischen Welfenthums einen mit schwarzer
Galle getränkten Bannfluch gegen Bismarck und den norddeutschen Bund
und den in beiden nach seiner Vorstellung sich darstellenden preußischen Ueber¬
muth. Durch den Schluß dieses Artikels, wonach Angesichts der neuesten
Umgestaltungen in Deutschland „selbst Lämmer Tigerzähne bekommen
müßten", überlieferte er sich den Zähnen der Witzblätter, und durch den übri¬
gen Inhalt desselben brachte er sich in eine Untersuchung wegen Preßver-
gehens, welche zu einer Verurtheilung in einige Wochen Gefängniß und eine
Geldbuße führte. Stärkeres gegen Preußen und dessen leitenden Staats¬
mann wird man kaum in den radicalsten deutschen Blättern lesen, als ihm
hier von konservativer Seite gesagt wird. Die vom Grasen Bismarck vertre¬
tenen Interessen werden als „erbärmliche, kleinliche, dynastische Interessen"
bezeichnet; ihm wird der Vorwurf gemacht, daß er das Wohl des deutschen
Vaterlandes gründlich geopfert, Conspirationen mit dem Auslande keineswegs
verschmäht und mit Deutschland ein frevelhaftes Spiel getrieben habe. In-
dessen freut Herr v. Plüskow sich des von Preußen auferlegten Druckes,
da derselbe, je schärfer und fühlbarer er sei, desto mehr zur Erlösung von den
Fesseln mitwirken werde. „Unter dem Drucke werden die Völker erprobt",
heißt es weiter, „ob sie noch Stahl in ihrem Blute haben. Hart genug ist
der Druck. Unsere Fürsten sind verjagt oder unterjocht (!), unsere Freiheit
ist dahin bis auf das letzte Zucken. Sie sperren uns in ihre Kasernen, sie
Schirren uns in ihre Uniform, sie pressen uns in ihre Zoll- und Steuer¬
schraube. Sie nehmen vie Frucht unseres Fleißes, das Brod unserer Kinder,
das Blut unserer Söhne. Unsere Products sind nur noch Fourage, unser
Vieh Vorspann und Proviant, unsere Felder Exercierplatze, unsere Häuser
— die unantastbare Burg des freien Mannes — unsere Häuser Kasernen!
Hart genug ist der Druck. Dazu noch diese unschätzbare bekannte, verblendete
und übermüthige Rücksichtslosigkeit, da müssen selbst Lämmer Tigerzähne be¬
kommen. Lassen wir das Eisen in unserem Blute nicht verrosten." Mit
diesem pathetischen Schluß kündigte der Ritter Josias von Plüskow an,
daß sein Haß gegen das Preußenthum und den von Preußen gegründeten
norddeutschen Bund nur auf den rechten Zeitpunkt warte, um die Gestalt
einer gewaltsamen Auflehnung anzunehmen.
Man würde indessen sehr irren, wenn man die hier mit erwünschter Klar¬
heit sich aussprechende Richtung sür mehr als eine bloße Schattirung der
in der gesammten feudal-particularistischen Partei unseres Landes lebenden
Gedanken und Absichten halten wollte. Die feindselige Gesinnung gegen den
norddeutschen Bund und den, wenn auch noch der weiteren Entwickelung be¬
dürftigen, doch entschieden constitutionellen Charakter seiner Verfassung wur¬
zelt in dem Wesen dieser Partei. Sie kann ihrer Natur nach politische In¬
stitutionen nicht anders als hassen und bekämpfen, welche den Untergang
ihrer eigenen staatlichen Einrichtungen und ihrer auf dieselben sich gründenden
Herrschaft in sichere Aussicht stellen. Verschiedenheit der Ansichten ist nur in
Betreff des Weges vorhanden, wie der norddeutschen Bundesverfassung und
ihren Einwirkungen auf das Privilegienwesen und das Junkerthum zu be¬
gegnen sei. Die Einen lassen sich durch ihr Temperament treiben, dem nord¬
deutschen Bunde als erklärte Feinde gegenüber zu treten; die Anderen haben
sich mit kühler Berechnung seiner Macht und seiner Forderungen einstweilen
gebeugt, um dieselben von innen herzu untergraben und zu zerstören. Aber das
Ziel beider ist ein gemeinschaftliches: sie wollen den Particularismus und
den Privilegienstaat retten und zu diesem Zwecke den Bundesstaat auf die
Stufe des Staatenbundes zurückschrauben. Die eine Richtung hat schon im
Jahre 1848 die Kunst gelernt und geübt, vor dem daherfahrenden Sturme
sich zu bücken und mit Geduld den Zeitpunkt zu erwarten, wo derselbe aus¬
getobt, um dann das alte Haus in aller Stille wieder aufzubauen; die andere
beugte sich damals zwar nicht, sie war aber so erschüttert von den Ereig¬
nissen, daß sie den Muth zu einem Widerstandsversuche nicht in sich fand,
sondern es vorzog, eine Zeit lang vollständig vom politischen Schauplatz ab¬
zutreten.
Welcher feindselige Geist gegen den norddeutschen Bund und dessen Ge¬
setzgebung auch in derjenigen Fraction der Feudalen wohnt, welche es sich
zur Aufgabe gemacht hat, sich mit diplomatischer Kunst in die Zeit zu schicken,
das tritt jedesmal hervor, wenn irgend ein neues Bundesgesetz von einer
neuen Seite her das Herz des Feudalismus trifft. Den letzten Ausbruch un¬
verhaltenen Grimmes zeigten die „Mecklenburgischen Anzeigen", das Organ
der herrschenden Partei, wenige Tage nach dem Amtsantritt des Grafen
von Bassewitz, als das von diesem so lebhaft bekämpfte Gesetz wegen der
Gleichberechtigung der Confessionen in bürgerlicher und staatsbürgerlicher
Beziehung im Bundes-Gesetzblatt verkündigt worden war. In derselben
Nummer, in welcher das genannte Blatt von der Verkündigung dieses Ge¬
setzes Notiz zu nehmen nicht umhin konnte, brachte es einen dem wildesten
Hasse Ausdruck gebenden Artikel, welcher zwar der Form nach sich an die
Adresse der National-Liberalen richtete, aber in der That gegen die große
Mehrzahl der Mitglieder des Bundesraths und des Reichstages seine Spitze
kehrte, welche diesem von Moritz Wiggers beantragten Gesetz ihre Zustim¬
mung ertheilt hatten. Die national-liberale Partei wurde hier, im Hinblick auf
gewisse Reichstagsbeschlüsse, mit deren näherer Beziehung das Blatt zurück¬
hielt, als eine „rechtsverachtende", auf „Verletzung des Rechts der Einzel¬
staaten ausgehende", „nur das Recht der Umwälzung, der Revolution ken¬
nende", „den Boden der Verfassung mit Füßen tretende" dargestellt. Aus
solchen Ausbrüchen der leidenschaftlichsten Erbitterung erkennt man deutlich,
Wie wenig auch derjenige Theil der feudalen Partei, welcher sich äußerlich
der neuen Ordnung der Dinge gefügt hat, derselben innerlich angehört.
Das Bestreben der Großherzoglichen Regierung wird daher auch unter
der Führung des Grafen v. Bassewitz ganz dasselbe Ziel verfolgen wie
bisher: unveränderte Aufrechthaltung der ständischen Verfassung. Widerstand
gegen die dem Feudalismus und dem absolutistischen Regiment feindlichen
Einflüsse des Bundes. Schwächung der Bundesgewalt zu Gunsten der Einzel¬
staaten.
Die Fortdauer des Kampfes zwischen der Negierung und der des Junker-
Regiments überdrüssigen Bevölkerung des Landes, steht daher in sicherer
Aussicht. Aber die Stellung der Regierung in diesem Kampfe ist jetzt bei
Weitem ungünstiger und schwieriger geworden, als sie noch vor wenigen
Jahren war.
Je mehr die Entwickelung der deutschen Einzelstaaten und des Bundes,
in welchem sie vereinigt sind, vorschreitet, desto greller tritt der Zwiespalt
hervor, welcher zwischen der mecklenburgischen Landesverfassung und dem po¬
litischen Bedürfniß der mecklenburgischen Bevölkerung stattfindet. Ein Staat,
welcher der Gesammtheit der Bevölkerung die Theilnahme an der Vertretung
versagt und dieselbe auf eine Anzahl Privilegirter beschränkt, welcher hin¬
sichtlich des Vermögens und der Einkünfte mit dem Landesfürsten in Com¬
munismus lebt, welcher keinen Staatshaushaltsetat und keine Controle der
öffentlichen Einnahmen und Ausgaben kennt, welcher diese seine uralten Ein¬
richtungen nur mit Hilfe eines absolutistischen Polizeiregiments, durch Unter¬
drückung des politischen Vereins - und Versammlungsrechts, durch Knechtung
der Presse und gelegentlich auch durch eine ministerielle Correctur rechtskräf¬
tiger Erkenntnisse zum Nachtheil der Angeschuldigten zu behaupten vermag,
ist kein Staat, dessen Verfassung auf irgend eine Zukunft rechnen kann.
Dazu treten die fortwährenden Mahnungen jener Thatsachen, welche
nun einmal durch keine Verdunkelung und keinen Schleier aus unserer Ge¬
schichte sich wieder entfernen lassen; die wiederholten Verheißungen einer Kon¬
stitutionellen Verfassung seitens des Großherzogs, die Betheuerungen und Zu¬
geständnisse der Stände, die erfolgte Vereinbarung, Verkündigung und Wirk¬
samkeit des Staatsgrundgesetzes von 1849, das auf das Staatsgrundgesetz
von dem Großherzog und den gewählten Vertretern abgeleistete feierliche Ge-
löbniß. Mag man selbst den im Jahre 1830 eingeschlagenen Weg der Zu-
rückführung der ständischen Verfassung für einen legalen halten, was er nicht
war, so bleiben doch noch immer jene Verheißungen und Zugeständnisse und
sie fordern ihre Erfüllung. Diese Vergangenheit macht es Allen, deren Mund
und Hand bei den Zusagen und Gelöbnissen betheiligt war, zu einer sittlichen
Unmöglichkeit, auf dem Standpunkte einer dauernden Vorenthaltung consti-
tutioneller Staatseinrichtungen zu verharren; denjenigen aber, welche das
gegebene Wort als Pfand einer besseren Zukunft entgegennahmen, erhält sie
die Erinnerung an das ihnen wieder entrissene Gut und das Verlangen nach
seiner Wiedergewinnung. Die Zeit, wo die Feudalen sich bereit erklärten,
ihre Vorrechte auf dem Altar des Vaterlandes zu opfern, wo sie nicht nur
constitutionellen Vereinen beitraten, sondern selbst Gründer solcher Vereine
wurden und sich zu Präsidenten derselben wählen ließen — wie dies unter
Anderem hinsichtlich des Herrn v. Plüskow feststeht — verschwindet nicht
wieder aus dem Gedächtnisse, trotz des Freienwalder Schiedsspruches, durch
welchen man sie zu Grabe rragen zu können meinte. Die Feudalen haben
damals ihre Fahne vor dem Constitutionalismus gesenkt, und kein Wandel der
Zeit kann diese Thatsache verwischen. Zum zweiten Male aber haben sie sieh
selbst und ihren obersten Grundsatz aufgegeben, als sie bei Begründung der
Bundesverfassung dem allgemeinen und gleichen Wahlrecht ihre Zustimmung
ertheilten. Eine Partei, welche im Laufe von achtzehn Jahren sich zweimal
bis zur Verleugnung ihres innersten Lebensprincips vor dem Zeitgeist und
dessen Forderungen gebeugt hat, kann schwerlich zu sich selbst noch großes
Vertrauen hegen, und noch viel weniger erwarten, daß Andere von ihrer
Festigkeit eine hohe Meinung haben. Es wird nur einer veränderten Strö¬
mung in der höchsten Region bedürfen, und die Partei gibt zum dritten
. Male Alles auf, was sie zusammenhält, und liegt entwurzelt am Boden.
Endlich übt die norddeutsche Bundesverfassung eine auflösende Einwir¬
kung auf die ständische Verfassung in Mecklenburg, theils durch die innere
Ungleichartigkeit und Unverträglichkeit beider Verfassungen, theils durch das
anziehende Vorbild der Gewährung des Wahlrechts für den Reichstag, wel¬
ches der mecklenburgische Staatsangehörige für den Landtag entbehrt, theils
durch die Eröffnung einer freien Tribüne auf dem Reichstage zur Kund¬
gebung auch der partikularen Beschwerden und durch die Bestellung einer
Aufsichtsbehörde für die richtige Handhabung der Bundesgesetze, theils durch
den Inhalt und die Richtung dieser Gesetze selbst. Jedes Bundesgesetz ent¬
zieht der mecklenburgischen Verfassung irgend eine ihrer Stützen. Auch noch
der letzte Reichstag hat wieder sehr bedeutende Einschnitte in den Stamm
dieser Verfassung gemacht. Das Wahlgesetz gibt den mecklenburgischen Wäh¬
lern das Vereins- und Versammlungsrecht, welches sie bis dahin nicht hatten,
die Gewerbeordnung schützt durch eine ihrer Bestimmungen die Presse gegen
Unterdrückung im Verwaltungswege, das Gesetz betreffend die Gleichberech¬
tigung der Confessionen in bürgerlicher und staatsbürgerlicher Beziehung,
schafft die politischen Privilegien der Angehörigen der Landeskirche ab. die
bevorstehende Proceßordnung wird die Patrimonialgerichtsbarkeit und die
eximirten Gerichtsstände beseitigen.
Bei so ermuthigenden Aussichten werden^ die Freunde des Rechtsstaats
es leicht verschmerzen, wenn ihre bisherigen Bestrebungen in dieser Richtung
noch nicht mit Erfolg gekrönt worden sind. Der Großherzog hat die im
Februar 1868 an ihn gerichtete Petition der S800 einer Antwort nicht ge¬
würdigt, auch ist es den Bemühungen der mecklenburgischen Regierung ge¬
lungen, den Bundesrath zur Ertheilung eines ablehnenden Bescheides auf
die demselben vom Reichstage überwiesen« Petition der 6300 Mecklenburger
zu bestimmen. Aber damit ist das letzte Wort in dieser Angelegenheit noch
nicht gesprochen. Der Bundesrath stützt seinen ablehnenden Bescheid auf die
von ihm behauptete anerkannte Wirksamkeit, in welcher die altständische
mecklenburgische Verfassung zur Zeit der Begründung des norddeutschen
Bundes bestanden haben soll. Er versäumt es aber, diese Behauptung zu
beweisen, und wird auch nicht den Anspruch erheben wollen, daß durch seine
Erwiederung an die Petenten die Sache endgiltig entschieden worden sei, da
nach Artikel 76 der Bundesverfassung in Verfassungsstreitigkeiten, wenn die
gütliche Ausgleichung nicht gelingt oder keinen Erfolg verspricht, die Ent¬
scheidung im Wege der Bundesgesetzgebung erfolgt.
Den Feudalen selbst ist die UnHaltbarkeit des mecklenburgischen Ver¬
fassungszustandes nicht entgangen und auch auf ihrer Seite wird bereits, wenn
auch nur leise und vereinzelt, von der Nothwendigkeit einer Fortbildung der
Verfassung gesprochen. Der mecklenburgische Bevollmächtigte im Bundesrath
bemühte sich sogar, in der Verhandlung des Reichstages über die mecklen¬
burgische Verfassungsfrage, am 12. Mai dieses Jahres die großherzogliche
Regierung als eine dem Fortschritt huldigende darzustellen, und bezeichnete
als das diesem Streben nach Fortbildung entgegenwirkende Haupthinderniß
die Agitation gegen den Rechtsboden. Indessen hat es doch, in Folge des
von der Regierung geübten polizeilichen Druckes, an solcher Agitation lange
Jahre hindurch gänzlich gefehlt, ohne daß die Fortschrittsneigung der Re¬
gierung sich in dem unbedeutendsten Zeichen angekündigt hätte, und jeden¬
falls handelt es sich bei dieser angeblichen Fortschrittstendenz nicht um die
Verfassung und Vertretung selbst, sondern um verhältnißmäßig untergeordnete
Dinge, also um etwas ganz Anderes als um den Uebergang zu constitutio-
nellen Staatseinrichtungen.
Neuerdings hat man hie und da der Vererbpachtungsmaßregel ein po¬
litisches Colorit zu geben und derselben den Plan zu Grunde zu legen ver¬
sucht, durch Schaffung eines kräftigen und unabhängigen Bauernstandes einen
dritten Stand zur Einfügung in die Landesvertretung zu gewinnen. In
erster Reihe aber ist die Maßregel jedenfalls eine financielle, darauf berech¬
net, das landesfürstliche Vermögen um ein nutzbringendes Capital von viel¬
leicht zehn Millionen Thalern zu vermehren. Sodann ist es ein Irrthum,
daß auf dem eingeschlagenen Wege ein kräftiger und unabhängiger Bauern¬
stand geschaffen werden könne. Denn die Bedingungen sind der Art, daß
sie den in einen Erbpächter sich verwandelnden Bauern unter einen financiellen
Druck bringen, welcher voraussichtlich eine große Anzahl dieser Leute, denen
nur die Wahl gelassen wird, entweder auf jene Bedingungen einzugehen oder
sich von Haus und Hof zu trennen, dem wirthschaftlichen Untergange über¬
liefern, einen großen Theil der übrigen aber in einen schweren Kampf um
die wirthschaftliche Existenz verwickeln wird. Ein kräftiger und unabhängiger
Bauernstand wird also aus den neuen Erbpächtern in wirthschaftlicher Be¬
ziehung nicht erstehen, ebensowenig in politischer Beziehung, da es noch mit
keiner Silbe ausgesprochen ist, daß der Großherzog auf sein unbeschränktes
Gesetzgebungs- und Besteuerungsrecht in den Domainen zu verzichten und
den Erbpächtern eine Mitwirkung bei der Gesetzgebung und Besteuerung ein-
zuraunen gedenkt. Man beruft sich zwar auf die im Juli dieses Jahres
herausgegebene ländliche Gemeindeordnung für die Domainen, von welcher
man vernimmt, daß sie zugleich bestimmt sei, die Erbpächter durch Betheili¬
gung an den Gemeindeangelegenheiten für die ihnen demnächst zugedachte
Mitwirkung bei der Berathung von Landesangelegenheiten heranzubilden.
Hiebei wird jedoch übersehen, daß die Gemeindeordnung ebenso wie die gleich¬
zeitigen Verordnungen in Betreff des Armen- und des Schulwesens gleich¬
falls hauptsächlich einen finanziellen Zweck hat, die Entlastung der groß,
herzoglichen Cassen von den bisher ihr obliegenden Ausgaben für Gemeinde¬
angelegenheiten, und daß diese Gemeindeordnung keineswegs auf die Be¬
gründung eines freien Gemeindewesens gerichtet ist, sondern die büreaukrati¬
sche Bevormundung nur in eine etwas veränderte Gestalt bringt, wie sich
aus nachstehenden Grundzügen derselben ergibt: Auf den Höfen, mit welchen
keine Dorfschaft verbunden ist, ist der Pächter das ausschließliche Organ der
Gemeindeverwaltung. In den Dörfern werden als solche ein Gemeinde¬
vorstand und eine Dorsverscimmlung geschaffen. Der Gemeindevorstand be¬
steht aus dem landesherrlich ernannten Dorfschulzen, welcher zugleich
als Ortspolizeibehörde fungirt, und einigen Schöffen, welche das erste Mal
vom Domanialamt bestellt, später aber, bei eintretender Vacanz, aus zwei
vom Gemeindevorstand präsentirten Personen vom Amte gewählt werden.
Doch steht dem Amte das Recht zu, beide Vorgeschlagene zu verwerfen,
diese Verwerfung auch bei einer abermaligen Präsentation von zwei Kan¬
didaten zu wiederholen, und alsdann den Schöffen unabhängig von
dem Vorschlage des Gemeindevorstandes zu bestellen. Die Mit¬
glieder des Gemeindevorstandes haben zugleich Sitz und Stimme in der Dorf¬
versammlung. Diese besteht außerdem aus den Grundbesitzern der Ortschaft,
den in derselben wohnhaften Kirchendienern, großherzoglichen Forstbedien¬
ten u. f. w. und einem Lehrer. Von den Grundbesitzern führen nur die Be¬
sitzer eines Bauergehöfts in der Dorfversammlung eine Virilstimme; die
Büdner erscheinen in derselben nur in zeitweise wechselnden Abtheilungen
oder durch Deputirte; dasselbe gilt von der untersten Classe der ländlichen
Grundbesitzer, den Häuslern und Brinksitzern. Tagelöhner sind von der Dorf¬
versammlung ausgeschlossen. In allen einigermaßen erheblichen Angelegen¬
heiten werden die den Gemeinden durch diese neue Ordnung verliehenen Rechte
durch Beaufsichtigung und Mitwirkung der höheren Behörden nach her¬
kömmlicher bureaukratischer Art beschränkt.
Sollte es aber auch wirklich die Absicht sein, einen Stand der Erbpächter
in die Landesvertretung einzuschalten und diese durch den schwachen Schimmer
von Selbstverwaltung im Gemeindewesen, welchen die neue, vorläufig auch
erst auf dem Papiere stehende und erst zu allmäliger Einführung bestimmte
Gemeindeordnung gewährt, für den Beruf der Landesvertretung zu erziehen,
so würde die Bevölkerung aus solcher Aussicht doch wenig Befriedigung
schöpfen. Die ständische Verfassung ist einer Reparatur nicht sähig, und ge¬
wiß ist die Erwartung begründet, daß ihre letzten Pfeiler schon zusammen¬
gebrochen sein werden, bevor die Vererbpachtungsmaßregel und die ihr zur Seite
gehende Gemeindeordnung für die Domainen allgemein zur Ausführung ge¬
langt sind.
Innerhalb der Pause zwischen zwei Landtagen pflegt in Mecklenburg
nicht viel regiert zu werden. Wenn eine wichtigere Landtagsprocession uner¬
ledigt geblieben ist, welche in der Zwischenzeit im Wege der Verhandlung
mit ständischen Deputirten für den nächsten Landtag weiter vorbereitet wird,
wie es augenblicklich mit der Steuerreform der Fall ist, so ist es herrschende
Sitte, den Gang dieser „commissarisch-deputatischen" Verhandlungen — so
nennt sie die feudale Terminologie — sorgfältig geheim zu halten, bis die Er¬
gebnisse derselben auf dem Landtage auftauchen. Daher fällt der Amtsan¬
tritt des Grafen Bassewitz in eine stille Zeit und er hat bisher noch nicht
Gelegenheit gehabt, seinen Namen unter ein öffentliches Schriftstück zu setzen.
Ueber seine bisherige Thätigkeit erfährt man nur, daß auf seinen Betrieb
eine vom Finanzministerium eingeleitete Verhandlung wegen Erwerbung der
mecklenburgischen Eisenbahn für Großherzogliche Rechnung, der Ansicht des
Finanzministeriums entgegen, abgebrochen worden ist, weil er die Seitens
der Gesellschaft gestellte Forderung einer vierprocentigen Rente vom Nominal¬
betrage der Actien sür zu hoch hielt und bei dem zuerst auf 2Vz normirten,
einige Monate später aber schon auf Procent gesteigerten Angebot des
Finanzministeriums stehen bleiben wollte. Ob der Rath des Ministerpräsi¬
denten oder der des Finanzministers der richtige war, wird die Zeit lehren.
Die mecklenburgische Eisenbahn trennt die beiden landesherrlichen Bahnen
Güstrow'Straßburg und Kleinen-Lübeck. Ihre Erwerbung würde die Ver¬
waltung und den Betrieb auf diesen beiden Bahnen des Großherzogs sicher¬
lich viel einfacher und wohlfeiler gestalten, während es zweifelhaft erscheint,
ob die beiden getrennten Stücke dem Großherzoge jemals einen auch nur
einigermaßen angemessenen Zins des Baucapitals abwerfen werden. Die
Strecke Kleinen-Lübeck ist noch im Bau begriffen; die Strecke Güstrow-Stras-
burg, welche am 1. Jan. 1867 in ihrer ganzen Ausdehnung, als Verlänge¬
rung der Bahn Stettin-Pasewalk-Strasburg, eröffnet wurde, soll bis jetzt,
ohne Absetzung eines Reserve- und Erneuerungsfonds nur IV» Procent ab¬
werfen. Bestimmtes erfährt man über den Ertrag der Bahn nicht, da über
diesen Zweig des Großherzoglichen Einnahmen- und Ausgabenetats ein eben
so tiefes Geheimniß beobachtet wird, wie über alle übrigen Zweige desselben.
Es gehört nun einmal zu den Eigenthümlichkeiten des Feudalstaats, daß er
auf dem Gebiete der öffentlichen Einnahmen und Ausgaben das Ministerium
walten läßt , und Steuern erhebt so wie Steuerreformen beschließt, ohne über
das Warum und Wozu den Staatsangehörigen Aufschluß zu geben.
Das Problem, an dessen Lösung unser Feudalstaat seit Gründung des
norddeutschen Bundes sich abmüht, ist die-Reform des Steuerwesens ohne
Einführung des Budgetsystems. An dieser Aufgabe wird also zunächst der
neue Ministerpräsident, welcher in schwieriger Zeit eine hoffnungslose Sache
zu führen unternommen hat, in Gemeinschaft mit dem Finanzminister seine
Kraft zu erproben haben.
Die nationale Partei in den Herzogthümern hat in den jüngsten Wochen
einen Verlust erlitten, der für lange Zeit schwer zu ersetzen sein wird. Der
Abgeordnete für Husum, Amtmann Thomsen (Oldensworth) hat sich aus
Ursachen privater Natur veranlaßt gesehen, sein Mandat für das preußische
Abgeordnetenhaus niederzulegen, und mit ihm verliert die nationale Sache
einen Vorkämpfer, so ausgezeichnet durch Kenntniß der Landesverhältnisse,
Reinheit des Charakters und patriotische Gesinnung, daß der vacante Posten
nicht leicht wieder auszufüllen sein wird. Der Niederlegung des Maubads
folgte eine Zeitungspolemik, welche die Bedeutung des Mannes und die
miserable Verlegenheit seiner Gegner noch einmal hell hervortreten ließ.
Thomsen hatte in einem offnen Briefe von seinen Wählern Abschied genom¬
men, die er durch lange Jahre sowohl in der Schleswig'schen Ständeversamm¬
lung, wie im dänischen Reichsrath vertreten. In der versöhnlichsten, ma߬
vollsten Form warnte er darin vor dem System der Verhetzung gegen Preußen,
das unter der oppositionellen Partei landesüblich, vor dem Mißbrauch mit
den Worten „Steuerdruck" und „Steuerüberbürdung", durch die man sort¬
gesetzt zur Unzufriedenheit aufstachele, betonte das Verkehrte dieses Schmerzens-
schreies und den ganzen Werth der nationalen Errungenschaften. „Für die
Abgabenerleichterung Aller, durch den Uebergang vieler Lasten von den Com¬
munen auf den Staat, durch die Beseitigung vieler Sporteln. durch die Zoll¬
einrichtungen u. s. w. hat Niemand ein Wort. Daß die directen Steuern
aus den Herzogthümern bedeutend mehr betragen, als früher, weiß Jeder;
daß die indirecten Steuern weit über dieses Mehr hinaus weniger betra-
gen, scheint Niemand zu wissen, noch weniger, daß dadurch grade Allen im
Verhältniß zu früher eine Steuererleichterung zu Gute kommt..... Der
Kräftigung des preußischen Staats und damit der Erstarkung Deutschlands
werden für alle Zeit meine Wünsche folgen, weil darin auch das Wohl
Schleswig-Holsteins sich gründet. Ein starkes Preußen, ein starkes Deutsch¬
land kann nur ein freies Preußen und Deutschland sein!" In einer Reihe
weiterer Artikel im „Kieler Correspondenzblatt" erhärtete gleich darauf
Thomsen an der Hand authentischer Zahlen für die directen wie indirecten
Steuern die Wahrheit seiner Aufstellung, deren ziffermäßiges Gesammt-
ergebniß dies ist, daß Schleswig-Holstein jährlich früher an directen und in¬
directen Staatsauflagen 5,438,000 Thlr., jetzt unter preußischer Herrschaft
4,516.000 Thlr,, also 942.000 Thlr. weniger aufzubringen hat. — Hiergegen
nun. gegen solche Ueberzeugungen und solche Thatsachen, von einem Schles-
wig-holsteinschen Patrioten ausgesprochen, erhob unter dem Vorantritt der
„Kieler Zeitung" die particularistische Presse ein ganz entsetzliches Zeter¬
geschrei. Vor Allem wurde natürlich jede Pflicht der Dankbarkeit gegen
Preußen heftig in Abrede gestellt. Nachdem die Entscheidung über das
Schicksal der Herzogthümer auf den Schlachtfeldern von Sadowa „gegen die
Rechtsüberzeugung der immensen Mehrheit der Schleswig-Holsteiner entschie¬
den worden, hat Preußen ausschließlich die Früchte der gemeinschaftlichen
Opfer (!?) für Schleswig-Holstein sich angeeignet und die Verbindung der
Herzogthümer mit Deutschland in die Form der Annexion eingezwängt", die¬
ses tiefsinnige Glaubensbekenntniß des ächten Schleswig-Holsteiners wurde den
Irrlehren Thomsen's zunächst entgegengehalten. Und was die unbequemen
Zahlen der Steuerauflagen anbetrifft, so wußten sich die Gelehrten der „Kie¬
ler Zeitung" dadurch zu helfen, daß sie beliebige Erträge und Einnahmen
des Staats aus Domainen und Forsten, der Justiz und Polizei, Post- und
Telegraphenverwaltung, brutto und netto, wie es grade paßte, zu den
Steuern hinzuzählten, und in dieser klugen Manier glücklich 8,432,000 Thlr.
als den von dem unterjochten Schleswig-Holstein an das siegreiche Preußen
jährlich gezählten erdrückenden Tribut herausrechneten. Solchergestalt, so
wurde von den Genossen allerwärts dem gutgläubigen Publicum versichert,
hatte man in Kiel die unwahren Berechnungen des Abgeordneten Thomsen-
Oldensworth glänzend widerlegt. Im Uebrigen vergaß man vorsichtiger
Weise auch nicht zu bemerken, im Grunde sei die eigentliche Steuerüberbür-
dung nicht der eigentliche Kern der Landesbeschwerden: Selbstverwaltung in
Provinz. Kreis und Gemeinde, das verlange man von Preußen und das
werde von Preußen den Herzogthümern in sträflichster Weise vorenthalten-
Ist über die Qualität dieses Ableugnens, Bestreitens. Verdrehens noch
ein Wort weiter zu verlieren? Ich glaube kaum. Wohl aber möchte ich dem
Gefühl der Entrüstung Ausdruck geben über den ungewöhnlich insolenten,
wegwerfenden, persönlich mißachtenden Ton, den man in der partikularisti-
schen Presse über einen Mann von der Vergangenheit, den Verdiensten und
Eigenschaften Thomsen's anzuschlagen für gut fand. Dessen erdreisteten sich
Leute, denen Schleswig-Holstein im Grunde soviel ist, wie Hekuba, die über
die Zeiten der Dänenherrschaft in Schleswig vom Hörensagen reden, und
gegen Preußen agitiren aus allen denkbaren Motiven, nur nicht aus wirklich
verletztem Schleswig-holstein'sehen Gefühl. Wenn man sich die politische In¬
telligenz dem Namen nach ansieht, die in der „Kieler Zeitung", den „Jtze-
hoer" oder „Altonaer Nachrichten" sich breit macht, trifft man auf Leute
allerlei Art und Herkunft, nur nicht auf Schleswig-Holsteiner. Ist es nicht
bezeichnend für den faulen Untergrund, auf dem der ganze preußenfeindliche
Partikularismus bei uns ruht, daß er fast ausschließlich auf entliehene geistige
Kräfte — sit venia verbo — angewiesen ist? Neben den Herren Hänel und
Hinsching, Hell und Endrulat und wie unsere Publicisten sonst noch heißen
Muß dann- in der Regel noch eine Correspondenz aus Berlin die erforder¬
lichen Raisonnements und das mangelhafte Denkvermögen in unserer oppo¬
sitionellen Tagesliteratur ersetzen. Irgend eine der Federn aus den Kreisen
der Berliner Fortschrittspartei, die zwischen der „Volkszeitung" und „Zu¬
kunft" mitten inne steht, ihre Sympathien zwischen Herrn von Beust, König
Georg von Hannover, dem Kurfürsten von Hessen, der Frankfurter und der
süddeutschen Demokratie brüderlich theilt, heute die „Neue Freie Presse"
Morgen die hannoversche welfisch-demokratische „Volkszeitung", übermorgen
eine „Frankfurter Zeitung" mit Correspondenzen versorgt, findet sich immer
gern bereit, auch die Schleswig-Holsteiner über die preußische Mißregie-
rung aufzuklären/) Das klingt, das thut Wirkung! — Vielleicht, vielleicht
aber auch nicht, möchte ich mich mit Lessing trösten. Denn auch der geringste
Pöbel, — so ungefähr heißt es ja wohl im Amel-Götze, — wird mit der Zeit
erleuchteter, gesitteter, besser; anstatt daß es bei gewissen Literaten ein Grund¬
satz ist, auf dem nämlichen Punkte der Moral und Politik immer und ewig
stehen zu bleiben. Sie reißen sich nicht von dem Pöbel — der Pöbel reißt
sich endlich von ihnen los.
Fürs Erste leistet zwar selbst diese gesinnungstüchtige Presse in ihrer
immer noch etwas verschämten Preußenfeindschaft nicht allen Elementen un-
Serer ^Bevölkerung genüge. Aus den schönen Tagen der Jahre 1865 und
1866, als Martin May und der Advocat v. Neergard noch das große Wort
führten und in den Volksversammlungen zu Frankfurt a. M. die Entschei¬
dung über Schleswig Holstein herbeiführen wollten, sind einige Reste Schles-
wig-holsteinscher „Volkspartei" zurückgeblieben. Eigentlich ist es eine ziemlich
harmlose Gesellschaft weniger Männer, zum überwiegend größten Theil in
Kiel seßhaft, die aus ihrem persönlichen Anhang hier und da einen Verein
zu Stande bringen und sich sonst mit lebhafter Correspondenz an die süd¬
deutschen Freunde beschäftigen. Nach einem vertraulichen Ctrcular, das sie
kürzlich an die Parteigenossen verbreitet, haben nur vier deutsche Blätter
Gnade vor ihren Augen gesunden: 1) das „Demokratische Wochenblatt" von
Liebknecht und Bebel, 2) die Berliner „Zukunft", 3) die „Hannöversche
Volkszeitung" von Eichhvlz, 4) — last not lest — die „Demokratische Cor¬
respondenz" von Jul. Freese in Stuttgart. „Durch diese Blätter", wird wört¬
lich hinzugefügt, „dürfte das durch inländische Und hamburgische Zeitungen
ausgestreute Gift unschädlich gemacht werden!"
Nun der Schaden, den das Gift und Gegengift jener Scribenten hier
zu Lande noch anrichten kann, wird unter allen Umständen nicht groß sein.
Unser Jahrhundert ist schnelllebig genug und weiß mit den der Auflösung
anheimgefallenen Elementen ziemlich aufzuräumen. Die Berliner „Provinzial-
Correspondenz" hat in ihrer Art die Wirkung der Thomsen'schen Erklärungen
auf die Stimmung der Provinz allzuhastig escomptiren wollen. Aber ausbleiben
wird die Wirkung sicherlich nicht, so gewiß die Wahrheit uno Vernunft mäch¬
tiger ist, als die Lüge und sinnlose Leidcnjchast. Derartige naturgemäße
Umstimmungen, wie sie hier in Frage stehen, vollziehen sich nirgend in der
Welt plötzlich aus eine singulaire Veranlassung hin. Wer aufmerksam ist,
wird an vereinzelten Symptomen die unter der Oberfläche stetig fortwirken-
den Wandlungen durchfühlen. Da ist beispielsweise neulich, am 25. Juli,
bei Schleswig eine Jdstedlfeier in äußerlich sehr massenhaften Dimensionen
arrangirt worden, Im Sinne der fortgeschrittensten Kampfgenossenvereine
war es unverkennbar auf eine großartige particularistifche Demonstration ab¬
gesehen. Schließlich indessen verging den Faiseurs derartiger Angelegenheiten
der Muth und die Lust für alle rednerischen Heldenthaten, und so verlief das
Ganze unter endlosen Ertrazügen, unter Staub und Hitze und einem Men¬
schengewühl von angeblich 20,000 Köpfen in selbstverständlich sehr erheben¬
der, aber absolut inhaltsloser Weise. Einige telegraphische Festgrüße, die
zwischen Herzog Friedrich und dem Festcomite! gewechselt wurden, mußten
dem Feste die eigentlich politische Würze geben.
Im Herzen der City von London, gleich weit ungefähr vom Tower und
vom Temple Bar, steht ein alterthümliches Haus, der graue Hof genannt
oder zum Löwen und Einhorn. Lieblich und rein ist das Ale da, auch der
braune Porter in seiner Schaumperücke ist ohne Falsch, und was die Ge¬
selligkeit betrifft, so herrscht unter dem grauen Dache zuweilen noch ein so
munteres Treiben, wie es im heutigen London nicht allenthalben vorkommt.
Aber nur zuweilen, denn Vieles hat sich ringsum geändert, seit der Gro߬
vater die Großmutter nahm. Reichthum und Prunk sind sehr gestiegen, Ge-
sammtlondon ist zum Erschrecken gewachsen und manche Gewohnheit der Vor¬
eltern geschwunden. Die Sehnsucht nach frischer Luft und wohl auch der
steigende Werth altstädtischen Grund und Bodens haben zur Scheidung
zwischen Wohn - und Werkstatt geführt. Von den Hunderttausenden emsiger
Seelen, welche die City bei Tage mit Gedräng und Gebraus erfüllen, schläft
die Mehrzahl „weit von ihrem Brot." Wenn auch allabendliche Herdfeuer
in der Altstadt glimmen, so gilt dies zumeist von jenen Quartieren, wo die
Straßen noch nicht ganz mit Gold gepflastert sind; aus den stolzerem Thei¬
len ist die Familie längst ausgewandert, um für Waarenläden, Wechselstuben
und andere Bienenzellen Platz zu machen. Die Metropole setzt aber fort¬
während neue Ringe an, der grüne Nundsaum der Vorstädte mit den „Hütten"
(eotwMs) der achtbaren Leute rückt immer weiter ins Land hinaus, während
die alten, von Sir Christopher Wren entworfenen Citywege seit zwei Jahr¬
hunderten sich nirgendswo merklich erweitert haben. Der Leib wird zu voll¬
blütig für seine Blutgesäße und das Gedränge nimmt ewig zu. Daher
klagen die Graubärte in Gog und Magog's Reich über Mangel an Ruhe und
Frieden; sie könnten kaum mehr ein richtiges Mittagsschläfchen halten, kaum
ohne Gefahr und Beschwerde einen Gevatter besuchen, und man komme
leichter von Calais nach Dover als von einer Seite von Cheapside zur
andern.
Ein wenig übertreiben die alten Herren. Seinep Höhepunkt erreicht der
Lärm des Tages auf der langen Linie, die unter verschiedenen Benennungen
zwischen Osten und Westen entlang und dem Themsestrom, dieser ursprünglichen
Hauptstraße Londons, parallel durch die City läuft. Doch gibt es windstille
Zeiten, da Einer von Whitehall bis Whitechapel — kein kleines Stück die¬
ser Linie — gemächlich wandern kann. Ist es ein Neuling vom Lande, wie
oft wird er nicht Halt machen! Aber der Menschenstrom fließt langsam und
wirft ihn nicht um. Er betrachtet den farbenreichen Kram hinter den
Spiegelscheiben, die bunten Sinnbilder. Schilder und Jnnungszeichen, die
vor Thüren und Simsen bis zum obersten Stockwerk hangen, oder sucht
zu entziffern, was in Goldschrift von der dunklen Zinne des ehedem
patrizischen Wohnhauses flimmert! Zuweilen muß er aufblicken zu den er¬
staunlichen Neubauten, die bald von rechts, bald von links die Nachbarschaft
überschatten; pomphafte Club - oder Bankhäuser, überreich an Säulen, Söllern,
Rundbogen und phantastischem, schon etwas rauchumflortem Steinschmuck;
breite thurmartige Ungethüme von ungewisser Bestimmung, in gothisch¬
romanisch-maurisch-japanischem Styl, mit Citadellen von Schornsteinen und
vergoldeten Dachfahnen. Einst, sagt man, wird die ganze City aus solchen
Kolossen bestehen; die Londoner Hauptstraße wird von der Nordsee im Osten
bis zum Weltmeer im Westen reichen, die Bevölkerung wird 13—15 Millio¬
nen groß sein. In jenem „Einst", sür das nicht wenige Patrioten schwär¬
men wird der gesammte Erdkreis englisch ,reden. Dort strahlt eine rothe
Gasampel, mit dem Wort „Magnetit" gezeichnet, durch den dämmrigen
Stadtdunst. Merk auf, junger Mann, du nahst den Hallen, von denen dein
heimisches Dreamgate in Norfolk oder Sloomcombe in Devon sich gern er¬
zählt, den Hallen, wo die Drähte der Blitzpost ausgehen; sie laufen
stracks über den Meeresboden nach fremden Küsten und bis an die Grenzen
Utopiens. Dies sind die Behausungen des Telegraphen, der nach der Volks¬
sage Alles weiß, wiewohl er nicht Jedem sein Wissen offenbart und kleinen
Leuten kurze Antworten gibt. Nicht umsonst aber wird er von Staats¬
männern und Philosophen und sogar von der Königin zu Rath gezogen.
Wer seinen eigenen Draht hält, kann durch die Schlüssellöcher der Zukunft
gucken; nur muß er Frechheit und Fürwitz meiden. Der Millionär, zum Bei¬
spiel, der sorgenvolle, der durch den Welthandel sein Leben fristet, sitzt in sei¬
nem electrischen Gemach allein. Andächtig schließt er die Augen und schaut
den blauen Ocean, der von weißen Segeln schimmert; er zählt seine Schiffe
darauf. Die Curse tanzen vor ihm, sie zeigen ihren Wandel von morgen
und übermorgen. ^8, ^, V« klingt es in melodischem Discant, wie das
Glockenspiel der Bowkirche. Schnell mehren sich seine Consols, schon steht
sein Töchterchen mit einem Howard oder Percy am Traualtare. Schon ruht
er im Schatten eines ehrwürdigen Stammbaumes; seine kleinen Enkel, Grafen-
krönlein auf dem Haupt, schlagen Purzelbäume im Grase. Armer Millionär!
Von Hoffahrt gestochen, den Hut im Genick, sagt er bei Lloyd's: „Ich werde
meinen Sitz erhöhen über die Lords des Landes." Kaum sitzt er wieder und
schließt die Augen, so kriegt er eine Depesche an den Kopf, daß er hinstürzt
wie Saul vor Samuel. Hundert kleine Handelsfürsten, seine Vasallen, er¬
zittern auf ihren Stühlen und werden vor Schreck bankerott. Solchen Ge¬
schichten aus Dreamgate hängt der Sohn des Dorfs im Gehen nach und
wird nur gelegentlich durch einen Rippenstoß gemahnt, daß er nicht allein in
der City wandelt. Selbst auf jenem kleinen Platze, einem Hauptknotenpunkt
des Verkehrs, wo dem Palast des Lord Mayor quer gegenüber der eiserne
Herzog vor der Börse Schildwacht reitet und fensterlos die englische Bank
sich ausdehnt — dies „Capitol des Capitals" nannte sie ein begeisterter Alder-
man — sieht man während der todten Jahreszeit die Menge leicht und sicher
vorübergleiten. Freilich, wenn die Springfluth des Geschäfts mit der Höhe
der Saison zusammentrifft, — ja, dann hört die Gemächlichkeit auf, dann
wird der Weg zwischen den Geldburgen zum Engpaß und darin braust ein
Gewühl, so gefährlich schier wie die Wogen im Canal. wenn der Wind scharf
von Nordosten bläst. Anfälle von Seekrankheit sind da nicht gebräuchlich,
aber Unfälle durch Roß und Wagen; auch bringen nervenschwache Besucher
von dem Getöse Kopfweh und Schwindel heim. Denn es kommt vor. daß
der irdische'Donner der City den himmlischen übertönt; das Auge sieht den
gezackten Blitz, während das Ohr taub oder der Himmel stumm scheint.
Wenn die Stimme aus den Wolken hier gehört werden will, muß sie die
Nacht abwarten oder den Sonntag.
Aber so hoch die Fluth der geschäftigen Menschen, so tief die Ebbe. Schon
Nachmittags beginnt allmälig der Rückgang und Tausende machen sich auf
die Heimreise, nach den äußersten Endpunkten der Metropole, nach den baum-
umrauschten Villen draußen oder bis ans Meer nach Brighton. Von Stunde
zu Stunde wird der Auszug massenhafter und mit der Dämmerung hebt
sich eine See von Menschen aus der City fort. Noch eine Weile, so haben
die Graubärte Ruhe und Frieden, mehr sogar, als manchem lieb ist, und im
Innern von Cockneyland findet man Gegenden so still und einsam, wie das
abgelegenste Dörfchen im vereinigten Königreich.
In Folge dieser Umstände ist auch der graue Hof nach und nach in ein sehr
bescheidenes Dunkel zurückgesunken. Allgemein gekannt ist er heutzutage nur
in der nächsten Nachbarschaft, das heißt in einem Umkreise, dessen Radius
dreimal so weit reicht als der Schatten des Kirchthums von Cripplegate an
einem Sommerabend fällt. Jenseit dieses Weichbildes ihn erfragen zu
wollen, ist vergebliche Mühe. Die Eingeborenen schütteln den Kopf; sie loben
Euch verschiedene rothe, weiße oder blaue Löwen, sie wissen manches grüne
Einhorn anzupreisen, aber vom wahren Löwen und Einhorn im Grauen
Hof, der das Sackgäßchen Little Mayfields abschließt, haben sie nur dumpf
etwas läuten hören. Und mein Freund, der sagen- und anekdotenkundige
Robert Mink, Esq., auch er gesteht, daß er lange bei seinen Besuchen Kreuz-
und Querfahrten machen und sich in gründliche Forschungen vertiefen mußte,
um den Weg von Neuem zu entdecken. Seiner Meinung nach liegt die
Schuld an der Atmosphäre. Denn ob auch in der City die Sonne scheint,
ja ob die Schornsteine von Smithfield roth wie die Spitzen der Alpen glühen,
im Little Mayfields und seiner Umgegend macht dies keinen Unterschied; da
bleibt die Luft jahraus jahrein wie von Spinneweben durchzogen und von
wachholderduftigen Rauchgespinnsten, die bethörend auf den Sinn wirken.
Wahrscheinlich rührt die Verborgenheit des Hauses auch daher, daß der Brand
von 1666, zum Ergötzen künftiger Alterthümler, einige Knäuel krummer
Gassen und winkliger Plätze stehen ließ. Unversehens geräth der Fußgänger
oft, wenn er kürzere Wege sucht, in solch ein Jrrgewinde; er hört in der
Entfernung die wilde Jagd, die Mammonjagd, durch die City brausen, und
der Schall kann ihm den Compaß ersetzen; doch dauert es geraume Zeit,
bevor er bis zur Hauptstraße sich durchdrängt. Und wo die architektonischen
Schluchten am engsten, die überhängenden Stockwerke am bauchigsten und die
Giebeldächer am höchsten sind, da brauchte Einer nur um die rechte Ecke zu
biegen und das rechte Durchhaus zu treffen, so stände er in der Nähe des
grauen Hofes. Ich selbst wurde dort vor langen Jahren durch den oben¬
genannten Sagenkundiger Freund eingeführt, der sich also vernehmen ließ.
Ueber dem Eingang — sagte Mr. Mink — sehen Sie zwei kleine eiserne
Figuren, den Wappenlöwen und das Einhorn, darunter, noch ziemlich lesbar,
in den Stein gegraben die Worte: —
Dies Haus und Reich verschone des HERREN Strafgericht,
Bis jenes Roß dem Leuen sein Horn ins Herze sticht.
Es wundert mich, daß Sie niemals von diesem merkwürdigen Hause gehört
haben. Nun, wir wollen sehen, was sich thun läßt. Heute bringe ich Sie her
ins Bierparlament. — Meinen Sie einen der sogenannten Debattirclubs, die
im Wirthshause zusammenkommen? fragte ich. — Richtig, fuhr der alte Herr
fort, Clubs, wo man die Reichs- und Weltangelegenheiten in parlamenta¬
rischer Form verhandelt. Zu meiner Zeit bestanden ihrer sieben in London;
sieben großmächtige Bierparlamente. Se. Stephen's-in-the-East nennt sich
das ehrwürdigste von allen; sein Ursprung reicht zurück in die Mitte des
18ten Jahrhunderts, und vor etwa 40 Jahren verlegte es seine Sitzungen
in den grauen Hof. Sie wissen wohl, wodurch diese Parlamente sich von
dem in Westminster unterscheiden? Das Bierparlament hat keinen Sprecher,
sondern einen Vorsitzenden, und dieser — wörtlich Stuhlmann (Chairman)
geheißen — trägt keine Staatsperücke! Mit der Perücke aber stehen und
fallen in der Politik verschiedene Dinge. Keine Perücken, keine Wahlen,
keine ohnmächtigen Gesetze gegen die Wahlbestechung. Wer da kommt, besitzt
alle Rechte und Vorrechte eines ehrenwerthen Gentleman. Die Gesellschaft
ist also eine gemischte, und doch. welcher Anstand ist da zu schauen, so lange
Theologie und Persönlichkeiten aus dem Spiele bleiben! Wir kämpften ein¬
mal mehrere Stunden über eine Frage von der tiefsten Bedeutung, nämlich:
»Hat das englische Volk Grund, es zu beklagen, daß die Königin Elisabeth
erhabenen Angedenkens als kinderlose Jungfrau gestorben ist?" und ich sage
Ihnen, Whigs und Tories begegneten einander als ritterliche Widersacher
Und mit einer Höflichkeit, die dem Herzen wohlthat. Brennender war später
die Frage: „Ist es wahrscheinlich, daß die Bekehrung des Sultans zum
Christenthum auf unsere Herrschaft in Indien und unsern Opiumhandel mit
China einen ungünstigen Einfluß üben würde?" Die Wogen der Debatte
gingen hoch, aber die Versammlung im Ganzen bewahrte ihre philosophische
Ruhe und saß da, ein Musterbild für die Völker des Continents. Indeß,
keine Perücke, kein Wollsack, kein Oberhaus, sondern unbedingtes Einkammer¬
system, Das Schicksal eines jeden Antrages wird durch einmalige Abstim¬
mung entschieden; radicale Abwesenheit aller herkömmlichen Vorsichtsriegel
und Hemmschuhe. In den Beschlüssen des Bierparlaments jagen sich daher
Revolution und Reaction mit überraschender Geschwindigkeit, und die Folgen
könnten verderblich werden. In dieser Gefahr hat die politische Erbweisheit
des Briten sich nicht verleugnet. Alle sieben Bierparlamente haben still¬
schweigend, aber feierlich auf das Recht verzichtet, die Minister ein- und ab¬
zusetzen. Se. Stephen's-in-the-East ging seinen Brüdern voran in dieser
That der Selbstverleugnung, durch welche der Nation Berge und Meere von
Gut und Blut erspart worden sind. — Wohlgethan! sagte ich. Und Sie,
alter Knabe, spielen Sie auch noch mit in diesem großmächtigen Parlament? —
Rum, lächelte er, es gehört auch zu den Alterthümern Londons und zu
meinen Liebhabereien. Wir wollen überhaupt die Debattirclubs nicht
geringschätzen. Der Ernst, mit dem alte und junge Knaben durch
einander Parlamente spielen, mag komisch aussehen; aber am Ende ist's
eine nationale Leidenschaft. Unsern ehrbaren Kleinbürger entzückt eine
feine Redeblume mehr als den continentalen ein Operntriller. Junge Rede¬
künstler durch seinen Beifall aufzumuntern, ist ihm ein gutes Werk und Ver^
gnügen zugleich. Zudem wird in den Clubs gar nicht schlecht gesprochen.
Reben den verrückten Schwätzern erhebt sich oft ein kurzweiliger oder ge-
schndter, häufig auch irgend ein armer Teufel von einem Vielwisser. Dann
wird Alles, was auf unserem Planeten vorgeht, so genau wie in den Zei¬
tungen und noch umständlicher ausgemalt und gedeutet; dazu werden die
schönsten historisch-geographisch-diplomatischen Laternen aufgesteckt. Ah! da
lernt man was, denkt mehr als eins der stummen Mitglieder; denn — lesen
können diese Leute nicht. — Wie meinen Sie das, Mr. Mink? — Ich meine,
daß sie einem eigentlichen Buche scheu aus dem Wege gehen. Und warum?
Weil sie vorsichtig und practisch sind. Sie spüren gar wohl, daß ein tüchtiges
Buch ein gefährliches Ding ist, indem es zum Denken verleitet, und sie haben
nicht Zeit zu denken. Daher ziehen sie immer ein lebendes Buch vor und
kaufen die fertig gereiften Früchte der Weisheit frischweg vom Munde eines
mehr oder minder berühmten Redners. — Aber Zeitungen lesen sie doch in
Masse. — Ja, und was fesselt sie darin am meisten? Der gedruckte Redner,
der Staatsmann im Parlament, beim Meeting oder Banket. Was hier
zu Lande wirken soll, muß den rhetorischen Zug haben.
Doch wir stehen vor dem grauen Hofe. Das Haus ist durch und durch
eigenthümlich und hat vor Zeiten einem edlen Gentleman gehört, wie die
schönen Treppen und andere Spuren verrathen. Fast in jedem Gemach
findet man die beiden Schildhalter in einer neuen Stellung wieder, mit einem
passenden Spruch versehen. In Little Mayfields — fuhr er fort — wird über die
Schicksale des grauen Hofes viel gefabelt. Es steht aber fest, daß die Inschrift
über die Thore nicht aus uralter Zeit stammt, sondern erst im siebzehnten Jahr¬
hundert von Sir Walter Gray eingegraben wurde. Nun, das Haus ist, wenn
man es buchstäblich nimmt, bisher von des Himmels Strafgericht verschont ge¬
blieben, aber wo sind die Gray's von Swillbourne? Sie waren eine, gute englische
Familie und besaßen außer ihren Ländereien in Wales auch ein Gut in Ir¬
land, Bog Manor, kurzweg der Bog (der Sumpf) geheißen; sie hatten es
in der Zeit der irischen Confiscationen erworben, und es war kein Segen
daran. Von den Söhnen und Enkeln Sir Walter's weiß man nur, daß sie
in Saus und Braus lebten und bei Hahnenkämpfen große Summen ver¬
wetteten. Sein Urenkel, Sir Archibald, ein phantastischer Kopf, der in früher
Jugend in den Gordon'schen Aufruhr gegen die Papisten verwickelt war,
hatte Jahre lang keinen andern Gedanken als wie er den Spruch des Ur¬
großvaters weiterspinnen und immer neue Reime und Bildwerke im Innern
des Hauses anbringen konnte. Zwei Söhne hinterließ dieser Baronet; sie
lebten von Kindheit auf in Feindschaft und waren die letzten der Gray's von
Swillbourne. Sir Arthur, der Erstgeborene, hatte, wie man sagt, eine
reizende Jrländerin geheirathet, die er aus Eifersucht mißhandelte. Man sah
sie oft am westlichen Fenster stehn und die rothgeweinten Augen flehend zum
Himmel aufschlagen. Edward, ihr Schwager, entführte sie nach Irland,
wurde aber bei Bog Manor von dem nachsetzenden Bruder eingeholt und
im Streit erschossen. In wilder Angst suchte der Mörder nach dem nächsten
Hafenort zu gelangen, und wie er dahin sprengte, überhörte er die War¬
nungen der Bauern am Wege, ritt im Abenddunkel gerade auf den tiefen
Sumpf los und ging mit seinem Roß darin unter. Dies geschah kaum eine
Stunde nach der entsetzlichen That, und in derselben Nacht fuhr ein Orcan
über Little Mayfields hin, der den Giebel des grauen Hoff zertrümmerte,
ohne einem andern Dach im Gäßchen etwas zu Leide zu thun — wenn man
nämlich dem Volksmunde glauben darf, der graue Hof wanderte durch die
Hände der Advocaten und wurde Wirthshaus.
Der erwähnte Saal des Bierparlaments ist im linken Flügel, ein
Paar Fuß unter dem Erdgeschoß, und mehr lang als breit. Er hat ein ein¬
ziges Fenster, und zwar in der schmalen Wand gegen Westen. Daher geht
darin selten die Gasflamme aus, sowie das Feuer im Kamin, das beinahe
die ganze Wand im Osten einnimmt. Ueber den Kaminsims geht bis zur
Decke empor eichenes Getäfel und daran liegen wieder, in mehr als halber
Lebensgröße, der Löwe und das Einhorn. Den Schild selbst haben die
Jahre arg geschädigt. Darunter steht in gothischen Buchstaben:
So lange regiert die Wogen glorreich Altengelland,
Bis die Wappenthiere streiten an dieses Schildes Rand,
Ms das Horn die Augen des Leuen ausbohrt in tückischer Wuth,
Und der Leu in blindem Grimme das Horn zerschmettern thut.
Es muß ein sinnreicher Meister gewesen sein, der die Schildhalter ge¬
schnitzt hat. Wenn Mittags ein Sonnenstrahl auf sie fällt, sehen sie schmun¬
zelnd aus und machen einen heitern Eindruck. Aber es ist nicht gut im
Halbdunkel dort allein zu weilen. Glauben Sie mir, es wird Ihnen aber¬
gläubisch zu Muthe, wenn Sie beim Schein der blauen Kohlenflämmchen
auf die Bestien schauen. Drohend wird ihre Haltung, und zornroth starren
die Augen aus dem Kopfe; sie scheinen sich beleben und über einander her¬
fallen zu wollen. Der Wirth wollte daher schon einmal das Getäfel sammt
der Schnitzerei zerhauen und verbrennen. Zur Beruhigung des guten Mannes
hat ein Alterthümler der alten Inschrift folgende Zeilen angefügt:
Doch, Briten, zaget nimmer! Begreift mit frohem Stolz,
Dies Einhorn und der Löwe sind Bilder aus todtem Holz;
Nur eitle Dichterfabel ist der Wappenthiere Streit,
Altengelland wird blühen und prangen in Ewigkeit! —
So erzählte mein Freund in halb spöttischem, halb ernsthaftem Tone.
In der Flur des Hauses scholl ein Gruß an Eintretende: „Guten Abend!
Nichts Neues aus der Türkei?" — „Ach! Brettan's Stimme!" riefMick. —
„Wer ist Brettan?" — „Der Wirth. Aber daß ich nicht vergesse. Geben Sie
Acht und treten Sie auf keins seiner Hündchen. Er ist gewöhnlich von sechs
oder sieben grauhäutigen Bullenbeißern umgeben, ein guter Kerl, der Wirth,
aber diese dickköpfigen Vierfüßer liebt er wie sich selbst. Ich weiß nicht, Gott
verzeih mir die Sünde, ist er nach ihrem Ebenbilde geschaffen oder sie nach
seinem? Andere Wirthe, die das Glück haben, ein Bierparlament unter ihrem
Dache zu sehen, gucken manchmal in die Zeitung und politisiren. Bei ihm
keine Idee davon, obgleich ihm Jane, seine verstorbene Frau, darüber Vor¬
stellungen zu machen pflegte. Nur der Krimkrieg rüttelte ihn ein wenig
auf, und seitdem fragt er — gleichviel was die Welt bewegt — nach Neuig-
teilen aus der Türkei, was aber nur ein Compliment ist wie „Ilov av z^s av?"
und keiner Antwort bedarf. Im Grunde hat er Recht, denn die Türken¬
geschichte wird noch lange nicht aus sein."
Den Hausflur verengte von einer Seite ein Holzgitter, hinter dem ein
Schenkzimmerchen war, von der andern eine Reihe Fässer. Auf einem der¬
selben saß Mr. Brettan. „Guten Abend, Mr. Mink," grüßte er. aufstehend;
„nichts Neues aus der Türkei? Bringen einen Freund mit. das ist recht."
Gutmüthig blinzelten die grauen Aeuglein aus dem breiten Gesicht des vier¬
schrötiger, mit einem gewölbten Unterleib begabten Mannes; er hatte richtig
einen niedlichen Säugling von Bullenbeißer auf dem Arme. Ich folgte
Mink um das Gitter herum, einige Stufen hinab in eine schwach beleuchtete
Stube mit einigen Holzbauten und Tischen; auf einem stand neben einem
Häufchen Tabaksasche ein leerer Zinnkrug. — Soll dies der Saal sein, von
dem sie sprachen? — Bewahre! Hier trinken blos Kohlenträger und Fuhr¬
leute. Wir betreten sogleich den geweihten Raum, sagte Mr. Mink. Und
wir treffen es gut mit dem Parlament. Der Jrländer O'Brien —
heißen viele Jrländer, aber der, den ich meine, heißt in den Bierparlamenten
Mr. Thunder O'Brien — ist nach langer Abwesenheit plötzlich im Löwen
und Einhorn aufgetaucht, und heute soll Sitzung sein. Man wird eine
inhaltschwere Frage debattiren; nämlich: „War Mr. Macaulay*) berechtigt
von einer grauen Zukunft zu träumen, in der das Papstthum noch in altem
Glänze strahlen soll, und von einem Neuseeländer, der angeblich in der¬
selben Zukunft ans eiiH>in abgebrochenen Bogen der Londoner Brücke stehen
wird, um die Ruinen der Se. Paulskirche zu skizziren?" Das Resultat wird
in allen Räumen des Hauses mit Spannung erwartet. Natürlich! Was
hätten die Philister im alten Rom gedacht, wenn ihnen Jemand gesagt, daß
dereinst Reisende vom Norden der Zinninsel kommen würden, die Ruinen
des Forums zu schauen! London, mein lieber Junge, hat seine kleinen
Krähwinkler so gut wie einst Altrom. Ihnen ist der angedrohte Mann aus
der Brücke ein wirklicher Wilder, ein tätvwirter Menschenfresser, und
hören es gern, wenn man versichert, daß die unabwendbare Ausrottung der
Maories . Macaulay's Prophezeiung zunichte machen werde. Nun kommt
dieser Thunder O'Brien mit einer tollen Behauptung: der Neuseeländer
werde als vollkommener Gentleman erscheinen — in schwarzem Frack un°
weißer Halsbinde, wie ich heute Abend. — Es wird eine erregte Sitzung
werden. (Fortsetzung folgt.)
Die beiden neuesten Bände von Nicomede Bianchi's diplomatischer Ge¬
schichte Italiens*), der 5, und 6,, behandeln den Zeitraum von 1847—1850.
Es ist die Geschichte der Bewegung, deren drei rasch und logisch auf ein¬
ander folgende Phasen an der Hand eines reichen Actenmaterials sich vor uns
entrollen: erst die reformistische, dann die constitutionelle, endlich die revo¬
lutionäre, — wie nach den Gesetzen des Falls immer die folgende kürzer und
jäher dem Abgrund der Reaction wieder zutreibend, der in kurzer Zeit die
Erlebnisse von drei stürmischen Jahren in seinem Schooße begräbt und nichts
übrig läßt, als die Erinnerung an großes Wollen und kleine Thaten, die
Kerker und Exile, und die Lehren für die Zukunft. Ein einziger Staat
hält sich in diesem furchtbaren Zusammenbruch einer enthusiastisch begonnenen
Bewegung aufrecht, derselbe, der in diesen Jahren mehr gethan und mehr
geopfert hatte als alle, und nun erst im Unglück bewährt, in seinen Zielen
unerschüttert der feste Mittelpunkt für die Hoffnungen Italiens wurde. Was
man in unsern Tagen so oft von Oestreich wiederholt, daß es aus seinen
Niederlagen die Kraft seiner Verjüngung geschöpft habe, hat man zuerst, und
mit mehr Recht, von Piemont und seiner Niederlage bei Novara gesagt.
Bicmchi schließt den 6. 'Band nicht, ohne nach Erzählung der einförmigen
Reaction, die sonst auf allen Punkten der Halbinsel das Geschehene wie nicht
geschehen auslöschte, noch zu schildern, wie Piemont nach jener unglücklichen
Schlacht sich wieder ausrichtete, das constitutionelle Regiment sich Dank dem
König und seinem Minister Mcissiamo d'Azeglio befestigte, in der Handels¬
politik zuerst wieder der Gegensatz zu Oestreich sich schärfte, gleichzeitig die
Siccardischen Gesetze den Kampf gegen die Kurie eröffneten, und die natio¬
nale Treue seiner Regierung diesem Staat in kurzer Zeit eine ganz andere
Stellung verschaffte, als er vor Novara inne hatte. Dies war die Erbschaft,
welche aus Azeglios Händen Cavour empfing, und der nächste Band wird
unmittelbar in die Stciatsleitung des Mannes einführen, der nach dem Ver¬
lauf eines Jahrzehnts Novara rächen sollte.
Der Werth dieses in hohem Grad interessanten Werks, auf das wir
wiederholt die Leser der grünen Blätter hingewiesen haben, besteht in der
Sammlung von erstmals veröffentlichten diplomatischen Ackerstücken, die durch
eine ziemlich lose Geschichtserzählung mit einander verknüpft sind. Nun sind
gerade die Revolutionsjahre, auch was die diplomatische Geschichte betrifft,
schon bisher genauer aufgehellt als die frühere Periode. Das von Reuchlin
ausgiebig benutzte englische Blaubuch hat die Verhandlungen vom Sommer
1848 wegen der Lombardei ans Licht gezogen, Bastide hat die Politik der
französischen Republik erschlossen, die Verhandlungen wegen Siciliens sind
durch Lafarina's Geschichte der sicilischen Revolution bekannt, Venedigs Dip¬
lomatie ist großentheils durch die Lebensbeschreibung Pasini's von R. Bonghi
blosgelegt, und auch sonst ist, wie bei dem Charakter der damaligen Re¬
gierungen erklärlich, eine Menge amtlichen Materials längst der Oeffenrlich-
keit übergeben. Es war also mehr eine Nachlese, die Bianchi aus den neu
eröffneten Staatsarchiven für diese Periode zu geben hatte. Aber auch diese
Nachlese ist reich genug ausgefallen, im Ganzen steigt der Werth seiner Ver¬
öffentlichung mit jedem Bande. Insbesondere was die Politik der italieni¬
schen Staaten unter einander betrifft, die Bündnißversuche und wieder die
natürlichen Antagonismen und Eifersüchteleien, die so großen Einfluß aus
den Gang des Kriegs und das Schlußergebniß der Revolution gehabt haben,
findet sich bei Bianchi viel Neues, das einem künftigen Geschichtschreiber
dieser Periode zu gut kommen wird. Im Nachstehenden versuchen wir, wie
in unsern früheren Mittheilungen, hervorzuheben was zur Charakteristik der
piemontesischen Staatskunst in dieser Zeit dient.
So lange Solaro della Margherita am Ruder war, suchte er den König
Karl Albert streng auf dem Weg der Legitimität und der östreichischen Freund¬
schaft zu halten. Im August 1846, als in Rom der Jubel über die Amnestie
des neugewählten Papstes auf seinem Höhepunkt stand, begab sich der Minister
selbst nach der ewigen Stadt und schilderte von hier aus dem König die
Zustände des römischen Staats in den schwärzesten Farben, Mit Entsetzen
sah er eine zügellose Revolution Heraufziehen, die mit allgemeinem Verderben
endigen werde, wenn nicht Frankreichs und Oestreichs gemeinsame bewaffnete
Einmischung ihr einen Damm entgegensetzten. In gleichem Sinne bearbeiteten
die Jesuiten den König, den ohnedies seine körperlichen Zustände nach jedem
versuchten Aufschwung wieder in die tiefste Depression zurückwarfen. Aber
auch an Gegenwirkungen fehlte es nicht, die auf den schlummernden Ehrgeiz
des Königs berechnet waren, und welchen die wachsende Gährung der Geister
immer kräftigere Argumente lieferte. Während er noch den Sonderbunds-
cantonen mit Waffen und Geld beisprang, grub sich im Herzen Karl Alberts
der Wunsch, für die Unabhängigkeit Italiens wirken zu können, tiefer und
tiefer. Und gerade die religiöse Richtung, der er sich im Uebermaße ergeben
hatte, wirkte jetzt zu dem gleichem Ziele, denn eine Art mystischer Verehrung
empfand er für die Person des Papstes, und als Oestreich in Besorgniß vor
dem päpstlichen Liberalismus immer drohender gegen Pius IX. auftrat und
sich im August 1847 sogar zur eigenmächtigen Besetzung Ferraras entschloß,
flammte der Zorn Karl Alberts hoch auf. Er bot dem bedrängten Papst die
Hilfe seiner Waffen, und wenn die Oestreicher Rom besetzen würden, das
Gastrecht in seinen Staaten an. Und der Diplomatie erklärte der König,
daß er jeden Act der Gewalt gegen den Souverän des Kirchenstaats wie
eine Beeinträchtigung der Unabhängigkeit seines eigenen Königreichs betrach¬
ten und die geeigneten Mittel der Abwehr ergreifen werde. Dies war im
August 1847; am 2. November schrieb der König in einem vertrauten Brief
an den Grasen Castagneto: „Wenn mir je Gott die Gnade schenkt, einen
Unabhängigkeitskrieg unternehmen zu können, so bin ich entschlossen, selbst
das Heer zu befehligen, und dann will ich für die guelfische Sache thun was
Schamyl gegen das ungeheure Nussenreich thut. Es scheint, daß man in
Rom die geistlichen Waffen bereit hält, hoffen wir es! O der schöne Tag,
an dem wir den. Kriegsruf für die nationale Unabhängigkeit werden erheben
können!" Heimliche Libelle, welche gegen Karl Albert verbreitet wurden, und
welche dieser Grund hatte auf östreichische Fabrication zurückzuführen, auch
wenn sie die radicale Maske trugen, dienten dazu, ihn noch mehr gegen den
Wiener Hof aufzustacheln. Solaro oella Margherita begann zu fühlen, daß
er unbequem wurde, der König wünschte den Rücktritt eines Ministers, der
ein unübersteigliches Hinderniß für seine innersten Neigungen war. Aber
der Minister, der treu und ehrlich an den Principien festhielt, deren Auf¬
geben ihm gleichbedeutend mit dem allgemeinen Ruin war. hielt es gerade
jetzt für unabweisbare Pflicht, feinen Posten nicht zu verlassen. Als ihm der
König zu verstehen gab, daß sein, des Ministers, Credit auch bei Männern
der erprobtesten Hingebung an Kirche und Staat nachzulassen beginne, gab
er zur Antwort: dies könne ihn garnicht Wunder nehmen, die Zeiten seien
wahrhaft ungeheuerlich; dennoch sei es noch möglich vor dem aufsteigenden
Sturm sich zu retten, wenn man ihm muthvoll die Stirn biete und sich nicht
von einer Partei einschüchtern lasse, die um so kühner werde, je mehr man
sie fürchte. Und als die Bewegung von Mittelitalien aus immer lebhafter
auch nach Piemont Herübergriff, schrieb er noch einmal, am 9. October, an
den König: „Man versucht es mit allen Mitteln, die Revolution in diesem
Lande heraufzubeschwören, das glücklich ist und nichts von ihr wissen will.
Leider gibt es ganz ergebene Unterthanen, die theils aus Beschränktheit und
noch viel mehr aus übertriebener, edler Seelen unwürdiger Angst den Rath
geben, daß man sich zu Zugeständnissen bequemen müsse. Diese Leute be¬
denken nicht, daß unsere Zukunft, unser Ruhm, unser Wohlergehen, ja sogar
unsere Selbständigkeit abhängen von der Festigkeit, mit welcher die Ein¬
flüsterungen der Liberalen zurückgewiesen werden, was auch immer die Maske
sei, unter der sie sich zu ihrer Rechtfertigung einführen mögen." Es war
der letzte Rath, den er seinem König ertheilte. Das Entlassungsgesuch, das
in diesen Tagen der Marchese Villamarina als Polizeiminister einreichte,
wegen eines sein Departement betreffenden Vorfalls, war für den König
Veranlassung, auch dem Grafen Solaro trotz seines Widerstrebens die Ent¬
lassung aufzunöthigen. Eine Reise in den Provinzen hatte kurz zuvor Karl
Albert von dem wahren Geist der Bevölkerung unterrichtet; das Beispiel
von Rom und Florenz mußte schließlich alle Bedenken überwinden, Karl
Albert durfte sich nicht von den anderen Höfen überholen lassen; zudem trieb
ihn die englische Diplomatie vorwärts, welche in diesen Tagen an allen
Höfen ebenso zu freiwilligen Reformen rieth, wie sie dann im Februar und
März 1848 eindringlich vor dem Bruch mit Oestreich warnte. An Solaro's
Stelle übernahm der Gras Marzano das Auswärtige. Es erfolgten die ersten
noch sehr bescheidenen Reformen, die Feste, die ersten Schritte einer freien
Presse. An eine Verfassung dachte Karl Albert, überdies durch das geheime
Versprechen von 1829 an Oestreich gebunden, noch lange nicht. Als ihn der
Großherzog von Toscana um Mittheilung bat, wie weit er in den politischen
Reformen zu gehen gedenke, erwiderte Karl Albert in einem Brief vom
2. Januar, daß er keineswegs jene constitutionelle Regierungen nachzuahmen
gedenke, „wo die Freiheit nur eine Fiction ist und die Staatsverwaltung
sich auf die Corruption stützt." Ein freisinniges Gemeindegesetz und eine
Abstufung von Wahlkörpern, von der Gemeindeverwaltung aufsteigend bis zu
einem Staatsrath, schien ihm hinreichend, um seinem Volk alle die Freiheit
zu geben, die er mit der Erhaltung der monarchischen Grundlagen sür ver¬
träglich hielt. Als freilich kurz darauf der König von Neapel eine Verfassung
ertheilte, war diese Linie nicht mehr einzuhalten. Lord Palmerston drängte
jetzt auch in Turin lebhast zur Ertheilung der Constitution, wozu sich der
König nach langen Ministerberathungen und nach Ueberwindung schwerer
Gewissensbedenken entschloß, vierzehn Tage vor dem Ausbruch der Pariser
Februarrevolution.
War es so dem englischen Einflüsse gelungen, durch politische Reformen
einem Bruch zwischen den Fürsten und Völkern in Italien vorzubeugen, so
gelang es ihm nicht ebenso, den Bruch zwischen Piemont und dem Wiener
Cabinet abzuwenden. Auf allen Seiten suchte Lord Palmerston zu vermit¬
teln, um den Frieden aufrecht zu halten. In Turin rieth er zur Freund-
schaft mit Oestreich, da man nicht wissen könne, ob nicht im Fall eines Krie¬
ges Frankreich zu Eroberungen gedrängt werde, nach Wien schickte er Rath¬
schläge zur Mäßigung und zu konstitutionellen Reformen. Aber Metternich
verabscheute, wie er in einer selbstgefälligen Depesche vom 3.° Januar an sei¬
nen Gesandten in Rom ausführte, den Liberalismus nicht minder als die
Revolution, und nach den Februartagen suchte er Lord Palmerston beweglich
vorzustellen, daß Europa um ein halbes Jahrhundert zurückgeworfen und sich
wieder Angesichts der unheilvollsten Tage der ersten Revolution befinde. Mit
der steigenden Aufregung in der Lombardei wurden die Beziehungen zwischen
Wien und Turin von Tag zu Tag schlechter, die gegenseitigen Recriminatio-
nen bitterer. Noch einmal versuchte es Metternich, in Turin die alte Saite
anzuschlagen und des Königs bekannte Abneigung gegen die republikanische
Regierungsform durch den Hinweis auf die Ereignisse in Frankreich aus¬
zubeuten. Er betonte das gemeinsame Interesse der gefährdeten Throne und
versprach, in dem noch immer schwebenden Zollstreit mit Ptemont die ent¬
gegenkommendste Selbstverleugnung, wenn Karl Albert bei den Höhen von
Rom, Florenz und Neapel die Initiative zu einem Defensivbündniß mit den
Höfen von Wien, Modena und Parma zum Schutz gegen die einbrechende
republikanische Sündfluth ergreifen wolle. Eine Antwort auf diesen Vor¬
schlag erfolgte nicht mehr. Am 22. März brach Graf Buol die diplomati¬
schen Beziehungen zum Turiner Hofe ab. Die Revolution in Mailand und
der Hilferuf der Lombarden nöthigten jetzt Karl Albert den Entschluß auf,
den er so lange in sich getragen und als die Krone seines Lebens fest¬
gehalten hatte.
In seiner Proclamation vom 23. März an die Völker der Lombardei
und Venetiens erklärte Karl Albert, daß er aus Liebe zur Nation und im
Verständniß der Zeit mit seinem Heere den unerschrockenen Vertheidigern der
niedergetretenen Rechte Italiens die Hilfe bringen wolle, die der Bruder
vom Bruder erwarte. Wenn er aber gleichzeitig der Diplomatie erklärte,
daß er genöthigt sei in der Lombardei einzurücken, um Piemont von den
Gefahren der Revolution zu retten, so war das nicht blos Vorwand oder
diplomatische Zweideutigkeit. Die Bevölkerung verlangte stürmisch den Na¬
tionalkrieg und es war überdies ein Lebensinteresse Piemonts. daß die Lom¬
bardei nicht, allein gelassen, in falsche Wege gerieth und nach dem Beispiel
Frankreichs die Republik ausrief. Karl Albert trat in diesen Krieg, in welchem
er seine Krone aufs Spiel setzte, mit dem alten Programm, wie es in den
piemontesischen Staatsschriften zur Zeit vor und nach dem Wiener Congreß
aufgestellt worden war, und das auch die Zeiten der stupidesten Reaction
und der blindesten Hingabe an Oestreich nicht aus dem mahnenden Gedächt¬
niß der subalpinischen Staatsmänner hatten auslöschen können. Dieses Pro-
grauen bestand in der Aufrichtung eines oberitalienischen Staats, der stark
genug wäre, die abwechselnde Anlehnung an Frankreich und Oestreich zu
entbehren, und zu einem selbständigen, auf eigenen Füßen stehenden Gefäß
der italienischen Nationalität, vielleicht zu dem Kern für ein künftiges italie¬
nisches Reich zu dienen. Daß dieses Interesse parallel lief mit dem Interesse
Preußens, dafür zeigten die piemontesischen Staatsmänner schon damals Ver¬
ständniß. Der Marchese Lorenzo Pareto, der Minister des Auswärtigen im
Ministerium Balbo. setzte in einer Depesche nach London die Gründe aus¬
einander, die Piemont zum Krieg nöthigten und wies dabei zugleich auf den
Vortheil hin, den für die britische Politik ein starker subalpinischer Staat
haben müsse, der im Stande sei Preußen die Hand zu reichen und die kriege¬
rischen Gelüste Frankreichs im Zaum zu halten.
Die fremden Mächte hatten bis zum letzten Augenblick nicht aufgehört,
zu warnen und auf die Ungleichheit des Kampfes aufmerksam zu machen.
Hilfe war von ihrer Seite nicht zu erwarten und wurde auch gar nicht be¬
gehrt. Nur die schwache Aussicht war vorhanden, daß die anderen Reform¬
staaten, Toscana und der Kirchenstaat, vielleicht auch Neapel, an dem natio¬
nalen Krieg sich betheiligten. Die Frage war, ob dieses Zusammenwirken
in einem förmlichen Bündnißvertrage niedergelegt und ob dieses Bündniß zu
einer politischen Institution, einer Conföderation der italienischen Staaten er¬
weitert werden solle. Diese Frage führte zu höchst interessanten Verhand¬
lungen zwischen Turin, Rom, Florenz und Neapel, deren Ausgang für die
ganze Zukunft Italiens bestimmend wurde. Denn das Resultat dieser Ver¬
handlungen entschied nichts Geringeres als die Frage, ob Italien die Form
seiner nationalen Existenz in einem Staatenbunde oder im Einheitsstaat zu
finden bestimmt sei.
Schon im November 1847 waren auf die Initiative des durch Oestreich
bedrohten Papstes die Präliminarien zu einem Zollverein zwischen Rom,
Turin und Florenz zu Stande gekommen, und dieser Bund schien sich jetzt
unter den drängender gewordenen Umständen von selbst zum Anknüpfungspunkt
und zur Grundlage für einen politischen Bund darzubieten, in welchem die
Reformpartei damals überwiegend das Heil Italiens sah. Indem jetzt überall
Männer der Reformpartei in die Ministerien eintraten, schien der Verwirk¬
lichung dieses Programms, das, wenn auch nicht immer in übereinstimmender
Weise, von Givberti, Balbo, Azeglio, Mamiani, Durando u. A. formulirt
worden war, nichts im Wege zu stehen. Der Großherzog Leopold war der
erste, der zu Anfang Februar 1848 den politischen Bund in Anregung
brachte, und die toscanischen Staatsmänner blieben die ganze Zeit über die
eifrigsten Vertreter des föderalistischen Gedankens. Im Princip war auch
Karl Albert mit der Bildung eines Bundes einverstanden, nicht minder der
Papst, selbst der König von Neapel entzog sich den Verhandlungen nicht.
Sobald jedoch über das allgemeine Princip hinausgegangen. Zweck oder gar
Einrichtung des Bundes erörtert werden sollte, zerschlugen sich jedesmal die
Verhandlungen, Es stellte sich heraus, daß jeder Staat unter dem Bunde
etwas Anderes verstand und andere Hintergedanken damit verknüpfte.
Es ist keine Frage, daß die Versuche einer Conföderation in erster Linie
an dem Widerstand Piemonts gescheitert sind, und es ist häufig der üble
Wille Karl Albert's getadelt worden, der ein so hoffnungsreiches Project zu¬
nichte machte. Auch N. Bianchi schließt sich diesem Tadel an. Er kommt
immer wieder darauf zurück, daß diese Politik fehlerhaft und unklug gewesen
sei und der italienischen Sache die wesentlichsten Vortheile entzogen habe.
Insbesondere hätte der Abschluß eines Bundes, in welchen der Papst hinein¬
gezogen worden wäre, dessen Abfall von der italienischen Sache verhindert
und ihm einen Ausweg aus dem Labyrinth bereitet, in das er sich durch seine
Doppeleigenschaft als Papst und Fürst verwickelt sah. Die Politik Karl
Albert's, darin gipfelt diese Kritik, habe eigensinnig und kurzsichtig nur das
piemontesische Interesse zu Rathe gezogen, die italienischen Gesichtspunkte ver¬
leugnet und damit die eigene Sache verloren.
Lernt man jedoch die Einzelheiten dieser Verhandlungen kennen, wie sie
eben durch Bianchi jetzt veröffentlicht sind, so wird man schwerlich in dieses
Urtheil einstimmen können. Wahr ist, daß der Geruche Pareto sich wenig
entgegenkommend zeigte, weit weniger als man von einem College» Balbo's
hätte erwarten sollen. Auch ist nicht zu leugnen, daß man, zumal nach den
ersten kriegerischen Erfolgen, in Piemont die eigenen Kräfte überschätzte, und
daß dieses Selbstvertrauen dazu beitrug, daß man sich zu den Ligaverhandlungen
sehr kühl verhielt. Allein andererseits wird man sich doch überzeugen, daß,
auch wenn die Conföderation zu Stande gekommen wäre, dies auf den Gang
der Dinge von gar keinem erheblichen Einfluß gewesen wäre. Der Papst
mußte sich auf alle Fälle früher oder später durch den Bruch mit der Sache
Italiens aus seiner Doppelstellung befreien; die militärischen Verhältnisse in
Mittel- und Süditalien aber waren der Art, daß die materielle Hilfe, welche
Karl Albert durch den Bund erhalten hätte, kaum ausgiebiger ausgefallen
wäre, als ohne dieselbe der Fall war, und die Reaction hätte einen
italienischen Staatenbund ebenso sicher beseitigt, wie die piemontesischen An¬
nexionen in Oberitalien. Allein was die Hauptsache ist, von Anfang an
zeigte sich eine so gründliche Interessenverschiedenheit, daß man sich viel we¬
niger über-das Scheitern des Projects wundern muß, als darüber, daß dasselbe
doch immer wieder ausgenommen wurde und sich so lange hoffnungslos fort¬
schleppte, bis die allgemeine Reaction es mit allen anderen Entwürfen und
Schöpfungen der Revolution begrub.
Karl Albert war mehr durch den Zwang der Umstände als durch seinen
freien Entschluß zum Kriege gedrängt worden. Man kann sagen, die Nation
selbst hatte ihm das Schwert in die Hand gedrückt. Und wenn er dabei die
traditionelle Politik seines Hauses wieder ausnahm und den Preis des Kampfes
sich sehr bestimmt gesetzt hatte, so war doch die Befreiung Oberitaliens zu¬
gleich ein allgemeines Anliegen der ganzen Halbinsel; sie bedeutete die natio¬
nale Unabhängigkeit auch für alle anderen Staaten. Dieser Nationalkrieg
nun war jetzt Piemonts oberstes Interesses Es wünschte die Mitwirkung
der anderen Staaten, ein Bündnis) zu dem practischen Zweck des gemein¬
samen Krieges, Es ließ sich auf eine Liga ein, sofern sie die Action unter¬
stützte, aber nicht, sofern sie geeignet war, diese Action zu hemmen. Darum
sollte nur das Princip festgestellt, alles Weitere aber, die Organisation des
Bundes, bis nach Beendigung des Unabhängigkeitskrieges verschoben werden.
Dies war der Standpunkt, den Piemont consequent während der ersten Phase
dieser Verhandlungen einnahm.
Gerade aber vom Krieg wollten die anderen nichtmilitärischen Staaten
nichts wissen. Der Bund sollte lediglich ein Defensivbund sein, ein morali¬
sches Gegengewicht gegen den politischen Einfluß Oestreichs, und eher ein
Präservativ gegen den Krieg als ein Mittel zum Siege. Am nachdrücklich¬
sten betonte der Papst den blos defensiven Charakter des künftigen Bundes,
weil es sich für ihn als den Statthalter Christi nicht anders gezieme. Dabei
machte er Ansprüche in Betreff des Vorsitzes, welche zeigten, daß Gioberti's
Ideen vom Primat des Papstthums und von dessen Wiederherstellung zu
mittelalterlichen Glänze nicht ohne Wirkung auf ihn geblieben waren. Tos-
canas Politik war durchaus vom Mißtrauen in die Albertinischen Tendenzen
beherrscht, während sie selbst eifrig nach Gelegenheit zu Gebietserweiterungen
spähte. Der König von Neapel endlich, der seinerseits den Oberbefehl im
Kriege verlangte, wollte den Bund von Anfang an nur als ein Mittel benutzen,
das abgefallene Sicilien wiederzugewinnen, während umgekehrt die Si-
cilianer als eigene Macht dem Bund beizutreten wünschten. So war von
der ersten Stunde an die Idee des Bundes ein Element der Zwietracht, und
früh zeigte sich das Mißtrauen Aller gegen Piemont, so daß schon am
19. März der Großherzog Leopold dem Papst den Vorschlag machen konnte,
bei der Bildung des Bundes Piemont vorläufig ganz aus dem Spiel
zu lassen.
Im April wurden die Verhandlungen abgebrochen, zu einer Zeit, da das
piemontesische Heer den Mincio überschritten hatte, und am günstigen Aus¬
gang des Kriegs nicht mehr gezweifelt wurde. Doch wurden sie schon An¬
fangs Juni, noch vor der unglücklichen Wendung, von dem Ministerium
Mamiani in Rom wieder aufgenommen, abermals auf Anregung Toseanas,
dessen Minister Ridolfi, eifersüchtig auf die Waffenerfolge Piemonts und
ganz von der neuguelfischen Theorie Gioberti's beherrscht, nur im Oberhaupt
der Kirche die große moralische Macht erblickte, welche im Stande sei, ihr
Brennusschwert in die Wagschale zu werfen und Italien von der Fremd¬
herrschaft zu befreien. Mamiani war es ernstlich um die Liga zu thun. Er
drang in Pareto, den Vorschlag eines Desensivbundes anzunehmen, da ein
solcher die einzige Möglichkeit gewähre, den Papst zum Bettritt zu bewegen.
An die Bezeichnung defensiv brauche sich Piemont nicht zu stoßen, denn sein
jetziger Krieg mit Oestreich sei ja wesentlich ein defensiver. Pareto ant¬
wortete kurz, Piemont brauche Thaten und keine Worte. Er erinnerte an
die Pflicht der italienischen Fürsten, zum Unabhängigkeitskriege, den Karl
Albert führte, auch etwas beizutragen, und verlangte vom Papst vor Allem
eine feierliche Kundgebung, welche die Wirkung der früheren Zweideutig¬
keiten wieder beseitige. Doch spann sich der Depeschenwechsel noch weiter
hin. Ende Juni, als Vicenza bereits verloren war, stellte Pareto seiner¬
seits die Bedingungen für einen Bund auf, der wiederum vor Allem aus die
militärische Action berechnet war, weswegen auch Commissäre für die Be¬
stimmung der Contingente jedes Staats und tgi. nach Turin eingeladen
wurden. Das Ministerium Mamiani setzte nun einen förmlichen Entwurf
auf, der sogar das Zugeständniß enthielt, daß an die Stelle Defensivbund
die Bezeichnung politischer Bund gesetzt wurde, dafür aber auf Rom als Ort
der Konferenzen bestand, was der Papst als eouäitio sine <Ms> von betrachte.
Mit Toscana zankte Piemont besonders über die Frage, ob auch Neapel
zu dem Bunde herbeigezogen werden solle. Die toscanischen Staatsmänner
verlangten dies und betonten dabei, daß dies der einzige Weg sei, Neapel
wieder aus der Reaction herauszureißen; in Turin dagegen wollte man
nichts gemein haben mit einer Macht, die sich in so demonstrativer Weise
von der Sache Italiens getrennt hatte.
Weiter gediehen die Verhandlungen in diesem Augenblick nicht. Die piemon-
tesische Politik hatte eben Wichtigeres zu thun, als die Fortsetzung eines so gänz¬
lich aussichtslosen Schriftwechsels. Sie hatte den Anschluß der Lombardei und
Venetiens erreicht, aber kurz darauf war durch die Wendung des Krieges alles
bisher Gewonnene wieder in Frage gestellt worden. Jetzt begannen unter
Vermittelung Englands und Frankreichs die diplomatischen Verhandlungen,
welche über das Schicksal der beiden italienischen Provinzen Oestreichs ent¬
scheiden sollten. Und auch hier wieder schien sich ein verhängnißvoller Con¬
flict zwischen dem piemontesischen und dem italienischen Interesse zu erheben.
Die Früge war, ob Piemont sich mit einem mäßigen Erfolge auf der Bahn
seiner traditionellen Politik begnügen könne, oder ob es Alles an die Ge¬
winnung des höchsten Preises setzen müsse. Das Letztere verlangte ungestüm
das Volk, und wirklich halte das Eintreten in neue Bahnen die piemontesische
Staatskunst aus ihrem Gleichgewicht geworfen; unter dem Einfluß der ma߬
losen Hoffnungen und Ueberzeugungen der öffentlichen Meinung war sie
selbst in Gefahr, das feste Steuer zu verlieren, und erst in späteren Tagen,
unter dem Eindruck der gescheiterten Revolution, erkannte man. daß jener
Widerstreit der Interessen Piemonts und Italiens nur ein täuschender Schein
gewesen war, daß, was ein politischer Gewinn für Piemont war. auch für
Italien Gewinn sein mußte, und daß die einzig richtige Politik nur darin be¬
stehen konnte, in jedem Moment das jetzt Erreichbare zu nehmen und das
Weitere der Zukunft zu überlassen.
Als im April 1848 Oestreich einen Waffenstillstand begehrte und Graf
Hartig beauftragt war, auf Grundlage der Räumung der Lombardei bis zum
Mincio Verhandlungen zu eröffnen, beschloß der Ministerrath in Turin ein¬
stimmig, alle Vorschläge zu verwerfen, welche nicht die gänzliche Befreiung
Italiens, also auch Venetiens von der östreichischen Herrschaft sicher stellten,
und der König billigte diesen Beschluß vollständig. Noch zu Ende Mai setzte
man in Turin den Vorstellungen Lord Palmerstons, auf das ganz vernünf¬
tige Hummelauersche Project einzugehen, hartnäckig die Forderung entgegen,
daß Oestreich ganz Italien räumen müsse. Oestreich versuchte nun, sich direct
an die provisorische Negierung von Mailand zu wenden, um die Sache der
Lombardei von der Venetiens zu trennen. Am 13. Juni wandte sich Wessen-
berg an den Grafen Casati in Mailand und theilte ihm mit, daß er ermäch¬
tigt sei, mit der provisorischen Regierung eine Verhandlung auf Grundlage
der Trennung der Lombardei von Oestreich zu eröffnen. Billige Bedingungen
waren dabei in Aussicht gestellt und die provisorische Regierung solle sich
selbst bei Karl Albert für den Abschluß eines Waffenstillstandes verwenden.
Allein auch Casati erwiderte am 18. Juni, daß die provisorische Regierung,
so lebhaft sie die Beilegung des Kriegs wünsche, doch nur auf Vorschläge
unterHändeln könne, welche die vollständige Unabhängigkeit Italiens enthiel¬
ten. Ueberdies sei die Mailänder Regierung, die bereits den Wunsch nach
Vereinigung mit Piemont kundgegeben, nicht in der Lage, zu verhandeln,
ohne die Mitwirkung des Turiner Cabinets nachzusuchen und zu erlangen.
Dieses war vertraulich in Kenntniß gesetzt worden und billigte vollkommen
die Haltung der lombardischen Regierung. Karl Albert aber war nicht zu
Rathe gezogen worden und beschwerte sich. als er nachher davon erfuhr.
Er mochte es jetzt, da Nugent seine Vereinigung mit Radetzky vollzogen
hatte, Vicenza verloren und der Werth der Volksbegeisterung bereits genug¬
sam erprobt war, für gerathen halten, wieder in die vorsichtigeren und be¬
scheideneren Bahnen seiner Hauspolitik zu lenken, zumal die Abneigung
Frankreichs gegen das subalpinische Reich immer deutlicher hervortrat und
die Unterstützung Englands in demselben Maaße schwächer wurde, in welchem
die Prätensionen Oestreichs wieder stiegen. Anfang Juli verhehlte Aber-
cromby einer vertrauten Persönlichkeit Karl Alberts nicht, daß sich die Tage
für Italien verschlimmert hätten, und rieth dem König an, ernstlich die In¬
teressen seiner Krone zu Rathe zu ziehen und auf einen ehrenvollen Frieden
mit Oestreich bedacht zu sein. Karl Albert antwortete in einem eigenhändi¬
gen Schreiben vom 7. Juli, daß, wenn es sich um eine Verhandlung auf
Grundlage der Annexion von Parma, Modena und der Lombardei bis zur
Etsch handle, er nicht anstehen werde, dies als Grundlage eines Friedens an¬
zunehmen; es seien triftige Gründe vorhanden, um auch das subalpinische
Parlament und die Nation zu überzeugen, daß es ersprießlich und weise sei,
einen Frieden anzunehmen, der immer noch ehrenvoll und ruhmreich sei in
Anbetracht des großen Mißverhältnisses der Kräfte von Oestreich und Sar¬
dinien. Das war nicht im Sinn der bisherigen Politik Paretos, es klang
auch nicht so hochherzig wie die bisherigen Erklärungen und Proclamationen.
Aber es war in Ansehung der gewaltigen Schwierigkeiten practisch gedacht
und der Fehler war nur, daß es jetzt zu spät war. Oestreich war bereits
entschlossen, auf solcher Grundlage nicht mehr zu verhandeln. Die Schlacht
von Custoza und der Waffenstillstand (9. August) machten es vollends zum
Herrn der Lage.
Als im Herbst 1848 die Verhandlungen wegen einer Conföderation
wieder aufgenommen wurden, geschah es unter wesentlich veränderten Umständen.
Durch den Gang des Krieges hatte Piemont sein Prestige in Italien selbst
verloren, Alles verschwor sich zu Tadel und Mißgunst. Je deutlicher das
Ziel der piemontesischen Politik hervorgetreten war, nämlich einen großen
dominirenden Nationalstaat in Italien aufzurichten, um so enger schaarte sich
nun Alles zusammen, was sich durch diesen Plan in seinen Interessen beein¬
trächtigt glaubte, und „Conföderation" wurde jetzt die Losung aller piemont-
feindlichen Mächte und Parteien. Insbesondere erfreute sich dieses Project
der Protection der französischen Republik, über deren italienische Politik im
Jahre 1848 die Geschichte bereits ihr Urtheil gefällt hat. Venedig war von
Bastide längst aufgegeben, auch wenn es noch immer mit zweideutigen Ver¬
sprechungen hingehalten wurde. Aber auch die Vereinigung der Lombardei
mit Piemont fand an ihm einen hartnäckigen Gegner: nicht ein subalpinisches
Reich, schrieb er seinen Agenten vor, nicht die Einheit Italiens, sondern eine
Föderation unabhängiger, möglichst gleich starker Staaten sei das Ziel der
französischen Politik. Die Angst vor dem Ehrgeiz Karl Alberts und vor
einem furchtbaren subalpinischen Staat von 11 oder 12 Mill. Einwohnern
kam in wahrhaft kläglicher Weise zu Tag. Dagegen begünstigte man Tos-
cana, das fortwährend an der Idee der Conföderation festhielt und gleich-
falls zur Annexion der Lombardei an Piemont scheel sah. Dies war noch
unter dem Ministerium Nidolfi. Im December kam dann in Toscana die
Demokratie ans Ruder und in Turin war man keinen Augenblick im Zwei¬
fel, daß damit die Lage noch verschlimmert war, denn die ganze Demokratie
war einstimmig darin, daß nächst der Herrschaft Oestreichs eine Vergrößerung
Piemonts das allergrößte Unglück für Italien wäre. Auch Mamin war da¬
mals noch für die Föderation. Als L. Napoleon zur Präsidentschaft ge¬
langte, trat er ganz in die Fußtapfen der bisherigen Politik der Republik,
nur daß er keine heuchlerischen Versprechungen machte und überhaupt zurück¬
haltender war. Aber er erklärte es für seinen persönlichen Wunsch, eine Con-
föderation der italienischen Staaten unter dem Patronat Frankreichs und
Englands hergestellt zu sehen. So fehlte es dem Project nicht an Freunden
innerhalb und außerhalb Italiens. Unter den Nächstbetheiligten aber kam
es so wenig zu einer Einigung wie früher.
I-g, lie^us vsult — erklärte die königliche Commission im Oberhause
nach Verlesung der durch alle Stadien passirten Kirchenbill, welche die ganze
Session so vorwiegend in Anspruch genommen, daß neben ihr Alles zurück¬
trat. Ende gut, Alles gut, sagten die müden Mitglieder beider Häuser, deren
Geduld durch endlose Sitzungen und die Mühen der season erschöpft war
und die sich nur nach Vertagung sehnten. Ueber dem in elfter Stunde glück¬
lich erzielten Compromiß vergaß man allen Hader, widerrief man alle harten
Worte und pries man die glückliche Verfassung, welche aufs neue die Probe
bestanden. Die Gefahr eines Conflicts ist allerdings vermieden worden, aber
es verlohnt sich doch, etwas näher zu betrachten, um welchen Preis.
Es ist früher in diesen Blättern die große Debatte des Oberhauses über
das Princip der Bill beleuchtet und die Wichtigkeit der Annahme der zwei¬
ten Lesung hervorgehoben, weil dieselbe allein die Möglichkeit einer Amen-
dirung durch die Lords gab. An diese machte sich denn das Oberhaus
auch sofort und zwar unter allgemeinem Beifall der öffentlichen Meinung,
welche, so entschieden sie sür die Aufhebung der Staatskirche war, doch kei¬
neswegs mit den Einzelheiten der Gladstone'schen Bill einverstanden war. Die
Lords beschlossen nun zunächst mit der enormen Mehrheit von 144 Stim¬
men, daß die irische bischöfliche Geistlichkeit fortfahren solle, ihre Häuser und
daranstoßenden Hufen lastenfrei zu besitzen. Die Häuser waren durchgängig in
den letzten 1S0 Jahren aus Privatmitteln unter Hinzufügung von 250,000 L.
aus Staatsmitteln errichtet, die Höfe waren Bewilligungen Jakobs I. an
die in der Provinz Ulster ansässigen Protestanten. Sie den Gemeinden, zu denen
sie gehören, zu nehmen, erschien der Mehrheit als eine Spoliation, nur
69 Peers unterstützten die Regierung in ihrem Widerstand gegen den An¬
trag. Nachdem derselbe durchgegangen, kam das Amendement des Herzogs
von Cleveland an die Reihe, welches vorschlug, die überschüssigen Fonds der
irischen Kirche zur Errichtung von Häusern und zum Ankauf von Gartenland
für die katholischen Priester und presbyterianischer Geistlichen zu verwenden.
Dem opponirten die Regierung und die Hochtories, erstere auf Grund
Polnischer Verpflichtungen, letztere aus religiöser Bigotterie. Der Antrag
wurde unterstützt durch Alles, was im Oberhause Gewicht hatte durch staats¬
männische Erfahrung, Unabhängigkeit und Beredtsamkeit; leider überwogen
die combinirten Extreme, die Bigotterie und der Einfluß des Ministeriums,
so daß der Antrag mit geringer Mehrheit verworfen wurde. Das war sehr
unglücklich, weil das zweite Amendement die natürliche Compensation des
ersten bildete und mit dem ersten allein die Bill keine Chance hatte, vom
Unterhause angenommen zu werden. Bei der einseitigen Erhaltung der Häu¬
ser und Höfe der protestantischen Geistlichkeit würde man das Princip der
Gleichheit verletzen, welches die Grundlage des Gesetzes ist. Entweder
mußte also auch diese Concession aufgegeben oder dieselbe auf Katholiken
und Presbyterianer ausgedehnt werden. Indeß gelang es. die Sache noch
zu redressiren; man beschloß in einer Privatzusammenkunft der leitenden con-
servativen Peers das Cleveland'sche Amendement bei der Einbringung des
Reports, der der dritten Lesung vorhergehenden Formalität, wieder aufzunehmen,
und sicherte sich hierfür eine Majorität. Manche der Hochtories waren selbst
dafür und wollten nur nicht offen dafür stimmen. Die katholischen Peers
hatten nur dagegen votirt, weil die Mitglieder des Cabinets gedroht, die An¬
nahme werde die ganze Bill gefährden- Alle diese versprachen nun, bei Wieder¬
aufnahme des Antrags dafür zu stimmen, und nachdem Lord Stanhope den¬
selben aufs neue eingebracht, wurde nach heftigem Kampfe eine Majorität
von 7 erzielt.
Durch diese beiden wichtigen Amendements war die Bill unendlich ver¬
bessert, ihr Zweck blieb gesichert, ihren Unbilligkeiten war die Spitze abge¬
brochen. Gladstone hatte sein Unternehmen als einen Act der Gerechtigkeit
und eine Friedensbotschaft für Irland bezeichnet, aber er halte dabei keinen
Bedacht genommen auf die praktischen Bedürfnisse des Klerus, welcher den
größten Einfluß auf die Massen hat. Das Stanhope'sche Amendement hätte
einem großen practischen Uebelstand abgeholfen, nämlich der Schwierigkeit,
die es für katholische Priester in Irland hat, Wohnungen zu finden. Neun
Zehntel der Grundeigenthümör sind protestantisch und haben das Vorurtheil,
daß die Priester Unzufriedenheit gegen sie predigen. Dieselben wohnen denn
gewöhnlich in elenden Hütten, meist bei ihren Pfarrkindern, theilen deren
Entbehrungen und Erbitterung und stacheln die allgemeine Unzufriedenheit.
Ihnen Wohnungen zu geben, wäre nicht einmal als eine Ausstattung der
katholischen Kirche anzusehen gewesen, wie Sir Robert Peel sie mit Gefahr
seiner Popularität und seines Amtes durchsetzte, als er eine dauernde Do¬
tation des Maynooth-College beantragte. Es wäre nur ein Act der Ge¬
rechtigkeit, die Abstellung eines schreienden Uebels gewesen, und Gladstone
konnte sich dem so wenig verschließen wie seine Collegen. Aber ein erheblicher
Theil der mächtigen Majorität, welche ihn zur Macht erhoben, besteht aus
dem Dissenter oder nonconformistischen Element in den Wahlflecken, das alle
Dotirungen und namentlich die des katholischen Klerus auss lebhafteste ver¬
abscheut. Trotzdem wäre es seiner Autorität leicht gewesen, die beiden
Amendements des Oberhauses bei den Gemeinen durchzusetzen, wenn er es
ernstlich gewollt hätte, aber es verletzte seinen Stolz zu stark, eine derartige tief¬
greifende Amendirung sich von den Lords für eine Maßregel dictiren zu lassen,
die er im besonderen Grade als seine eigenste betrachtete. Er nahm also
sofort eine außerparlamentarische Gelegenheit, um zu erklären, „daß die Re¬
gierung I. M., vor Allem darauf bedacht, den Erfolg der großen Maßregel
zu sichern, für welche sie die Verantwortlichkeit übernommen hat, sich nicht
einlassen wird auf irgend einen directen Vorschlag gleichzeitiger Ausstattung
aller Kirchen, ebenso wenig auf eine Aussetzung jener Bestimmungen der Bill,
welche sich auf die schließliche Verwendung des überschüssigen Vermögens der
irischen Staatskirche beziehen. Die Regierung betrachte eine solche Aus¬
setzung als fast gleichlautend mit künftiger gleichzeitiger Ausstattung (oon-
eurrsut euclowiliöllt) der Kirchen, abgesehen von dem Unheil, das es ver¬
ursachen müßte, die Controverse sich auf unbestimmte Zeit fortspinnen zu
lassen."
Demgemäß beantragte Gladstone im Unterhause die Verwerfung der
Amendements der Lords, die sich nicht auf fester Erde, sondern in einem Luft¬
ballon befänden. Bei dieser Gelegenheit erklärte Bright mit charakteristischer
Offenheit, die Macht des populärsten englischen Ministers, der wagte, eine
Ausstattung der katholischen Kirche zu beantragen, würde brechen und
Splittern wie Glas. Und in gleichem Sinne bemerkte Sir Ronndell Palmer,
die britische Nation sei zur gegenwärtigen Zeit noch nicht vorurtheils-
frei genug geworden, um den Katholiken irgend etwas zuzuwenden; das
Volk würde Mr. Gladstone einen Papisten nennen, wenn er es thäte; „die
Hefen der protestantischen Oberherrschaft (elle äregs o5?rotWwut aseendsve^)
sind noch im Grunde unseres Herzens."
Mit andern Worten gab also die ministerielle Partei zu, daß sie sich
nicht stark genug fühle, den an sich verständigen und billigen Vorschlag des
Oberhauses gegen die Bigotterie der Massen anzunehmen. Die ursprüngliche
Gestalt der Bill ward demgemäß mit großer Majorität hergestellt und in
dieser Fassung dem Oberhause zurückgesandt. Aber dasselbe war durch die
Art, wie seine Amendements im Unterhause behandelt wurden, nicht gestimmt,
ohne weiteres nachzugeben; auf die Beschuldigung Gladstone's, daß die Lords
sich in einem Ballon befänden, antwortete Lord Salisbury wohl etwas ad
irato, es sei des Hauses unwürdig, sich zu beugen nicht vor dem Urtheil der
Nation, sondern vor dem anmaßenden Willen eines Mannes. Nach langer,
heftiger Debatte wurde beschlossen, die Amendements aufrecht zu erhalten,
worauf der ministerielle Führer des Hauses, Lord Granville, erklärte, seine
Vollmachten seien zu Ende, und Vertagung beantragte. Die Lage war
höchst kritisch geworden, der Conflict zwischen den beiden Häusern schien
unvermeidlich. Da trat Disraeli als aeus ex maeluna. auf; sein Lieu¬
tenant Lord Cairns, der Führer der conservativen Majorität, verfügte
sich, von ihm bewogen, am andern Tage zum Grafen Granville
und bot einen Compromißvorschlag an, wonach die Amendements fallen
sollten, wenn die Regierung der bischöflichen Kirche nach Aufhebung
des staatlichen Charakters derselben noch eine runde Summe von circa
^2 Mill. L. geben wolle. Das Cabinet trat sofort zur Berathung zusam¬
men, alle seine Mitglieder außer Gladstone, Löwe und dem Herzog von Ar-
gyll waren für die Annahme. Der Herzog hegt gegen Irland und die iri¬
schen Katholiken alle Vorurtheile eines schottischen Presbyterianers, Löwe als
Utilitarier sieht jede Ausstattung einer Kirche als Uebel an, Gladstone konnte
die Demüthigung nicht verwinden, sich zu fügen und fürchtete das Mi߬
vergnügen der Dissenters. Aber diese kleine Minorität, ward überstimmt von
den Freunden der Mäßigung, unter denen die Lords Clarendon und Gran¬
ville besonders ihre Stimme geltend machten und zu denen sich diesmal auch
Bright offen gesellte. Nachdem so die Verständigung zwischen den Führern
hergestellt war, ratificirte das Haus den Compromiß in den nächsten Tagen
ohne weiteres und damit war der große Kampf beendet.
Man darf sich Glück wünschen, daß der Conflict zwischen beiden Häu¬
sern vermieden ist, aber dies kann nicht hindern, einzugestehen, daß die Ver¬
werfung der beiden sich compensirenden Amendements des Oberhauses be¬
dauerlich bleibt, namentlich die Verwerfung des zweiten, wodurch die Lage
des niedern katholischen Klerus erheblich verbessert worden wäre. Je mehr man
denselben materiell unabhängig stellt, desto mehr entzieht man ihn der Ultra-
mondänen Tyrannei der Bischöfe. Gladstone aber hat gezeigt, daß bei ihm
trotz seiner hohen Begabung das theologische Vorurtheil und die politische
Parteilichkeit stärker sind als der staatsmännische Sinn. Als Sir Röbel Peel
die Dotation des Maynooths-College trotz der Vorurtheile seiner Partei 1844
durchsetzte, äußerte er: „Die Zeit wird kommen, wo es Pflicht des Ministers der
Krone sein wird, dem Parlament die Dotirung der katholischen Kirche in Irland
vorzuschlagen. Aber es wird dem Minister, der diesen Vorschlag macht,
wahrscheinlich sein Amt und seinen Einfluß kosten." Gladstone war nicht ge¬
neigt, dies Opfer zu bringen, er ist Minister geblieben, aber er hat auch die
große Aufgabe wirklicher Ausgleichung der Confessionen in Irland ungelöst
gelassen.
Vor einiger Zeit enthielt die „Spenersche Zeitung" die Mittheilung,
daß die Bunde s-Civilproceß-Commission dermalen mit der Fest¬
stellung der Grundsätze der künftigen Gerichtsorganisation beschäftigt
sei. Die bekannten guten Verbindungen dieses Blattes gaben dieser Nach¬
richt zunächst den Anschein der Authenticität. Allein schon eine der nächsten
Nummern des „Staatsanzeigers" brachte eine Notiz, 'wonach dieselbe nicht
begründet sein dürfte, und scheint die Commission, welche ihre Berathungen
über das eigentliche Verfahren noch nicht beendigt hat, bis jetzt sich mit den
Organisationsfragen nach nicht beschäftigt zu haben. Aber wenn dies auch
bis jetzt noch nicht geschehen ist, so darf doch wohl nicht daran gezweifelt
werden, daß die Commission auch diesen Gegenstand als in das Gebiet ihres
Maubads gehörig ansehen und denselben zum Gegenstande ihrer Berathungen
nehmen wird. Denn das Proceßverfahren im engeren Sinne, die Normen für
die Procedur, und die Gerichtsorganisation sind zu eng mit einander ver¬
bunden, eines ist zu sehr durch das andere bedingt und dann auch wieder
für das andere maßgebend, als daß nicht die Aufgabe, ein einheitliches Civil¬
proceßverfahren herzustellen, unmittelbar und man darf sagen unabweisbar
auch zu der Aufgabe hindrängt, ja dieselbe in sich schließt, eine einheitliche,
wenigstens in ihren Grundlage einheitliche G erichtsv erfassu n g
herzustellen.
Ja noch mehr. Eine auf gleiche Principien gegründete Gerichtsorganisa¬
tion muß geradezu als das Fundament bezeichnet werden, auf welches nicht
bloß ein nach gleichartigen Gesetzesparagraphen sich normirendes, son¬
dern wirklich gleichartig sich gestaltendes, eine gleichartige Rechts¬
pflege sicherndes Proceßverfahren gegründet werden kann. Und gerade
dieses letztere, die Gleichartigkeit der Rechtspflege, wie sie sich
practisch gestaltet und von den Parteien innerhalb des gesamm-
ten Bundesgebiets als Bedürfniß empfunden wird, ist das Ziel,
welches der Bundesgesetzgebung gestellt ist. Sie würde sich dem wesentlichsten
Theil ihrer Aufgabe entziehen, wenn sie sich auf die Herstellung lediglich eines
einheitlichen Proceßcodex beschränken, im Uebrigen aber ruhig zusehen
wollte, wie je nach den verschiedenen in den einzelnen Territorien beliebten
Organisationen die practische Gestaltung der Rechtspflege in der verschieden¬
sten Weise sich entwickeln würde, in der verschiedensten Weise sich entwickeln
müßte, da ja für die practische Gestaltung der Rechtspflege die
Organisation und Competenz der Gerichte zum mindesten nicht
weniger entscheidend sind, als die für die Procedur maßgeben¬
den Normen.
Es mögen hier statt alles Weiteren nur zwei Punkte hervorgehoben
werden.
Das deutsche Handelsgesetzbuch setzt seiner ganzen Anlage nach besondere
zum Theil wenigstens aus kaufmännischen Beisitzern gebildete Handels¬
gerichte voraus. Schon Art. 1 verweist zur Ergänzung des Gesetzbuchs in
erster Linie auf die Handelsgebräuche, erst in zweiter auf das allge¬
meine bürgerliche Recht. Ebenso ist an zahlreichen Stellen und für practisch
sehr wichtige Fragen, für Fragen, von denen gewöhnlich der Ausgang des
ganzen Processes abhängt, Alles dem richterlichen Ermessen nach Maßgabe der
„im Verkehr geltenden Gewohnheiten und Gebräuche" (Art. 279), des „Ord¬
nungsmäßigen" und „Rechtzeitigen" (Art. 319), des „ordnungsmäßigen Ge¬
schäftsgangs" (Art. 347) und tgi. überlassen. Daß bei der concreten Beurthei¬
lung solcher Dinge kaufmännische Intelligenz und Erfahrung viel
schwerer wiegen, als eine specifisch technisch-juristische Bildung, ist
doch wohl klar, und ebenso daß hierbei nicht mit einer bloßen Zuziehung von
Sachverständigen für den einzelnen Fall auszukommen ist, daß vielmehr diese
kaufmännische Intelligenz und Erfahrung in dem Gericht selbst (wenigstens
in der ersten Instanz, in welcher beim mündlichen Verfahren der Schwer¬
punkt der Entscheidung aller mehr concreten Fragen ruht) vertreten sein
muß. In Wahrheit ist denn auch da, wo Handelsgerichte bestehen, die
Rechtspflege auf diesem Gebiete eine gesundere, dem wirklichen Leben viel
näher stehende, als da, wo nur technisch gebildete Juristen zur Entscheidung
berufen sind. Wenigstens ist dies das Urtheil des Handelsstandes, der darüber
doch eigentlich allein Erfahrungen hat, und es wird bestätigt durch die ein-
fache Erwägung, daß derjenige besser weiß, wie ein gesundes Rechts¬
verhältniß beschaffen sein muß, der ein solches tagtäglich sieht und erlebt, als
derjenige, der immer nur mit kranken Rechtsverhältnissen zu thun hat. Jeden¬
falls aber ist die Rechtspflege mit oder ohne kaufmännische Beisitzer eine
wesentlich verschiedene. Es hieße einfach auf eine einheitliche Rechts¬
pflege verzichten, wenn man die Einführung oder Nichtemführung der Han¬
delsgerichte dem Belieben der einzelnen Territorialgewalten überlassen wollte.
Man denke weiter an die Bedeutung einheitlicher Competenzbestimmungen,
für die Einheit und Gleichartigkeit der Rechtspflege. Oder sollte es z. B.
gestattet sein, das öffentliche und mündliche Verfahren vor einem collegialisch
besetzten Gerichte, wie es die neue Proceßordnung für die ordentlichen Gerichte
vorschreiben, jedenfalls voraussetzen wird, für die bei weitem größte Zahl der
Rechtssachen wieder einfach dadurch weg zu escamotiren, daß man die Com-
petenz der ordentlichen Gerichte erst mit einer unverhältnismäßig hohen
Proceßsumme beginnen läßt, alle geringeren Sachen aber den Bagatellrichtern
zuweist? In einer Proceßgesetzordriung, welche die hessische Regierung kurz
vor der Krisis des Jahres 1866 auf Grundlage des hannoverschen Entwurfs
hatte drucken lassen, war dies wirklich geschehen — wie Einzelne unterstellten,
nur deshalb, weil den meist oppositionell gesinnten und das stehende Cadre
aller politischen und kirchlichen Agitationen bildenden Advocaten ein großer
Theil alsdann ihrer Praxis entzogen und den sogenannten Proceßbevollmäch¬
tigten zugefallen wäre —, in Wahrheit wohl deshalb, weil der Justiz¬
minister sich nicht dazu entschließen konnte, mit der bestehenden Justiz¬
organisation, von der doch wahrlich nichts aufzuheben ist, entschieden zu
brechen. Aber wie dem auch sei, bei der Einführung der neuen Proceßord¬
nung müssen gegen solche Borkommnisse Garantien gegeben werden, ernst¬
liche Garantien, wie sie nur durch bestimmte, von Bundes¬
wegen festgestellte Grundzüge der Gerich es organisation und
durch eine ernstlicheControle ihrerDurchführung gegebenwer¬
den können.
Allerdings mag man sich über alles dies in manchen Kreisen nicht ganz
klar gewesen sein. Man mag sich vorgespiegelt haben, daß die Gerichtsverfassung
auch gegenüber der neuen Proceßordnung als ein lou ins ta-vgors für die
Bundesgesetzgebung, nach wie vor der ausschließlichen Verfügung der Parti-
culargesetzgebungen der einzelnen Bundesterritorien vorbehalten bleiben könne.
Allein eine solche rein doctrinäre Scheidung, welche lediglich für eine wissen¬
schaftliche Bearbeitung des Civilproceßrechts Bedeutung und Berechtigung
hat, kann doch da keinen Sinn haben, wo eine Nation nach einer einheit¬
lichen Gestaltung ihres Rechtslebens ringt. Sie wird nicht Stand halten
können gegenüber der Macht des practischen Bedürfnisses und die Logik der
Thatsachen wird gewiß auch hier sich stärker erweisen, als die Logik rein
theoretisch -dialectischer Entwickelung.
In der Gewerbeordnung liegt bereits ein Beispiel hierfür vor, wo sich
ein gleichartiger Vorgang und zwar ohne Sang und Klang, ohne daß die
leidige Competenzfrage auch nur von irgend einer Seite aufzuwerfen versucht
worden wäre, vollzogen hat. §. 21 derselben und die damit zusammenhängen¬
den Paragraphen regeln für die Concessionsertheilungen resp. Verweige¬
rungen u. s. w. nicht bloß das Verfahren, sie stellen auch Grundsätze darüber
auf, wie die zur Entscheidung berufenen Behörden organisirt sein müssen; in
einer oder der anderen Instanz wenigstens muß die Entscheidung durch eine
collegiale Behörde erfolgen. Damit ist unmittelbar auch die Organisation
der Verwaltungsbehörden wenigstens für diese Materie unter die Einwirkung
der Bundesgesetzgebung und die Controle der Bundesverwaltung gestellt wor¬
den. Ja es wäre dies ausweislich der Verhandlungen des Reichstages wohl
noch in viel eingreifenderer Weise geschehen, wenn man nicht hätte vermeiden
wollen, bei dieser vereinzelten Gelegenheit und für einen so speciellen Gegen¬
stand zu tief in die bestehenden Organisationen der einzelnen Bundesstaaten
einzugreifen. Aber die Competenz des Bundes zu einem solchen Eingriff zu
bestreiten, siel Niemandem ein — umgekehrt aus den Kreisen der conserva-
tiven Partei, welche doch sonst einer Ausdehnung der Bundcscompetenz das
Wort zu reden nicht gewohnt ist, war sogar der Antrag gestellt worden, die
Behörden für diesen Gegenstand im Sinne des seit Mvernemvnt zu organi-
siren, nämlich die betreffenden Collegien mindestens zum Theil aus Mitglie¬
dern der Communalverwaltungen resp, der Kreisstände bestehen zu lassen.
Was hier im Kleinen geschehen ist, wird sich beider Proceßgesetzgebung,
bei der die Organisationsfrage noch eine ganz andere Rolle spielt, gewiß auch
— im Großen — vollziehen. Man kann und wird nicht die bedeutungs¬
vollsten Fortschritte und Segnungen, welche das junge aufblühende Bundcs-
staatswesen der Nation zu bringen befähigt und berufen ist, an kleinlichen
formellen Bedenken wollen scheitern lassen. Hat doch Graf Bismarck selbst
bei der Berathung der, Bundesverfassung, wie wir uns erinnern speciell
gerade bei der Debatte über die Competenzfragen — daraufhingewiesen, daß
mit denselben die deutsche Geschichte nicht abgeschlossen sei. Und wie sehr
hat bereits die kurze Frist des Bestandes dieser Verfassung dieses Wort be¬
stätigt; wie rüstig hat die norddeutsche Bundesgesetzgebung an der einheit¬
lichen und» freiheitlichen Entwickelung unserer Nation gearbeitet! Nach wie
manchen Richtungen sind bereits Competenzbedenken, gegen welche vom
Standpunkte des formellen Rechts kaum clous vorzubringen war, über¬
wunden worden! Wir erinnern hier nur an die Errichtung eines obersten
Bundeshandelsgerichts. Nach wie manchen Richtungen lassen sich noch an-
dere Erweiterungen der Bundescompetenz als bereits halbreife Früchte er¬
kennen; als Fragen der Zeit, die zur befriedigenden Erledigung eigentlich
nur noch des Anstoßes eines unmittelbar practischen und dringenden Bedürf¬
nisses bedürfen, wie die Ausdehnung der Bundesgesetzgebung auf das ge-
sammte bürgerliche Recht, in das, nebenbei bemerkt, die Gewerbeordnung
auch -schon ganz gründlich eingeschnitten hat*).
Was speciell die Gerichtsorganisation anbetrifft, so wurde bereits
die Errichtung des obersten Bundeshandelsgerichts erwähnt, dessen mannich-
fache Mängel in der Organisation, der Competenz und dem Verfahren, welche
ja alle die Folge des Mangels einheitlichen Verfahrens, einheitlicher Gerichts¬
organisation und einheitlicher Competenzbestimmungen in den einzelnen Bun¬
desterritorien sind, von Niemand bestritten werden, das aber nichts desto-
weniger als ein bedeutender Fortschritt unserer nationalen Entwickelung wesent¬
lich um deswillen angesehen wird und angesehen werden darf, weil mit seiner
Errichtung eine ganz neue, sowohl um ihrer unmittelbarer Aufgaben als
um der Consequenzen willen sehr bedeutungsvolle Institution in unser
Bundesstaatswesen eingeführt wird. Es ist damit die Competenzfrage nicht
blos für die Errichtung dieses Gerichtshofs selbst, sondern indirect wohl
auch für die damit innig zusammenhängende Organisation der untern In¬
stanzen wenigstens bezüglich der Grundzüge in bejahendem Sinn entschieden
worden. Zugleich läßt sich aber auch daran die Erwartung knüpfen, daß
mit Einführung der neuen Proceßordnung dem Bundesgerichtshofe ganz all¬
gemein die Stellung einer Cassationsinstanz für alle Rechtssachen
werde eingeräumt werden, schon um deswillen, weil die Trennung der Han¬
delsrechtsfragen (über welche der Bundesgerichtshof zu entscheiden hat) von
den sonstigen Rechtsfragen mit so enormen praktischen Schwierigkeiten ver¬
bunden ist, und zu so bedenklichen Mißständen führen muß, daß eine Be¬
seitigung dieser Trennung schließlich allen Betheiligten willkommen fein muß.
Bereits ist von Hamburg aus ein Antrag auf eine solche Erweiterung
der Competenz dieses Gerichtshofs wenigstens für die Hansestädte, deren ge¬
meinschaftliches Oberappellationsgericht zu Lübeck dann ganz aufgehoben wer-
") Vgl. §. 11 der Gewerbeordnung über den Geschäftsbetrieb der Frauen, welche
durch denselben ohne Weiteres — ohne jede Rücksicht auf particularistische Institutionen z. B.
die Geschlechtsvormundschaft — für den ihnen völlig freigegebenen Gewerbebetrieb volle Rechts»
fähigkcit erlangt haben. Ferner die auf die Errichtung u. f. w. gefährlicher und belästigender
Gewerbsanlagen bezüglichen Bestimmungen, die tief in das Nachbarrecht einschneien und sich
kurzweg an die Stelle der betreffenden Privatrechtsnormen setzen, insbesondere auch an Stelle
des Rechts auf Beseitigung einer solchen Gewerbscinlage, sobald sie mit obrigkeitlicher Ge¬
nehmigung errichtet worden ist, nur noch einen Schadenersatzanspruch statuiren.
Vgl. ferner die großentheils rein privatrechtlichen Bestimmungen über die Rechtsver¬
hältnisse der Gesellen, Gehilfen und Lehrlinge zu ihren Arbeitsgebern, sowie
eine Reihe gleichartiger Bestimmungen in dem Abschnitt über die Fabrikarbeiter.
den soll, an den Bundesrath gerichtet worden. Und wenn dieser Antrag
auch im Bundesrath nicht angenommen wurde, so wurde dabei doch, soviel
wir wissen, ausdrücklich auf die bevorstehende Einführung eines gemeinschaft¬
lichen Proceßverfahrens hingewiesen und der Antrag als „bis dahin" oder
„zur Zeit" ungeeignet bezeichnet. Es darf dabei auch nicht übersehen werden,
daß mit der Einführung der neuen Proeeßordnung selbst, — wenn anders nicht
die neugewonnene Einheit des Proceßrechts alsbald wieder in Frage gestellt
werden soll— von Bundes wegen eine oberste Cassationsinstanz für alle Fragen
des Proceßrechts eingeführt werden muß. Gleiches muß dann mit der Ein¬
führung des Bundes-Strafgesetzbuchs und der Vunbes-Strafproceßordnung für
das Straf- und Strasproceßrecht geschehen. Mit der Einführung des in der
Bundesverfassung vorgesehenen allgemeinen Obligationenrechts, sowie des be¬
reits dem Bundesrath vorliegenden Gesetzes über das literarische und künstlerische
Urheberrecht, würde dann nothwendigerweise die Competenz des obersten
Bundesgerichts auch auf alle Fragen aus diesen Materien ausgedehnt werden
müssen und es würde schließlich mit der Vollendung der in Art. 4 der
Bundesverfassung vorgesehenen gemeinsamen Legislation für die obersten
Gerichtshöfe der einzelnen Bundesterritorien, falls man solche beibehalten
wollte, kaum noch etwas Anderes übrig bleiben, als die Entscheidung in den
verhältnismäßig vereinzelten Processen über Eigenthums-, Servitut- und Erb¬
recht — vielleicht nicht ein Zwanzigstel ihres gegenwärtigen Geschäfts¬
kreises!
Speciell bei dem oben erwähnten Hamburger Antrage trat bereits die
Wirksamkeit eines Gesichtspunktes sehr deutlich hervor, der für die Weiter¬
entwickelung des Bundes und der Bundeseomvetenz noch nach gar manchen
Richtungen hin sich wird geltend machen — des Finanzpunktes.
Bis zum Jahre 1866 waren die Mittel - und Kleinstaaten der ersten
Und wichtigsten Aufgabe des Staates, des Schutzes des Landes und seiner
Bewohner gegen äußere Angriffe, im Wesentlichen überhoben. Sie erfüllten
zwar, oft dürftig genug, ihre bundesmatrieularmäßigen Obliegenheiten, ver¬
wandten auch vielleicht zur Befriedigung besonderer militairischer Liebhabe¬
reien des Souverains in einzelnen Fällen ganz ansehnliche Summen. Allein
die colossalen Aufwendungen, welche nöthig sind, um bei dem gegenwärtigen
Stande der militairischen Technik und ihren ständigen Fortschritten eine wirk¬
lich leistungsfähige, gut ausgerüstete und gut eingeübte, jederzeit kriegs¬
bereite und schlagfertige Armee und Marine für den Fall der Noth bereit
zu halten, blieben ihnen fremd. Sie überließen es einfach Preußen, den
Schutz Deutschlands resp. Norddeutschlands gegen das Ausland herzustellen.
Diese eigenthümliche Situation der außerpreußischen Territorien, ihre
staatliche Existenz halbwegs auf fremde Kosten fristen zu können, mußte
natürlich, so wenig ehrenvoll sie war und so sehr sie geeignet war, an die
Stelle eines berechtigten und veredelnden Staatsbewußtseins den demorali-
sirenden Einfluß des rohesten und engherzigsten Egoismus treten zu lassen, —
auf die Finanzen dieser Staaten die günstigsten Rückwirkungen äußern. Man
war in der Lage, sich bei verhältnißmäßig mäßigen Steuern, bei der Befriedi¬
gung der Bedürfnisse des Staatslebens nach dem mannichfachsten Richtungen
hin den zwar unproductiven und wirthschaftlich schädlichen aber recht bequemen
Luxus eines politischen Kleinbetriebs zu gestatten, der bei den ge¬
steigerten Anforderungen an die Finanzen auch der Mittel- und Klein¬
staaten sich aus die Dauer gar nicht durchführen läßt. Die nach der
militärischen Seite gering in Anspruch genommenen Finanzen machten es eben
möglich, auch sür kleinere Territorien den ganzen Apparat eines in sich abge¬
schlossenen und abgerundeten Staatswesens herzustellen und mit den erforder¬
lichen persönlichen und sachlichen Mitteln auszustatten, ohne Rücksicht aus
das offen zu Tag getretene, jedenfalls jetzt offen zu Tag tretende Mißver¬
hältniß der aufgewandten Mittel zu den erzielten Leistungen. So besaß zum
Beispiel das kleine Nassau zwei Hofgerichte als zweite Instanzen und ein
Oberappellationsgericht. So hat das Großherzogthum Hessen bei einer Be¬
völkerung wie etwa die der Stadt Berlin ist, nicht weniger als vier Jnstanz-
gerichte, für jede der beiden diesseitigen Provinzen ein Hofgericht und für
Rheinhessen ein sogen. Obergericht als zweite Instanzen, wozu dann als dritte
resp, als Cassationsinstanz noch das Oberappellations- und Cassationsgericht
kommt. Bedenkt man, daß all' diese Gerichte so stark besetzt sein müssen
wie es eine gesicherte Justizpflege und das gegenseitige Verhältniß der ver¬
schiedenen Instanzen erfordern, daß zugleich die Rücksicht auf Verhinderungs¬
fälle und dergl. eine noch weitere Vermehrung der Stellen nöthig macht, so
gelangt man zu einem Personal, welches zu dem Umfang der Geschäfte wirk¬
lich außer allem Verhältniß steht — und tüchtige Arbeitskräfte und eine ra¬
tionellere und energischere Arbeitsmethode vorausgesetzt — gut und gern die
drei- und vierfache Arbeitslast würde bewältigen können. Aehnliches gilt dann
auch sür die Organisation der ersten Instanz. Schon der geringe Umfang
eines solchen Staates, die räumliche Beschränkung erschwert eine zweckmäßige
Organisation, eine Abtheilung in größere Sprengel; nach allen Seiten stößt
man gar zu bald an die Grenzen des Staatsgebiets. Auch fallen, von son¬
stigen Nebenrücksichten ganz abgesehen, in einem derartigen kleinen Staats¬
wesen ganz specielle Localinteressen dieses oder jenes Landstädtchens, welches
zur Vermehrung seiner Nahrungsquellen mit einer Gerichts- oder Verwal¬
tungsstelle bedacht sein will, naturgemäß viel schwerer in's Gewicht, als in
einem großen Staate, der sich nach großen Interessen bewegt. Noch weit
mehr tritt aber das Mißverhältniß zwischen aufgewandten Mitteln und er-
zielten Leistungen in der Verwaltungsorganisation hervor, wo die Noth¬
wendigkeit zwischen die unteren Instanzen und die wenige Meilen davon resi-
direnden obersten (Zentralstellen (die Ministerien oder wie sie sonst heißen)
eine weitere Instanz einzuschieben, und mit den für die verschiedenen Ge¬
schäftsbranchen erforderlichen speciellen Arbeitskräften auszustatten, in Hessen-
Darmstadt z. B. zur Errichtung einer ganzen Anzahl von Landeskollegien für
die einzelnen Dienstzweige, und damit zu einem Aufwand? an wissenschaftlich
gebildetem Beamtenpersonal geführt hat, wie es zur Besetzung der verschie¬
denen Regierungen einer großen preußischen Provinz mit so und soviel
Millionen Einwohnern vollkommen ausreichen würde.
Man sieht also, nach allen Richtungen hin tritt in den kleineren Staaten
in der Organisation der Gerichts- und Verwaltungsbehörden dieses Mißver¬
hältniß zwischen Aufwand und erzielten Leistungen hervor, welches wir oben
als politischen Kleinbetrieb bezeichnet haben, und welches bisher nur
aufrecht erhalten werden konnte, weil der Staat seiner kostspieligsten Aufgabe
mehr oder weniger enthoben war, dieser Zustand kann aber jetzt gegenüber
der Theilnahme auch dieser Staaten an den militärischen und maritimen
Aufgaben des Bundes auf die Dauer nicht mehr aufrecht erhalten werden,
um so weniger, als gegenüber den veränderten Verhältnissen und gegenüber
der Thatsache, daß immer mehr gerade die tüchtigsten Kräfte in denjenigen
Kreisen, aus welchen sich der Beamtenstand zu orientiren pflegte, anderen
Berufen sich zuwenden, eine ganz erhebliche Aufbesserung der Beamtenge-
halte nicht lange mehr vermieden werden kann/)
Eine Beseitigung dieses durchaus unwirtschaftlichen Zustandes — ebenso
unwirtschaftlich, wie wenn man eine Nähmaschine mit einer starken Dampf¬
kraft treiben wollte— ist nur dadurch möglich, daß die kleineren Staaten end¬
gültig und im Princip darauf verzichten, als in sich abgeschlossene, die ganze
Fülle der Staatsausgaben und die ganze Fülle der staatlichen Machtmittel
in sich allein tragende Staatswesen fortexistiren zu wollen. Sie müssen sich
daran gewöhnen, auch solche staatliche Aufgaben, welche sie nicht bereits ver¬
fassungsmäßig an das größere Ganze abgegeben haben und welche also Bundes¬
sache geworden sind, geeigneten Falls auf dem Wege der Association zu
lösen. Sie müssen sich daran gewöhnen, da, wo der einzelne Staat zu klein
an Aufgaben und an Mitteln sie zu lösen ist, sich unter einander, und zwar
für die einzelnen concreten Aufgaben und Einrichtungen auf dem Wege frei¬
williger Verständigung zu verbinden, um durch eine solche Association, also
entweder durch den Anschluß an einen größeren Staat oder durch eine
Vereinigung jenachdem zu zweien, dreien u> s. w. ein richtiges
Maß der Aufgaben, der für dieselbe zu schaffenden Einrichtungen
und der für den concreten Zweck verfügbaren Mittel herzu¬
stellen. Auch auf dem Gebiete des Staatslebens, ebenso wie in Industrie
und Handel, drängen alle Verhältnisse zum Großbetrieb; nur in ihm können
die staatlichen Aufgaben sachgemäß gestellt und angemessen begränzt, nur in
ihm können sie richtig und mit einem möglichst geringen Aufwands an Mitteln
und Kräften gelöst, nur in ihm kann — von allen Andern ganz abgesehen —
mit den Staatsfinanzen so gewirchschaftet werden, wie es das steuerzahlende
Volk zu verlangen berechtigt ist. Diesen Thatsachen Rechnung tragen, an
der Herstellung eines solchen staatlichen Großbetriebs auch für die kleineren
Staaten mittels der Association, der Vereinigung zur Lösung concreter, poli¬
tischer und administrativer Aufgaben mit gemeinschaftlichen Mitteln an seinem
Theil mitzuwirken, ist eben deßhalb auch allein wahrhaft conservativ.
Denn nur so wird die Fortdauer der kleineren Staaten überhaupt auf die
Dauer noch zu ertragen sein.
Zwei Beispiele solcher Associationen mehrerer Staaten zu concreten
Zwecken noch aus der Zeit des Bundestags und zwar gerade auf dem Ge¬
biete der Gerichtsorganisation sind die Vereinigung der Hansestädte, resp,
der damaligen vier freien Städte bezüglich ihres gemeinschaftlichen
Oberappellationsgerichtes zu Lübeck und die gleichartige Verbin¬
dung der thüringischen Staaten bezüglich ihres gemeinschaftlichen
Oberappellationsgerichts zu Jena.*) Hoffentlich werden beide dem¬
nächst in Folge der Errichtung eines allgemeinen nicht blos auf Handels¬
und Wechselsachen beschränkten obersten Bundesgerichtshofs als gemeinschaft¬
liche und alleinige oberste (Cassations-) Instanz für das ganze Bundesgebiet
— beseitigt werden- Aber nicht weniger wünschen wir, daß die neue Organi¬
sation des Gerichtswesens innerhalb des norddeutschen Bundes zu einer ganzen
Reihe analoger Vereinbarungen über von verschiedenen Staaten gemeinschaft¬
lich errichtete und gemeinschaftlich dotirte Gerichte erster und zweiter Instanz
führen möge, zu welchen die Kleinheit und territoriale Zersplitterung ein¬
zelner Bundesstaaten, manchmal wohl auch, wie im Oberharz, die ungünstige
Gestalt der Grenzen gewiß in Hülle und Fülle Anlaß gibt.
Dabei möge man aber nicht übersehen, daß diese Frage zugleich noch
andere Seiten hat, als die hier zunächst besprochene und am unmittelbarsten
sich der Betrachtung aufdrängende finanzielle Seite. Mit einer rationellen
Organisation, und hierunter verstehen wir größere Sprengel auch für
die ordentlichen Gerichte erster Instanz (also abgesehen von denSpe-
cialgerichten oder Deputationen sür Bagatellsachen, sür das Vormundschafts¬
oder Hypothekenwesen und dergleichen mehr), welche eine wirkliche Colle-
gial verfassung auch dieser Instanz gestatten und, soweit irgend
möglich — Verlegung der Gerichtssitze in Städte von wenigstens
einiger Bedeutung — mit einer solchen rationellen Organisation also
hängt, um nur Eines hier anzuführen, auch der innere Werth der Ju¬
stizpflege gar eng zusammen, viel enger als man Wohl gemeiniglich anzu¬
nehmen geneigt ist; einfach aus Gründen, die tief in der menschlichen Natur
liegen. Die beschränkte Zahl und — in Folge der gleichartigen wirthschaft¬
lichen Verhältnisse — Gleichartigkeit der Fälle, welche in einem kleinen Sprengel
zur Cognition kommen, wirken an und für sich schon leicht ermüdend und
abstumpfend auf das Richterpersonal ein. Aber auch hiervon ganz abgesehen,
so sind kleine schwachbesetzte Gerichte, zumal in kleinen auch sonst wenig An¬
regung und Hilfsmittel darbietenden Landstädtchen, gewiß nicht geeignet, den
Geist wissenschaftlichen Strebens und Wetteifers anzufachen oder auch nur
zu erhalten — gewiß eine Betrachtung wichtig genug, um das Gewicht jener
früher besprochenen Gründe für eine Organisation der Gerichte im Sinne des
staatlichen Großbetriebs, falls es dessen noch bedürfte, noch erheblich zu ver¬
stärken.
In gar mannigfacher Weise, aber allerdings in den durch seine Natur
gegebenen Grenzen wird der Bund auf die Herstellung einer solchen Gerichts¬
organisation im Stil des staatlichen Großbetriebs durch das ganze Bun¬
desgebiet hinwirken können. Er wird allerdings eine solche nicht un¬
mittelbar selbst einrichten, nicht selbst direct und aus eigener Machtvollkom¬
menheit organisatorisch eingreifen können. Er wird vielmehr wie seine ver¬
fassungsmäßig begründete Aufgabe, die Herstellung eines einheitlichen
Civil- und Strasproceßverfahrens auf der einen Seite feine Thätigkeit für
die Feststellung der Principien der Organisation, oder sür dieselbe ma߬
gebenden allgemeinen Grundsätze, sowie für eine Controle der in den
einzelnen Staaten zu treffenden Einrichtungen in Betreff der practischen
Durchführung dieser Grundsätze in Anspruch nimmt, auf der anderen Seite
(abgesehen von der Errichtung eines allgemeinen obersten Bundesgerichts-
Hoff, welchen ja nur der Bund selbst herstellen kann) seine Thätigkeit, oder
präciser ausgedrückt seine unmittelbare Wirksamkeit auf diese Fest¬
stellung der leitenden Grundsähe und die Controle ihrer Durchführung be¬
schränken müssen. Aber der Bund resp, sein Ausschuß für Justizwesen wird
gewiß in der Lage sein, bei den verschiedensten Gelegenheiten und auch ohne
solche direct aus seiner eigenen Initiative im Schooße des Bundesraths selbst
(welcher ja größtentheils aus den leitenden Staatsmännern der betreffenden
Staaten besteht) die Zweckmäßigkeit von Associationen der oben dargelegten
Art, von Anschlüssen und Verbindungen einzelner Bundesstaaten unter ein¬
ander zur Herstellung einer zweckmäßigeren Gerichtsorganisation als inner¬
halb der eigenen Landesgrenzen derselben möglich ist, zur Sprache zu bringen,
nach dieser Richtung hin theils allgemeinere, theils ganz concrete Anregungen
zu geben einen Gedankenaustausch der betheiligten Regierungen zu ver¬
anlassen, geeigneten Falls auch zu vermitteln.
Ja es würde bei einigem guten Willen und bei einer entgegenkommen¬
den Haltung der preußischen Regierung wohl auch gelingen können, auf dem
Wege eines allseitigen Einverständnisses der sämmtlichen Bundesregierungen,
also auf dem Coneordatsweg einen etwa von einer zu diesem Zweck be¬
stellten besonderen Commission vorbereiteten einheitlichen Organisations¬
plan für das ganze Bundesgebiet zu Stande zu bringen, durch wel¬
chen die einzelnen Gerichtssprengel erster und zweiter Instanz festgestellt, die
Sitze der Gerichte bezeichnet, der Besetzungsmodus geregelt und einerseits die
Beitragspflicht der einzelnen Bundesstaaten zu den Kosten der ihnen mit an¬
deren gemeinschaftlichen Einrichtungen dieser Art, andererseits die Betheili¬
gung derselben an den bei dieser Gerichtsstelle erzielten Einnahmen nach
gleichartigen Grundsätzen normirt, also mit einem Male und nach einem
einheitlichen Plan diejenigen Einrichtungen getroffen würden, welche
nothwendig sind, um im Sinne unserer obigen Erörterungen für die Gerichts¬
organisation durch das ganze Bundesgebiet das System des staatlichen Gro߬
betriebs, soweit die Verhältnisse es irgend gestatten, durchzuführen.
Eine solche auf dem Wege des Concordats nach einem einheitlichen Plane
durchgeführte Gerichtsorganisation würde, ohne die verfassungsmäßige Selb¬
ständigkeit der einzelnen Bundesstaaten irgend zu alteriren, gewiß wesentlich
dazu beitragen, die mit der territorialen Zersplitterung und einer ungünstigen
Grenzgestaltung einzelner Bundesstaaten unvermeidlich verbundenen Nach¬
theile wesentlich zu vermindern.
Bor einigen Jahren — es war gerade vor dem Fenierschrecken und der
letzten Agitation gegen die irische Staatskirche — betrat ich mit meinem.
Freunde Mink den Saal des grauen Hofes zum Löwen und Einhorn, in wel¬
chem die Sitzung eines Londoner Bierparlaments abgehalten werden sollte.
Der Raum war bereits eine Stunde vor Beginn der Verhandlungen voll und
das Geplauder bis auf die Straße zu hören. An einem großen Tisch, der
fast durch die ganze Länge des Raumes ging, saßen die ältesten Stammgäste
des Debattirclubs. Im Getäfel über dem Kamin , war wieder der von Rauch
und Zeit arg mitgenommene Wappenschild mit seinen Thieren: Löwe und
Einhorn. In der Devise hatte Jemand das erste Wort durch einen Namen
ersetzt, so daß es hieß: Nola^ soit <mi mu,! pguss, als Zeichen der Stim¬
mung, welche vor Jahren hier gegen Frankreich geherrscht hatte. Darunter
stand eine Inschrift:
„So in den Himmel du kommen Willi,
In Ehrfurcht blick auf diesen Schild.
Treu stellt er dar, sinnreich und klar,
Ganz Englands Pracht und große Macht,
Darüber oben der HERNGOTT wacht.
Kein schwacher Christ der Leu hier ist,
Das Roß hat vorn ein spitzes Horn,
Hüt' Euch der HERR vor Britenzorn. ,
An den Wänden hingen Portraits. Mein Führer Mink wurde als alter
Bekannter ehrenvoll von den Parlamentsgenvssen aufgenommen, er ver¬
mittelte uns einen Sitz und stellte mich den Nachbarn vor. Horner, der,
fromme Schullehrer, winkte ihm freundlich zu, mit einer Handschwenkung
grüßte Buckville, der Tapetenhändler, ein stämmiger, grogtrinkender Jung¬
geselle von einigen vierzig Jahren, der den Jüngling und Sportsmann
spielte. Ebenso Salomons, der „Juwelier", d. h. Pfandleiher aus Fore-street.
Der wohlhabende Johnson war da, lächelnd im Bewußtsein, Glanz und Ge¬
wicht in die Gesellschaft zu bringen, denn er hatte einst am Banket in der
Guildhall den 9. November theilgenommen und keine 50 Schritt vom Lord
Mayor und den Sheriffs gesessen. Dann der „Künstler", d. h. Kalligraph
Pecquerd, mit großen hungrigen Augen eine Seele suchend, die ihn frei halte.
Auch der „kleine Unbekannte", ein sanft aussehender Sechsziger. Man traf
ihn manchmal auf der Straße, in einem fadenscheinigen, geflickten Anzug,
einen schweren Sack auf der Schulter, und er wandte dann immer den Kopf
weg. Hier erschien er stets in schwarzem Frack und weißer Halsbinde und
hörte so andächtig zu wie in der Kirche. Aber nicht alle waren so gleich-
müthig. Der Thunder O'Brien zum Beispiel, der, dem Publikum halb den
Rücken kehrend, am Kaminfeuer saß, dampfte mit Leidenschaft aus einer
kurzen Thonpfeife und hüllte sich in dichtes Gewölk. An der Südwand hin-
ter'in Tisch thronte, den Hut im Nacken, den hölzernen Hammer in der Faust,
Grumley, der Präsident, die Stirn in Falten. — „Sehen Sie hier unsere
Aeltesten", sagte Freund Mink leise. „Jeder von ihnen hat sein Leben einer
einzigen, aber großen Idee geweiht. Mr. Bumping dort, der Greis, der den
Finger an die hohe Beule auf seinem Scheitel hält, erklärt die Phrenologie
für identisch mit dem Christenthum und will sie zur Staatsreligion erheben.
Mr. Toperton — Sie erkennen ihn am Weinglase in der Hand — schreibt
allen Jammer des Menschengeschlechts der Verfälschung von Gin und Brandy
zu. So oft im Bierparlament die Abschaffung der Todesstrafe beantragt
wird, stellt er das Amendement, daß eine Ausnahme gemacht und jeder
Gin- oder Brandy-Verfälscher („nach wie vor" sagte er einmal) gehenkt
werde. Sein Nachbar, Mr. Tweedle, arbeitet seit 30 Jahren an einer Uni¬
versalmelodie, d. h. einer musikalischen Composition, nach der jedes Gedicht,
Psalm, Liebeslied oder Operntext gesungen werden kann. Jene Beiden, welche
einander gegenübersitzen, haben zusammen Eine Idee! die Vernichtung aller
unenglischem Engländer. Unter diesen Feinden der Nation versteht der Eine
die Friedensfreunde und was ihnen ähnelt; der Andere die Papisten. Um
für ihre Sache zu wirken, führen sie im Bierparlament abwechselnd den Vorsitz.
M'Murrough wüthet gegen die Friedensfreunde, zu denen er auch Trato-
tallers, Papisten, Radikale u. s. w. rechnet; und Mr. Grumley gegen die
Papisten, zu denen er die Friedensfreunde :c. zählt. Jener spricht stets, die
geballte Faust vorstreckend, und mit hundert Pferdekraft zitternd, dieser bohrt
mit dem Daumen der rechten Hand in die Luft empor, um die Art anzudeu¬
ten, wie ein Papist die Bollwerke Englands unterwühlt. Sie gebrauchen
nie eine andere Gesticulation, und kein Redner in Se. Stephen's-in-the-East
darf sie sich aneignen. Endlich dort bemerken Sie zwischen dem dunkeln
Fenstervorhang und dem braunen Wanduhrkasten noch eine Säule des Par¬
laments, den langen Wood, gewöhnlich Menschenfeind genannt, weil er in
steter Opposition gegen die Majorität wie die Minorität des Hauses ist und
seit Jahr und Tag sich der Abstimmung enthält. — „Und wie kommen Sie
hierher?" fragte ich. „Sind Sie bei den Herren als Jrrenarzt angestellt?"
„Ich bitte um Vergebung, Sie verkennen diese Classe. Mr. Grumley zum
Beispiel, der ein „retirirter" Lederhändler ist, hat seiner Zeit das Geschäft
mit Geschick und Erfolg geleitet. Ueberhaupt find die Einhörner, von ihrem
Auswuchs abgesehen, grade so dumm oder gescheidt wie andere Menschen¬
kinder. Und so lange sie ihr festes Princip haben, bleiben sie in anderen
Dingen unbefangen und ungebunden, können über Alles jeden Augenblick die
Meinung ändern und behalten das Bewußtsein ihrer Consequenz. Insofern
ist das Horn eine schöne Gabe. M'Murrough's Haß gegen die Einseitigkeit
der Friedensfreunde ist im Grunde nicht so einfältig, wenigstens ist er nicht
so verrückt, seine Religion den Heiden zu predigen. Nur den Franzosen,
Amerikanern, Russen und Anderen möchte er verbieten, einen Säbel im Hause
zu haben. — Halt, nicht ungeduldig! Wir müssen noch eine kleine Feierlich¬
keit durchmachen. Ich stelle Sie dem Chairmann (Präsidenten) vor. Er
führte mich in die Nähe des Präsidentenstuhls. „Mein Freund, Mr. Gilden,
ein Deutscher, ein weitgereister Gentleman, der einer Sitzung beizuwohnen
wünscht, er will für die deutschen Professoren einige Notizen über den Löwen
und das Einhorn sammeln. Denn die Deutschen sind, wie ich höre, grade
jetzt in eifriger Untersuchung, welches unserer Wappenthiere den Wigh und
welches den Tory vorstelle."
Ungefragt warf der Jrländer, welcher bei einem Glase Whisky am
Kamin saß und heftig aus seiner kleinen Thonpfeife rauchte, dazwischen:
„Man kann nicht gerade behaupten, daß der Wigh und der Tory Zwillinge
sind, aber ich sage von ihnen, wie der Neger vom Cäsar und vom Pompey,
der Wigh und der Tory sind einander sehr ähnlich, besonders der Tory. Der
Unterschied ist aber gering." — „Mr. Thunder O'Brien", stellte mein Freund
vor „Die Professoren drüben haben schlaflose Nächte," antwortete Grumley
der Chairmann, „sie wären brave Leutchen, wenn sie nur ihre sogenannte
Philosophie über Bord werfen wollten." Ich versetzte: „Die deutschen Pro¬
fessoren hatten stets die größte Achtung vor dem britischen Löwen, sie stellen
hin sogar über die Wappenthiere ihres eigenen Landes." — „Ja," sagte
Grumley, „die Fremden glauben uns besser zu kennen, als der liebe Gott,
der uns geschaffen hat. Vielleicht erzählt uns Mr. Gilden, wie man sich
drüben den stolzen Brüten ausmalt." — „Ja, ja. thun Sie das," drängten
die Nachbarn.
Mein Freund Mink sah meinen hilfefleheuden Blick und begann: „Gent-
lemen, gestatten Sie mir, der ich den Continent auch ein wenig kenne, an¬
statt meines deutschen Freundes, Ihnen zu antworten. Die ungeschminkte
Meinung der Deutschen ist etwa folgende: „Der britische Löwe ist der größte
in Europa (hört! hört!), der belgische ist ein Hund gegen ihn; den bairischen
und böhmischen nebst einem Dutzend anderer Wappenlöwlein hält der Schatten
seines Schmeifes in Respect. (Beifall) Ein recht braves Thier, ein gemüth¬
licher Kerl für einen Löwen. Aber Löwe bleibt Löwe, wissen Sie. Man
macht in seinem Leben kein Lamm aus ihm, so wenig wie einen Kanarien-
Vogel oder eine Nachtigall. Brüllen kann er, daß man ihm eine Quadrat¬
meile aus dem Wege geht. Leider brüllt er oft zur Unzeit, nur um zu
brüllen, und seine mitbrüllenden Freunde machen den Lärm noch größer.
(O! — Ach!) Ja, er predigt gern über die Schlechtigkeiten der Thierwelt,
über seine eigene Großmuth und sein übertriebenes Zartgefühl. Wenn man
ihn hört, ist er nur dazu da, die Schwachen zu beschützen, und könnte keine
Fliege beleidigen. Und doch kann er nicht von Buttermilch und' Erdbeeren
leben. Er ist großmüthig gegen Mäuse und Mücken, weniger gegen Kühe
und Kälber. (Zur Sache!) Ich bin bei der Sache. Daher trifft man den
Philanthropen oft am hellen, lichten Tage mit einem großen Kalbsknochen
im Maule." — „Nun, nun," unterbrach M'Murrough, „wir haben Alle
unsere kleinen Unvollkommenheiten." — „Gewiß. Dann geräth er in eine
schiefe Stellung und brüllt ein Weilchen Adagio. Aber wahr ist, daß er den
Pfad der Tugend nur verläßt, wenn ihn hungert, und daß er noblere Ma¬
nieren hat als mancher Andere, der nicht genannt zu werden braucht. Da
er überdies ein trefflicher Alliirter gegen die gemeinen Bestien ist, so werden
die Deutschen klug sein und seine kleinen UnVollkommenheiten nicht zu streng
den> theilen. Sie selber find ja auch nicht makellos. (Ach!) Gedenken wir
lieber seiner wundersamen Stärke. Diese beruht großenteils auf feiner engen
Verbindung mit dem Einhorn. Der Schädel dieses fabelhaften Wappen¬
thiers zeigt, wie mein werther Freund Bumping bestätigen wird, un-
widerleglich an, daß es nur für eine einzige Idee lebt. Während die Deut¬
schen darin Professoren sind, daß sie einen Ueberfluß von Ideen in ihrem
Kopf beherbergen und selten wissen, mit welcher sie gerade stoßen sollen, sitzt
dem Einhorn seine einzige Idee um so fester und ragt aus seiner Stirne
großartig in die Welt. Diese britische Tugend nennen unsere teutonischen
Vettern die Monocerie. Sie sind der Meinung, daß jeder Brite in seinem
Kopf nur Raum für eine Idee habe und daß darin das Geheimniß unserer
Kraft liege."
„Die armen unwissenden Gelehrten," sagte Mr. Bumping, „sie sollen
sich erst den Kopf des britischen Löwen ansehen. Alle echt englischen Organe,
den Common Sense, die Anhänglichkeit an Thron und Kirche, die Borer¬
beule, die Großmuth, die Liebe zum Soliden."
Die laute Stimme des Thunder O'Brien unterbrach diese Unterhaltung:
„Will Jemand so gut sein und nachsehn, ob unser Vorsitzer noch am Leben
ist. Ich fürchte, Mr. Grumley ist versteinert, und wir sind verdammt hier
stumm zu sitzen, bis der Neuseeländer auf der Brücke steht und von einer
Deputation wohlgekleideter Gentlemen aus Tipperary begrüßt wird". Dabei
stürzte O'Vrien seinen Whisky auf einen Zug hinunter.
Geräuschvoll rücken jetzt die Mitglieder ihre Stühle zurecht. Grumley
klopft mit dem Hammer auf den Tisch, und mit den üblichen Förmlichkeiten
eröffnet er die Discussion über die Frage: „War Mr. Macaulay berechtigt,
von einer grauen Zukunft zu träumen, in der das Papstthum noch in dem
alten Glänze strahlen soll, und von einem Neuseeländers der angeblich in der¬
selben Zukunft auf einem abgebrochenen Bogen der Londoner Brücke stehen
wird, um die Ruinen der Se. Paulskirche zu skizziren?" Die ersten Reden
sind unbedeutend; wären sie im Parlament zu Westminster gehalten, würde
selbst der Telegraph sie nur im Auszuge berichten. Hincks versichert auf
Ehrenwort, „diese Geschichte von den Prophezeiungen des Macaulay und den
Absichten des Neuseeländers" niemals früher gehört zu haben, und dringt auf
schleunige Verstärkung der Armee und Flotte. Poots empfiehlt eine Allianz
mit den Magyaren und Tscherkessen. Jennissen,hat eine erschreckende Ueber¬
einstimmung zwischen Macaulay und dem hochwürdigen Cumming ent¬
deckt. Die Greuel der Sabbathschändung nähmen furchtbar überHand; die
immer wieder projectirte Sonntagsmusik in Regents Park, bei der ihm die
Haare zu Berge stünden, sei allein genug, den Jähzorn des Himmels zu
wecken. Anders argumentire der welterfahrene Mr. Johnson. England habe
eigentlich Grund, sich Glück zu wünschen zu der Veranlassung dieser Debatte.
(Sensation.) Wenn man bedenke, wie ein Bücherschreiber, der so zu sagen
den Teufel an die Wand malt, anderswo behandelt würde, wie er in Amerika
getheert und gefedert werden könnte, wie er auf dem Continent als ein
athemlos keuchender Flüchtling umherlaufen wüßte — von Sibirien, China
und Japan gar nicht zu reden — wie er dagegen hier trotzdem und
alledem zu seiner Zeit ein Lord geworden, dann fühle man mit
Stolz, daß England das einzige Land der Freiheit auf Erden sei.
Nun, Lord Macaulay (er bitte ihm den richtigen Titel zu geben) sei juristisch
vollkommen berechtigt gewesen zu thun, was er gethan, wenn man auch
sagen könne, daß er von seinem Recht einen schändlichen und sogar takt¬
losen Gebrauch gemacht habe. (Beifall.) — Der dicke Hodges. dessen dumpfes
Organ zu seiner abgebrochenen Redeweise paßt, sagt darauf: Weiß nicht Mr.
Vorsitzer, aber am Ende, viel Lärm um nichts. Was sagt er, der Lord
Dingsda? Denke, ganz einfach, ein Gentleman kommt von Neuseeland, oder
Singapore. gleichviel. Londoner Brücke gerade in Reparatur begriffen
(Grumley schüttelt verneinend den Kopf). Se. Paul's eingestürzt — immer
gesagt, diese verwünschten unterirdischen Eisenbahnen — Alles untergraben.
„Der gute Mann." sagt Johnson, „hat die Frage nicht verstanden." —
Der Vorsitzer verliest von Neuem den Gegenstand der Debatte. — „Ah so!"
brummt Hodges. „Vergebung, Gentleman! Will Sie nicht länger auf¬
halten."
Sind dies Eure „großen Kanonen?", wollte ich eben Mink fragen, als
er halblaut „Mr. Thunder" rief. „Mr. Thunder! Mr. Thunder!" scholl es
gleich aus einem Haufen Kehlen. Ein anderer Haufe rief „Mr. Grumley!
Mr. Grumley!" und es entstand ein Streit darüber, wem von den beiden
das Wort gebühre. Grumley trat den Vorsitz an MMurrough ab und
stieg in die Arena nieder. Er sah würdig aus, wie er unweit vom westlichen
Ende des Tisches Posten faßte, die linke Hand auf den Rücken legte und
die rechte entschlossen zwischen Herz und Weste steckte. Und also hub er an:
„Mr. Vorsitzer und Gentlemen! Ich habe eine Mittheilung zu machen.
Drei unserer ältesten Collegen sind — (Ein Mitglied: „todt?") — todt,
fürchte ich, für Se. Stephen's-in-the-East. Mr. Weebody, Mr. Littletoe
und Mr. Piper sind entschlossen, sich vom öffentlichen Leben zurückzuziehen
und den Grauen Hof an Samstagabenden zu meiden. Jüngere Genies
werden Ihnen ohne Zweifel Ersatz bieten (Nein! Nein). Hoffentlich wird
die Entmuthigung unter unsern erprobten Mitgliedern nicht um sich grei¬
fen. Während der letzten Sitzungen ging in diesem Hause ein Geist
um, der uns altmodische Patnoten wohl verscheuchen kann. Der leb¬
hafte Redner, der eine sehr theatralische Stellung am Kamin einnimmt, —
(O'Brien ist einen Augenblick ausgestanden und lehnt mit dem Arm nach¬
lässig auf dem Einhorn) ist römisch-katholisch;*) er hat sich bei uns als einen
liberalen und aufgeklärten Katholiken eingeführt. Sir, gegen einen Papisten,
wie er im Buche steht, kann ich mich wehren; ein liberaler und aufgeklärter
Katholik ist mir ein Unding oder ein Fallstrick. (Hört!) Mr. Thunder zählt
sich natürlich zu den besten Freunden Englands. Aber wie äußert sich diese
Freundschaft? Lord Macaulay ist ein Engländer, bei all seinen Fehlern.
Wenn also Lord Macaulay in einer seiner schwachen Stunden, die nur zu
zahlreich waren, von der ewigen Herrschaft Roms und dem dereinstigen Ver¬
fall Englands phantasirt hat, weiß Mr. Thunder dies zu beschönigen, ja zu
rechtfertigen. Wenn aber derselbe Lord Macaulay in einem guten Moment
ein vernünftiges Wort spricht, wenn er die angelsächsische Race als den Erb¬
adel der Menschheit"*) bezeichnet, sucht Mr. Thunder den Satz als unphilo¬
sophisch, phrasenhaft und weiß Gott was zu bespötteln. Dieser aufgeklärte
Herr hat den Wunsch, wie er uns bei jeder Gelegenheit vordeclamirt, daß
der Papst von seinem weltlichen Thron hinabgeschleudert werden möge, aber
im Temple Forum, und in shoe-laue, höre ich, da tanzt er auf einem an¬
dern Seile. (O'Brien: Wenn Mr. Grumley mit seiner Litanei fertig ist, —
M'Murrough donnert mit dem Hammer auf den Tisch.) Grumley: Litanei,
Sir! Nachdem wir oft das Geleier über die eingebildeten Leiden Irlands an-
hören mußten, soll ein Engländer hier nicht sein armes England vertheidigen
dürfen?" — O'Brien setzt sich, und aus seinen tiefliegenden dunklen Augen
blitzt es wie ein Gemisch von Grimm und Lustigkeit. — Salomons: Sein
Sie ruhig. England steht sest, die Bank ist noch gut, mein' ich. Grumleh:
Ja, unser großes armes England! Was hat der arme Engländer von seiner
Größe? Mancher freilich denkt nur an Banken und Millionäre, ist sogar
stolz auf die Unzahl schwarzer, schwindelhoher Fabrikessen, zwischen denen
durch Ueberproduction der Proletarier entsteht, das trostlose Geschöpf, ohne
Glauben und Zukunft, ohne Wurzel in der Heimath, mit einem Auge nach
Australien, mit dem andern nach Amerika schielend. Geht in die grünen
Grafschaften. Sieben-Shilling die Woche, weiße Rüben zu Mittag und kaum
das Salz dazu — so lebt der ehrliche Ackersmann, denn der Whiggismus
fiel auf den Weizen wie Mehlthau. („O!" Der Redner fortfahrend): „Jemand
ruft: O! Ich merke, sogar in den Ohren des grauen Hofes klingt dies Lied
schon zu altväterisch. Doch wartet, so wahr das Evangelium über den herz¬
losen Theorien der Nationalökonomie steht, die neumodische Ordnung dauert
nur eine Weile. Den Whig werfen die Radicalen über Bord, und das
Raubschiff des Radikalismus selber, mit Mammon und Maus wird es unter¬
gehen. (Beifall.) Dann richtet sich, aber nicht ohne Kampf und Mühsal,
das Reich wieder auf. Ich frage nun, ist derjenige ein Freund Englands,
der in solchen Zeiten den äußersten Whigs und Radicalen die Hand reicht
und Werkzeuge zuträgt, um die letzten Bollwerke der Verfassung zu unter¬
wühlen? So danken uns nämlich die Gentlemen der Schwesterinsel, die wir
in der Hungersnoth füttern mußten, denen wir die Pforten der Gesetzgebung
aufgethan haben; jeder in seiner Weise. Der erfolgreiche Stellenjäger thut
es in Westminster, das kleinere Nagethier bei Wahlmeetings, in Clubs und
Pennyblättern. Das Oberhaus soll — unterwühlt, die Primogenitur —
unterwühlt, die Staatskirche — unterwühlt werden! Ah. Mr. Thunder hat
uns sein Glaubensbekenntniß kaum halb enthüllt, sein Anhang ist hier noch
zu gering dazu. Aber in Fleck-Street prophezeit er, daß die Staats¬
kirche in Irland stürzen muß, ehe fünf Jahre um sind. (Bewegung. — To-
perton: Unsinn! Was gilt die Wette, nicht in 200 Jahren!) Und wenn bis
dahin auch die übrigen Bollwerke schwinden — allmächtiger Gott, wie wird
unser England aussehn!" —
O'Brien aufspringend: Schöner, schlanker und jugendlicher als jetzt, mein
Honigtöpfchen. Strahlend wie der Morgenstern, frisch und fest wie Mai¬
butter, und lustig wie Grün Erin selber. — Toperton: Wenn's in Green
Emil so lustig ist, bleibt doch zu Hause. Wozu kommt Ihr herüber gewim¬
melt? — O'Brien: Wir statten Euch unsern Gegenbesuch ab. Aber still.
mein ehrenwerther Gegner besinnt sich auf eine neue Arie, und bei Se. Pa¬
trick, er singt so lieblich, wie eine Säge, wenn sie durch den Klotz fährt. —
Grumley: Also wird es das Beste sein, Großbritannien aller Schutzwehren
zu berauben! Ein sehr aufrichtiges Bekenntniß. — O'Brien: Nur nicht ver¬
zagt, mein Unkenväterchen! Die nationalen Schutzwehren bleiben aufrecht.
Wir haben Respect vor dem Thron, vor der Armee und Flotte, vor einem
liberalen, d. h. frei-sinnigen und -gebigen Adel, aber die hoffärtige Schma¬
rotzerin von irisch-protestantischer Staatskircheheiliger Humbug! Wir wer¬
den sie los, ehe das Jahrhundert 5 Jahre älter ist. Eher als M'Murrough
die Hühneraugen an seinen Zehen.
Grumley: Achtung vor den Institutionen, die uns heilig sind, war
von Mr. Thunder nie zu erwarten, aber daß er sie mit Hühneraugen ver¬
gleicht! — (Stimme: „Irische Narrenspossen"). Ja, Possenspiel auf den
Lippen, aber Bitterkeit im Busen.
O'Brien (zornig): Spielen Sie hier nicht den Lord Oberrichter, Sie
kleine Gallenblase, und platzen Sie, wenn Ihnen mein Singsang zu irisch
ist. — Gentlemen! Mein Vater in Tipperarry erzählte oft, wie ganz eigen
in seiner Jugend die Krähen und die Raben krächzten, wenn sie zufällig einen
Galgen leer sahen. Sie ärgerten sich, die armen Bestien. Nun, die Aas¬
krähe ist wenigstens kein evangelischer Christ mit einer weißen Halsbinde.
(„Was er damit meinen mag!") Was ich meine? Nein, ich will nicht un¬
gerecht sein. Mr. Grumley ist zwar ein Urtory und trägt eine weiße Hals¬
binde, doch trotzdem nehme ich gerne an, daß er sich über die Aufhebung
der Blutgeldacte und der zahllosen Hängegesetze nicht mehr übertrieben
ärgert. („O!") Aber die freie Korneinfuhr, nicht wahr? Die, meint er,
hat ein Loch ins Evangelium gerissen? Und wäre dieser Schaden geschehen,
wenn man nicht so wahnsinnig gewesen wäre, die Katholiken zu emancipiren,
nicht wahr? Wenn man das ehrwürdige Bollwerk der faulen Burgflecken
nicht im Stich gelassen hätte? So geht's, mein Trauerschweinchen! Erst
unterwühlt man den Galgen, dann unterwühlt man den Glauben, zuletzt
unterwühlt man gar die Bischöfe (die Daumenbewegung Grumley's dreimal
heftig nachäffend). — Grumley: Ich habe genug. (Aufstehend und am Rock
knöpfend.) Der Mr. Thunder mag nach der Art eines gemeinen Pfennig-,
scribenten meine Worte verdrehen, aber meine Person — Buckville: Ich pro-
testire gegen die Komödiantereien. — Jenissen: Und gegen die Blasphemien.
— Horner: In keinem Parlament darf ein Redner sich der Leibgeberde eines
anderen Lords oder Gentlemans, gleichviel in welcher Absicht, bedienen. ^
Johnson: An der Tafel des Lord Mayors auch nicht. — Die Mehrzahl:
Zur Ordnung! Zur Ordnung! Mr. Vorsitzer! Mr. Vorsitzer! Den Mr. Thun-
der zur Ordnung rufen!
M'Murrough hämmert und sagt dann: Das Verlangen der Versamm¬
lung ist nicht ungerechtfertigt, insofern — obgleich, Gentlemen, die angeborene
celtische Lebhaftigkeit — und gewiß keine Beleidigung beabsichtigt — insofern
ich schon erinnern wollte, daß Mr. Thunder's Bemerkungen den Gegenstand
der Debatte, nämlich: War Lord Macaulay u- s. w. bisher nicht berührt
haben.
O'Brien: Macaulay wird sich selbst vertheidigen. Mr. Vorsitzer und
Gentlemen, die Majorität für den Ordnungsruf ist entscheidend und ich beuge
mich vor ihrem Ausspruch. Die Luft soll wieder rein werden; ich will die
Samstagabende des grauen Hofes nicht mehr stören. („So war's nicht ge¬
meint!" — „Unsinn!" — „Gentleman immer gern gehört, reich an Anek¬
doten" —). Nein, es widerstrebt meinem Gewissen, aus dieser festen Burg
altenglischer Gesinnung die treuesten Hüter zu verscheuchen. Nur habe ich
an die Minorität noch eine Bitte. Zu den blinden und ärgsten Feinden
Englands möchte ich nicht gezählt sein. Ich liebe erstens, wie Sie gehört
haben, die radicalen Engländer. Möge ihre Zahl fortwährend steigen! Ich
vertrage mich auch mit einem Ketzer, wenn er nicht zu fromm ist. Und dann
habe ich manche Dinge in diesem Theile des Reiches schätzen gelernt. Ich
sehe gern meine irische Kartoffel — ach. es ist nicht gut, daß sie allein sei —
gepaart mit dem englischen Rinderbraten. („Bravo!") Von irgend einer
Abneigung oder Kälte gegen die Töchter der Insel weiß ich mich vollkommen
frei. (Heiterkeit.) Obgleich einer langen Reihe von Königen entsprossen,
kenne ich keinen Stolz des Geblüts und werde es für keine Verschlechterung
der edlen irischen Race halten, wenn ein schlichtes, aber rosiges englisches
Mägdelein die Mutter der künftigen Thunder O'Briens wird. („Ah!") —
Buckville: Sehr herablassend von Mr. Thunder, doch schade, daß er zu ver¬
gessen scheint, was ein alter Spruch sggt: „Kein fremder Wicht die Rose
bricht!" (Gezische! und Zusammenstecken der Köpfe.) O'Brien: Fremder
Wicht! Vortrefflich. Die schöne Lehre — ich weiß nicht mehr, ist sie von
Lord Lyndhurst oder Lord Grumley — daß wir Jrländer auf dem Boden
unserer Vorfahren als fremdeZWichte behandelt werden müssen*), wird manch¬
mal gewissenhafter befolgt als die zehn Gebote. Als ich das lustige Grün
Erin verließ, kam ich. wie Ihr wißt, eigens herüber, um ein wenig gesunden
irischen Menschenverstand in Euere sächsischen Schädel hineinzupauken. (Lachen.)
Leider bin ich kein Herkules, wie ich bald merkte, und so kam mir damals
die Idee, alle Musen an den Nagel zu hängen und statt ein Pfennigseribent
lieber ein reicher Mann zu werden. Und vielleicht wäre es mir geglückt,
Vielleicht hätte ich mich allmälig zu einem rechtschaffenen Butter- oder Kaffee-
und Thee-Verfälscher, wo nicht zu etwas Höherem aufgeschwungen. Ich lag
wirklich schon über den Zeitungsanzeigen, um irgendwo die unterste Sprosse
auf der Leiter der Respectabilität zu entdecken. Aber überall, wo ein künfti¬
ger Alderman in der Gestalt eines Laufburschen, Stiefelputzers oder Kellners
gesucht wurde, da — Gott segne die englische Gastfreundschaft! — hieß es
am Schluß: „No >IrisK »sea sxxiz?". (Jrländer — oder Jrländerinnen
brauchen sich nicht zu melden.) Wie aber, Gentlemen, wenn vor den Kneipen
in Westminster der Werbeossicier sein Seidentüchlein auf die Degenspitze steckt,
wenn er mit den im Zipfel eingebundenen Sovereigns klingelt und laut Pro¬
klamation „einige fixe Jungen für Ihrer Majestät Dienste" sucht, sagt er
auch: „No ^risd useä axpl^?" (Stimme: Er hat so Unrecht nicht.)" Das
läßt er bleiben, nicht wahr? Ah, Ihr seid nicht zu stolz, uns an den fernsten
Enden der Erde als lebendige Schildhalter zu brauchen, uns für Eure hei¬
ligsten Interessen, von der Krone bis zum Kattun, kämpfen zu lassen, als ob
wir leibhaftige Löwen und Einhörner wären, aber daheim, da sind wir nur
fremde Wichte, nicht wahr, nur undankbare Gnadenbrodesser, gefährliche
Nagethiere, im besten Falle Possenreißer und von den Leiden Irlands —
bah! — jedes eingebildet oder selbstverschuldet. Selbstverschuldet, da steckt's.
Wir Haben's nicht verstanden, dem tugendreichen englischen Krämer Furcht
zu machen. Beim Himmel, wir lernen es noch. Meint Ihr, wir seien Hindus
oder Chinesen? Und ich sage Euch zum Abschiede, so lange der englische
Krämer im Löwen und Einhorn und anderswo nicht aufhören wird, uns
als Fremdlinge zu betrachten, so lange wird aller Stolz auf Eure Wappen¬
thiere Euch keine Sicherheit geben, daß nicht die Se. Paulskirche eher ge¬
brochen wird, als das alte Papstthum, denn so lange wird der wahnsinnige
Trotz der Verhöhnten an den Grundsäulen Eurer Macht nagen, wie die
Wasser der Themse an den Pfeilern der Lvndonbrücke."
Bei diesen Worten warf der Thunder seinen Stuhl zurück und verließ
zornig den Saal. Mr. Mink gab mir einen Wink, und während lauter
Streit hinter dem Abwesenden tobte, sagten wir dem Parlament Gutenacht.
„Bei alledem", sagte Mink, „werden wir mit dem Thunder und seinen Lands¬
leuten fertig. Der Thunder O'Brien gehört bereits untrennbar zum Ein¬
horn, auch er lebt nur von einer Idee, er kämpft in allen Bierparlamenten
unaufhörlich die Celten- und Sachsenschlacht von neuem durch." Als wir
herausgingen, rief uns Mr. Brettan, der Wirth, behaglich nach: „Gute
Nacht, Gentlemen. Was Neues aus der Türkei?"
Die für Sammlung vaterländischer Alterthümer ununterbrochen thätige
archäologische Gesellschaft in Athen hat ihre folgenreichen Ausgrabungen bei
der Kirche der Panagia Chrysopyrgiotissa wieder begonnen. Durch diese war
seither außer einer Reihe Inschriften das topographisch wichtige Resultat ge¬
wonnen worden, daß die längs dieser Kirche sich hinziehenden Ruinen, die
man früher allgemein für das Gymnasion des Ptolemaios gehalten hatte,
einer Stoa des Attalos II. Philadelphias am Markte von Athen angehören.
Gegenwärtig sind am nämlichen Ort, also auf der eigentlichen Agora,
zwei allerdings nur unvollkommen erhaltene lebensgroße Figuren aus
Marmor ausgegraben worden, die in mehrfacher Hinsicht historisches und
kunstgeschichtliches Interesse beanspruchen. Erhalten ist von beiden nicht viel
mehr als der Torso, aber über die Bewegung der Arme und Beine kann
nicht wohl ein Zweifel herrschen. Beide standen aufrecht und schienen ziem¬
lich gleiche Tracht gehabt zu haben. Beide sind weiblich, und haben über
einem Chiton einen mit Reliefs verzierten Panzer, mit Tragriemen über den
Schultern, franzenartigen (Leder-) Klappen am unteren Saum, ganz wie wir
sie an den römischen Jmperatorensiguren zu sehen gewohnt sind. Ueber den
Panzer hängt ein langer, auf den Schultern nur lose befestigter Mantel
im Rücken herab. Die Arbeit ist frisch aber flüchtig, wie sie in den pro-
ductiven Werkstätten der alten Bildhauer für sogenannte decorative Werke
nie anders angewendet worden ist. Die eine Figur zeigt über dem Schenkel,
auf den Falten des Chitons, eine in Charakteren des zweiten Jahrhunderts
n. Ch. eingegrabene Inschrift, die als Meister einen bisher unbekannten
»Jason aus Athen" nennt. Unzweifelhaft gehörten diese Figuren einer
größeren Reihe an, und können nach Analogien, die gerade aus hadrianischer
Zeit in Athen sich nachweisen lassen, für Personifikationen von Städten oder
Provinzen gelten.
Neuerdings hat Herr Rangabe der Pariser ^.elräemie ass inserixtionZ
et beilös lettres eine von dem Lomite ass iiutihulürös et'^.tneutzg emittirte
Publication eines im Vasenstil bemalten mit Inschriften versehenen Thvntellers
unterbreitet und bei dieser Gelegenheit von der Thätigkeit dieses Comites
Nachricht gegeben. Er sagt: dieses Comite", bestehend aus Herrn Stauros, Di¬
rektor der griechischen Bank, den Herren Nenie'ri, Basilis und Kähaja, Unterdirec-
toren der griechischen Bank, dem Herrn Calliga, Professor der Universität zu
Athen und ehemaligem Minister, und mir, hat sich vor fünf Jahren in Athen
constituirt, um eine Lotterie zu organisiren, deren Gewinn zur Ausgrabung und
Sammlung antiker Kunstgegenstände angewandt werden sollte. Mit Ge¬
nehmigung der Regierung und unter der Protection der Königin Amalie,
später des Königs Georg hat dieses Comite' 333000 Billets zu 3 Fras. aus¬
gegeben. Aber da man im Ausland, wo man sich am meisten Erfolg ver¬
sprach, auf unübersteigliche Hindernisse stieß, konnten nicht mehr als nur
73,750 Billets abgesetzt werden. Trotzdem wurde die Lotterie am 31. Juli
1867 in Athen gezogen, auf dem Felde des Ares, in Gegenwart des Co¬
mites und der Polizei. Nach Abzug der Gewinnste verbleiben dem Comite
ungefähr 150,000 Fras. und wurden in der griechischen Bank deponirt.
Das Comite" beschloß zunächst einen Theil dieser Summe zur Bereicherung
unserer Kenntniß von der Kunst des heroischen Zeitalters zu verwenden, in¬
dem Ausgrabungen des zweiten unterirdischen Gebäudes von Mykene und
des ähnlichen, das sich in Occhomenos befindet, unternommen werden sollten.
Ebenso beabsichtigte das Comite, den Boden zwischen dem Theater des
Herodes und dem großen Dionysos-Theater anzukaufen und die Porticus des
Tumenes bloszulegen. Auch steht es noch in, Unterhandlungen, um den
Theil des alten Kerameikos anzukaufen, wo vor einigen Jahrn eine Reihe
Häuser von höchster Schönheit zu Tage gekommen sind. Schließlich sind
zwei Sammlungen von Terrakotten und Vasen angekauft worden, die sonst
durch Verkauf zerstreut worden wären. Unter diesen letzten Acquisitionen
scheint der genannte Teller, dessen Publication als KomiuaM iurüs ac
l'lmtiquM der Akademie unterbreitet wurde, das bedeutendste Werk zu sein:
die Decoration desselben ist nicht übel, die Composition der Darstellung aber
(Achill, die neuen Waffen anlegend, die ihm Thetis überbringt) recht un¬
bedeutend. Das Jnteressanteste an der ganzen Publication ist die technisch
tüchtige Wiedergabe der Farben des Originals.
Der Herr Verfasser dieser Schrift hat sich in der deutschen Lesewelt schon seit
Jahren durch seine der Vertheidigung der baltisch-deutschen Sache und ganz beson¬
ders der protestantischen Gewissensfreiheit gewidmeten „Livländischen Beiträge" be-
kennt gemacht. Dieses Werk ist namentlich durch die in ihm enthaltenen officiellen
Aktenstücke von Wichtigkeit; gleich das erste Heft brachte einen bis dazu unbekann¬
ten Bericht des russischen Grafen Bobrinsky über die kirchlichen Zustände Livlcmds,
der als direktes Eingeständnis; des unwürdigen Verhaltens der griechischen Kirche
von höchster Bedeutung für die Sache der Gewissensfreiheit in den Ostseeprovinzen
gewesen und seitdem durch die in dem Harlcßschen Buche mitgetheilten Auszüge
allgemein bekannt geworden ist.
Das vorliegende Buch, das aus zwei Aufsätzen besteht, ist namentlich durch die
zweite Abhandlung „Die livländische Landgemeinde im Lichte der russischen und vies
versa" — eine Analyse der russischen Landgemeinde und Vergleichung derselben mit
der livländischen Landgemeinde, von allgemeinem Interesse. Der Verfasser entwirft
nicht nur ein ausführliches Bild des auf dem Institut des Communalbesitzes be¬
gründeten russischen Gemeindelebens, sondern giebt zugleich eine Uebersicht über die
bisherige Beurtheilung desselben und die seit Aufhebung der Leibeigenschaft auf diesem
Gebiet erzielten Resultate. Schon aus diesem Grunde hat das Buch gerechten An¬
spruch auf die Theilnahme weiterer Kreise, denn die für die gesammte russische Ent¬
wickelung hochwichtige Organisation der großrussischen Landgemeinde ist in West¬
europa wenig bekannt und wissenschaftlich bis jetzt noch nicht analysirt worden. Die
Vergleichung mit der livländischen Landgemeinde exemplificirt zugleich die sittlichen und
wirthschaftlichen Vorzüge der westeuropäischen Form des Grundbesitzes über jenes
socialistische Institut, das Alexander Herzen einst für die „neue Formel -der Civili¬
sation" auszugeben den Muth hatte.
Die andere Abhandlung („Erste Begegnungen der Deutschen mit den Russen in
Livland") behandelt an der Hand deutscher und russischer Quellen zwei» ältere Ab¬
schnitte der livländischen Geschichte in lebendiger Beziehung zu den politischen und
kirchlichen Kämpfen der Gegenwart. — Die rasche Verbreitung, welche die v. Bock'schen
Schriften in Deutschland erfahren haben, sichern auch dem vorliegenden, in verschie¬
denen Organen der Presse bereits anerkennend besprochenen Buche seinen Platz.
Die englische Ausgabe dieses für die neuere deutsche Geschichte hochwich¬
tigen Werks ist in den „Grenzboten" so ausführlich besprochen worden, daß wir
uns darauf beschränken müssen, diejenigen Stücke desselben namhaft zu machen,
welche in der englischen Ausgabe entweder fehlten oder nur inhaltlich wiedergegeben
waren.
Hierher gehören neben vielen Abschnitten aus Bunsens Privatleben (z. B. Felix
Mendelssohn-Bartholdy in London) ganz besonders die im Anhang auszüglich ver¬
öffentlichen neun Aktenstücke, welche sich sämmtlich auf die Neugestaltung des deut¬
schen Bundes und Preußens Verhältniß zu demselben beziehen und zwischen dem
21 März 1648 und dem 5. Februar 1849, also zur Zeit der revolutionären Hoch-
fluth verfaßt worden sind: vier Denkschriften (Ueber die deutsche Bundesverfassung
— Ueber das Verhältniß Oestreichs zu Deutschland — Nothwendigkeit einer Ver¬
einbarung der deutschen Fürsten unter einander und mit dem Parlament über die
Reichsverfassung — Ueber den östreichischen Vorschlag vom Januar 1849) zwei
Sendschreiben an das Frankfurter Parlament u. s. w. Neu sind ferner die Mit¬
theilungen aus Bunsens Tagebüchern, (unter denen besonders die Berichte über die
Besuche Deutschlands in den Jahren 1848 und 1849 von höchstem Interesse sind)
aus den Korrespondenzen mit dem Kronprinzen, späteren König Friedrich IV., mit
Bluntschli, Canitz u. A.
Soviel von den Nachträgen zum zweiten Bande. Das eigentliche Interesse
desselben machen aber nicht diese, sondern die Darstellungen aus Bunsen's vielbewegten
Leben aus, welche der englischen Version des Werks eine außergewöhnliche Stellung
in der neueren historischen Literatur sicherten und die der Herr Uebersetzer durch
eine Reihe interessanter Zusätze und Ausführungen vermehrt hat. Grade der vor¬
liegende Theil dieses Buches hat es mit einem Abschnitt neuerer deutscher Geschichte
zu thun, der bisher wenig bekannt war und dessen Wirkungen bis in unsere Tage
hinein bestimmend gewesen sind, jener Zeit des Schwankens in den preußischen Re¬
gierungskreisen, welche der Entscheidung für eine rein reactionäre Politik im Innern
und der schmachvollen Unterordnung unter Felix Schwarzenbergs Olmützer Forde¬
rungen vorherging. Ob sich Bunsen gleich der Mehrzahl seiner Zeitgenossen die
künftige Gestaltung Deutschlands als eine rein föderative dachte und den Einheits¬
staat für unausführbar hielt, war er entschiedener und klarer Gegner von Oestreichs
deutschen Ansprüchen, deren Unvereinbarkeit mit den Bedürfnissen Deutschlands er in
seinen Denkschriften an den König immer wieder hervorhob. So sehen wir in ihm
einen der energischesten Gegner des unheilvollen Schritts, den die preußische Ne-
actionspartei bei dem Könige durchsetzte, und viele Einzelheiten der damaligen
inneren Kämpfe werden erst durch seine Aufzeichnungen bekannt. Das Erscheinen
des dritten Bandes, welcher die letzten Jahre von Bunsen's diplomatischer Thätig-
keit, dessen Uebersiedelung nach Deutschland und dortige Arbeiten zum Gegenstande
hat, ist in der Vorrede schon sür die nächste Zukunft verhießen und wird dieses ver¬
dienstvolle Werk abschließen.
Bernhard E rd in ni um s d ö rffer: Graf Georg Friedrich von Waldeck. Ein
preußischer Staatsmann im siebzehnten Jahrhundert. Berlin, Georg Reimer 1869.
In Dr. Erdmannsdörffers Monographie über den Grafen Waldeck er¬
halten wir einen so werthvollen und bedeutenden Beitrag zur Geschichte der
Periode, während welcher die Heldenkraft des großen Kurfürsten unter
fortwährendem Ringen den brandenburgisch-preußischen Staat von neuem
gründete und zugleich die Keime des deutschen Staates der Zukunft legte,
daß es uns um so mehr Pflicht scheint, den Resultaten dieser Arbeit nach¬
zugehen, als der Stoff an sich überraschende Analogien mit Menschen und
Dingen der allerneuesten Tage darbietet. Nur kurze Zeit — von 1621
bis 68 — hat Georg Friedrich von Waldeck Brandenburg seine Dienste ge¬
widmet, aber in diesen sieben Jahren — das geht aus Erdmannsdörffers
Darstellung unzweifelhaft hervor — war er entschieden der einflußreichste
unter den Rathgebern des Kurfürsten und zugleich derjenige unter den bran¬
denburgischen Staatsmännern, der zuerst mit klarem Bewußtsein in der
Reichspolitik die Richtung zu .finden und einzuschlagen bemüht war, in deren
allerdings oft und auf lange Zeiten unterbrochener Verfolgung der preußische
Staat sich zum deutschen Staat heraufarbeiten sollte.
Die Periode unmittelbar nach dem dreißigjährigen Kriege war eine Zeit
der maßlosesten Verwirrung und des Verwickeltesten Jntriguensviels. Von
einer traditionellen, eine nur annähernd sichere Berechnung gestaltenden Po¬
litik wurden damals eigentlich nur das spanisch - östreichische Haus und Frank¬
reich geleitet. Der Gegensatz zwischen diesen beiden Mächten war gewisser¬
maßen das Band, welches den Zusammenhang zwischen der zweiten Hälfte
des siebzehnten und dem sechszehnten Jahrhundert erkennen läßt. Aber welch'
eine Fülle neuer Gestaltungen gruppirte sich um diesen Gegensatz und suchte
Stellung zu demselben zu nehmen! England, nachdem es in gewaltsamer An¬
spannung aller Kräfte die Schwäche der ersten Stuartschen Periode über¬
wunden, sing unter Cromwell's energischer Leitung wieder an, sich als eine
der Vormächte des Protestantismus zu fühlen; die Niederlande waren eine
ganz neue, kräftig aufblühende, von lebhaftestem Selbständigkeitstriebe er¬
füllte Schöpfung, die alle Kraft und Klugheit aufzubieten hatte, um zwischen
der offenen Feindschaft Spaniens, der freundschaftlichen Zudringlichkeit Frank¬
reichs, der Eifersucht Englands ihre Unabhängigkeit zu behaupten; Schweden
hatte in raschem Fluge eine Macht gewonnen, die es keineswegs als bloße
Chimäre erscheinen ließ, wenn seine genialen Fürsten und Staatsmänner den
Gedanken einer nordisch-protestantischen Universalmonarchie zu verwirklichen
strebten — und inmitten dieser Gewaltigen das deutsche Reich im Zustande
arger Zerrüttung und Auflösung. Die Fürsten hatten die erstrebte Libertät
erreicht, die Entwickelung der Territorialpolitik hatte einen mächtigen Fort¬
schritt gemacht. Aber einerseits die Bemühungen Oestreichs, die Lockerung
des Neichsverbandes zu einer Steigerung der Habsburgischen Hausmacht zu
benutzen, die Libertät also grade gegen die Stände zu kehren, und anderer¬
seits das Streben Frankreichs, sich den Ständen als Beschützer der Libertät
gegen die despotischen Entwürfe Oestreichs zu empfehlen und aufzudrängen,
zeigten, daß die gewonnene Unabhängigkeit, die nicht bloß das Verhältniß der
Glieder zu dem Haupte, sondern auch der Glieder unter einander gelockert
hatte, fürs Erste ein Gut von sehr zweifelhaftem Werthe sei.
Dieser Zustand der deutschen Verhältnisse bildet recht eigentlich den
Mittelpunkt der damaligen Weltpolitik. Deutschland war das Gebiet, auf
dem die drei großen Mächte Frankreich, Oestreich, Schweden sich auszubreiten
suchten; an den deuischen Höfen ließ die verschlagene Diplomatie aller großen,
Cabinete bald ihre feinsten Künste spielen, bald ihre brutalsten Drohungen
vernehmen, um dem Rivalen den Rang abzulaufen. Dem Schwachen bot
man großmüthig Schutz an, die Stärkeren suchte man zu Bündnissen selbst¬
ständigeren Charakters zu verlocken. Unter diesen Umständen, bei der all¬
gemeinen Erschöpfung in einer Zeit, in der selbst ein abenteuernder Frei¬
beuter, der über 10,000 bis 20,000 Mann zu verfügen hatte, eine wenn nicht
Furcht, doch Achtung gebietende Macht war, vermochten auch kleine Fürsten
durch kluge Benutzung der Verhältnisse und durch eine kräftige Organisation
ihrer Wehrkraft weitgreifende Bedeutung und maßgebenden Einfluß aus den
Gang der europäischen Politik zu gewinnen. Der Einfluß der bis zur
höchsten Virtuosität ausgebildeten Diplomatie war in weit höherem Grade
als in der Gegenwart von der Macht der Staaten unabhängig, welche sie
vertrat. Ein energischer Dynast, der es verstand, seine Bundesgenossenschaft
geschickt zu verwerthen, konnte auch wohl den Gedanken fassen, auf eigene
Hand Großmachtspolitik zu treiben.
Neben Oestreich nahm in Deutschland Brandenburg entschieden die be¬
deutendste, aber auch die am meisten beargwohnte und bedrohte Stellung ein.
Nur durch unablässigen Trieb zum Handeln konnte der Staat seine Existenz
behaupten. Durch seine von dem Stammlande getrennten Ostflügel aufs
engste mit dem Schicksal Polens verflochten, schwebte er in beständiger Ge-
sahr, mit seinen rheinischen Besitzungen bei den unaufhörlichen Conflicten
zwischen Spanien und Frankreich in Mitleidenschaft gezogen zu werden.
Diese Gefahr war um so dringender, als die rheinischen Besitzungen dem
Kurfürsten keineswegs unbestritten waren, vielmehr sein Miterbe, der Pfalz-
grnf von Pfalz-Neuburg nur auf die Gelegenheit lauerte, die gesammte
Jülichsche Erbschaftsmasse an sich zu bringen, während andererseits der Kur¬
sierst sich als der allein berechtigte Gesammterbe betrachtete und nicht minder
wie der Pfalzgraf entschlossen war, seine Ansprüche bis aufs Aeußerste zu
verfolgen. Und diese an sich schon höchst wichtigen Händel verschärften sich
durch den Einfluß, den grade die rheinischen Besitzungen des Kurfürsten auf
die deutsche wie auf die allgemeine Politik Brandenburgs ausübten. Der
bis in die letzten Details eingehende Nachweis dieses Einflusses ist nun eines
der wesentlichsten Verdienste des obengenannten Buches. Es treten hier mit
aller Bestimmtheit die weitgreifenden Bestrebungen zu Tage, durch deren Ver¬
folgung sich Brandenburg-Preußen über den Rang eines Reichsstandes zu
der Höhe des deutschen Staates par exee1l6n.ce erhoben hat, die Bestre¬
bungen, die, nach längerer Unterbrechung von dem großen Friedrich wieder
aufgenommen, in der Gegenwart einen vorläufigen Abschluß gefunden haben.
Damals scheiterte ihre Verwirklichung. Preußen mußte, bevor es seine deutsche
Aufgabe mit entscheidenden Erfolge losen konnte, sich erst die Macht und den
Einfluß einer europäischen Position erringen: es mußte durch die Größe sei¬
ner Weltstellung alle Nebenbuhler im Reiche in Schatten stellen, ehe es den
Kampf um den höchsten Preis beginnen konnte. Daß aber gleichzeitig mit dem.
Ringen um diese europäische Stellung der eben erst aus der Noth des dreißig¬
jährigen Kriegs gerettete Staat die deutschen Tendenzen zur Geltung zu
bringen auch nur versuchen konnte, zeigte, wie tief dieselben in seiner Natur
begründet lagen.
Indem uns Erdmannsdörffer die Geschichte dieser Bestrebungen, auf die
preußischen Archive und besonders auf das Archiv von Arolsen gestützt"), in
ihren verschlungenen Fäden darlegt, knüpft er die Gegenwart an eine fern¬
liegende Vergangenheit an und füllt nicht nur eine wesentliche Lücke in un¬
serer Kenntniß der deutschen Politik Preußens aus, sondern stellt auch die
energische Thätigkeit und die Verdienste des Staatsmannes, den wir als den vor¬
züglichsten Träger dieser Ideen im siebenzehnten Jahrhunderte anzusehen
haben, in das gebührende Licht. Unsere Kenntniß der an dem Werke des
großen Kurfürsten mitwirkenden Persönlichkeiten, der „vermittelnden und so
zu sagen erläuternden Nebenfiguren" ist, wie der Verfasser mit Recht hervor¬
hebt, bisher sehr dürftig, so daß der Fürst selbst in Folge dieses Man¬
gels „in eine für lebendiges Ergreifen und Verstehen ungünstige Ferne, in
die Ferne einer halbmythischer Figur gerückt wird."
Es ist ersichtlich, daß durch die richtige Schätzung dessen, was die ein¬
zelnen mitwirkenden Staatsmänner erstrebt und geleistet haben, die Bedeu¬
tung des großen Kurfürsten nicht gemindert wird. Seine Politik wird,
je mehr es gelingt, den Antheil abzuschätzen, den die einzelnen Individuen
seiner Umgebung an der Leitung der Angelegenheiten genommen haben,
nur um so schärfer motivirt. In der brandenburgisch-preußischen Politik
treten während der langen und thatenreichen Negierung des großen Fürsten
sehr verschiedene Richtungen hervor. Wenige Fürsten haben so oft wie er
die Stellung, oder wie wir lieber sagen wollen, die Front gewechselt, keines¬
wegs aus Laune, oder etwa gar aus Neigung zu einer zweideutigen,
mysteriösen Politik, sondern weil der Drang der Umstände ihm Schnelligkeit
und Entschlossenheit im Wechseln seiner Haltung zur Existenzbedingung machte,
weil der Herrscher eines Mittelstaats, der seiner Lage nach mit allen Gro߬
mächten in den unmittelbarsten Beziehungen stand und unausgesetzt bald von
ihrer Feindschaft, bald von ihrer stets sehr eigennützigen Freundschaft bedroht
ward, aufs sorgfältigste nach der Windrichtung und der gerade herrschenden
Strömung ausschauen mußte, um sein Fahrzeug über Wasser zu halten.
Aber andererseits waren diese mannichfaltigen Parteistellungen doch auch
nicht bloß Resultat eines äußeren Zwanges oder bloß Auskunftmittel,
um dringenden Verlegenheiten zu entgehen; vielmehr lag jedem Parteiwechsel
eine positive Idee zu Grunde, die ihre eifrigen und consequenten Vertreter
im Cabinete des Fürsten hatte, und während sie dem Einen als ein vielleicht
unvermeidliches Abweichen von der richtigen Linie erschien, dem Andern als
das wahre Ideal der brandenburgischen Politik galt. Ohne Zweifel hatte
jede dieser Richtungen ihre relative Berechtigung. Das politische Genie des
Kurfürsten zeigte sich nun aber eben gerade darin, daß er von den Richtungen,
die unaufhörlich in seinem Cabinet gegen einander rangen, in der Regel der¬
jenigen den Vorzug gab, die in einem gegebenen Augenblicke am meisten den
Anforderungen der Sicherheit entsprach, und unter den in Rechnung zu
ziehenden Verhältnissen wenigstens nach einer Richtung hin mit größter
Wahrscheinlichkeit gesteigerte Machtentwickelung in Aussicht stellte. Den An¬
forderungen der Sicherheit und Macht mußten sich alle anderen Rücksichten
unterordnen, denn sie bildeten die Grundlagen, von denen aus die höheren,
so zu sagen idealen Ziele seiner Politik ins Auge zu fassen und zu ver¬
folgen waren.
Das idealste Ziel seiner Politik, die Neugestaltung Deutschlands, bis
ans Ende seiner thatenreichen Laufbahn zu verfolgen, war dem Kurfürsten nicht
vergönnt. Grade die Größe-der Verhältnisse und des Schauplatzes, auf dem
der Kurfürst die Macht seines neu begründeten Staates bethätigen und durch
kraftvolle Führung sein hohes Streben gewissermaßen rechtfertigen mußte,
hinderten ihn, in dem Fahrwasser zu beharren, in das er mit Waldeck's
Hilfe den Staat gelenkt hatte. Waldeck's Verwaltung erscheint demnach als
eine Episode, aber als eine Episode, in der das eigenste Wesen des Staates
aufs klarste hervortritt. Der Graf leitet die deutsche Politik der preußisch-
brandenburgischen Monarchie in einem Augenblick, wo diese Monarchie vor
der Aufgabe stand, ihre zersplitterten Theile zu einem festgeschlossenen Ganzen
zu vereinigen; seine Bestrebungen bezeichnen die Richtung, in der die Po¬
litik des Staates sich zu bewegen hatte, um ihre höchste, die nationale Auf¬
gabe zu erfüllen.
Ueber die Motive, seine unabhängige Dynastenstellung mit dem Dienst
des Kurfürsten zu vertauschen, spricht Waldeck selbst sich aus: „Meine Natur
treibt mich zu großen Actionen und zu Unternehmungen, wobei Ehre zu ge¬
winnen ist; ich habe ein Bedürfniß nach' großen Wagnissen, und da ich mich
in dem Alter befand, wo man handeln muß (er war am 31. Januar 1620
geboren), so glaubte ich den Aufforderungen eines so hochgestellten Fürsten
mich nicht entziehen zu dürfen." Es war also zunächst die Thatenlust, der
Drang, in großen Verhältnissen seine Kraft zu verwerthen, was ihn zur An¬
nahme der ihm vom Kurfürsten gebotenen Anträge bewog; zugleich aber auch
eine Parteinahme für das damals nach Wilhelm's II. Tode hart bedrängte
Haus Oranien, welches mit dem Kurfürsten durch die engsten Bande der
Verwandtschaft und des gemeinsamen Interesses verknüpft war, wie anderer¬
seits der Kurfürst keinen erbitterteren Feind hatte als die holländischen
Herren Stände, die eben jetzt darauf bedacht waren, die Statthalterschaft der
Oranier für immer abzuschaffen und die ständische Oligarchie von allen
Schranken zu befreien. Diese Stellung zur oranischen Partei trug mit dazu
bei, ihn zur Annahme jenes Rufes zu bestimmen.
Die dem Grafen zugedachte Aufgabe war zunächst eine kriegerische; der
Kurfürst wollte sein bereits bewährtes Führertalent in dem Kriege, welchen
er gegen den Pfalzgrafen unternommen hatte, benutzen. Sehr bald aber
zeigte sich, daß der Kampf aussichtslos war, und daß es weniger darauf an¬
kommen werde, ihn glücklich durchzufechten, als ohne Schaden zu beendigen.
Die Niederlande, auf deren Beistand man gerechnet hatte, waren dem Kur¬
fürsten nichts weniger als freundlich gesinnt; der abenteuernde Herzog von
Lothringen sandte dem Pfalzgrafen Hilfe. So mußte denn Waldeck, noch
ehe er den Degen gezogen hatte, die Rolle des Generals mit der des Di¬
plomaten vertauschen, in der er sich mit vollkommener Sicherheit und Leichtig¬
keit bewegte. Ein Versuch, die Händel durch eine persönliche Zusammenkunft
des Kurfürsten mit dem alten Pfalzgrafen Wolfgang Wilhelm auszugleichen,
scheiterte vornehmlich an der Kriegslust der jüngeren Elemente des Düssel¬
dorfer Hofes, an deren Spitze der leidenschaftliche und ehrgeizige Sohn des
Herzogs, Philipp Wilhelm, stand, gewährte aber doch den großen Vortheil,
den Kurfürsten als den versöhnlichen Theil, den Pfalzgrafen dagegen als
das einzige Hinderniß der Wiederherstellung friedlicher Verhältnisse erscheinen
zu lassen; also die erste Probe in der großen Kunst, den Gegner ins Unrecht
zu setzen, die der Kurfürst hier ablegte, und in der er von Waldeck trefflich
unterstützt wurde. Beigelegt wurde der Zwist vorläufig durch die Vermitte¬
lung des Kaisers, die der Kurfürst jetzt ebenso eifrig nachsuchte, als er An¬
fangs bemüht gewesen war, sie fern zu halten. Das Unternehmen des Kur¬
fürsten war völlig gescheitert; noch reichten die Kräfte zu Größerem nicht
aus. Aber ein glänzender Rückzug nach allzukühnem Wagniß hat oft das
moralische Gewicht eines Sieges. Friedrich Wilhelm hatte eine hochstrebende
Kühnheit gezeigt, die ihn über den Rang eines Neichsstandes emporhob, die
zum Untergang oder zur Größe führen mußte. Daß er ohne Verlust aus
derselben hervorging, durste zum Beharren «uf dem eingeschlagenen Wege
ermuthigen.
Zunächst aber mußten alle größeren kriegerischen Entwürfe aufgegeben
werden. Wollte Waldeck im Dienst des Kurfürsten bleiben, so mußte er sich
entschließen, statt der ursprünglich ihm zugedachten militärischen Stellung die
eines Mitgliedes im geheimen Rathe anzunehmen. Der Graf ging darauf
ein. Daß er in der neuen Laufbahn auf mannichfache Hemmnisse stoßen
werde, ehe er freies Feld des Wirkens gewinnen könne, verhehlte er sich
nicht. Aber Kampf und Arbeit war sein Element und die Aussicht darauf
schreckte ihn nicht ab, sie lockte ihn vielmehr.
Die erste Schwierigkeit, die Waldeck zu überwinden hatte, war der
Widerwille der alten Räthe des Kurfürsten gegen den Neuling, von dem
man wohl wußte, daß er sich mit Entwürfen trug, die mit der bisher be¬
folgten Verwaltungspraxis nicht zu vereinigen waren. Indessen war doch
die Nothwendigkeit allseitiger Reformen in dem völlig zerrütteten Staats¬
und Finanzwesen zu einleuchtend, als daß nicht das patriotische Interesse bei
den nach Burgsdorss Entfernung bedeutendsten Räthen, wie Blumenthal,
Schwerin, Tornvw zunächst den Sieg über persönliche Antipathie hätte davon
tragen sollen. Man verständigte sich, bei aller Meinungsverschiedenheit im
Einzelnen, doch über die Grundzüge der Reform so weit, daß ein Zusam-
menwirten mit Waldeck möglich wurde. Die kräftige Reorganisation der
obersten Verwaltung war verhältnißmäßig leicht. Es kam hier nur darauf
an-, alle Fäden im Cabinet des Kurfürsten zu concentriren und an die Stelle
des alten schwerfälligen und zersplitterten Mechanismus das persönliche Re¬
giment des Herrschers zu setzen. Ein ehrgeiziger Staatsmann gewöhnlichen
Schlages würde andere Mittel ergriffen haben, um seinen eigenen Einfluß
zu sichern. Waldeck erkannte mit sicherem Tacte, daß ein Mann von der
Geistes- und Charaktergröße des Kurfürsten sich wohl berathen, nicht aber
beherrschen lasse. Den Kurfürsten von den Geschäften fern zu halten, wäre
vergebliches Bemühen gewesen. Für ein Coulissenregiment war an diesem
Hofe kein Platz, der Kurfürst wollte regieren, und ein Minister, der zu seiner
eigenen Einsicht Vertrauen hatte, konnte nichts Besseres thun, als alle Hinder¬
nisse, die dem Fürsten das Regieren erschwerten, aus dem Wege zu räumen.
Nachdem so Waldeck's persönliche Verhältnisse, wenigstens vorläufig, im
Ganzen befriedigend geordnet waren, trat er dem schwierigsten Theil seiner
Aufgabe, der Neugestaltung der Verwaltung durch alle Kreise des Beamten-
thums und der Verbesserung des arg zerrütteten Finanzwesens näher. Welcher
Art seiner Entwürfe waren, müssen wir hier übergehen, wie wir auch auf
die trefflichen Bemerkungen des Verfassers über das preußische Beamtenthum
hier nicht eingehen können; es genügt hier zu bemerken, daß Waldeck's Be¬
strebungen scheiterten. Die Reorganisation der Verwaltung hatte den Ent¬
scheidungskampf mit den Ständen zur Voraussetzung. Diesen aber in allen
Theilen des Staates aufzunehmen, war noch nicht an der Zeit, die Be¬
seitigung der ständischen Libertät. die Gründung der landesherrlichen Sou-
veränetät auf festen Grundlagen blieb einer Periode vorbehalten, in der
Waldeck den Dienst des Kurfürsten bereits verlassen hatte.
Vor Allem kam es dem Kurfürsten, wie. auch dem Grafen darauf an,
die zur Vermehrung des Heeresstandes unerläßlichen Steuern aufzubringen;
aber grade diesen Wünschen zeigten sich die märkischen Stände sehr abhold,
und auch die Staatsmänner der alten Schule, wie der treffliche Schwerin,
wollte.von Großmachtspolitik Nichts wissen. Während Walbeck auf eine
Steigerung der Einnahmen dringt, verlangt Schwerin Verminderung der
Ausgaben, die er vor Allem durch eine Verkürzung des Etats für die aus¬
wärtigen Angelegenheiten zu erzielen wünschte. Aber gerade in diesem Punkt
war Waldeck am wenigsten geneigt nachzugeben, da er bei seinen großen
Entwürfen auf eine reichliche Ausstattung des diplomatischen Ressorts das
allergrößte Gewicht legre. Die beiden Richtungen, die abwechselnd Preußens
Geschichte beherrscht haben, stoßen gleich hier so scharf wie möglich auf ein-'
ander, der Geist bescheidener Selbstbeschränkung, der noch in unserer Zeit
es als seine Aufgabe ansah. Preußen den Großmachtskitzel auszutreiben,
und der Geist muthigen Vorwärtsstrebens auf ein Ziel, das, je kräftiger sich
die Macht des Staates entfaltete, um so klarer und deutlicher sichtbar
wurde.
Zunächst war Waldeck der einzige Vertreter der vorwärtsstrebender
deutschen Politik im Cabinet des Kurfürsten, und wie die Verhältnisse ein¬
mal logen, mußte er sich vorläufig noch mit der Rolle des aufmerksamen
Zuschauers begnügen und seinem Antipoden Blumenthal die Leitung der
Reichsangelegenheiten überlassen. Blumenthal sah das Heil des Staates in
dem Anschluß an Oestreich. Und ohne Zweifel, einem Staatsmann, dem es
ausschließlich darauf ankam, die Existenz des Staates sicher zu stellen, mußte
sich das Zusammengehen mit Oestreich als die geeignetste Politik empfehlen:
wie auch in neuerer Zeit der Anschluß an die östreichische Politik die Inte¬
grität des Staatsgebietes besser als irgend ein anderes System gewährleistete.
Aber ein höheres Ziel konnte sich diese Staatskunst im 19. so wenig wie
im 17. Jahrhundert stecken. Für den Augenblick zwang den Kurfürsten die
Jsolirung, in der er sich befand, Blumenthals Rath zu folgen und die An¬
näherung an den Kaiser zu suchen. Denn es war für Brandenburg von
äußerster Wichtigkeit, daß Schweden, welches offen nach der leitenden Rolle
in Norddeutschland strebte, und daher der natürliche Nebenbuhler der in der
Bildung begriffenen preußisch-brandenburgischen Macht war, genöthigt würde,
gemäß den Bestimmungen des westphälischen Friedens schleunigst Hinter¬
pommern zu räumen, in dessen Besitznahme es ddn Kurfürsten noch immer
zu hindern suchte. Da nun aber allein der Kaiser im Stande war, aus
Schweden einen wirksamen Druck auszuüben, so blieb dem Kurfürsten Nichts
übrig, als gegen Waldeck's Rath sich zum Kurfürstencongreß nach Prag zu
begeben. Damit schloß er sich der dem Kaiser ergebenen Kurfürstenpartei
an, zum großen Verdruß der Fürstenpartei, die auf ihn gerechnet, aber Nichts
gethan hatte, um ihn durch kräftige Unterstützung in seinen Händeln mit
Schweden auf ihre Seite zu ziehen. In der That erreichte auch Friedrich
Wilhelm auf diesem Wege das nächste Ziel seiner Bestrebungen: Schweden
räumte Hinterpommern, um an dem bevorstehenden Regensburger Reichs¬
tage theilnehmen zu können, und die Belehnung mit seinen Reichslanden zu
erlangen. Als Preis mußte der Kurfürst der Wahl des jungen Erzherzogs
Ferdinand zum römischen Könige beistimmen, was durchaus nicht im Sinne
Waldeck's, aber ein unvermeidliches Opfer war.
Im Verlaufe des berühmten, am 21. Juni 16S3 eröffnete Regensburger
Reichstags ist uns hier ein Punkt vor Allem von Interesse: der Bruch mit
der im Allgemeinen auf Seiten des Kaisers stehenden Kurfürstenpartei und
der Anschluß an die oppositionelle Fürstenpartei, die Wendung also, die
Waldeck anstrebte.
Der kaiserliche Hof trug sich mit großartigen Restaurationsgedanken:
er suchte die durch den westphälischen Frieden herbeigeführte Lockerung des
Reichsverbandes zur Wiederaufrichtung der Habsburgischen Herrschaft über
das Reich zu benutzen. Durch die Aufnahme einer Anzahl böhmischer Adeliger
in das Fürstencollegium hoffte er, in diesem der kaiserlichen Partei ein ent¬
schiedenes Uebergewicht zu sichern. Um über die Finanzmittel des Reichs
die Verfügung zu erhalten, verlangte er, daß bei Geldbewilligungen auch
die verneinenden Stimmen durch die bejahende Majorität gebunden sein
sollten: ein scheinbar durchaus billiges Verlangen, welches jedoch den Ver¬
hältnissen in keiner Weise entsprach, da das Reich jeder Einwirkung auf die
Verwendung der bewilligten Gelder entbehrte, und man also mit Sicherheit
darauf rechnen konnte, daß alle Geldsummen, die nach Wien gingen, den
Territorien, in denen sich alle wirklich produktive Kraft der Nation gesam¬
melt hatte, entzogen werden würden, nur um dem Habsburgischen Haus¬
interesse zu dienen, und zum Theil wohl gar zur Corruption der Reichstags¬
gesandten verwendet zu werden. Die fürstliche Opposition hiergegen war
also ebenso berechtigt, wie die Klage über die mangelnde Parität im Kur¬
fürsten collegium. Man stund einem System gegenüber, welches mit Hilfe
der Verfassung die absolute Herrschaft des ErzHauses begründen und zugleich
den Protestantismus nach Möglichkeit schädigen und beschränken wollte. Da
nun zugleich die besonderen Wünsche Brandenburgs, wie Blumenthal selbst
zugestehen mußte, nicht die mindeste Berücksichtigung von Seiten des Kaisers
fanden, so faßte der Kurfürst den raschen Entschluß, mit der bisherigen Po¬
litik zu brechen und der Opposition sich anzunähern: ein Entschluß, durch
den die Lage der Dinge völlig geändert wurde. Der Umschlag war die un¬
mittelbare Folge einer Unterredung des Kurfürsten mit den Grafen Waldeck.
Kaum war der Rathschluß gefaßt, so ergingen auch, außer den Jnstructionen
an die Gesandten, Schreiben an den Kaiser, das Kurfürstencollegium und den
Kurfürsten von Sachsen, in dem diese aufgefordert wurden, sich den billigen
Forderungen der Fürstenpartei, so weit dieselben in dem Friedensinstrument
begründet und den berechtigten Interessen des Kurfürstencollegs nicht zu¬
wider seien, zu fügen, namentlich in Beziehung auf die Steuersragen und
die Parität.
Von diesen Augenblick an konnte Waldeck als leitender Minister gelten,
sein Sieg über Blumenthal war entschieden, und mit ihm nimmt die bran¬
denburgische Politik den gewaltigen Aufschwung, der dem Staate während
der ganzen Dauer der Regierung des Kurfürsten seinen Platz in Mitten der
großen Bewegungen anweist, die den Welttheil erschütterten.
Die Schwierigkeit der Wendung lag nun vor Allem darin, daß der
Kurfürst nicht daran denken konnte, ohne Weiteres für alle Forderungen der
Fürstenpartei einzutreten, daß er vielmehr eine mittlere Stellung zwischen
dieser und der Kurfürstenpartei suchen mußte. Auf die Forderung, wonach
Kursinsten und Fürsten auf dem Deputationstage nur ein Collegium mit
gleicher Stimmberechtigung aller Mitglieder bilden sollten, konnte man nicht
eingehen, ohne die bevorrechtete Stellung der Kurfürsten aufzuheben. Das war
ebenso gegen des Kurfürsten wie gegen Waldeck's Meinung, Die Vorrechte,
welche durch die Reichsgesehe von der Goldenen Bulle an festgestellt wurden
(so spricht sich der Kurfürst in einer an Blumenthal gerichteten Instruction
aus), sind unantastbar; die Borrechte dagegen, welche die Kurfürsten nur in
Kraft und Conseguenz der Hauptprivilegien besitzen, sind disputabel. Eine
Reihe dieser Privilegien gibt der Kurfürst ohne Weiteres preis, namentlich
das Vorrecht, daß die sonst durchgeführte Parität bei dem Kurfürstencolleg
nicht gefordert wird. Ueber diesen letzten Punkt (und mit vollem Rechte
sieht Erdmannsdörffer darin einen wichtigen, principiellen Sieg der Oppo¬
sition) kam ein, wenn auch nicht definitiver, doch vorläufiger Ausgleich dahin
zu Stande, daß bei dem nächsten Deputationstage die drei evangelischen Kur¬
fürsten vier Stimmen führen sollten; die radicale Lösung durch Gründung
einer neuen evangelischen Kur hatte sich nicht durchsetzen lassen.
Nicht minder bedeutend war der Erfolg der Opposition in der Reichs¬
steuerfrage, über deren Wichtigkeit sich Waldeck in einem Briefe an Som-
melscyk schneidend klar ausläßt, wenn er als das ganze Geheimniß der Ab¬
wehr gegen die Habsburgische Politik bezeichnet: garäsi- ig, äireetion <Zös
al'inLS se tenir ig, Kourse Iiors nich iratus Ä6 I'carvi'LUl'. Zum verfassungs¬
mäßigen Abschluß dieser Angelegenheit, wie ihn Waldeck durch Einführung
einer ständischen Controle über die bewilligten Römermonate zu erreichen
wünschte, gelangte man allerdings auch hier nicht. Aber man hinderte doch
den Kaiser, seine Absicht in Betreff der bindenden Beschlüsse der Reichs-
mäjorität durchzusetzen. Und damit war denn doch viel gewonnen. Es war
der Hauptangriff der östreichischen Partei abgewehrt: freilich nur ein nega¬
tives Resultat; aber konnte man denn überhaupt darauf rechnen, vom Dorn¬
busch Trauben zu gewinnen? war die Reichsverfassung, in der veraltete,
abgelebte Institutionen unvermittelt neben den kräftig emporstrebenden Terri¬
torialgewalten lagen, einer die nationalen Bedürfnisse befriedigenden Reform
fähig? So wenig, wie in den sechziger Jahren unseres Jahrhunderts der
Bundestag. Die Reichsverfassung mochte als äußeres Band fortbestehen:
eine Regeneration des Vaterlandes ließ sich nur durch Anknüpfung an die
lebenskräftige Fürstengewalt erzielen. Ohne Rücksicht aus die bestehende Ver¬
fassung, ja im Gegensatz zu ihr durch Vereinigung zunächst der norddeutschen
Territorien unter Brandenburgs Leitung den Grund zu einem neuen ent¬
wickelungsfähigen Organismus zu legen, das war die Aufgabe, die sich
Waldeck jetzt stellte. Hohenzollern gegen Habsburg, das war der wahre
Gegensatz, den man mit dem scharfblickender Instinkt des Hasses schon seit
einem Jahrhundert in Wien geahnt hatte, der in jeder bedeutenden Entwicke¬
lungsepoche des norddeutschen Staates schärfer und schärfer hervortrat, um
den die Geschicke Deutschlands sich zu drehen begannen.
Auch in den meisten anderen Punkten, wie z. B. in Betreff der For¬
derung einer paritätischen Besetzung des Neichshosraths wurde ein positiver
Erfolg nicht erzielt. Die Verhandlungen mußten unfruchtbar bleiben, weil die
Gegensätze innerhalb der Verfassung unlösbar waren. Waldeck wagte den
Versuch, die oppositionellen Elemente außerhalb des Reichstags zu einheit¬
lichem Wirken zusammenzufassen, dem Hause Habsburg eine Fürsten Union
unter der Leitung Brandenburgs entgegenzusetzen. Die Geschichte dieser Unions¬
politik gehört zu den bedeutendsten Srücken des Erdmannsdörfferschen Buchs.
Ist es auch unmöglich, in der Kürze die meisterhafte Darstellung der überaus ver¬
wickelten Verhältnisse, aus denen sich die Unionspolitik herausgearbeitet hat, durch
alle Einzelheiten zu verfolgen, so können wir doch die Hauptpunkte bezeichnen,
an welche der Kurfürst und Waldeck anknüpften, um den Gefahren der Lage
nicht durch matte Vertheidigung auszuweichen, sondern durch eine kühne, ent¬
schlossene, vorwärts drängende und schöpferische Politik zu begegnen.
Von den spanischen Niederlanden wurde die Sicherheit der branden¬
burgischen Besitzungen am Rhein, wie die aller westlichen Reichslande durch
den Herzog von Lothringen, den spanischen Parteigänger, bedroht, der in dem
Maße dreister auftrat, je schimpflicher sich die Schwäche des Reiches docu-
mentirte. In Norddeutschland strebte Schweden und, wie das Hildesheimer
Bündniß beweist, nicht ohne Erfolg nach der Rolle der leitenden Macht.
Gegen den spanischen Freibeuter mußte Brandenburg offen Front machen.
Mit Schweden, das dem Lothringer auch ohne förmliches Bündniß aufs
Beste in die Hand arbeitete, ward ein äußerlich gutes Einvernehmen gepflegt,
ein Gebot der Klugheit, obgleich gerade die nordische Großmacht das Wachsen
des brandenburgischen Einflusses in Norddeutschland mit der argwöhnischsten
Aufmerksamkeit überwachte. Dazu kam der unruhige Ehrgeiz des Pfalz¬
grafen von Neuburg, der durch eine Art von Staatsstreich den westfäli¬
schen Kreis dem unbedingtesten Einfluß der katholischen Stände unterworfen
hatte, und der, während er selbst mit dem Lothringer und Spanier conspirirte,
durch Köln mit den niederländischen Staaten Verbindung anzuknüpfen suchte.
In dieser gefährlichen Jsolirung forderte der Kurfürst im December 16S3,
also noch während des Reichstags, von den Mitgliedern des Geheimraths-
collegs ein Gutachten, ob in der gegenwärtigen Lage der Abschluß engerer
Alliancen rathsam sei? Dieser Aufforderung kommt Waldeck in einem im
Arolsener Archiv aufbewahrten merkwürdigen Memorial nach, in welchem er
seine Ansichten mit dem Feuer der Begeisterung und der Kraft wohlbegründeter
Ueberzeugung darlegt. Nachdem die verfassungsmäßigen Organe des Reichs und
die bestehenden Institutionen, Reichstag, Kreisordnung, Kurfürsten- und Fürsten¬
verein, Erbverbrüderungen, Nechtshöfe einer vernichtenden Kritik unterworfen
worden sind und ihre Untauglichkeit zur Sicherung des Reichs gegen das Aus¬
land, wie zur Garantie der einzelnen Stände gegen die despotischen Gelüste des
Wiener Hofes nachgewiesen ist, kommt der Graf zu dem Schluß, daß allein eine
Verbindung Brandenburgs zunächst, mit den norddeutschen Ständen, die sich
nach und nach auch über Süddeutschland ausdehnen könne, den Staaten
hinreichenden Schutz zu gewähren vermöge. Waldeck faßt zunächst die pro¬
testantischen Stände ins Auge. Aber in dem Wesen seines Entwurfes, der
auf ein rein politisches Bündniß abzielte, lag durchaus Nichts, was den Zu¬
tritt katholischer Fürsten unmöglich gemacht hätte, wie denn auch Kur-Köln
zu denjenigen Ständen gehörte, die in erster Linie für den Bund in Aussicht
genommen wurden. Von einem solchen Bündniß erwartet Waldeck nicht
bloß augenblickliche Hilfe, sondern er hofft auch (und diese Hoffnung beruht
besonders auf der notorischen Schlaffheit und Unentschlossenheit Sachsens),
„daß der Kurfürst unzweifelhaft für das Haupt der anderen Bundesgenossen
erkannt, erklärt und beständig gemacht werde" — ein Postulat, das um so
kühner war, da ja auch das mächtige Schweden für Pommern, Bremen und
Verden an dem Bunde Theil nehmen sollte.
Vor Allem kam es darauf an, die braunschweigischen Höfe zu gewinnen,
deren Bündniß der Kurfürst schon früher gesucht hatte, die ihm aber durch
ihren Eintritt in den Hildesheimer Bund entfremdet waren. In der That
zeigen sich die Braunschweiger, unter dem huschen Eindruck der eben voll¬
zogenen brandenburgischen Schwenkung in der Reichspolitik, nicht abgeneigt,
in nähere Beziehungen zu dem Kurfürsten zu treten und namentlich für seine
Aufnahme in den Hildesheimer Bund zu wirken, um dadurch Schwedens ge¬
fährliches Uebergewicht zu neutralisiren. Gleichzeitig wurde Kur-Köln durch
die Sendung von Hilfstruppen gegen den Lothringer in dem Grade für die
brandenburgische Politik gewonnen, daß jeder Gefahr, die aus einem Bünd¬
niß Kölns mit den Niederlanden hervorgehen konnte, die Spitze abgebrochen
war; daher denn auch der Kurfürst dies Bündniß, welches ihm den Weg
zur Verständigung mit den Staaten eröffnen sollte, eifrig beförderte. Die
unerwartete und in ihren Motiven noch nicht völlig aufgeklärte Gefangen¬
nehmung des Lothringers durch die Spanier war insofern für Branden¬
burg nicht erwünscht, als mit der Beseitigung einer der dringendsten Ge¬
fahren der Eifer seiner neuen Verbündeten etwas abgekühlt wurde. Nichts¬
destoweniger blieben die Verhältnisse so drohend, daß die weiteren Verhand¬
lungen ihren guten Fortgang hatten und günstige Ergebnisse versprachen.
Nur gegen ein Scparatbündniß mit Brandenburg, zu dem natürlich allen
anderen Ständen der Zutritt offen zu lassen wäre, sperrten sich die Braun¬
schweiger; sie wollten, daß alle Alliancebesteebungen sich innerhalb der Kreis¬
verfassung bewegten, daß man den westphälischen und den sächsischen Kreis
kräftig organisire und dann eine Verbindung zwischen diesen beiden Kreisen
herzustellen suche. Für wie wenig entwickelungsfähig Waldeck aber die be¬
stehenden Reichsinstitutionen hielt, haben wir schon gesehen. Man mochte
an dieselben immerhin anknüpfen. Das wahre Ziel seiner Politik war aber
auf Separatbündnisse gerichtet, die (wie Erdmannsdörffer besonders in dem
letzten, Waldecks Bestrebungen mit Friedrichs des Großen Unionspolitik
scharfsinnig vergleichenden Schlußabschnitt des fünften Kapitels ausführt)
allmälig zu einer festen Union unter Brandenburgs Leitung zusammenwachsen
sollten. Daß dies der letzte Gedanke der brandenburgischen Politik sei, ahnte
man, trotz Waldecks überaus vorsichtiger Zurückhaltung, an den welfischen
Höfen wohl, und daher auch das Sträuben gegen eine Maßregel, von der
man fürchtete, daß sie Brandenburg den Weg zu einer gebietenden Stellung
in Norddeutschland bahnen würde. Nach langen Verhandlungen gelingt es
endlich auf den Conferenzen zu Goslar im Juni 1654, durch die Drohung
mit einer brandenburgisch-französisch-schwedischen Alliance die Sprödigkeit
der Braunschweiger zu überwinden und sie zu einer jedoch nur für die
Reichslande des Kurfürsten geltenden und auch die Jülichschen Händel
ausnehmenden Alliance zu bewegen, der auch Kur-Köln bald darauf beitritt.
Welche Aussichten eröffnete unter diesen Umständen der am 9. Juli 1654
erfolgte Tod des jungen Königs Ferdinand! Jetzt war der Augenblick ge¬
kommen, den Kampf gegen Habsburg aufzunehmen. Man einigte sich mit
Köln leicht dahin, daß die Königswahl in der Schwebe gehalten und daß
die Verbündeten nur nach vorhergegangener Verständigung in dieser Ange¬
legenheit vorgehen sollten. Wie die Sachen lagen, konnte Waldeck sich der
Hoffnung hingeben, die Wahl auf den Kurfürsten von Baiern zu lenken und
damit zu einer völligen Neugestaltung der Neichsverhältnisse den Anstoß zu
geben, als der lang erwartete Ausbruch des großen Krieges zwischen Schwe¬
den und Polen die Thätigkeit des Kurfürsten auf einen neuen Schauplatz
rief und ihn nöthigte, alle seine Kräfte zusammenzuraffen, um allen Er¬
fordernissen der Situation gerecht zusein. Ein falscher Schritt, eine Ueber-
eilung konnte mit dem Verlust der östlichen Besitzungen gebüßt werden.
Durch kluge, dem Gange der Ereignisse sich auschmiegende, die militärischen
Kräfte des Staates geschickt verwerthende Politik konnte der Kurfürst hoffen,
Preußen von der polnischen Lehnshoheit zu befreien. Es stand Großes auf
dem Spiele, aber es war auch Großes zu gewinnen: der unberechenbare
Vortheil einer souveränen Stellung. Der Kurfürst hat die Souveränetät
errungen und damit die Doppelstellung gewonnen, die für Preußens weitere
Entwickelung und die Geschicke Deutschlands von maßgebender Bedeutung
geworden ist.
Der äußerst verschlungene und wechselvolle Verlauf des großen Kampfes,
in dem der kräftig aufstrebende Staat- seine erste glückliche Probe auf dem
Schauplatz der europäischen Politik ablegte, ist bekannt. Nur soviel sei be¬
merkt, daß auch in dieser entscheidenden Krise Waldeck's rastlose Thätigkeit
dem Kurfürsten die ersprießlichsten Dienste leistete, wie von Erdmannsdörfer
bis ins Einzelne nachgewiesen wird. Leider sollte in diesem Kampfe Wal¬
decks Laufbahn als brandenburgischer Minister ihren Abschluß finden. Er
verlor, wie es von dem Träger eines so scharf ausgebildeten politischen
Systems nicht anders zu erwarten war, niemals die vor dem Kriege an¬
geknüpften Beziehungen aus dem Auge; die Erfolge im Osten für die
Reichspolitik zu verwerthen, die Union weiter zu entwickeln, Habsburg bis
aufs Aeußerste zu bekämpfen, das blieb ihm die höchste Aufgabe des branden¬
burgisch-preußischen Staats. Daher war er denn auch der eifrigste Beförderer
des schwedischen Bündnisses, um so energischer, je schärfer der Gegensatz
zwischen Schweden und Oestreich hervortrat. Gleich im Beginn der Ver¬
wickelungen suchte er Schweden für ein enges Bündniß zu gewinnen, welches
die nordischen und die deutschen Angelegenheiten zugleich umfaßte, welches
also Schweden in Polen, Brandenburg in Deutschland freien Spielraum ge¬
währen sollte. Schweden aber, das sich damals mit dem Kaiser noch nicht
auf gespannten Fuß zu setzen wagte, lehnte das Anerbieten ab. Waldeck
ist unermüdlich; jede Pause in den nordischen Händeln benutzt er, um seine
deutschen Pläne wieder in Fluß zu bringen; er ist unerschöpflich in Ver¬
suchen, die polnische mit der deutschen Frage in einer nach beiden Seiten
hin fördernden Weise zu combiniren, immer scharfsinnig und fein, aber aller¬
dings nicht immer mit genügender Berechnung der beschränkten Mittel des
Staates. Man kann sich doch des Eindrucks nicht erwehren, daß der feurige,
mit lebhafter, schöpferischer Einbildungskraft begabte Staatsmann sich oft
mehr, als mit den Erfordernissen des Augenblicks vereinbar war, von seinen
Lieblingsideen beherrschen ließ, daß er durch seine diplomatische Virtuosität
in Verbindung mit einem etwas sanguinischen Temperament verleitet wurde,
bet seinem Calcül die hindernden Factoren zu niedrig, die fördernden zu
hoch anzuschlagen.
Der Systemwechsel der Jahre 1637 und 1638, der Preußen zum
Bundesgenossen Polens und zum Gegner Schwedens machte, fand daher in
Waldeck einen entschiedenen Gegner, da ein Bündniß mit Oestreich eine un¬
vermeidliche Consequenz der polnischen Alliance war. Und das in einem
Augenblick, wo der Tod Kaiser Ferdinands III. die Gelegenheit zu bieten
schien, den Dingen die lange vorbereitete Wendung contra clvmum auKtrmea,in
zu geben!
Die jähe Wendung der kurfürstlichen Politik ist für Preußen die Quelle
glänzender Erfolge, aber auch schwerer Verwickelungen und Gefahren ge¬
wesen. Vor Allem war beklagenswerth, daß das Aufgeben der Unions¬
bestrebungen die unmittelbare Consequenz des Wechsels war. Der Gegensatz
gegen Oestreich trat bald genug wieder hervor. Ihn aber wiederum zum Aus¬
gangspunkt für eine schöpferische deutsche Politik zu machen, blieb dem Kur¬
fürsten in der Folge versagt. Erst seinem großen Urenkel war es vergönnt,
das unterbrochene Werk wieder aufzunehmen. Dennoch stehen wir nicht an,
jenen Wechsel bei der Unzuverlässigkeit Schwedens für eine Nothwendigkeit
zu halten. Daß Waldeck die Sache nicht so ansah, ist erklärlich, und daß er,
um nicht einem in seinen Augen verderblichen System zu dienen, den Dienst
des großen Kurfürsten verließ, legt Zeugniß für die Selbständigkeit seines
Charakters und die Stärke seiner politischen Ueberzeugungen ab. Dennoch
kann man ihn nur mit Bedauern aus den Verhältnissen scheiden sehen, die
einem begabten patriotisch gesinnten Staatsmanne unter allen Umständen
Gelegenheit zur Bethätigung seiner Kräfte boten.
Wir können nur wünschen, daß die weiteren Schicksale und Thaten
Waldecks einen ebenso kundigen und seiner Aufgabe gewachsenen Darsteller
finden mögen, wie seine kurze Laufbahn im Dienste des Kurfürsten in
Erdmannsdörffer gefunden hat. Unser Verfasser bricht seine Erzählung mit
Waldecks Rücktritt ab und erwähnt zum Schlüsse nur noch, wie in den Jah¬
ren 1681 und 168S der Kurfürst und sein ehemaliger Minister noch einmal
sich nahe traten. Waldeck drängte den über die kaiserliche Politik tief ver¬
stimmten und mit Frankreich befreundeten Kurfürsten zum Kriege gegen
Frankreich. Und als nach längerem Zögern 1686 der Kurfürst mit voller
Energie sich zum europäischen Unabhängigkeitskampf gegen Frankreich rüstete,
wurde Waldeck zu einem der Oberbefehlshaber über die deutschen Bundes¬
truppen erwählt. „So fanden sich am Abend ihres Lebens die beiden
Männer doch noch einmal in der gemeinsamen Richtung auf eine große
nationale Aufgabe zusammen."
Das sprichwörtliche blinde Glück Oestreichs hat viel von seinem Credit
verloren, aber so ganz und gar will es sich doch nicht ins Fabelbuch ver¬
weisen lassen. Ja, die Psaffenorgane im Lande und außer demselben haben
guten Grund, Zweifel an der Wahrheit der entsetzlichen Krakauer Kloster¬
geschichte zu äußern, denn nie ist auf dem Theater ein 6sus «x maelrins,
pünktlicher erschienen, wenn das Latein der Helden und Liebenden zu Ende
war, als die unglückliche Barbara Ubryk dem Reichs- und dem cisleithani-
scheu Ministerium zu Hilfe kam. Die Actien der mit Hochdruck arbeitenden
clerical-feudalen Partei standen wieder einmal günstig, das kann als sicher
angenommen werden. Gerüchte will ich nicht wiederholen; seit dem so merk¬
würdigen Staatsstreiche von 1865 ist man hier sehr geneigt zur Gespenster-
seherei und überdies haben wir ja die Gefahr vorläufig hinter uns. Aber
daß sie vorhanden war, das stellen die öffentliche und private Agitation in
Sachen des angeklagten Bischofs von Linz und die überraschend schnelle Be¬
gnadigung desselben wohl außer Zweifel. Doch nicht genug, daß den An¬
wälten der geknechteten Kirche und des verleumdeten Concordats plötzlich so
derb auf den Mund geschlagen wird und sie aus Klugheit gerathen finden
werden, ihn nicht zu bald wieder zu öffnen. Die Regierung wird förmlich
gezwungen, den Fall in Krakau zum Ausgangspunkte energischer und gründ¬
licher Maßregeln zu nehmen, sie könnte nicht ausweichen, auch wenn sie wollte.
Das Interessante ist nämlich, daß die Gerichte den Vorsteherinnen des Car-
meliterinnenklosters, welche die unglückliche Nonne in Schmutz, Kälte und
Hunger verkommen ließen, sehr wenig werden anhaben können, denn diese haben
in gutem Glauben, haben ihren Ordensvorschriften gemäß gehandelt, sie
schädigten die Schwester nicht „aus bösem Vorsatz", nicht „in feindseliger
Absicht", sie übten eine ihnen zustehende Gewalt aus, und damit ist nach
der Ansicht tüchtiger Juristen das Verfahren gegen Barbara Ubryk aus der
Kategorie der Verbrechen und Vergehen in die der „Uebertretungen" ver¬
wiesen. Wenn dem so ist und der Gerichtshof demgemäß zu Recht erkennt,
so muß ein solches Factum mit viel mehr überzeugender Gewalt und un-
widerleglicherer Logik als alle staatsrechtlichen Deductionen vermöchten, dar¬
thun, daß der Rechtsstaat eine Fiction ist, so lange Exemptionen irgend einer
Art bestehen, oder so lange — um ein früher aller Welt geläufiges Schlag'
wort zu gebrauchen — so lange der Staat im Staate geduldet wird.
Die Presse, die Vereine und Volksversammlungen drängen denn auch
die Negierung zu energischen Schritten, mit Heftigkett und oft mit viel Un¬
vernunft. Volksversammlungen muß man wohl in dem Punkt etwas zugut-
halten. Aber es macht nicht bloß einen niederschlagenden Eindruck, wenn die
sogenannte Volkspartei sich dermaßen blamirr, wie neulich in Wien. Bei uns
ist dergleichen nie ungefährlich. An sich würde es wenig bedeuten, wenn eine
Schaar unschädlicher Schwätzer einige Hundert Menschen um sich versammel¬
ten und ihnen theils unreifes, theils abgestandenes Zeug über die „Kloster¬
frage" -vortrügen; man könnte höchstens die beispiellose Tactlosigkeit dieser
„Führer" bedauern, welche bei einer solchen Gelegenheit in einem überwiegend
katholischen Staate einen Protestanten zum Vorsitzenden und einen Juden
zum Hauptredner machen. Leider steht aber bei uns die liberale Sache noch
auf sehr schwachen Füßen und das stolze Pochen der Zeitungen auf die be-
schworene Verfassung hat gar zu viel von dem Singen der Kinder im Finstern
an sich. Und in der That lauern ja die Gegner, welche weder versöhnt sind
noch an Einfluß eingebüßt haben, nur auf den rechten Moment, um „dem
ganzen Schwindel" ein Ende zu machen. Was kann ihnen willkommner
sein als solch' Volksversammlungsgewäsch, gegen welches sich an Ort und
Stelle keine, in der Publicistii' kaum eine Stimme erhob! Da muß die gute
Sache immer büßen für die Streiche ihrer ungeschickten Anhänger. Und auch
die liberalen Blätter behandeln die Angelegenheit nur selten verständiger.
Aushebung der Klöster, Einziehung der Kirchengüter — die Forderung ist so
einfach und imponirt dem großen Haufen. Und werden überdies die Minister
mit harten oder spöttischen Worten angelassen, weil sie nicht augenblicklich
den Botschafter von Rom abberufen und das gesammte Eigenthum der
todten Hand confisciren wollen, so ist die öffentliche Meinung entzückt über
den Muth und die Weisheit ihrer Vertreter. Ich habe keinen Oeruf, un¬
sere Minister weiß zu waschen, daß man sie aber in dieser Frage höchst un¬
billig behandelt, ist mit Händen zu greisen. Dem Grafen Beust ist aller¬
dings vor Kurzem etwas Unangenehmes begegnet; Einer von der ultramon¬
tanen polnischen Clique bezeugte ihm in der Delegation, er und seine Freunde
seien mit des Reichskanzlers Haltung gegen Rom vollkommen zufrieden.
Das war ein verdächtiges Lob. Allein man darf nicht vergessen, daß Beust
Protestant ist und daher doppelt vorsichtig sein muß, um nicht Alles zu ver¬
derben. Und wenn die demokratischen Organe andere Minister an die Glau¬
bensbekenntnisse erinnern, welche diese einst als Oppositionscandidaten vor
ihren Wählern abgelegt haben, so ist das auch ein sehr wohlfeiler Spaß.
Ein Fußgänger vermißt sich Wohl, den Hügel dort in einem Laufe zu er¬
steigen; kommt er am Fuße derselben an, so erkennt er überrascht in dem ver¬
meintlichen Hügel einen steilen Felsen, dreimal so hoch, als er ihn aus der
Ferne schätzte. Nun kann man ihm wohl die frühere Uebereilung zum Vor¬
wurfe machen, nicht aber ein bedächtiges Ersteigen der Höhe.
Zudem handeln all' die mit dem Munde überaus Kühnen für sich noch
viel vorsichtiger als die verantwortlichen Lenker des Staatsschiffs. Wir lesen
nicht leicht eine Ftlosterstürmerredc, in welcher nicht die feierliche Versicherung
vorkommt, Redner sei ein guter Katholik, ein treuer Sohn der Kirche. Und
wenn man den guten Katholiken aufs Gewissen fragte, würde sich ergeben,
daß ihm alle Dogmen gleichgiltig, daß er sich um die Kirche gar nicht kümmert.
Wozu also die Heuchelei? El nun, man kann doch nicht wissen, für alle
Fälle, es ist leidige Gewohnheitssache. Wir wollen auch damit nicht zu
streng ins Gericht gehen, es ist ja noch nicht gar lange her, daß ein Pro-
fessor der Naturwissenschaften, ein Mann von europäischem Rufe, öffentlich er¬
klären mußte, die Ergebnisse feiner Forschungen stünden nicht im Widerspruch
mit den Lehren der katholischen Kirche — er hätte sonst seine amtliche Stel¬
lung riskirt! Vor dreihundert Jahren dachten die Deutschen in Oestreich
freilich anders, sie sagten sich einfach los vom Papstthum, wanderten schaaren-
weise aus, als dieses wieder die Oberhand gewann, oder fügten sich doch erst
dem härtesten Zwange. Heute nun könnte das östreichische Volk den damali¬
gen verhängnißvollen, vielbeklagten Irrthum der Habsburger wieder gut¬
machen. Der fromme Wahn der Kaiser, sie dürften die reformatorische Be¬
wegung nicht aufkommen lassen, verschuldete die religiöse und politische Zer¬
klüftung Deutschlands; der Starrsinn des Papstthums könnte jetzt wenigstens
zur religiösen Wiedervereinigung führen. Der Gedanke, daß eine natürlich
von Rom unabhängige deutsche Nationalkirche der Spaltung ein Ende machen
könnte, ist ja hüben und drüben nie ganz ausgestorben, und würde in Oestreich
in großartigem Maßstabe das Beispiel der Lossagung von Nom gegeben,
die Bewegung müßte unwiderstehlich sein, Priester vor Allem würden massen¬
haft und freudig sich derselben anschließen, und wäre jener wichtigste, ent¬
scheidende Schritt einmal geschehen, wäre mit dem unfehlbaren Bischof
von Rom erst gebrochen, so sollte die Verständigung wohl nicht unmög¬
lich sein.
Ohne ernste Kämpfe im Innern wäre das gewiß nicht durchführbar;
aber als ob uns die jetzt erspart bleiben würden! Der Mittelstand ist überall
der Reform zugethan, doch auf den hohen und höchsten Adel und auf die
Gebirgsbevölknung hat die zu Rom haltende Geistlichkeit noch immer großen
Einfluß und benützt ihn im Stillen kräftigst. Der Adel will nicht auf¬
geklärt sein, mag er sich daher immerhin schmollend zurückziehen oder ohn¬
mächtige Proteste erheben. Dem Bauern hingegen muß der Aberglaube
genommen werden, daß es darauf abgesehen sei, ihn zu entchristlichen, ihm
seinen Glauben zu verkümmern. Den harten Naturen, welche sich den dürf¬
tigen Lebensunterhalt durch schwerste, ost lebensgefährliche Arbeit täglich er¬
ringen müssen, ist der Cultus noch eine Sache, für welche sie zu handeln und
zu dulden bereit sind. Aber nichts ist verkehrter, als deshalb, wie es so oft ge¬
schieht, über diese Leute als verdummte Pfaffenknechte den Stab zu brechen.
Zu anderer Zeit schlugen sich die Tiroler, Salzburger, Jnneröstreicher ebenso
tapfer für „das reine Evangelium" gegen die Pfaffen, wie sie sich gegen¬
wärtig schlagen würden, wenn man sie mit Gewalt evangelisch machen wollte,
und die blutarmen Holzknechte und Salzarbeiter in der Gosau, am Hall-
Städter See u. s. w. bargen hundert Jahre lang ihr protestantisches Bekennt¬
niß, bis eine bessere Zeit dann wieder gestattete, dasselbe offen zu zeigen.
Solche Menschen lassen sich fanatisiren, aber auch aufklären, wenn man nur
zu ihnen gelangt und ihre Sprache zu reden weiß. Vorderhand ist die Ge¬
fahr noch groß, denn sie hören nur den Pfarrer, zu welchem sie allsonntäglich
aus ihren Thälern und' von ihren unzugänglichen Höhen herabsteigen; Zei¬
tungen kommen nicht zu ihnen, überhaupt nichts Gedrucktes als der Kalender
und der Steuerbogen. Würde ihnen begreiflich gemacht, daß die Gesetze,
welche die Pfaffen ihnen so fürchterlich malen, gar nichts Anderes bezwecken,
als ihnen wie jedem Andern völlige Glaubens - und Cultusfreiheit zusichern,
so würden sie sich nicht weiter um dieselben scheeren; so lange es nicht ge¬
schieht, ist von ihnen gelegentlich erbitterter Widerstand zu gewärtigen, vor¬
züglich da, wo noch der von Geistlichen so fleißig geschürte Nationalitäten¬
streit mit ins Spiel kommt. In diesem Punkte läßt die liberale Partei sich
unverantwortliche Versäumnis) zu Schulden kommen. Es gibt wohl einzelne
Missionäre, welche unermüdlich in den Bergen umherklettern und sich be¬
mühen, den Bewohnern derselben ein Licht aufzustecken, aber im Großen ge¬
schieht nichts. Die Regierung ihrerseits fühlte das Bedürfniß, dem Einfluß
der Geistlichkeit entgegenzuwirken, aber wie stellte sie es an! Auf den ge¬
wöhnlichen amtlichen Wegen wurden zu Tausenden Brochüren über die Ver¬
fassung, die konfessionellen Gesetze, die Wehrpflicht verbreitet, und wenn sie,
wie sich vermuthen läßt, gar nicht in die Hände gelangten, für die sie be¬
stimmt waren, so ist das vielleicht noch ein Glück zu nennen. Es mag ein
Witz gewesen sein, daß irgendwo zu lesen stand, das Ministerium lasse alle
diese Schriften von einem Beamten des Preßbureaus fabriciren, welcher sich
durch ähnliche Arbeiten das besondere Vertrauen des Grafen Belcredi er¬
worben habe, vorzüglich durch eine gegen die jetzigen Minister und das con-
stitutionelle System gerichtetete Brochüre. Das wird, wie gesagt, ein Witz
gewesen sein; aber schlecht war er nicht, denn die Hefte schauten in der That
aus. als ob sie auf Commando von Einem zusammengeschrieben seien, der in
einem Athem für und gegen dieselbe Sache schreibt. Da verstehen die Geist¬
lichen das Geschäft besser. Freilich kennen sie auch deiv Jdeenkreis. die Be¬
dürfnisse, Stärken und Schwächen und die Sprache des Volks, mit welchem
sie zu thun haben. Vom Bureautisch aus läßt sich ihrer Agitation kein Halt
gebieten. Ein Preßverein mit zahlreichen Filialen, welche nach gemeinsamen
Grundsätzen, aber frei je nach den provinziellen und localen Verhältnissen
vorgingen, hätte noch am ersten Aussicht, zu reussiren. Doch da gälte es zu
handeln, nicht bloß Geld, sondern auch Zeit für die Sache zu opfern. Und
wie wenig unsern Liberalen bis jetzt einleuchten will, daß die Freiheit Opfer
an Zeit und Bequemlichkeit fordert, das beweist die große Scheu vor offene-
lichen Aemtern, welche nichts eintragen, und die geringe Freude, welche die
Meisten über die Ehre empfinden, auf der Liste der Geschworenen zu
figuriren.
Die Sommermonate dieses Jahres boten den polnischen Patrioten zwei
erwünschte Gelegenheiten, ihre Sache im Gedächtniß Europas aufzufrischen
und ihre Landsleute zum Bekenntniß unveränderten Glaubens an die Wieder¬
herstellung der königlichen Republik zu mahnen. Im Juli wurde die zufällig
aufgefundene Leiche König Kasimirs in der Kathedrale von Krakau feierlich
beigesetzt, am 11. August kehrte der 300 Jahrestag jener Union zwischen Polen
und dem Großfürstenthum Litthauen wieder, welche im I, 1569 zu Ludim
ausgesprochen worden war, um unwissentlich den ersten Nagel in den Sarg
des polnischen Staats zu treiben. Ist es doch diese Einverleibung der wenig¬
stens zum Theil von griechisch-orthodoxen Christen und Weißrussen bewohn¬
ten Länder gewesen, welche die Dissidentenhändel und damit die Einmischung
Rußlands in die inneren Angelegenheiten der Republik herbeiführte. Nichts¬
destoweniger sollte dieser Tag gefeiert werden, um Zeugniß dafür abzulegen,
daß Polen an seinen alten Grenzen und an der Interessen-Solidarität aller
ehemals polnischen Länder festhalte.
Natürlich wurde von russischer Seite sofort die Parole ausgegeben, daß
jede Betheiligung an der einen wie der andern Feier Verrath an der sla¬
visch-nationalen Sache sei. Dadurch konnte aber nicht verhindert werden,
daß beide Tage zu Krakau wie zu Lemberg unter zahlreicher Betheiligung
der Bevölkerung begangen wurden. Aber die Ruthenen thaten wenigstens
ihr Möglichstes, um namentlich gegen die Union von Ludim zu Protestiren,
da dieselbe ihrer Nationalität ebenso zu nahe trat, wie dem russischen Staat.
Die Grablegung Kasimirs war so rasch gekommen, daß man derselben un-
gerüstet gegenüberstand. Sämmtliche griechische und unirte Geistliche, die
sich an der Begehung der Grablegung Kasimirs betheiligt hatten, erhielten
von ihren Bischöfen Verwarnungen — gegen die Unionsfeier aber wurden
bei Zeiten Maßregeln ergriffen. Die großrussische Partei erließ in dem „Slowo"
eine feierliche Verwahrung, welche die Bedeutungslosigkeit der vor 300 Jahren
stattgefundenen Union mit historischen, staatsrechtlichen und politischen Grün¬
den nachzuweisen suchte, und auch die specifischen Kleinrussen sahen sich ver¬
anlaßt in einer als Brochüre gedruckten Kundgebung gegen diese historische
Thatsache nachträgliche Verwahrung einzulegen. Nichtsdestoweniger fanden
am 11. August zu Lemberg und an andern Orten Aufzüge statt und wurde der
Gedenktag von einzelnen russischen Landpriestern, bei welchen die von der
Partei ausgegebenen Parole nicht rasch genug angelangt sein mochte, in der
Stille begangen; anderweitige Demonstrationen waren — und zwar, wie
es heißt — auf Betreiben der polnischen Adelspartei, polizeilich untersagt
worden.
Im polnischen Lager hatte nämlich schon seit längerer Zeit ein Bürger¬
krieg gespielt, der die Einheit desselben sprengte, Aristokraten und Demo¬
kraten ohne Rücksicht auf die gemeinsamen Gegner verschiedene Wege führte
und die polnische Zwiespältigkeit aufs Neue in ein grelles Licht setzte. Seit
dem verhängnißvollen Landtage vom Sommer 1868 standen sich zwei Par¬
teien feindlich entgegen, welche denselben Gegensatz wiederspiegelten, der im
I. 1863 den Gouverneur von Russisch-Polen Marquis Wielopolski gestürzt
und den unglücklichsten aller polnischen Aufstandsversuche herbeigeführt hatte.
Die unverbesserliche Demokratie, an deren Spitze Smolka steht und die nament¬
lich in den Städten zahlreiche Anhänger zählt, hielt stritt an den Forderungen
von 1868 fest, verlangte offenen Bruch mit dem Ministerium gemeinsame
Action mit den übrigen slavischen Föderalisten und demgemäß Austritt der
polnischen Reichsrath-Vertreter. Auf diese Weise hoffte man die cisleithanischen
Minister zur Nachgiebigkeit und zur Bewilligung aller polnischen Forde¬
rungen, namentlich der besonderen galizischen Staatskanzlei zwingen zu können.
In diesem Sinne wurde weiter verlangt, daß jede Gelegenheit zu regierungs¬
feindlichen Demonstrationen benutzt und das Beispiel der czechischen Oppo¬
sition (mit welcher Smolka in engem Bündniß steht) nachgeahmt werden sollte.
Die „weiße" Partei (d. h. die aristokratische), an deren Spitze der ehe¬
malige Statthalter von Galizien Graf Agenor Goluchowski steht, hatte eine
zu lange Reihe trauriger Erfahrungen hinter sich, um auf diese thörichten
Forderungen eingehen und die zweifellose Gunst der Wiener Machthaber
einem Phantom zu Liebe aufs Spiel setzen zu wollen. Die Regierung hatte
ihre Willfährigkeit für das polnische Interesse noch eben durch das neue
Sprachenedict gezeigt, sie war die einzige europäische Macht, welche die natio¬
nalen Ansprüche Polens praktisch anerkannte — und ihr sollte man den Dienst
aufsagen, ohne daß diese Aufkündigung andere Vortheile bringen konnte,
als die unzuverlässige Freundschaft der czechischen Föderalisten? Schon die Rück¬
sicht auf das gespannte Verhältniß des Czechenthums zu den Magyaren
machte jedes Bündniß mit den slavischen Föderalisten unrathsam und das
Gebot der gewöhnlichsten politischen Klugheit verbot diese mächtigen Bundes¬
genossen gegen ein Häuslein ohnmächtiger Schönredner zu vertauschen. Go-
luchowski und die übrigen aristokratischen Führer erklärten, lieber ihre Man¬
date niederlegen als die unsinnige Politik mitmachen zu wollen, welcher
Smolka und die übrigen Günstlinge der Lemberger Demokratie das Wort
redeten. Weder hielten sie es für rathsam, mit den letzten polnischen Forde¬
rungen vorzeitig hervorzutreten, noch wollten sie vom Austritt aus dem
Landtage, oder von der revolutionären Demonstrations-Propaganda etwas
wissen, welche ihren im Königreich lebenden Brüdern eine Quelle namen¬
losen Elends geworden war. Zum Aerger der polnisch-demokratischen Jour¬
nale Lembergs zeichnete die Krakauer Kasimirfeier sich durch ihre ruhige ge¬
setzliche Haltung aus und bewirkten die Weißen, daß man sich auch in Posen
ruhig verhielt-, Ob es richtig ist, daß diese Weißen das Verbot der öffent¬
lichen Feier des Lubliner Unionstages durch ihre Pesther Verbindungen be¬
wirkten, mag dahin gestellt bleiben — Thatsache ist, daß sie derselben mög¬
lichst viele Dämpfer aufgesetzt haben.
Obgleich Smolka die Mehrzahl der von ihm berufenen Volksversamm¬
lungen für sein Programm gewann und verschiedene einflußreiche Deputirte,
die sich dem Austritt aus dem Reichstage widersetzt hatten, zur Niederlegung
ihrer Mandate nöthigte, gab er sich mit diesen Resultaten nicht zufrieden.
Um sich für den bevorstehenden Provinzial - Landtag eine möglichst starke
Majorität zu sichern, that er einen in der polnisch-galizischen Geschichte uner¬
hörten Schritt: er trug den Ruthenen unter Berufung auf die
Solidarität aller demokratischen Interessen ein Bündniß gegen
die aristokratische Partei an und suchte diesem Vorschlag durch Reisen
in verschiedene größere Städte möglichste Verbreitung und Popularität zu
sichern. Der Tag der Union von Ludim sollte den Charakter eines polnisch-
ruthenischen Verbrüderungsfestes gewinnen, die Grundlage für eine neue
Union der beiden durch uralten Haß entzweiten slavischen Völker abgeben.
Dieser von blinder Parteileidenschaft eingegebene Plan ist schon gegen¬
wärtig als vollständig gescheitert anzusehen. Die großrussische Ruthenen-
partei. welche wohl weiß, daß der bloße Schein einer Aussöhnung mit dem
polnischen Element, ihr alle Sympathien der einflußreichen Petersburger
und Moskaner Gönner kosten würde, hat Smolka's Vorschläge höhnisch als
Fallen zurückgewiesen und sich mit aller Schroffheit auf den national-russi¬
schen Standpunkt gestellt. Das Journal „Slowo" erklärte, daß alle polnisch¬
russischen Differenzen im Princip bereits ausgeglichen seien, indem Rußland
den ehemaligen polnischen Staat bis auf einen kleinen Rest verschlungen
habe, — dessen zu geschweigen, daß die preußisch-polnischen Länder so gut
wie germanisirt seien. Eine andere Lösung der polnischen Frage gebe es gar
nicht und darum seien alle Verhandlungen über dieselbe überflüssig; wenn die
Polen Galiziens den Ruthenen aus freien Stücken Concessionen machen
wollten, so sei der Landtag dazu der passendste Ort, nicht aber ein polnisches
Fest, welches die russische Nationalität an die Jahrhunderte lange Schmach
erinnere, welche sie durch eine widernatürliche und noch dazu betrügerisch zu
Stande gekommene Union mit der ehemaligen Republik erlitten. In ähn¬
lichem Sinne, wenn auch minder feindlich haben sich die Jungrussen, d. h.
die Anhänger des specifischen Kleinrussenthums ausgesprochen. Smolka ist
auf die Unterstützung der allerdings zahlreichen polnischen Demokraten be¬
schränkt geblieben, bei den Ruthenen hat er vollständiges Fiasco gemacht.
So werden sich auf dem nächsten galizischen Landtage statt der bisher
üblichen zwei nationalen Parteien, der polnischen und der ruthenischen, drei
Fractionen gegenüberstehen, ein Umstand der wohl geeignet wäre, den Ru¬
thenen eine größere Bedeutung zu geben, als sie sie jemals früher auf den
Lemberger Versammlungen besessen. Daß sie sich mit den polnischen Aristo¬
kraten gegen die regierungsfeindliche Partei Smolka's verbinden werden, ist
eben so wenig wahrscheinlich, wie eine Aussöhnung zwischen Smolka und
Goluchowski: beide polnischen Fractionen sind zu weit gegangen, um ohne
Weiteres nachgeben- zu können, zumal seit die Demokratie von der nationalen
Fahne abgefallen ist und den Versuch gemacht hat, mit dem alten Feinde der¬
selben Compromisse einzugehen. Was das Verhältniß zwischen Ruthenen und
Weißen anlangt, so ist dieses tradionell ein höchst feindliches; gerade die polnische
Aristokratie ist es gewesen, welche gemeinsam mit der katholischen Kirche alle
nationalen Bestrebungen des Bauernvolks niederhielt, dasselbe in wirthschaft¬
licher Abhängigkeit zu erhalten und um die Religion seiner Väter zu bringen
suchte. Der Bauernhaß der Ruthenen gegen die polnischen Gutsbesitzer ist
die Wurzel aller nationalen Bestrebungen dieses Volks gewesen. — Aus
diesen Gründen ist dem bevorstehenden Lemberger Landtage mit besonderem
Interesse entgegenzusehen.
Es wird noch übrig bleiben, einige Worte über die Bedeutung des
galizischen Nationalitätenstreits für Ungarn und die gesammte transleithanische
Reichshälfte zu sagen. — Es hat seinen guten Grund, wenn Magyaren und
galizische Polen von -Alters her auf freundlichem Fuße stehen und wenn
namentlich zwischen den Weißen und den Deakisten vielfach verhandelt wird.
Abgesehen davon, daß Magyaren und Polen in Rußland einen gemeinsamen
Feind haben, sind sie durch ein gleiches Interesse darauf hingewiesen, die
Agitation unter den Ruthenen und deren russische Sympathien zu bekämpfen.
In den nordöstlichen, an Galizien grenzenden Comitaten Ungarns leben
382,000 Ruthenen, welche an dem geistigen und politischen Leben ihrer in
Galizien wohnenden Stammesgenossen den lebhaftesten Antheil zu nehmen
begonnen haben und gleich diesen mehr und mehr in die großrussische Strö¬
mung gezogen werden. Diese ungarischen Ruthenen stehen natürlich mit den
übrigen slavischen und zur griechischen Kirche gehörigen Bewohnern des
Königreichs in Beziehung — sie geben die Mittelglieder zwischen diesen
und den panslavistischen Agitatoren im Nordosten ab. Gerade wie in Lem-
berg, so wird auch in Unghv«,r, dem Hauptort des erwähnten Comitats,
daran gearbeitet, die großrussische Literatursprache zur herrschenden zumachen,
in Nußland erscheinende Bücher und Zeitschriften zu verbreiten, das nationale
Bewußtsein des Volks und das patriotische Ehrgefühl der magyarisirten höheren
Classen zu wecken und die Einführung russischen Unterrichts in die höheren
Lehranstalten herbeizuführen. Das seit einigen Jahren zu Unghvar erscheinende
kirchliche Wochenblatt „Toise" ist das Organ dieser Bestrebungen und hat nach
den Zeugnissen russischer Journale, trotz der Kürze der Zeit, bereits bemerkens¬
werthe Resultate erzielt. — Bis jetzt haben die slavischen Bewohner Ungarns
sich trotz ihrer Unzufriedenheit mit der magyarischen Alleinherrschaft, welche
durch den Ausgleich vom Sommer 1867 geschaffen wurde, im Ganzen sehr
still gehalten. Die Kroaten sind eigentlich die einzige zur Stephanskrone ge¬
hörige Völkerschaft, welche zuweilen von sich reden macht und auch sie haben
sich in die neugeschaffenen Verhältnisse vorläufig gefügt.
Daß diese Fügsamkeit keine ewige sein werde, weiß man aber auch in
Pesth, so viel man sich auch auf die magyarischeUeberlegenheit über die unge¬
bildeten und zerfahrenen Slavenstämme zu Gute thun mag. Ungarn zählt
beinahe vier Millionen Bekenner der griechischen Kirche und "'/g derselben ge¬
hört nicht der unirten, sondern derselben Glaubensgemeinschaft an, welche in
Nußland herrschend ist. Schon aus diesem Grunde ist die bis jetzt behaup¬
tete Herrschaft der Polen über die Rutheneu Galiziens für Ungarn von hoher
Wichtigkeit. Wird dieselbe einmal beseitigt und das östliche Galizien — mit
oder ohne Zugehörigkeit zum russischen Staat — zu einem specifisch russischen
Lande gemacht, so können von dorther ohne Mühe Hebel angesetzt werden,
um die sprach- und glaubensverwandten Slaven der Stephanskrone, nament¬
lich die Nuthenen der östlichen Comitate, aus ihrer Apathie und Bedeutungs¬
losigkeit zu erheben und gegen die katholischen Magyaren ins Treffen zu
führen. Haben die griechisch-orthodoxen und unirten Slaven Ungarns eine
führende Macht, so ist es um die Ungefährlichkeit, die ihnen heute nachge¬
sagt wird, geschehen; die kirchlichen Gegensätze sind im östlichen Europa allent¬
halben die durchschlagenden und können leicht in politische umgesetzt werden.
Sobald Rußland völlig freien Zugang zu den Karpathen und deren west¬
lichem Hinterkante hat, erscheint das Magyarenthum ernstlich gefährdet.
Schon aus diesen Gründen hat Ungarn ein lebhaftes Interesse an der
Zukunft des polnischen Elements in Galizien und die den Entscheidungen
des bevorstehenden Lemberger Landtags gehen die östliche Hälfte der öst¬
reichisch-ungarischen Monarchie, nicht weniger als die westliche an. Bieten die
Feindschaft der Ruthenen und die Zwiespältigkeit der Polen auch genügende
Bürgschaft gegen eine ernste Gefährdung des dualistischen Systems von dieser
Seite, so würden der Sieg der polnischen Demokratie und der Austritt der
Galizier dem Reichstage, dem Ministerium doch höchst unwillkommen sein.
— schon wegen ihrer Wirkung auf die Czechen.
Eine Parallele zwischen Venedig und Trieft als Seehandelsplätzen kann
nur zu Gunsten der letzteren Stadt ausfallen, die der Gegenwart in dem¬
selben Maße sicher zu sein scheint, wie jene die Größe und Herrlichkeit ver¬
gangener Zeiten vertritt. Wie verschwinden die paar Schiffe, die man von
der Piazetta aus oder am Lido sieht, gegen den Mastenwald, der Triest's langen
Hafenkai vom Bahnhof bis zum Leuchtthurm säumt! In Trieft kann man
selbst am Sonntage nicht spazierengehen, ohne auf Schritt und Tritt die
Spuren schwunghaften überseeischen Geschäfts wahrzunehmen. Venedig hin¬
gegen enthüllt selbst dem Forschenden die Geheimnisse seines Handels nicht.
Statt des Tergesteums, wo die Zeitungen des ganzen Orients eifrige Leser
finden, Handelsdepeschen jede Mauerecke bedecken, und zu jeder Stunde des
Tages Geschäfte abgeschlossen werden, hat es den Marcus-Platz. der nur
einem holden Müßiggange gewidmet ist. Die berühmte alte Frage, was es
auf dem Rialto Neues gebe, kann nicht mehr erklingen, seit diese vornehmste
aller Brücken dem gemeinen Wochenmarktsverkehr überlassen ist. Die Shylocks
von heute handeln mit alten Kleidern, und die Antonios und Basscmios
treiben Pachtgelder von festländischen Ländereien ein oder sitzen über unfrucht¬
bar daliegenden Säcken mit Zechinen.
Sehr wenige der alten Geschlechter Venedigs eristiren bekanntlich noch
in einem Reste des einstigen Glanzes und Lebensgenusses. Das letzte Jahr¬
hundert der Republik, während dessen ihre Stadt war. was jetzt Paris ist,
der Sammelplatz des fashionablen und vergnügungssüchtigen Europa, hat die
meisten jener fürstlichen Vermögen aufgesogen, welche früher lange Jahr¬
hunderte zusammengehäuft hatten. Die Paläste am Canale Grande stehen
öde und in einem kläglichen Verfall, wenn nicht etwa eine Tänzerin, wie die
Taglioni, die zu sparen verstanden hat, oder eine vertriebene Dynastie, gleich
der bourbonischen, sich ihrer erbarmt, weil sie sich am wohlsten fühlt unter
Ruinen. Was noch vorhanden ist von den Tributen Cyperns und der Morea
oder von den Ueberschüssen des Monopolhandels zwischen Abendland und Mor¬
genland, liegt entweder im Landbesitz fest oder steckt nach Bauernart in alten
Truhen. Der heutige Nobile scheint sogar gut zu thun, wenn er mit dem
glücklich geretteten Capital der Ahnen nicht nach modernem Zinsenerwerb
geizt. Dieser und jener, der sich zur Betheiligung an irgend einer Speku¬
lation hatte verleiten lassen, ist übel angekommen. Es geht ihnen selbst jenes
bescheidene Maß von Verständniß heutiger Geschäftsumstände ab, das zur
Beurtheilung der Sicherheit industrieller und mercantiler Anlagen von der
einfachsten Art gehört.
Die große herrschende Erwerbsquelle des heutigen Venedig ist der
Fremdenbesuch. Es lebt davon, daß das alte Venedig im Stande gewesen
ist, Paläste und Kirchen von märchenhafter Pracht zu errichten, Gemälde und
Sculpturwerke in denselben anzuhäufen, die das Entzücken der kunstempfin¬
denden Welt sind. Von diesem Genuß, dessen Reiz die hohe Originalität
der Stadtanlage auf den Gipfel treibt, eine möglichst ausgiebige Steuer zu
erheben, ist der allgemeine Beruf der Venetianer unserer Zeit. Natürlich kann
es nicht mehr auf den Wegen der Gewalt geschehen; es nimmt daher die
friedlichere und gutmüthigere, aber noch mehr erniedrigende Form der Bette¬
lei an. Bettelei ist in Venedig Alles, kann man sagen, selbst ein erheblicher
Theil des täglichen kleinen Handels und Wandels. Die Specialitäten des
localen Gewerbfleißes werden Einem um Gottes Willen aufgedrängt, wo
man geht und steht. Eine Gondel kann nicht landen oder abstoßen, ohne
daß irgend ein Lungerer von der nächsten Ecke ihr einen überflüssigen Stoß
oder Zug gibt, der des Reisenden kleiner Münze gilt. Das venetianische Genie,
in seiner Art nicht weniger drollig als die Kameraden von Paris und Ber¬
lin, unterscheidet sich von ihnen wesentlich durch die kostbare Naivetät, mit
der es jeden Fremden als tributpflichtig und selbst einen zufälligen unangenehmen
Zusammenstoß z. B. als einen rechtmäßigen Anlaß für seine Geschenkforderung
ansieht. Die entsprechende Lippenbewegung ist ihm zur anderen Natur ge¬
worden, so daß sie sich wie von selbst einstellt, sobald sein Scharfblick den
Fremden erkennt. Warum sollte er auch nicht betteln, wenn selbst der Ver¬
käufer des reichstversorgten Magazins sich nicht scheut zu prellen? Man muß
in jedem Laden handeln, wo nicht feste Preise der Waare angeklebt sind,
und selbst dann läßt sich fast allemal noch abdingen.
Ein wenig Industrie wird in Venedig noch mit einem gewissen Schwung
und Erfolg betrieben: Glasperlen, Spiegel, Mosaikarbeiten u. tgi. in. Der
Handel aber ist kaum ein Schatten seiner vormaligen Bedeutung. Trieft hat
seine berühmte Nebenbuhlerin überwunden und Genua mit weit erfolgreicherer
Energie die commerciellen Chancen des neuen Zeitalters ergriffen, als die
einst noch viel reichere und mächtigere Königin der Adria. Man hört
und liest viel davon, was die italienische Regierung für Venedig Gutes
vorhabe und thun sollte: Subventionen für dort anlegende Dampferlinien
vor Allem. Aber davon, daß die Venetianer selbst sich aufgerafft hätten,
etwas Verheißungsvolles zu unternehmen, daß ein Einzelner oder eine Ge¬
nossenschaft zur Hebung der gesunkenen Blüthe ihrer Stadt Hand anlegen
wollte, davon vernimmt man nichts. Was nützt es Venedig unter diesen
Umständen, daß die Semmering/Bahn und die Brenner-Bahn soviel früher
die Alpen überschient haben, als die nach Genua führenden Eisenbahnen durch
den Gotthard und den Mont Cenis? Wer keinen Löffel hat, dem fällt der
Brei des Himmels in den Schmutz.
Nur eine Einströmung frischen Bluts scheint hier helfen zu können. In
dem einheimischen Geschlecht stecken Bettelgeist und träge Versunkenheit zu
tief. Bemächtigten sich einige energische Geister, mit den nöthigen Mitteln
ausgestattet, der immer noch außerordentlichen Vortheile des Orts, so würde
Trieft einen schweren Stand bekommen. Es wäre dann die Frage, welchem
der beiden Plätze das mit der Zeit doch sicher zu erwartende Erwachen der
gegenüberliegenden adrtatischen Küste zu gesund pulsirenden civilisirten Leben
vorzugsweise zu Gute kommen würde.
Denn soweit Trieft dem gegenwärtigen Venedig vorangeeilt ist, soweit
steht es hinter Plätzen gleich Hamburg und Bremen zurück. Man bettelt
in Trieft nicht und prellt nicht, aber man spielt. Für das niedere Volk
locken die Lotto-Anzeigen von hundert Schaufenstern, und an der Börse
wird nur zu oft mehr in den Speculationspapieren och Tages, Credttan-
stalls-Actien. Lombarden u. s. f. umgesetzt, als in Waaren. Nun hat das
Fondsgeschäft neuerdings zwar auch in den norddeutschen Seehandelsplätzen
große Dimensionen angenommen, größere als dem soliden Kern der Börse
dort lieb und behaglich ist, aber die große Masse der Umsätze betrifft doch
immer noch Waaren und Frachten. Die Waaren, wenn sie sich ebenfalls zum
Spiel hergeben, thun es doch nicht mit der Leichtigkeit wie Staats- und Jn-
dustriepapiere.
Dazu kommt, daß Trieft nur zum Theil durch die eigene Anstrengung
seiner Bewohner in die Höhe gekommen ist. Die Regierung hat ihm ge¬
waltigen Vorschub geleistet; und zwar mit Mitteln directer Begünstigung
und Bevorrechtung, ans Kosten des rivalisirenden feindseligen Venedig.
Triests hauptsächlichste Hilfsquelle, die Dampfschifffahrt des östreichischen
Lloyd, besteht nur durch regelmäßige starke Staatszuschüsse. Das ist eine un¬
sichere Grundlage. Wer weiß, ob die Ungarn nicht bald zu Gunsten ihres Hafen¬
platzes Fiume einen Theil, einen zwar immer zunehmenden Theil der Staats-
gunst in Anspruch nehmen werden? Und wenn der Föderalismus dereinst den
Dualismus ablöst, wird das Reich als solches, oder vielmehr der Bund unter
habsburgischen Scepter vereinigter Volksstämme, dann noch soviel wie bis¬
her für den Hafen an der Adria übrig haben?
Die Wirkungen der lange erfahrenen besondern Staatsgunst auf den
Geist Triests sind nicht zu verkennen. Es ist ein Freihafen, aber nicht ein
Freihandelsplatz. Die Freihafenstellung wird dort nicht als der vorab er¬
langte Genuß einer Freiheit, an der einst alle anderen Plätze ebenfalls Theil
haben werden, aufgefaßt, sondern als ein ausschließendes Borrecht. Frei
von Zöllen für ihre Einfuhren, sind die Triestiner Kaufleute doch keine Frei¬
händler, sondern im Grunde ihres Herzens Schutzzöllner. Die alten List'schen
Theorien haben dort noch versteinerte Anhänger. Die Triester Presse jubelte
neulich beinahe laut auf, als der spanische Ministerpräsident Prim aus Rück¬
sicht auf die Catalonier den Zolltarif erhöhte, anstatt ihn angekündigter
Maßen zu erniedrigen. Der Wiener Freihandels-Verein, der seit ein paar
Jahren rühmenswerth thätig ist und den „östreichischen Oekonomist" be¬
gründet hat, besitzt in der einzigen größeren Seehandelsstadt der Monarchie
anscheinend nicht einmal einen Correspondenten. Das spricht sür den, welcher
den Zusammenhang der volkswirthschaftlichen Ideen mit practischem Ver¬
mögen und Erfolg kennt, hurtiger als Bände.
Auch in Trieft also gibt es noch viel zu thun, um eine gedeihliche Zu¬
kunft zu sichern. Zunehmende Emancipation von Unterstützungen, welche
von fremder Gunst abhängen, muß dabei das Hauptaugenmerk bilden. Das
Feld ist nach allen Seiten hin fruchtbar genug; aber nur wer die Werkzeuge
des Jahrhunderts zu handhaben versteht, wird auf ihm von Jahr zu Jahr
reichere Ernten schneiden. Bloße Erweiterungen des bestehenden Apparats,
wie die Ausdehnung der Lloyd-Fahrten bis nach Bombay, sobald der Suez-
Canal eröffnet ist, thun es nicht. Die Hauptsache ist, was der Handels¬
stand selbst aus solchen natürlichen Gelegenheiten macht. Mit Staatsgeld
läßt sich am Ende überall ein künstlicher Verkehr vorübergehend empor¬
zaubern.
Je länger die Zeit der politischen Ferien in diesem Jahre dauert, desto
fraglicher erscheint, unter welchen Zeichen unsere nationale Arbeit wieder auf¬
genommen werden wird. Die Gefahr einer Störung derselben durch aus-
wärtige Verwickelungen scheint zwar ferner denn je abzuliegen: in Frankreich
fragt Niemand nach etwas Anderem, als nach der Gestaltung der bevorstehen¬
den parlamentarischen Campagne, Rußland concentrirt alle seine Anstrengungen
auf die Ausbreitung des ungeheuren Eisenbahnnetzes, das die östliche Hälfte
des Welttheils umspannen soll und auf die Russification der westlichen Grenz¬
provinzen und selbst der Leiter der östreichischen Politik hat seiner Actionslust
nicht anders, als durch Abfassung turbulenter Depeschen Luft machen können.
Aber es fragt sich, ob diese friedliche Temperatur gerade diejenige ist, von der
ein kräftiges Wachsthum des im I. 1866 gepflanzten Baumes erwartet werden
kann. Während die Thätigkeit eigentlich aller unserer politischen Parteien
unter dem Einfluß des mehr oder minder deutlichen Bewußtseins steht, daß
die nächsten Phasen der nationalen Entwickelung in eine Hand gelegt find,
hat der Leiter des preußisch-deutschen Staatslebens sich in eine Zurückgezogen¬
heit begeben müssen, deren Ende nicht abzusehen ist. Ueberdauert die Entfer¬
nung des Grafen Bismarck von den Geschäften die nächste Kammersession,
so wird zunächst diese vollständig inkalkulabel; das Hauptgewicht, das die Re¬
gierung in die Wagschale werfen konnte, muß solchen Falls in Abzug gebracht
werden und wie Ersatz für dasselbe geschafft werden soll, weiß Niemand zu
sagen. Auch über die Natur der finanziellen Vorlagen, welche den Kammern
vorgelegt werden sollen, fehlen alle positiven Daten; seit drei Monaten
wechseln die Berichte über den Stand der Finanzen mit dem Monde und
doch hängt Alles von dem Maß der Forderungen ab, welche der Landes¬
vertretung gestellt werden sollen. Fraglich erscheint endlich noch das Ver¬
hältniß der überkommenen Parteien, denn trotz der Discretion, welche
beobachtet worden, steht außer Zweifel, daß die letzte Session des Zollparla¬
ments auf eine derselben, und zwar auf die wichtigste, zersetzend gewirkt hat.
Sind das Verhältnisse, die durch sich selbst, ohne belebenden Anstoß von
Außen, ins Gleis gebracht, wieder in Bewegung gesetzt werden können? Und
doch war Alles auf diese Bewegung und zwar auf eine Bewegung in raschem
Tempo angelegt. Der Einfluß der Stagnation, der in der süddeutschen
Frage seit nunmehr zwei Jahren besteht, ist bisher durch die relativ günstige
Entwickelung der inneren Verhältnisse des norddeutschen Bundes aufgewogen
worden. Aber diese sind von dem Entwickelungsgange der preußischen Dinge
zu abhängig, als daß auf ihren ungehemmten Fortgang auch in dem Fall
gerechnet werden könnte, wenn Graf Bismarck dauernd den Geschäften fern
bleibt und das Ministerium v. d. Heydt in einen neuen Conflict mit der
Volksvertretung tritt. Noch vor zwei Jahren hätte die Rücksicht auf die
Wirkungen, welche ein solcher Zusammenstoß auf Süddeutschland üben würde,
bestimmend auf die Haltung beider Theile eingewirkt, — heute muß eine
solche Rücksicht durchaus überflüssig erscheinen, denn die Gedanken an einen
freiwilligen Anschluß der Länder südlich vom Main, an eine moralische Er¬
oberung derselben find von allen Programmen abgesetzt. Die Erhaltung
jener mit den Südstaaten abgeschlossenen Schutz- und Trutzbündnisse, welche
im Frühling 1867 für die Grundlage einer aussichtsvollen neuen Entwicke¬
lung galten, ist Alles was von norddeutscher Seite verlangt wird, der
Glaube an die innere Triebkraft derselben ist längst dahin und von preußisch¬
süddeutschen Wechselwirkungen eigentlich nicht mehr die Rede.
Die alte leidige Erfahrung, daß Verhältnisse, die nach den Gesetzen der
Logik für „innerlich unhaltbar" gelten müssen, oft das zäheste Leben beweisen,
hat sich auch in der neuesten Phase unseres nationalen Lebens bewährt. Weder
ist das preußische Ministerium aus der halben Stellung herausgekommen,
in welche es durch sein Jndemnitätsgesuch vom August 1866 gedrängt wor¬
den, noch haben die süddeutschen Staaten sich entschlossen, die precäre
Stellung aufzugeben, die sie seit der Auflösung des alten Bundes einnehmen.
Selbst der unermüdlichen Geschäftigkeit des Grafen Beust haben sich
keine Anknüpfungspunkte für Lösung der süddeutschen Frage bieten wollen
und die frommen Wünsche, welche man in Wien für das Zustandekommen
eines Südbundes hegte, sind allmälig gegenstandslos geworden. Das Project
eines solchen Bundes ist bei den Cabinetten in noch üblerem Geruch, als bei
den Völkern und die Beust'sche Patronisirung desselben gilt selbst nach parti-
kularistischer Auffassung kaum mehr für eine Empfehlung. Die Stagnation
ist nach beiden Richtungen hin — der nationalen, wie der arti-nationalen —
eine vollständige, von dem kommenden Morgen haben wir Nichts zu hoffen
und zu fürchten und es kann noch eine Weile dauern, ehe ein kräftiger Luft¬
zug kommt, der mit „erfrischendem Windeswehen kräuselnd bewege das
stockende Leben."
Eine wirkliche „Bewegung" hervorzurufen, sind die im abgelaufenen
Monate geführten Depeschenkriege nicht im Stande gewesen. Selbst in
Sachsen ist die scharfe Zurückweisung, welche Graf Beust durch den Freiherrn
von Friesen erfahren hat, ohne Consequenzen geblieben; es waren nicht die
Organe der Dresdner Negierung, sondern die liberalen Blätter, welche die
Sache des bundestreuen sächsischen Ministers gegen die traditionelle Anhäng¬
lichkeit des grünweißen Particularismus für Herrn v. Beust führten, und wir
können in der ganzen Sache nur eine Bestätigung der schon früher bekann¬
ten Thatsache sehen, daß sich innerhalb dieser Regionen zwei verschiedene
Strömungen die Waage halten. Auf die Woche, welche der Friesenschen
Depesche gewidmet war. folgten die „Enthüllungen" der „Sächsischen Zei¬
tung" über eine angeblich vor Ausbruch des letzten Krieges geführte preußisch¬
östreichische Corresponlenz — Erfindungen so plumper und niedriger Art,
daß die Dementis der Berliner Osficiösen eigentlich nur für die niedrigste Classe
von Zeitungslesern nothwendig waren. In fünfzig Jahren wird man es für
eine Fabel halten, daß diese Art von particularistischer Geschichtsmacherei
auch nur selbst an die Möglichkeit glauben konnte, ein Publicum von Ab¬
nehmern zu finden. — Dieser Episode sind endlich die Depeschen vom 4. und
13. August gefolgt, mit denen Herr v. Thile und Graf Beust die periodische
Presse für Wochen beschäftigt haben. Wie es bei Auseinandersetzungen dieser
Art gewöhnlich ist, so hat auch im vorliegenden Fall die Frage, von der man
eigentlich ausging, aufgehört, den Mittelpunkt und Hauptgegenstand des
Streits zu bilden, die Frage nämlich, ob Thatsachen vorlagen, die den k. k.
Reichskanzler zu der Klage über preußische Abweisung seiner Annäherungs¬
versuche berechtigten. Nachdem die Berliner vsficiöse Presse den Grafen Beust
wiederholt und deutlich zum Beweise seiner gegen Preußen gerichteten An¬
klagen aufgefordert hatte, war die Wiederholung dieser Forderung durch eine
förmliche Depesche eigentlich nicht mehr nöthig. Ja es fragt sich, ob der Ein¬
druck, den die erste Dementirung der Beustschen Angaben gemacht hat, nicht
ohne die Depesche nachhaltiger gewesen wäre. Diese Depesche hat der Wiener
Artikel- und Depeschen-Fabrik die Gelegenheit geboten, die Sache auf ein an¬
deres Gebiet hinüberzuspielen und den einfachen und unleugbaren Thatbestand
zu verwirren. Immerhin ist der k. k. Reichskanzler dem Auslande wie der
heimischen Opposition und den Ungarn gegenüber in ein« wenig beneidens-
werthe Lage gerathen und dem Glauben an seine diplomatische Tactfestig¬
keit ein neues Loch geschlagen worden. Bei der Mehrzahl der europäischen Höfe,
in London, Berlin, Petersburg, Brüssel u. f. w. hatte dieser Staatsmann
freilich nichts mehr zu verderben, und es fragt sich, ob seine Haltung in der
belgischen Eisenbahnangelegenheit auch nur den Respect des Pariser Cabinets
vor der Hofburg erhöht hat.
Für die inneren Verhältnisse der östreichischen Monarchie ist Graf Beust
freilich nach wie vor unentbehrlich geblieben und die neuesten Delegations¬
verhandlungen haben bestätigt, wie dankbar das politische Publicum, mit dem
er es zunächst zu thun hat, im Großen und Ganzen noch immer ist. Dem
deutsch-östreichischen Liberalismus ist sein Name mit der konstitutionellen
Sache einmal identisch und bei all' ihrem Mißtrauen gegen des Grafen aus¬
wärtige Politik wissen die Ungarn doch, daß ein gleich gefügiger Staatsmann
westlich von der Leitha nicht so leicht aufzutreiben sein wird. Selbst die
feindliche Sprache, welche von Bethlens diplomatischer Wochenschrift und von
den radicalen Pester Oppositionsblättern von Zeit zu Zeit gegen Herrn v. Beust
geführt wird, macht den Eindruck, als ob es den Sprechern nicht um die Be¬
seitigung des Reichskanzlers, sondern nur darum zu thun sei, denselben in heil¬
samer Zucht zu halten. — Von den Forderungen, mit denen das Reichsministe¬
rium vor die Delegationen getreten ist, sind die wichtigsten bereits bewilligt worden
und die einzelnen Abstriche, die der Kriegsminister Baron Kühn sich gefallen
lassen mußte, haben den Frieden ebenso wenig gestört, wie die Voden über die
Militairgrenze. In Böhmen sind die Anstrengungen der czechischen Oppo¬
sition bis jetzt erfolglos geblieben und es hat im Augenblick den Anschein,
als werde diese Opposition ebenso gespalten werden, wie die polnische. Auf
die aristokratisch - clericalen Bundesgenossen des Czechenthums hat die kirchen¬
feindliche Propaganda des repristinirten Hussitenthums nämlich so verstimmend
gewirkt, daß die Bischöfe gegen dasselbe amtlich einzuschreiten drohen; die husst-
tische Strömung steht mit der panslavistischen in engem Zusammenhang, denn
es sind grade die warmen Anhänger Rußlands, welche an die hussitischen
Nationaltraditionen appelliren und auf diese Weise die katholische Scheide¬
wand niederzureißen suchen, welche das Czechenthum von dem wesentlich anti¬
katholischen Panslavismus trennt. Die Jungczechen, welche schon seit einiger
Zeit zu der durch die Moskaner Pilgerfahrt (1867) angebahnten Annäherung
an Rußland scheel sehen, suchen ihre Bundesgenossen neuerdings bei den pol¬
nischen Demokraten Galiziens und bestreben sich diese in ihren arti-ministeriellen
Bestrebungen zu ermuthigen. Das Polenthum soll für die föderalistische
Idee gewonnen worden und zu diesem Zwecke hat man sich mit Smolka in
das engste Einvernehmen gesetzt; czechische Deputirte haben an der zu Lem-
berg abgehaltenen Feier des Unionstages von Ludim Theil genommen, zu
dem thörichten Versuch einer Verständigung mit den Ruthenen gerathen und
nach Kräften gegen die von Goluchowski geführte aristokratische Partei und
deren quasiministerielle Haltung geschürt. Der für den nächsten Monat bevor¬
stehende Lemberger Landtag wird darüber entscheiden, ob die Polen im Reichs-
rath bleiben oder ob Smolka aus diesem Kampf als Sieger hervorgeht, bei
dem die czechische Sache unter allen Umständen mehr zu gewinnen hat, als
die polnische. Auch die galizische Sprachenfrage soll in Veranlassung des
letzten, noch von Goluchowski bewirkten Rescripts wieder zur Discussion
kommen.
In den übrigen cisleilhanischen Ländern (trotz seiner östlichen Lage wird
Galizien bekanntlich unter diesen neugeschaffenen Begriff subsumirt) spielen
die Kämpfe um die Grenze zwischen staatlichen und kirchlichen Befugnissen
die Hauptrolle. Die Angelegenheit der Krakauer Nonne Barbara Ubryk hat
neues Oel in das Feuer der Wiener Liberalen gegossen und dem Ministerium
das consequente Festhalten an den Errungenschaften des Frühjahrs 1867 be¬
trächtlich erleichtert. Dem Proceß des begnadigten Bischofs von Linz soll eine
Anklage gegen Monsignore Greuter folgen und sichtlich unter dem Eindruck
der Krakauer Vorgänge hat das Oberlandesgericht von Tyrol der von dem
Innsbrucker Landesgericht beschlossenen Verfolgung des ultramontanen Partei¬
führers seine Zustimmung gegeben.
In den Oestreich benachbarten östlichen und südöstlichen Donauländern
ist die Ruhe auch während des abgelaufenen Monats nicht gestört worden.
Die Nachricht von einem in der Herzegowina ausgebrochenen Aufstande, an
dessen Spitze der vor einigen Jahren nach Odessa geflüchtete slawische Agitator
Luka Wulkowitsch stehen soll, hat sich nicht bestätigt, sondern läßt sich auf das
Manifest zurückführen, das Wulkowitsch vor Kurzem an seine böhmischen Lands¬
leute erlassen hat. um Feindschaft und Mißtrauen gegen Oestreich und Ungarn
und Vertrauen zu Rußland zu predigen, das der nächsten südslawischen Er¬
hebung gegen die Pforte seine Unterstützung sicher nicht versagen werde. —
In Rumänien wird eifrig an der Verbesserung der Communicationsmittel
durch neue Canäle und Eisenbahnen gearbeitet, das Ministerium Ghika-
Cogolnitscheano hat seinen Einfluß befestigt, bei den Wahlen zum Senat
gesiegt und den Agitationen der rothen Partei und ihres Führers Jan Bra-
tiano bis jetzt energisch Stand gehalten. Die Schlägereien an der wallachisch-
ungarischen Grenze sind ohne Bedeutung, obgleich der Magyarenhaß der ru¬
mänischen Demokratie Vorgänge dieser Art mit Vorliebe zur Schürung der
Volksleidenschaften und zur Herbeiführung von Conflicten auszubeuten gewohnt
ist. Fürst Carl hat dem in der Krim weilenden Kaiser von Rußland einen
Besuch gemacht, um seine guten Beziehungen zu diesem mächtigen Nachbarn
zu befestigen. Das Verhältniß Rußlands zu der in Jassy und Bukarest
geschaffenen neuen Ordnung der Dinge ist bis jetzt kein besonders freund¬
liches gewesen. Rußland, dessen traditionelle Politik Lahmheit und Schwäche
des Rumänenstaats verlangt, ist der Berufung des hohenzollernschen Prinzen
auf den Hospodarenthron von Hause aus nicht geneigt gewesen. Die auch in
der Hofsphäre einflußreiche Moskaner Nationalpartei ließ sich die Sache indessen
noch gefallen, so lange Bratiano an der. Spitze der Geschäfte stand. Als
dieser turbulente Staatsmann aber durch Preußens Einfluß zu Fall gebracht
wurde, brach ein Sturm der Entrüstung gegen den „preußischen Garde-Officier"
und dessen „weiße" Rathgeber aus, welche sich in die Netze westeuropäischer
Intriguen ziehen ließen und mit dem Sultan Frieden machten, bloß weil,
Preußen den Wünschen der Maygaren Rechnung zu tragen für opportun
halte. Daß Fürst Carl eine Einladung nach Livadia erhalten und ange¬
nommen und der Krieg der russischen Presse gegen seine Rathgeber ein
Ende genommen hat. ist eine neue Bürgschaft für Rußlands friedliche Ab¬
sichten.
Während Kaiser Alexander an den Ufern des schwarzen Meeres ver¬
weilt, ist seine Regierung nach wie vor mit den beiden Hauptzielen ihrer
inneren Politik, der Russification der westlichen Grenzländer und der weiteren
Ausdehnung des Eisenbahnnetzes beschäftigt. Ein heftiger Kampf ist um die
Zulässigkeit der von Stroußberg und dem Grafen Lehndorf erbetenen Con¬
cession zur Linie Pinsk-Bialystock entbrannt, welcher einzelne Glieder der Re^
gierung geneigt sind, während die nationale Partei nichts von derselben
wissen will und diese „preußische Intrigue" als gefährliche Concurrenz der
Linie Kowno-Libau bekämpft; die Concession für die besfarabische Eisenbahn
ist inzwischen vergeben worden, und zwar an einen inländischen Bewerber,
der wohlfeilere Baubedingungen gemacht hatte, als seine Concurrenten. —
Der Kampf gegen das Polenthum und die katholische Kirche wird mit
wechselndem Erfolge weiter geführt. Die römisch-katholische Eparchie von
Minsk ist ausgehoben und mit der von Wilna verschmolzen worden. Da¬
gegen ist die bereits in Angriff genommene Einführung der russischen Sprache
in die katholischen Kirchen Lithauens aus ein neues Hinderniß gestoßen; in
der elften Stunde hat das Wilnaer Generalgouvernement erklärt, die Pre¬
digten und Gebete müßten in den Sprachen abgehalten werden, welche in
den einzelnen Distrikten gesprochen würden, da das Großrussische auf dem
flachen Lande nur ausnahmsweise verstanden werde. Zunächst sollen die geo¬
graphischen Grenzen der einzelnen Sprachbezirke festgestellt und dann die be¬
züglichen Anordnungen getroffen werden. So lebhaft die Moskaner natio¬
nalen sich auch gegen diesen plötzlichen Umschlag ausgesprochen haben, so ist
es bei dieser Entscheidung doch zunächst geblieben. Auch im Generalgouverne¬
ment Kiew liegen die gemäßigte und die entschieden polenfeindliche Richtung
einander in den Haaren. Der neue Generalgouvemeur Fürst Dundakow-
Korssakow, der die Interessen des gefährdeten großen Grundbesitzes in
Schutz zu nehmen versucht hat, wird von der demokratischen Presse als Polen-
feind verdächtigt. — In den Ostseeprovinzen sind zwei eifrige Russificatoren in
die Post- und Domainenverwaltung eingeschoben werden; außerdem stehen
die Errichtung eines russischen Theaters in Riga und die Einführung russischen
Mathematikunterrichts in den Gymnasien in Aussicht. Die deutsche Peters¬
burger Zeitung, welche einen Anlauf genommen hatte, um von ihrer Censur¬
freiheit zu Gunsten der baltisch-deutschen Interessen Gebrauch zu machen, ist
deswegen verwarnt und aus diese Weise mundtodt gemacht worden. Nichts¬
destoweniger dauern die russischen Klagen über die Herrschaft des deutschen
Elements an der Ostsee fort und wird gegen die deutsche Universität Dorpat
eifrig Sturm gelaufen. — Der durch unverbürgte Gerüchte vielfach über¬
triebene Kirgisenaufstand an der Grenze Turkestans ist vollständig beigelegt
worden und die Mehrzahl dieser Nomadenstämme hat sich der neuen büreau-
kratischen Organisation gefügt.
Auch in Rußland war vielfach angenommen worden, der seit einigen
Wochen schwebende Conflict zwischen dem Sultan und dem Vice-König von
Aegypten werde größere Dimensionen annehmen und zu einem förmlichen
Bruch führen; türkenfeindliche Heißsporne hatten bereits von einem Sturz
der Pforte durch den mächtigen Vasallen geträumt und diesem die Rolle
vindicirt, welche das ohnmächtige Griechenland nicht durchzuführen im Stande
gewesen war. Aber wie sich unschwer vorhersehen ließ, sind diese Erwar¬
tungen Lügen gestraft worden, und hat der unter dem Einfluß der West¬
mächte stehende Khedive eingelenkt und dadurch den Machinationen seines
ehrgeizigen und feindlichen Bruders Fazit-Mustapha die Spitze abgebrochen.
Auch in Constantinopel hatten die Cabinette von London und Paris daran
erinnert, daß die letzte Pariser Conferenz ein Glücksfall gewesen sei, auf dessen
Wiederkehr nicht gerechnet werden könne und der Divan ist einsichtig genug
gewesen, diesen Vorstellungen Gehör zu leihen und die gute Meinung seiner
Rathgeber auf keine neue Probe zu stellen.
Frankreich vor Allem hat das lebhafteste Interesse daran, die
Ruhe im Orient aufrechtzuerhalten. Seit der verhängnißuollen Bot¬
schaft des Kaisers an das corxs loZiLla-tit' sind die Dinge in ein
Rollen gekommen, dem sich nicht mehr gebieten läßt und das wenig¬
stens zunächst durch keine auswärtige Diversion aufgehalten werden
kann. Obgleich die Machtstellung, welche Rouher auch in seinem Amt
als Senatspräsident zu behaupten weiß, für die neuen Minister ebensowenig
ermuthigend und Vertrauen einflößend ist, wie für die liberalen Parteien,
weiß man doch allenthalben, daß der gethane Schritt sich nicht mehr zurück¬
thun läßt und daß die Ausführung der verheißenen Reformen zur unbe¬
dingten Nothwendigkeit geworden ist. Daraus ist zugleich zu erklären, daß die
fieberhafte Unruhe der Opposition, welche Anfangs Miene machte rücksichtslos
fortzustürmen und die erzielten Resultate am Wege liegen zu lassen, für den
Augenblick einer besonneneren Stimmung Platz gemacht und daß man es sich
über sich gewonnen hat, zunächst den Verlauf und Abschluß der Verhandlungen
des Senats abzuwarten. Die am Napoleonstage erlassene Amnestie hat das
Ihrige dazu beigetragen, diese Stimmung zu befestigen, und weitaus die
größte Zahl der liberalen und demokratischen Parteiorgane hat die versöhn¬
liche Absicht der Regierung anerkannt^ut acceptirt. Die Feier des Is. August
ist ungewöhnlich still und geräuschlos verlaufen, obgleich sie dieses Mal
von außergewöhnlicher Bedeutung war und es der Regierung wohl nahe
gelegen hätte, den hundertsten Geburtstag des Nationalhelden zur Auffrischung
der dynastischen Gefühle des Volks zu benutzen. Der einzige Versuch zu einer
Kundgebung dieser Art. ein pathetischer Erlaß des Commandirenden von
Chalons, General Bourbaki (eines geborenen Griechen !), ist ohne Widerhall ver¬
klungen, in Frankreich ignorirt, im Auslande belächelt worden. Die seit dem
Tode des Marschalls Niet führerlos gewordene Kriegspartei muß zunächst stille
halten und den Eintritt günstigerer Umstände abwarten — von dem neuen
Kriegsminister, General Leboeuf, ist zunächst noch unbekannt, ob er mehr
als ein fähiger Techniker ist und ob er es auf die Rolle eines politischen
Parteihaupts absieht; daß er dem Kaiser durch seinen sterbenden Vorgänger
empfohlen worden, läßt allerdings auf Gesinnungsverwandtschaft beider
Männer schließen.
Bis zur Veröffentlichung der Senatsbeschlüsse wird die Zeit politischer
Ruhe auch in Frankreich fortdauern. Da die General-Räthe am 23. August
zusammen getreten sind und ein Theil der Senatoren denselben angehört, kann
es noch einige Wochen dauern, ehe die Arbeiten dieses Staatskörpers zum
Abschluß gebracht werden. Was wir bisher von den Verhandlungen des¬
selben wissen, bestätigt aufs Neue, daß diese Versammlung nur ein Abklatsch
der in der Regierung herrschenden Stimmungen und ohne jede Spur innerer
Selbständigkeit ist. Die Ansichten seiner Majorität haben sich mit der Wetter¬
fahne gewandt. Wenn man sich die Feindseligkeit vergegenwärtigt, mit
welcher noch vor Jahresfrist die nichts weniger als freisinnigen Gesetze über
Preßfreiheit und Versammlungsrecht von den Vätern des französischen Volks
aufgenommen wurden, so will man bei Betrachtung der neuesten Vorgänge
kaum seinen Augen trauen. Nicht nur, daß die Majorität sich sofort auf
den neuen Standpunkt der Regierung gestellt und die Nothwendigkeit von
Reformen anerkannt hat, die sie damals als Anfang vom Ende bekämpfen zu
müssen behauptete — im französischen Senat hat sich eine liberale Partei ge¬
bildet, welche über das Regierungsprogramm und Rouher's Stellung zu dem¬
selben hinausgeht und Opposition spielt. Die Bonjeanschen Amendements,
welche ziemlich direct auf eine rein parlamentarische Regierung hinarbeiten,
haben eine gewisse Unterstützung erhalten und wenn auch an ihre Annahme nicht
zu denken ist, so steht doch schon ihre Entstehung in so merkwürdigem Gegen¬
satz zu der bisherigen furchtsamen Kleinlichkeit der Mei-es oonseripti, daß sie
wohl für ein Zeichen der Zeit gelten können. Die liberale Pariser Presse hat ihre
Befürchtungen vor Verstümmelung der kaiserlichen Vorschläge durch den Senat
bereits zurückgenommen und diese Verfassungsänderungen werden voraussichtlich
in der Gestalt an das Tageslicht gefördert werden, auf welche die Regierung es
abgesehen hatte. — An die Verhandlungen der Departements-Räthe, zu denen
sechs Minister und zahlreiche Senatoren bereits abgereist sind, knüpfen sich
liberale Hoffnungen auf Vorschläge zur Decentralisation und Herstellung
größerer Gemeindefreiheit; auch soll gegen jenen berüchtigten Artikel 75 der
Verfassung vom Jahre VIII. Sturm gelaufen werden, der die gerichtliche Ver¬
folgung excedirender Beamter von der Zustimmung des Staatsraths abhängig
machte. Möglich, daß in dieser letzteren Richtung mit der Zeit etwas er-
reicht wird — die Wünsche für Decentralisation und eine Art Selbstbestim¬
mung der Gemeinden sind taube Nüsse. Keine der Regierungen, unter denen
Frankreich seit den Tagen der großen Revolution gestanden, hat auch nur
Miene gemacht, die Vortheile aus den Händen zu geben, welche ihr aus dem
Centralisationssystem erwuchsen, und das zweite Kaiserreich ist am wenig¬
sten dazu angethan, Concessionen zu machen, von denen es weiß, daß sie
ihm nicht abgerungen werden können, weil die Mehrzahl der Franzosen trotz
Toqueville heute ebenso wenig Verständniß für die Gemeindefreiheit hat. wie
vor dreißig und vor sechzig Jahren.
Die an der südlichen Grenze Frankreichs versuchten Karlistenerhebungen,
denen die französische Regierung Anfangs passiv zugesehen, haben damit ge¬
endet, daß die noch nicht über die Pyrenäen gegangenen Bandenchefs inter-
nirt wurden, um das Kaiserthum von dem Verdacht der Unterstützung eines
aussichtslosen Aufstandes zu reinigen. Im Uebrigen hat diese Karlistener¬
hebung einen Verlauf genommen, der anderen Unternehmungen dieser Art
ziemlich ähnlich sieht. Anfangs coursirten übertriebene Gerüchte von dem
Erscheinen ganzer Karlistenarmeen und der Lieferung förmlicher Schlachten;
dann hieß es. an der ganzen Sache sei überhaupt Nichts wahr, als daß ein
mißglückter Versuch zur Ueberrumpelung von Pampelona gemacht worden
und schließlich hat sich herausgestellt, daß in der That eine ganze Reihe
kleinerer Gefechte gegen Karlistenchefs geliefert worden ist. Obgleich von Hause
aus zweifellos war, daß die provisorische Regierung dieser verfrühten und
künstlichem Emeute ohne Mühe Herr werden werde, scheint es doch, als ob die
Ruhe in den Grenzprovinzen noch nicht völlig hergestellt ist, da bis in die
letzten Tage von der Bewältigung einzelner Nachzügler berichtet wurde. —
Für das innere Leben des spanischen Staats ist dieser Pulses so gleichgültig
geblieben, daß die Spannung zwischen Monarchisten und Republikanern für
keinen einzigen Tag ausgesetzt hat und daß die glückliche Bewältigung des
karlistischen Einfalls der Regierung kaum als Verdienst angerechnet worden ist.
Wenn diese Regierung sich trotz der schwindenden Aussicht auf die Auffindung
eines Königs und trotz der raschen Ausbreitung der namentlich in den größeren
Städten höchst einflußreichen republikanischen Liga in der Volksgunst noch
immer leidlich erhält, so hat sie das einem Umstände von höchst zweifelhaftem
und noch dazu schwindenden Werth zuzuschreiben: um die Massen bei guter
Laune zu erhalten, läßt man den Staatsschatz darben und verzichtet man
darauf, die Armee zu vermehren und kampffähig zu erhalten. Die Verbrauchs-
steuer ist ohne genügendes Aequivalent abgeschafft worden und an vielen
Orten bezahlen die Municipalitäten die Stellvertreter für kriegsnnlustige Cor-
seribirte. Die schwache und zügellose Armee befindet sich in der elendsten Lage. Daß
ein solches System auf die Dauer nicht durchzuführen ist und die Zukunft der
Regierung nur erschwert, hat sich schon jeht gezeigt. Die nach Cuba gesandten
Truppen haben nach Belieben ihre Führer ab- und eingesetzt und sind dabei außer
Stande gewesen, für die Bewältigung des Havanneseraufstandes das Geringste
zu thun. Obgleich man es öffentlich noch nicht wahr haben will, ist die
Perle der Antillen für Spanien so gut wie verloren und sind bereits Ver¬
handlungen über einen Verkauf an die Vereinigten Staaten im Gange.
Leicht möglich, daß auch dieser nicht zu Stande kommt und daß die
amerikanischen Staatsmänner das Stück wiederholen, das sie den Dänen mit
der Insel Se. Thomas gespielt haben. Hier ließ man es bis zur allgemeinen
Abstimmung kommen und, nachdem die bisherige Regierung sich durch diese
unmöglich gemacht hatte, wurden die Ratification des Geschäfts und die
Zahlung des Kaufpreises durch ein Votum des Senats unmöglich gemacht.
Man hat nur nöthig dieses Manoeuvre zu wiederholen und die reiche Insel,
deren Erträge die spanischen Finanzen bisher nothdürftig über Wasser hielten,
ist der Regierung von Madrid ohne jede Entschädigung verloren gegan¬
gen, — ein Verlust, der politisch ebenso schwer wiegen würde, wie wirth¬
schaftlich.
Von den europäischen Parlamenten ist das italiänische das einzige, das
seine Verhandlungen durch den ganzen Sommer ununterbrochen fortgesetzt hat.
In England wurden die Sitzungen nach Erledigung der irischen Kirchenbill am
11. August durch eine Thronrede vertagt, welche von Dank gegen Lords und
Gemeine überfloß, obgleich die Letzteren noch vor Thoresschluß ihrem Verdruß
über das Zustandekommen des Cairns'schen Compromisses durch Abwerfung
der schottischen Kirchenbill Luft gemacht hatten. Für die nächste Session
stehen nicht minder schwere Kämpfe in Aussicht wie für die abgelaufene, und
wiederum ist es Irland, das mit der Forderung neuer Zugeständnisse an
seine Bevölkerung vor die Regierung tritt. Schon während der d'Jsraelyschen
Verwaltung wurde neben der Abschaffung der irischen Staatskirche ein Gesetz
zur Regelung der ländlichen Verhältnisse der grünen Insel verlangt. Nach¬
dem die Abschlagszahlung auf kirchlichem Gebiete wirklich geleistet worden,
tritt die zweite Forderung mit erhöhtem Nachdruck auf, denn von ihr ist
eine sehr viel directere Wirkung auf die von der UnVersöhnlichkeit der
Fenier gestörte Ruhe Irlands zu erwarten, als von der Entpfründung der
Staatskirche. Es handelt sich darum, den sogenannten tsnants g,Ä xarole,
d. h. den Zeitpächtern, welche jährlich durch die bloße Willkür der Grund¬
eigenthümer von ihren Wohnsitzen verdrängt werden können, Garantieen so¬
wohl gegen Ausweisung ohne Entschädigung ihrer Meliorationen und Auf-
Wendungen, als gegen maßlose Steigerung der Pachtsumme zu schaffen und
namentlich den Abschluß von Verträgen auf längere Termine obligatorisch zu
machen. Daß die agrarische Frage in Irland bis heute ungelöst geblieben
ist, legt ihrer Lösung größere Schwierigkeiten in den Weg, als zu einer an¬
deren Periode obgewaltet hätten. John Stuart Mill's im Winter 1867
auf 1868 gemachte Vorschläge zu einer gewaltsamen Expropriation der
Grundbesitzer, welche nach einem durch Parlamentscommisfarien festzusetzenden
Maßstabe entschädigt werden sollen, ist ohne jede Aussicht auf Annahme.
Einmal ist der Begriff des Eigenthums in England viel zu stark entwickelt,
als daß eine Maßregel so gewaltsamer Natur in Irland ebenso leicht durch¬
geführt werden könnte, wie in Litthauen oder Polen, wo Expropriationen
dieser Art im größten Maßstabe und zwar ohne irgend entsprechende Ent¬
schädigung der Großgrundbesitzer stattgefunden haben; ein zweiter, mindestens
ebenso gewichtiger Grund liegt in der Natur des englischen wirthschaftlichen
Lebens und seiner gegenwärtigen Phase. Ablösungen dieser Art sind höchstens
in der Periode der Naturalwirthschaft ohne Erschütterung des gesammten
ökonomischen Lebens einer Nation möglich, — nicht aber, wo man bereits
tief in der Geld - und Creditwirthschaft steckt und jede Störung der Eigen¬
thumsverhältnisse auf die weitesten Kreise zurückwirkt, neben den Grundbesitzern
noch deren hypothekarische Gläubiger bedroht werden. Dazu kommt noch,
daß das rechtliche Verhältniß der irischen Bauern zu dem von ihnen bebauten
Grund und Boden das directe Gegentheil der analogen deutschen Verhält¬
nisse ist und Mill's Vergleich seiner Vorschläge mit den Stein-Hardenbecg-
schen Reformen von vollständig falschen Voraussetzungen ausging. In
Deutschland wurde der Grund und Boden rechtlich als ein Eigenthum des
Hintersassen angesehen, das nur zu Gunsten des Herrn belastet war —- nach der
in Irland bestehenden Rechtssiction ist das Land Eigenthum der Herren, die
es den Pächtern freiwillig gegen ein Aequivalent überlassen. Von einer
Ablösung der auf dem bäuerlichen Boden haftenden Lasten kann in Irland
mithin nicht die Rede sein, es würde sich um einen directen, im Namen der
Staatsraison unternommenen Eingriff in anerkannte Eigenthumsverhältnisse
handeln. Diese Rolle hat die Staatsraison in England nie gespielt und es ist
mehr als unwahrscheinlich, daß sie es grade in Irland zu einer solchen bringen
werde. — In dem Vaterlande des von Lord Canes gefundenen sogenannten
schottischen Entschädigungssystems wird man um die Mittel zwar nicht ver¬
legen sein, die irische Agrarfrage auch ohne Schädigung des Eigenthumsrechts
durch Reform des Pachtsystems zu lösen, aber es fragt sich, ob damit den
durch lange Versäumniß hinaufgeschraubten Ansprüchen des irischen Bauern¬
standes genug gethan und den fenischen Umtrieben wirklich die Spitze abge-
brochen werden kann. Daß die Abschaffung der irischen Staatskirche in
dieser Beziehung wirkungslos bleiben werde, wußte man im Voraus. —
Neben der irländischen Landfrage hat seit der Vertagung des Parlaments
Publicum und Presse Englands hauptsächlich die „'WorKins rexressu-
tativs I,«zg,sus" beschäftigt, eine Association von Arbeitern, welche sich zur
Aufgabe gemacht hat, durch Glieder ihres Standes im Parlament vertreten
zu werden. — So unzweifelhaft es der englische Socialismus im Allgemei¬
nen weiter gebracht hat, als die noch in ihren Kinderschuhen steckende Ar¬
beiterbewegung der Lassalleaner Deutschlands, so soll mit dieser Ig-z^ne doch
nur erreicht werden, was unsere Socialisten in ihrem Schweitzer, Hasenclever :c.
bereits besitzen. — Der Sache des deutschen Socialismus ist mit diesem Besitzes
jetzt nicht gedient gewesen und die vor zwei Wochen in Eisenach erlebten Scenen
waren nicht dazu angethan, die socialistische Bewegung als zu einer parlamen¬
tarischen Vertretung reif und berechtigt erscheinen zu lassen. In England, wo
die Ansprüche an Repräsentationsfähigkeit ungleich höher und die Gewöh¬
nung an öffentliche Thätigkeit in allen Classen der Gesellschaft ungleich älter
ist, wird das Erscheinen des ersten Arbeiters im Hause der Gemeinen sehr
viel bedeutsamer sein, als es bei uns der Fall war, wo so viele Erschei¬
nungen des politischen und socialen Lebens ihre öffentliche Vertretung antici-
pirt haben.
Wir haben schließlich noch ein Ereigniß von wenigliens symbolischer Be¬
deutung zu registriren, das in die letzten Juli- und ersten Augusttage gefallen-
ist: die Vermählung der Prinzessin Lowisa, einzigen Tochter des Königs von
Schweden, mit dem Erben der dänischen Krone. Nord-Schleswig hat die
in Stockholm und Kopenhagen gefeierten Feste zu öffentlichen Kundgebungen
seiner Treue für die skandinavische Sache ausgebeutet, die skandinavischen
Farben und die Toaste aus „Altdänemark" haben bei der gesammten Feier
eine beträchtliche Rolle gespielt. Zunächst wird es wohl noch für einige Zeit
bei dieser symbolischen Verbindung der drei Völker des Nordens bleiben,
denn in Schweden kann man sich keine andere Erfüllung der scandinavischen
Unionsidee denken, als das Aufgehen oder mindestens den Anschluß Däne¬
marks an die mächtigere Nachbarmonarchie, — eine Auffassung, welche bei
der schwedischen Beurtheilung des deutsch-dänischen Streits entschieden ange¬
sprochen hat, in Dänemark aber nicht getheilt wird.
Während dieser Mittsommerwochen sind in der bairischen Hauptstadt so
massenhafte Produkte bildender Kunst versammelt — neben den zahlreichen
stehenden Museen die internationale Ausstellung moderner Werke und die
alten Gemälde aus Privatbesitz — daß der Fremde den Eindruck gewinnt,
diese ganze menschliche Niederlassung sei nur der Rahmen für Genüsse des
Gesichtssinnes. Vollends als die Buden der Dult auch Straßen und Plätze
mit buntem Kram erfüllten — und Spötter wollten manche Nummer der
großen Ausstellung hierher versetzt haben — schien Alles in Schaulust auf-
zugehn. Erst wer die Maximiliansstraße entlang wandelnd aus dem seit
Wochen eleusinisch verschlossenen Opernhause die zähen Es-Dur-Akkorde der
Ouvertüre zu Wagner's Rheingold hervordringen hörte, ward inne, daß in
diesem beglückten Volke noch eine andere Kunst Wohnung hat.
Für eine internationale Ausstellung ist München unstreitig ein guter
Platz. Die halbwegs centrale Lage zwischen Berlin, Wien, Paris und Flo¬
renz erleichtert den Dingen wie den Menschen die Reise, und die Stadt be¬
sitzt Räume, um lebendige und unlebendige Gäste in Fülle zu beherbergen
Dem kühnen Unternehmen dieses Jahres konnte allerdings nur das größte
Gebäude genügen. Ein Glaspalast ist nun nicht gerade das ideale Gallerie-
lokal; indeß das Comite' hat die störende Wirkung des breiten Oberlichtes
mit Benutzung früherer Erfahrungen recht geschickt gedämpft, und ein Vor¬
theil ist, daß auch bei trüben Tagen, wie sie zu Anfang August s» häufig
waren, die meisten Säle hier hinreichende Helle hatten, während in den übri¬
gen Ausstellungsgebäuden der Stadt arge Finsterniß herrschte.
Das Arrangement des Transepts, in den man zuerst eintritt, gibt ein
recht gutes, wenn auch etwas nüchternes Bild. Die geschmackvollen reichen
Draperien, mit denen man in Paris oder London solchen Räumen behag¬
lichen Schmuck verleiht, finden wir nicht; dafür erfreuen die sprudelnden
Springbrunnen um so mehr. Sie wirken doppelt wohlthätig, indem sie die
Luft frisch halten und zugleich ein Geräusch erzeugen, das die dumpfe Stille
oder das verworrene Summen der Unterhaltung beseitigt und dadurch den
beschauenden Wanderer sich selbst zurückgibt.
In den ersten drei Wochen freilich war diese Wohlthat nur in ganz klei¬
ner Dosis zu genießen; denn mit einer Ungenirtheit, die namentlich den in
Anstandssachen empfindlicheren Franzosen seltsam behagt haben mag, wüthete
der Zimmermann, um Querwände und Leisten zu ziehen. Für künftige Fälle
empfehlen wir der löblichen Schreinerzunft Münchens wenigstens zu ihren
Arbeiten während der Besuchsstunden einer Ausstellung zwei kleine mecha¬
nische Werkzeuge, Bohrer und Schraube, mit denen man geräuschlos ziemlich
dasselbe erreicht, was so unter einem Lärm geschah, bei welchem dem ohnehin
nervös gespannten Besucher Hören und Sehen verging — für Bilderschau
keine geeignete und Hoffentlich noch weniger beabsichtigte Sinnesverfassung.
Von der Eigenthümlichkeit des einfallenden Lichtes leiden die Sculpturen,
die wir hier unberührt lassen, mehr als die Gemälde. Jene haben indeß
in der großen Mehrzahl den Vorzug voraus, daß sie je auf einem eigenen
Fleck Erde stehen und sich fürs Auge besser isoliren lassen, wogegen die
Bilder Rahmen an Rahmen von oben bis unten die Wände tapetenartig
bedecken, sodaß in die höchsten Reihen nur mit bewaffnetem Auge, in die
niedrigsten nur knieend einzudringen ist. Das sind Uebelstände, die ein em-
üs ridiWse verschuldet hat, über den sich der Wißbegierige aller Un¬
bequemlichkeit zum Trotz eher freuen als beklagen dürfte, wäre an dem
jetzigen Inventar der Ausstellung nur eine Spur von Admissionsurtheil wahr¬
nehmbar. Wenn die Jury des pariser „Salons" Makarts sieben Todsünden
abgewiesen hat, so ist das jedenfalls verkehrt, da man den Refus wohl mit
Recht auf den Gegenstand bezogen hat, denn Sittenpolizei ist in solchem
Falle das Publicum selber und als künstlerische Leistung hat jenes vielbe¬
rufene Bild ohne Frage ebenso gutes Recht, ausgestellt zu werden, wie eine
Masse französischer Equivoquen in Oel; aber in München hat man scheinbar
gar keine künstlerische Anforderung gestellt. Wenigstens ist der Maßstab so
niedrig genommen, daß dem Beschauer eine ungebührliche Abstractionsarbeit
aufgebürdet wird. Wir wissen freilich nicht — und wünschen am wenigsten
zu schauen, was vielleicht hinter den Coulissen noch zurückgehalten sein mag,
aber Niemandem wird es billig dünken, wenn in eine immerhin solenne Ver¬
sammlung sich Dinge drängen , von denen manche in gewöhnlichen Local-
ausstellungen nicht zugelassen würden, und daß höchst mittelmäßiges Gut in
zahlreichen Exemplaren sich dre.it macht, wo selbst das Ausgezeichnete eng
zusammengeschichtet werden mußte. Freilich erläutert sich dies wohl aus einem
Grundfehler des Unternehmens, der darin besteht, daß die Jury nur aus
Münchener Künstlern zusammengesetzt ist;, und daß diese, da sie gewisser¬
maßen zugleich Concurrenten und Wirthe sind, jeden Schein der Parteilich¬
keit ängstlich vermeiden mußten, ist verständlich. Ergänzte sich das Comiti
dem Sinne der Ausstellung gemäß noch durch Vertreter anderer Hauptorte
und Schulen, die beigesteuert haben, was in alle Wege nur heilsam sein
könnte, dann wäre sogar die Möglichkeit geboten, zum Nutzen des Gesammt-
eindrucks manche Doubletten solches Schlages, bei welchem das Dutzend noch
weniger beweist als das Unicum, zu removiren, umsomehr, da bis heute
nur ein provisorischer Katalog besteht. Vielleicht wird dazu noch die Noth¬
wehr treiben; denn die Einsendungen sind noch nicht alle untergebracht, wenn
überhaupt beendet, und die Einschiebung von Zwischenwänden, wie sie bis¬
her möglich gewesen, läßt sich nicht ins Unendliche fortsetzen.
Recht empfindlich wird der Ueberfluß erst, wenn man die aufgespeicherten
Schätze auf die relative Vollständigkeit hin betrachtet, die wir bei einer der¬
artigen Ausstellung gewünscht hatten. Daß bei den kurz angebundenen Vor¬
bereitungen keine eigentlich internationale Ausstellung d. h. eine Vertretung
aller kunstthätigen Nationen zu Stande kommen konnte, war natürlich. Die
englische Malerei hält sich in vornehmer Jnsularität; nur dann und wann
bringen unsre wandernden Landsleute die Kunde übers Meer, daß drüben
in der That und zwar sehr respektabel gemalt wird; Spanien und der skan¬
dinavische Norden sind, ebenfalls kaum vertreten, und Rußland, das wohl
künstlerische Gastrollen in Paris gibt, scheint seine recivilisatorische Mission
an uns Deutschen vorläufig noch nicht auf das ästhetische Gebiet ausdehnen
zu wollen. Vereinzelte transoceanische Sachen kommen nicht in Betracht.
Wir sind mehr als befriedigt, wenn Frankreich, die Niederlande und Italien
sich bei uns Rendezvous geben.
Selbst bei dieser Einschränkung wird Niemand im Ernste verlangen, hier
alle Künstlernamen wiederzufinden, die in neuerer Zeit bekannt geworden
sind; wohl aber durfte man voraussetzen, daß die Hauptrichtungen in ihren
hervorragenden Repräsentanten beisammen wären. Ist die.Auswahl gänzlich
dem Zufall anheim gegeben gewesen? ist es versäumt oder mißlungen, sich
von vorn herein des Erscheinens gewisser Koryphäen zu versichern? Die Lücken
sind auffällig, noch auffälliger, daß gerade wir Deutsche dabei zu Schaden
kommen. Denn wie sehr man auch die Bedeutung des nationalen in der
Kunst abschwächen mag, leugnen läßt sich so wenig wie tadeln, daß für die
überwiegende Mehrzahl der Besucher der Hauptreiz der Ausstellung in dem
Vergleich der deutschen und fremden, vor allem der deutschen und französischen
Bilder liegt. Eine solche Confrontation ist zwar nichts Neues; die letzten
Weltausstellungen haben sie gebracht und alljährlich vereinigt der Pariser
Salon heimische und importirte Kunstwaare. In Wahrheit hat die Münchener
Ausstellung nicht viel mehr zu bedeuten, als eine Saison der pariser, nur
daß die Zahlenverhältnisse der Aussteller umgekehrt sind, — auf etwa 4
deutsche kommt ein französisches Gemälde, — indeß von moralischem Belang
ist es immerhin (und würde uns, wie wir überzeugt sind, vor Sadowa
schwerlich zu Theil geworden sein), daß wir die Franzosen in Masse bei uns
sehen. Ueberdieß können wir hier die eigenen und fremden Leistungen statt
in der verwirrenden Verbindung mit Ve'locipedes, Nähmaschinen und Kugel¬
spritzen, wie auf den Weltausstellungen, hübsch allein und mit Muße betrachten.
Umso bedauerlicher, daß die Partie nicht gleich steht. Die Franzosen sind
trotz oder infolge ihrer Minderzahl besser, charakteristischer vertreten, als wir.
Ist das auch weniger ihrer eigenen geschickteren Wahl als dem Geschmack
zu danken, mit welchem in Deutschland französische Bilder gesammelt worden
sind — denn ein starkes Contingent rührt aus deutschen Staats- und Privat-
gallerien—gleichviel, der Erfolg ist darum nicht minder vortheilhaft für unsere
Rivalen. Ausgeglichen hätte er sich nur, wenn auf deutscher Seite wirklich
von allem Besten Etwas vor Augen stünde.
Bei Auswahl und Musterung des Hervorragenden können wir uns um
so eher mit wenigen Beispielen begnügen, weil das Meiste bereits auf der
vorjährigen Berliner oder Pariser Ausstellung gesehen und besprochen wor¬
den ist. Was man aber auch von alten Bekannten wiederfindet, erscheint in
München interessanter, weil es vermittelter auftritt. In vielen Fällen lernt
man hier die Gattung kennen, wo dort nur die Species auftrat.—
Seit wir Julius Meyers vortreffliche Geschichte der modernen französischen
Malerei besitzen, sollte die lang übliche Bemängelung der gallischen Kunst
selbst dem deutschesten Geschmack aufhören für patriotisch zu gelten. Es ist
gut gethan, mit Stock und Regenschirm auch den teutonischen Tic vor der
Thür zu lassen, wenn man in den Ausstellungsraum eintritt. Unter unseren
Gästen, denen wir artig genug die besten Plätze überlassen haben, gibt es
manches merkwürdige Gesicht und wir dürfen uns nicht schämen, diese fried¬
liche Invasion der Franzmänner, die wir in der Zeit der Säcularfeier des
großen Napoleon als gutes Omen begrüßen, für sehr instruktiv zu halten.
Von den edlen Alten ist zunächst Ingres vertreten. Man findet aller¬
dings kein bedeutendes Gemälde des französischen Altmeisters, aber daß man
in den hier vorliegenden Arbeiten die Art betrachten kann, wie dieser Künstler
gelernt hat, entschädigt einigermaßen für den Mangel des Genusses, den ein
abgeschlossenes Werk gewährt. Gestehen wir auch, daß uns z. B. sein
durchgeführter „Dantekopf" bei aller Weisheit und Tugend des Colorits,
aller Feinheit und Fülle der Modellirung die Kühle alles Mustermäßigen
nicht überwindet, so ist dagegen das Actstudium zur „Lictorengruppe" von
einer Einfachheit der Auffassung, einer Freiheit der Zeichnung und Schönheit
der Färbung, die den Cinquecentisten nahe steht. Den nackten Gestalten, welche
Michelangelo seiner heiligen Familie in der Tribun» der Uffizien zu Florenz
als Folie beigegeben hat, dürften sich diese Männer ohne Scheu als Ge¬
spielen zugesellen. Warum aber sind ihnen nicht die mehr als ebenbürtigen
Zeitgenossen, Studien von Cornelius, an die Seite gesetzt? Von der Masse
der Namen, welche das Gros der Ausstellung bilden, sind beide Männer
zeitlich wie geistig gleich weit entfernt, die nachfolgende Kunst in Frankreich
hat die Fühlung des Einen so sehr verloren wie die in Deutschland die
Fühlung des Andern; aber wenn die Franzosen soviel Takt hatten, ihren
Ingres zu zeigen, dursten wir doch wahrlich unsern größten Meister nicht
zurückhalten. Und war ein ausgeführtes Bild zu diesem Zweck nicht zu er¬
langen, so that es eine Aquarelle ebenso gut; ja selbst ein Paar Blätter
Zeichnungen aus dem Nachlaß hätten seine und unsere Ehre gewahrt. Sie
wären hier vielleicht um so mehr am Platze gewesen, als auch von Ingres
nur kleine Sache vorhanden sind, und sie würden angesichts des französischen
Altmeisters und seiner nächsten Schüler uns Deutschen überzeugend zu Ge¬
müthe geführt haben, mit welcher einzigen Verbindung von Feinheit und
Größe Cornelius die Natur unmittelbar studirt hat. Wenn wir damit die
Art und Weise der Franzosen vergleichen, so ist es ein Unterschied wie Mar¬
mor gegen Bronze: dort kraftvolle feste Substanz, hier flüssige, wie durch Guß
entstandene Form. Und auf beiden Seiten ist der höchste Erfolg nicht aus¬
geblieben. Denn daß in der großen Kunst das Colorit nur die nothwendige
Folge der wahren Zeichnung sei, dafür brauchen wir die Bestätigung nicht
erst bei Hippolyte Flandrin zu suchen, dessen Axiom der Satz war, wir können
es gerade in München sattsam würdigen, nur müßten wir uns in der
Ludwigskirche, in der Basilika oder in der Hofkapelle mit derselben Un¬
befangenheit umschauen, mit der wir die Monumentalmalereien der neueren
Pariser Kirchen betrachten. Auch Flandrin und Orsel auf gleichem Felde,
d. h. in Zeichnungen oder Farbenstudien zu Fresko, an Overbeck und Heinrich
Heß messen zu können, wäre sehr lehrreich gewesen und würde nicht zum
Nachtheil der deutschen Kunst ausgefallen sein, so wunderbar schön und
graziös auch das Meiste ist, was wir von jenen französischen Malern vor
Augen haben, die sich über die Bedingungen und Zwecke der Kunst feinsinnig
Rechenschaft zu geben wußten, ohne die nächsten Aufgaben des Auges und
der Hand zu vernachlässigen. Overbeck und Veit fehlen gänzlich, wie auch
franzöfischerseits mit Ary Scheffer die moderne Sentimalität ihren bekannte¬
sten Vertreter entbehrt. Aus der Zahl der christlich-germanischen Bekenner ist
nur Führich erschienen, leider ein ebenso unerträglicher Theoretiker wie bewun¬
derungswürdiger Praktiker. Genießt man die holdselige Reinheit, den An¬
muthszauber seines kleinen Gemäldes „Jakob und Rahel", das im vorigen
Jahre beim Verkauf der Arthaberschen Sammlung in Wien so überraschend
hoch bezahlt wurde, dann ist schier unbegreiflich, wie neben solchen Concep¬
tionen der Zelotismus in derselben Brust Platz haben kann. Einen
Versuch, die heiligen Geschichten durch Wahl von Nebenmotiven zu
glossiren, bringt die italienische Abtheilung in dem Bilde von Niccola Ge in
Florenz, betitelt: Die Boten der Auferstehung. Er zeigt uns das nicht schlecht
behandelte Loccil vor dem Thore von Jerusalem, lehnan nach Golgatha,
welches selbst nicht sichtbar ist; das Morgenlicht bricht eben über die Höhe
und beleuchtet die im Mittelgrund mit fliegendem Gewände eilig vorüber¬
schreitende Magdalena, während vorn in dem Schlagschatten der Stadtmauer
die Wachtsoldaten sich hinwegdrücken und heimlich lachend das Geld zählen,
womit der Rath sie bestochen hat, den Hergang der Auferstehung abzuleugnen.
So unbedeutend die Composttion auch ist, das Ganze hat doch eine nicht un¬
edle Wirkung. Nur scheint sich der Künstler Herrn G6rome (von welchem
diesmal nur die Skizze zur Phryne ausgestellt ist) zum Vorbild zu nehmen, der
in diesem Genre das Pikanteste leistet. Bei ernstem Geschmack kann die künst-
lerische Benutzung der Pausen in der biblischen Erzählung gar wohl eine
Zukunft haben. Die Art z. B. wie Führich die Episoden illustrirt, indem
er gleichsam aus dem Vorton der Dominantenaecorde verweilt, die große Vor¬
gänge einleiten, verdient Beifall und Nachfolge. Ich erinnere nur an die Com¬
posttion „des Hauptmanns am Grabe Christi" aus seinem Auferstehungscyklus.
Wenn wir noch Jägers durch weise Milde ausgezeichnetes Bild der „Kreuz-
tragung" und das in Composttion schwache, aber colvristisch nicht un¬
interessante Nolimetangere von Plockhorst und v. Wurmb's Kreuzigung
nennen, zwei Werke, die durchaus iuvitA Ninsrvs, entstanden sind, ist man mit
der religiösen Malerei fast zu Ende. Sie ist überaus schwach vertreten und
wir constatiren dabei mit Genugthuung, daß von positiv katholischer Gesin¬
nung aus dem Norden Deutschlands, wo man sie neuerdings im Wachsthum
wähnt, künstlerische Wirkungen hier ebensowenig vorliegen, wie aus den süd¬
deutschen Stammländern des alten Glaubens.
Auf dem Gebiet der christlich-historischen Kunst paradirt in den franzö¬
sischen Abtheilungen nur noch Cabanel mit einem „verlorenen Paradies":
Gottvater fährt von Engeln getragen in zorniger Geberde durch den Haag,
in dessen Schatten Adam und Eva sich verbergen, indeß der Verführer, eine
braune Teufelsgestalt, mit schadenfroher Miene in die Dornen des Vorder¬
grundes fällt. Die Individualisirung der lebensgroßen Gestalten gibt soviel
zu erkennen, daß auch sür den Maler das Paradies dieser Kunstrichtung
verloren ist. Bei aller Anstrengung vermag es sein Adam nur bis zum Aus¬
druck eines Verdrusses zu bringen, der sich mehr wie die Wirkung einer ver¬
fehlten Actienspeculation ausnimmt, und Madame hat als historisch älteste
der Nymphen in ver französischen Abtheilung vor diesen nur die nachahmens-
werthe Geste voraus, womit sie sich wenigstens das^Gesicht verhüllt. Am
Genießbarsten noch ist das Arrangement und die tadellose Technik; das selt¬
sam bunte und heitere Colorit aber steht mit dem Gegenstande im pikantesten
Widerspruch und weicht von anderen Arbeiten Cabanels z. B. der mit aus¬
gestellten „Lautenspielerin", einem Meisterstück von tiefer und vornehmer
Färbung, und der ernst und bedeutend gehaltenen fein modellirten „Druide",
auf das unerfreulichste ab. Brion's Versuch, Licht und Schatten blos
als solche ohne allen Bezug zu wirklichem Stoff durch die Configuration
einer weißbärtigen nebulosen Greisenfigur und die Benennung „sechster
Schöpfungstag" zu stilisiren, verdient nur als aeroplastisches Experiment
Erwähnung. Es gibt Hoffnung, daß wir künstig den wirklichen Hergang
der Erdschöpfung gemalt erhalten, wobei dann Sanct Sauerstoff an Stelle
der altmodischen Cherubim fungiren wird. — Damit zerfließt zum mindesten
hier vor unseren Augen die idealistische Kunstthätigkeit der Franzosen. Erst
das letzte Resultat der siebentägigen Schöpfungsplage reizt ihren Ehrgeiz
wieder.
Indeß sie sich um Helenen bemühn, überlassen sie uns die Arbeit
Fausts fast ausschließlich; denn mit dem seltenen Drang, die erhabene
Form und interesselose Schönheit zu verwirklichen, stellen sie uns heute
Niemanden gegenüber. Wie fast bei allen Gattungen, die auf der
Ausstellung vertreten sind, haben wir auch hier mit einer Klage zu be¬
ginnen: unser genialster Classiker Genelli fehlt, obgleich seine Oelgemälde sich
mit einer einzigen Ausnahme sämmtlich in München befinden. Diese em¬
pfindlichste Lücke ist nicht durch seinen kunstsinnigen Freund verschuldet, was
ausdrücklich erwähnt sein will; wie wir hören, ward Freiherr von Schock
veranlaßt, das von ihm gespendete Bild zurückzunehmen, da es einen ganz
ungünstigen Platz angewiesen erhielt. Jedenfalls ist die deutsche Abtheilung
dadurch nicht blos des bedeutendsten Werkes dieser Richtung, sondern über¬
haupt des Vortheils verlustig gegangen, ein umfassendes Staffeleibild großen
Stiles darzubringen. Die Ueberzeugung, daß Genelli's „Omphale" oder „Eu¬
ropa" die Krone der ganzen Ausstellung gewesen wäre, kann den Vorwurf
nur steigern. Sie bestätigt zu sehen, wäre ein überaus werthvolles Zeugniß
für das Lebensrccht des deutschen Idealismus gewesen, der in und außer
Land so lebhast discutirt wird. Aber wehrlos sind wir darum nicht: Rahl
ist da, wenn auch nur mit einem kleinen und in der Farbe nicht ganz erfreulichen
Bild „Urtheil des Paris"; aus dem „Götterbacchanal" von Wi s lie e n u s
sodann weht in sanfteren Schwung der Flügelschlag von Cornelius' Geiste,
auf dessen Tradition sich die Leiter der Düsseldorfer Kunstschule zu guter
Stunde besonnen haben; denn die Berufung des jungen Meisters, welche in
diesem Sinne geschah, dünkt uns die beste Jubiläumsgabe der rheinischen Aka¬
demie. Und daneben zeigen Th. Grosse's mythologische Kompositionen, die
gleich jenem Bilde in Leipzig g, drehe-o ausgeführt werden, daß der strengen
Monumental-Malerei, die es zugleich auf stilvolle Decoration bestimmter ar-
chitektonischer Räume absieht, auch unter uns weder die Künstler noch die
Aufgaben mangeln. Wien, Düsseldorf (resp. Weimar) und Dresden also ha¬
ben Abgeordnete dieses Bekenntnisses geschickt. Für Berlin, von wo Heydens
einschlägige Arbeiten erwartet werden konnten, und für München zugleich muß
Kaulbach herhalten, um die Zahl der namhaften Städte voll zu machen.
Diesem doppelten Ehrgeize genügt wenigstens der Raum, den seine Arbeiten
in der Ausstellung einnehmen. Fast die Fläche einer ganzen Wand füllt der
Karton zur „Schlacht von Salamis." Obwohl das Bild in die Periode des
Künstlers zurückweist, in welcher er noch bemüht war, die menschliche Figur
richtig und bedeutend wiederzugeben, so ist doch die schiefe Ebene schon un¬
verkennbar, auf der sich mit dem Hauptmotiv des Bildes die Kunst des Ur¬
hebers entwickelt. Eine Befreiungsschlacht mit manchen gut und energisch
gebauten, wenn auch im Einzelnen oft schon erlahmenden Gruppen gewisser¬
maßen durch die Falten von Weiberhemden hindurch sich begeben zu sehen,
hat etwas sehr widerwärtiges, besonders da blos um dieses pikanten Con-
trastes willen Themistokles die Artigkeit haben muß, den Ehrenplatz im Vor¬
dergrunde der asiatischen Königin mit Kind und Kegel zu räumen. — Schlimm
schon, wenn bei einem Künstler der Zeitpunkt, wo er ohne Schuld in Dec«'
denne geräth, nicht auch der Endpunkt seiner Thätigkeit ist, ganz schlimm
aber, wenn er sich bei bewußter Schwäche behaglich weiter in die Breite er¬
geht. Für solchen Muth, sichs leicht zu machen, hat die Kunstgeschichte dann
einen ganz andern Ausdruck; denn je größer das Talent, um das es sich
handelt, desto unnachsichtiger trifft der Vorwurf die Gesinnung. Daß die
neuesten — soll man sagen ausgestellten oder blosgestellten — Kompositionen
des einstmals angestaunten Zeichners (eine Serie Illustrationen zu Romeo,
Braut von Messina, Lohengrin, Tell und Triften) durchaus gefühlsleer und
erfindungsarm sind, nimmt nicht Wunder, erschreckend aber ist die Misere
der Ausführung: diese Gestalten haben gar nicht Fleisch und Bein mehr, es
sind eitel Puppen, schablonenmäßig mit den irr schielenden Augen versehen,
welche bei Kaulbach Geist bedeuten. Auch diese Gebilde werden, wie ihre
Vorgänger, in allen Größen und Vervielfältigungsarten unter das deutsche
Publicum geworfen werden. Die Multiplication kann sie nur unschädlicher
machen.
Um so unlieber vermißt man nach solcher Kost den anmuthigsten der
modernen Stilisten: Moritz von Schwind; seine Entwürfe zur Ausschmückung
des wiener Opernhauses waren erwartete Gäste. Es soll Aussicht vorhanden
sein, daß er sich noch mit seinem jüngsten z. Z, unvollendeten cyklischen Werke,
der schönen Melusine, auf der Ausstellung einfindet. Wie Schmorr, der bis
jetzt ebensowenig in irgend einer seiner mannigfaltigen Gebiete vertreten ist
und dessen neuestes für das Marimilianum bestimmtes Bild „Luther in
Worms" in Dresden zurückbleibt, gehört auch er zu den Namen, ohne die
ein Urtheil über die neue deutsche Kunst unmöglich ist.
Die einzige in diese stilistische Rubrik gehörige Arbeit von De^acroix,
eine monochrome Skizze „Numa und Egeria", wäre besser zu Hause geblieben,
sie kann die Meinung des Publikums nur irre führen. Aber sie leitet uns
in ihrer Art zu der oben angedeuteten Mittelgattung, — wir würden sagen
Zwittergattung, wenn es hier nicht gerade auf das Sexuelle ankäme — in
welcher die Production der Franzosen wieder ihre Stärke gewinnt. Es ist
leider bezeichnend für den modernen Geschmack, daß er geneigt ist, den nackten
männlichen Körper der Kunst zu verbieten, (denn darauf läuft praktisch
genommen die Ablehnung des Mythologischen hinaus), während er sich sofort
bereit findet, die Darstellung des weiblichen sich gefallen zu lassen und mit
allerhand mythologischen Bezeichnungen zu legitimiren. Neuerdings wird frei¬
lich auch darauf verzichtet: die Namen Venus, Danae :c. sind eigentlich alt¬
modische Concessionen; in ihrer Isolirtheit läßt man die Damen sich selber
dem Publikum vorstellen. Und das ist nicht bedeutungslos. Keine Frage,
es ist hier mancher schön gemalte Act zu nennen, und so wenig es auch nöthig
scheint, die Nuancen der Sinnlichkeit in der Carnation zu classificiren, die
durch Riesener, Courbet, Ulmann u. A. vertreten werden, sie sind ohne
Frage sowol im Technischen wie auch in der Unbefangenheit der Auffassung
des distinguirten weiblichen Körpers künstlerisch weit genießbarer als ihre
deutschen Rivalinnen, an denen entweder academische Kälte, wie bei Felix,
oder widerwärtiges Raffinement, wie bei A. Keller und Fux abstößt, deren
Colorit bei aller Verschiedenheit mehr nur das Obscöne klar, aber kein Lllai»
odseui-ö zeigt. Was die pariser Frauenmaler betrifft, so berufen sie sich zwar
auf den Vorgang des Renaissance-Zeitalters, indem sie die Königinnen ihrer
Salons auf diese indiscrete Weise feiern, aber gerade den Reiz der Indi¬
vidualität lassen sie gänzlich vermissen, womit die alten Italiener ihre nackten
Frauenbilder zugleich verfeinern und verklären. Bei jenen Französinnen ist
das Kleid im besten Falle immer die nothwendige Concession an die Sitte, bei
den Italienerinnen nur eine freie Form der Auseinandersetzung mit dem Klima.
Die neuerdings in Frankreich ebenso wie in der italienischen Verfallzeit
gepflegte Schwester der lüsternen, die grausame Muse, die Furie des Cirkus,
hat unter den anwesenden Franzosen keinen Priester; leider droht sie jetzt
importirt zu werden. Wenn Herr Lossow die Vorrede zu Heines Buch der
Lieder in der Weise illustrirt, daß er den Jüngling im Mondenschein von
der Sphinx zerfleischen läßt, so hat das trotz des menschlich und ästhetisch
bedauerlichen Vorfalls bei der Aermlichkeit der Leistung nicht viel auf sich.
Vor nicht langer Zeit aber excellirte Herr Max, ebenfalls in München, mit
offenbarem Talent im höheren Martyriensache. Jetzt gibt er uns zwei Dar-
Stellungen, die sich gewissermaßen ergänzen: die verliebte Nonne, ein schönes
Mädchen,mit hektischer Gesichtsfarbe am Stamm des Kreuzes sich windend,
offenbar im Kampf auf Tod und Leben mit der Sinnlichkeit, elegant und
sicher vorgetragen, — und außerdem einen „Anatomen" : der Mann sitzt am
Pult in düsterer Stube und zieht eben das Tuch von der Leiche eines jungen
Mädchens hinweg, die in steiler Verkürzung auf dem Sectionsbrete liegt,
und hält in dem Moment inne, da die knospende Brust des Opfers blos
wird. Wie Monogramme sind Schmetterlinge angebracht, die sich sowol
dort an den Füßen der armen Lebenden, als auch an denen der Todten zu
thun machen; hier ein Nachtschmetterling. Daß wir es mit einer nächtlichen
Phantasie zu thun haben, brauchte nicht erst angedeutet zu werden; wir sind
indeß so frei, die Thiere in der Eigenschaft ihrer Vergänglichkeit a!s Verheißun¬
gen aufzufassen; denn die Verirrung des letztgenannten Bildes darf doch keine
Dauer haben. Dem Apparat desselben mag die Kritik getrost das Secir-
messer entlehnen.
Wie um die ernten Nachahmer zu beschämen, ist diesmal ein fran¬
zösischer Virtuos in der Schilderung aufregender Contraste. James Ber¬
trand, mit einem Bilde erschienen, das die tiefste Rührung hervorrufen
muß: im Ufersand des Meeres lang ausgestreckt, die Arme vorn zusammen¬
geschmiegt (ganz nach dem Motive der Cäcilienstatue von Maderno, nur daß
der Kopf nach vorn gekehrt ist) liegt ein todtes Mädchen in einfachem blau¬
streifigen Kleide; ein wenig Korallenschmuck und die feinen Strümpfe
deuten auf gute Herkunft; der Tod, unzweifelhaft eigene Wahl, hat den
Ausdruck der lieblichen, wenn auch nickt hervorragend schönen Züge wieder
verklärt und macht die Erscheinung in allem Elend ruhevoll. Kein gesuchter
Lichteffekt stört den wehmüthigen Zauber; mit liebevoller Discretion läßt
der Künstler die anfluthende Welle bäumen, sodaß die holde Gestalt im
nächsten Augenblick begraben werden muß; der Himmel dämmert und eine
Möwe fliegt über das Wasser. Zeichnung und malerische Behandlung sind so ein¬
fach wie meisterhaft; bei allem Grauen, das der Stoff erregt, ist doch Dank der
keuschen und besonnenen Behandlung der poetische Eindruck vorherrschend.
Aber wie tödtlich das Unterfangen lohnen kann, den Tod 8KN8 pdras«
zu malen, wird man nicht weit davon vor einer Leinwand inne, die Alphonse
Auffray's Namen trägt. Ohne Zweifel will auch er eine Art von poetischem
Neiz des Schauerlichen ausüben, wenn er Morgengrauen, Alpenwildniß und Un¬
glück in nichts Geringeres zusammenaddirt als in Stiefel, Hut, Nockfetzen und
Flinte, in deren holder Mitte buchstäblich ein verfaulter Gemsjäger modert.
Wenn wir hier nun noch die Erwähnung eines belgischen Bildes an¬
schließen, so geschieht es nur, um wie bei dem Gemälde Bertrands zu zeigen,
in wie weit Schönheit des Vortrags das Peinliche des sujets zu sühnen,
wo nicht gänzlich zu tilgen vermag. Van Lerius hat unter dem Titel
„lieber sterben" eine Episode dargestellt, die dem Kostüm nach etwa in die
Zeit des niederländischen Befreiungskrieges gehört: von etlichen wüsten
Söldnern verfolgt hat sich ein schönes junges Weib in die höchste Dachkammer
des Hauses geflüchtet; mit einem Bettlaken deckt sie die Blöse kaum (denn
sie ist, freilich ohne ganz verständlichen Grund, völlig nackt), ist auf den Stuhl
am offenen Fenster gesprungen und eben im Begriff, sich auf die Straße
hinabzustürzen, auf der man im fahlem Morgenlichte die Plünderung wüthen
sieht. Die eindringenden Landsknechte, deren Jeder dem anderen die Beute
mißgönnt und das holde Geschöpf in seiner Todesangst, wie sie die eine
Hand mit dem Tuche krampfhaft auf den Busen drückt und mit der andern
sich an die Stirn faßt, den letzten Blick himmelwärts gewandt, sind tief er¬
greifende Gegensätze. Es ist etwas von der Poesie der Volksbücher in dieser
Composition, und was das Motiv an Härte zu viel hat, sucht die wun¬
dervolle Harmonie des Farbentones auszugleichen. Denn wir haben es
hier mit einer coloristischen Leistung ersten Ranges zu thun. In Anlehnung
an seine Landsleute, die im 16. Jahrhundert in Italien malen lernten, gibt
uns Lerius ein stilvolles Colorit zu sehen von einer Wärme, Geschmeidig¬
keit und Fülle, die schlechthin meisterhaft zu nennen sind. An adeliger
Herbigkeit der Zeichnung und Sauberkeit der Behandlung (das Bild ist auf
Holz gemalt) steht ihm Nichts in der ganzen Ausstellung gleich.
Der Geschichtsmalerei und des Genres gedenken wir später noch
M. I.
Die Verhandlungen unter den italienischen Staaten wegen einer Con-
söderation wurden Anfangs August nach den Unglücksschlägen in der lom¬
bardischen Ebene wieder aufgenommen. Das Ministerium Casati, in welchem
Pareto das Auswärtige beibehalten hatte und Vincenz Gioberti, der erste
Urheber der Conföderationsidee, als Minister ohne Portefeuille, dann als
Unterrichtsminister saß, machte den Vorschlag, in Rom Verhandlungen wegen
eines Bundes zu eröffnen. Piemont war über die Stärke seiner eigenen
Streitkräfte belehrt, es wußte, daß es im Ausland keine Hilfe finde, es galt
nun einen letzten Versuch zu machen, die anderen Staaten zu einer organi-
sirten Mitwirkung für die Fortsetzung des Krieges zu gewinnen. Denn dar¬
auf hatte es Piemont wiederum in erster Linie abgesehen. Die Jnstructio-
nen für den Abbate Rosmini, der als außerordentlicher Gesandter nach Rom
geschickt wurde, lautete dahin, die päpstliche Regierung 1) zur thätigen Mit¬
wirkung beim Krieg, 2) zu einem politischen Bunde, 3) zu einem Concordat
zu bewegen. Gioberti, der die Jnstructionen verfaßt hatte, erklärte, daß
der erste Punkt unmittelbar praktisch und dringlich sei, daß man sich über
die beiden anderen aber vorläufig mit Aufstellung allgemeiner Grundzüge be¬
gnügen müsse.
Diesmal war es nun der Papst, der sich kühl zeigte, die Gesandten
klagten über Zögerungen; eine Störung war es auch, daß in Turin das
Ministerium Casati wieder einem rein piemontesischen Ministerium, Pinelli-
Percone, Platz machte, dessen vollständiges Schweigen über die Ligafrage
verdächtig wurde. Jndissen fanden doch auf den Vorschlag Rosminis ver¬
trauliche Conferenzen statt, an welchen sich Boninsegni und Bargagli für
Toscana, Pareto und Rosmini für Piemont, der Mgr. Corboli-Bussi für
den Kirchenstaat betheiligten. Anfangs September hatten sich diese Bevoll¬
mächtigten über den detaillirten Entwurf einer Liga der drei Staaten ver¬
ständigt. Als Zwecke des Bundes waren die Garantie des Gebiets der Bun¬
desstaaten und die fortschreitende friedliche Entwickelung der freien Einrich¬
tungen und der Nationalwohlfahrt bezeichnet. Der Papst sollte den bestän¬
digen Vorsitz führen. In Rom sollte sofort ein Präliminarcongreß, dessen
Mitglieder von den Kammern der einzelnen Staaten gewählt würden, zu¬
sammentreten, um die Bundesverfassung auszuarbeiten. Dem Bundestag in
Rom sollte es zustehen, über Krieg und Frieden zu entscheiden, die Contin-
gente für das Bundesheer zu bestimmen, Einheit der Gesetzgebung in allen
volkswirthschaftlichen und militärischen Dingen wie im Rechtswesen anzu¬
streben, Handelsverträge abzuschließen ze.
Rosmini sandte diesen Entwurf am 7. September nach Turin und schrieb
dazu, daß der Papst denselben reiflich geprüft und nicht unannehmbar ge.
funden habe, und daß er, sobald Karl Albert officiell seine Zustimmung er¬
klärt habe, eine besondere Congregation ernennen werde, bis zu deren Aus¬
spruch er seine definitive Entschließung vorbehalte. Der Entwurf, fuhr Ros¬
mini empfehlend fort, sei ganz nach den Jnstructionen abgefaßt, die er vom
vorigen Ministerium erhalten habe. Bevor die Conföderation ins Leben ge¬
treten sei, werde es ganz unmöglich sein, die päpstliche Regierung zur Be¬
theiligung am Nationalkriege zu vermögen. Dann aber werde sie sich dadurch
gedeckt finden, daß der Krieg nicht mehr von den Fürsten, sondern vom
Bundestage beschlossen werde. Inzwischen sei nicht mehr zu erreichen gewesen,
als daß die vorhandene Truppenzahl aufrecht erhalten und vermehrt wurde,
und selbst dies unzulänglich. Rosmini rechnete dann aus, daß wenn die
Zustimmung Piemonts erfolge, in weniger als einem Monat der erste Trac-
tat stipulirt sein könne, worauf sofort die Versammlung der 9 mit Ausarbei-
tung der Verfassung beauftragten Bevollmächtigten nach Rom einberufen
werden könne, und in einem weiteren Monat könne dann der definitive
Bundestag in Function treten, also ohne Zweifel noch rechtzeitig für den
nächsten Krieg, falls dieser unvermeidlich sein sollte.
Was war das Schicksal dieses Entwurfs? Er hatte die Zustimmung
Toscanas und dabei blieb es. Dagegen wurde er in Piemont verworfen,
und nicht minder von Pellegrino Rossi, als dieser Mitte September vom
Papst an die Spitze des Ministeriums gestellt wurde.
Vier Wochen zögerte der Minister Percone mit der Antwort. Am
4. Oetober schrieb er an Rvsmini: die Lage verlange gebieterisch, daß die italie¬
nischen Regierungen in wirksamer Weise und mit der That zur Rettung/ des
gemeinsamen Vaterlands beitragen. Zu diesem Zweck sei vor Allem Nach¬
druck und Einmüthigkeit in den Rüstungen nöthig, um den Krieg wieder
aufzunehmen, wenn die eingeleitete Mediation mißlinge, und um sich gegen¬
seitig die Gebiete zu garantiren. damit jeder Verdacht ehrgeiziger Absichten
ausgeschlossen sei. Der Bund müsse gemeinsam beschützen, was im Unab¬
hängigkeitskrieg gewonnen worden sei (d. h. die Annexionen in Oberitalien
garantiren), und die beste Art und Weise mit dem Bunde anzufangen, be¬
stehe darin, inzwischen den Beitrag jedes Staats an Mannschaft und Geld
zu bestimmen. Die definitive Einrichtung des Bundes müsse späteren Zeiten
vorbehalten bleiben, denn jetzt sei daran nicht zu denken, während der Aus¬
gang des Nationalkrieges noch nicht gesichert, die Gebietsverhältnisse noch un¬
bestimmt seien und der König von Neapel sich von der nationalen Sache
abgewandt habe. Piemont sei bereit, ein Militärbündniß mit Rom und Tos-
cana abzuschließen, und dabei könne man dann zugleich die allgemeinen Grund¬
züge einer künftigen Consöderation feststellen.
Rosmini mußte diese Antwort als eine Ablehnung betrachten. Sichtlich
verstimmt berichtete er am 11. Oetober, daß man in Rom weit entfernt sei,
an eine kriegerische Politik zu denken, die man mit den wesentlichen Grund¬
lagen des Kirchenstaats nicht für vereinbar halte. Opfer wolle man keine
bringen, der Staat habe keine Soldaten, kein Geld, das Volk verlange zu
essen. „Die Unabhängigkeit Italiens hofft man viel mehr vom Frieden als
vom Krieg, und um Alles zu sagen, so glaubt man, daß, wenn die Auf¬
richtung des Oberitalienischen Staats gelänge, dieser schwerlich in einen
Bund mit andern kleinern Staaten eintreten möchte, für den man in Turin
schon jetzt wenig Interesse zeigt, gerade wie ja auch Preußen dem deutschen
Bunde widersteht." Der Vater aller Gläubigen könne überhaupt nicht mit
einer christlichen Nation Krieg führen und der jetzige Papst habe das wieder¬
holt feierlich ausgesprochen. Eben dies sei das schwere Hinderniß, das nur
durch eine aufrichtige Consöderation hätte überwunden werden können. Das
Ministerium Percone sei anderer Ansicht, und da die neuesten Instruktionen
—- so schloß Nosmini— nicht mehr mit denen, die er von Gioberti erhalten,
übereinstimmten, so bitte er um seine Abberufung.
In Rom erregten die Eröffnungen, die Nosmini im Auftrag seines Ca-
binets zu machen hatte, den größten Unmuth. Bargagli, der toscanische
Gesandte, und Pellegrino Rossi tauschten ihre Entrüstung über die „perfide
Politik", über die „exorbitanten Forderungen" Piemonts aus, durch welche
jede Möglichkeit von Verhandlungen abgeschnitten werde. Die Geschichte
werde einst richten über diese Länder gier, welche das Scheitern der Conföde-
rationsidee verschulde. Rossi war besonders erbost. Er zog die Eventualität
eines gegen Piemont gerichteten Bundes mit Neapel in Erwägung, und alle
Rücksichten, bei Seite setzend, ließ er auch in der Presse die heftigsten An¬
klagen gegen Piemont schleudern, eine Polemik, die in diesem Augenblick
nur dazu dienen konnte, den subversiven Parteien Nahrung zu geben, von
denen der Kirchenstaat jedenfalls mehr bedroht war als Piemont.
Für Rossi, der gerne mit der Phrase spielte, die Einheit Italiens sei
keineswegs gleichbedeutend mit der Vergrößerung Piemonts, stand es über¬
dies fest, daß der Versuch, die Lombardei und Venetien zu befreien, bereits
definitiv gescheitert sei. Er wollte einen Bund, aber nur einen Bund für den
Frieden zur Aufrechthaltung des Gleichgewichts unter den Staaten, und auch
das Project Rosmini's trug ihm einen viel zu präcisen und zu gefährlichen
Charakter. Noch ehe die Forderungen des Turiner Cabinets bekannt ge¬
worden, suchte er den Papst mit Vorspieglung der Gefahren zu schrecken,
welche die Errichtung eines permanenten, aus Volksabgcordneten bestehenden
Bundestages für ihn unvermeidlich haben werde, und stellte einen neuen Ent¬
wurf auf, in welchem die Bestimmungen Rosmini's abgeblaßt, der nationale
Charakter vermischt war, und der nur auf einen Bund der Fürsten zielte:
die Bevollmächtigten sollten nicht aus erwählten Abgeordneten, sondern aus
ernannten Diplomaten bestehen, und der von ihnen auszuarbeitende Ent¬
wurf den Einzelkammern zur Genehmigung vorgelegt werden.
Gerade die Unbestimmtheit des Entwurfs war indessen für das Turiner
Cabinet ein Motiv, sich nicht ablehnend zu demselben zu verhalten. Auch
war Percone — offenbar Angesichts der wachsenden Propaganda der Radi-
calen — mit der Bestimmung einverstanden, daß die Bevollmächtigten nur
von den Fürsten ernannt werden sollten, und noch am 23. Octbr. gab das
Turiner Cabinet in Rom die Erklärung ab, daß es bereit sei, auf Grund¬
lage von Rossis Project zu verhandeln und einen unverzüglich nach Rom
einzuberufenden Congreß zu beschicken. Dagegen stieß dieses Project auf den
Widerspruch Toscanas. Bargagli nannte es geradezu eine Betrügerei; es
sei schlechterdings unmöglich, die Kammern für die Genehmigung eines Pro-
jenes zu gewinnen, in welchem die Nation und die Unabhängigkeit gar nicht
mehr erwähnt seien, und das, des populären Elements beraubt, nur einen
Bund der Fürsten aufstelle, deren Bevollmächtigte blos berathen, nicht be¬
schließen könnten. Ebenso hielt Nosmini gar nichts auf dieses Project, das
statt einer That nur eine inhaltlose Versprechung sei
Während dieser Verhandlungen hatte sich das Turiner Cabinet direct
mit der Florentiner Negierung ins Benehmen gesetzt. In einer Note vom
9. October wiederholte Villamarka, der piemontesische Gesandte in Florenz,
daß seine Regierung geneigt sei, einen förmlichen Pact einzugehen zum Ab¬
schluß einer Liga mit dem doppelten Zweck: 1) zur Vorbereitung eines neuen
Krieges gegen Oestreich, 2) zur Vorbereitung einer künftigen Conföderation
zum Schutz der äußeren Unabhängigkeit und der inneren Ordnung. Das
Ministerium Capponi nahm den Vorschlag nicht ungünstig auf, bestand aber
auf wesentlichen Modifikationen, welche drei Punkre betrafen, einmal den
Zeitpunkt des Zusammentritts der Bevollmächtigten, welche die organischen
Gesetze des Bundesvertrags vereinbaren sollten, dann die Art und Weise der
Wahl dieser Bevollmächtigten, endlich die Form der Erklärung für die künftige
Conföderation. Vor Allem sollte die Einberufung der Bevollmächtigten un¬
verzüglich geschehen, darauf legte Giorgini, der Minister des Auswärtigen,
in seiner Note vom 10. Octbr. das größte Gewicht. Ein Verzug lasse sich
durch nichts rechtfertigen und würde zu neuen Verleumdungen und Dekla¬
mationen gegen die italienischen Regierungen Anlaß geben. Die Folge wäre
nur, daß die Radikalen sich der Sache bemächtigten und die Action der Re¬
gierungen usurpirter. Auch empfehle es sich, daß die Feststellung der Con-
tingente und der Geldbeiträge zum Kriege, worauf Piemont mit Recht so
großes Gewicht lege, nicht von den diplomatischen Agenten der Regierungen,
welche die Präliminarien des Bundesvertrags unterzeichnen würden, sondern
von den definitiven Vertretern selbst bestimmt würden. Diese aber müßten,
worüber das Turiner Cabinet sich nicht deutlich ausspreche, nicht von den
Regierungen, sondern von den Volksvertretungen der drei Staaten gewählt
werden, denn sonst würde der Bund, anstatt als ein Entgegenkommen gegen
die öffentliche Meinung begrüßt zu werden, nur mit Mißtrauen aufgenom¬
men und als Bund der Fürsten gegen die Völker verdächtigt werden.
Endlich aber müsse noch förmlich das föderative Princip betont werden, dessen
Verwirklichung der Zweck der Liga sei, dadurch werde die ganze Sache dem
Auslande gegenüber an Gewicht und Feierlichkeit gewinnen. Villamarka's
Antwort war entgegenkommend; nur gegen die Wahl der Bevollmächtigten
durch die Kammern erklärte er sich jetzt bestimmt. Dieses Vorgehen, schrieb
er, wäre im Widerspruch mit den Rechten der Krone wie mit den Rechten
der Kammern, denn jenen stehe es zu, Verträge abzuschließen, und diesen, von
den verantwortlichen Ministern Rechenschaft über die abgeschlossenen Verträge
zu verlangen. Diese Note Villamarka's war vom 21. October. Am fol¬
genden Tage trat in Florenz das neue Ministerium Montanelli ins Amt,
und damit nahmen die Verhandlungen eine neue Wendung.
Inzwischen waren noch besondere Verhandlungen mit Neapel nebenher¬
gelaufen. Piemont selbst hatte sich Neapel zu nähern versucht. Daß Karl
Albert die ihm für den Herzog von Genua angebotene Krone Siciliens aus¬
geschlagen hatte, schien zur Hoffnung auf das Entgegenkommen des Königs
Ferdinand zu berechtigen. Schon am 28. August richtete der Minister Percone
eine Note nach Neapel, welche hervorhob, daß Piemont sich aller Einmischung
in die sicilischen Dinge enthalten habe, und zugleich den Hof von Neapel zu
einem politischen Bündniß mit Piemont im Interesse der nationalen Unabhängig¬
keit einlud. Von Erfolg war dieser Schritt nicht, das gegenseitige Mißtrauen
lähmte jede Verhandlung. Von Seite Neapels behauptete man, der Verzicht
Karl Alberts auf Sicilien sei nicht bündig genug, und auf piemontesischer
Seite hatte man Grund zu vermuthen, daß zwischen den Höfen von Rom
und Neapel über einen Bund mit Ausschluß Piemonts verhandelt werde.
Jedenfalls machte Rossi aus dem Beitritt Neapels eine Hauptbedingung für
das Zustandekommen der Conföderation, er brauchte Neapel als Gegengewicht
gegen die Politik Karl Albert's, während dagegen Percone den König Fer¬
dinand einen falschen Bruder nannte und erklärte, sein Beitritt sei nur
eine östreichische Intrigue, um den Bund zu sprengen.
Dagegen waren in dieser Zeit sehr lebhafte Verhandlungen zwischen
Florenz und Neapel gepflogen worden. Auch dem Ministerium Capponi
(seit dem 18. August) war es ein Hauptanliegen, Neapel für die Idee des
Bundes zu gewinnen. Der Minister des Auswärtigen, Gaetano Giorgint,
schickte am 24. August einen eigenen Bevollmächtigten, den Senator Griffoli,
zu diesem Zweck nach Neapel. In den Instruktionen, die der Gesandte er¬
hielt, war Alles, was für einen politischen Bund sprach, geschickt zusammen¬
gestellt und für Neapel insbesondere die verlockendsten Aussichten gezeigt, vor
Allem aber die Eifersucht des Königs auf Karl Albert, gehörig ins Spiel
gezogen. Zunächst wurde von Neapel die principielle Zustimmung zu einem
Congreß, der über die Zukunft Italiens entscheiden solle, und die Ernennung
eines Specialbevollmächtigten zur Vorberathung dieses Congresses verlangt.
Griffoli nahm seinen Weg über Rom und sprach hier den Papst, der
ihm seine Freude über die Wiederaufnahme der Verhandlungen ausdrückte.
Dagegen fand er den Kardinalstaatssecretär Antonelli und den Mgr. Cor-
boli völlig überzeugt, daß seine Mission vergeblich sei, da Neapel schon zu
tief mit Oestreich sich eingelassen habe.
In der That nahm der Fürst Cariati die Eröffnungen des toscanischen
Gesandten ziemlich kühl auf. Der Bund schien ihm eine vortreffliche Idee,
aber für jetzt gänzlich unpraktisch; schon aus dem Grunde, weil Neapel alle
seine StreitkrAfte zur Wiedereroberung Siciliens brauche, und die Höfe von
Rom und Florenz kaum Truppen genug besäßen, sich im eigenen Haus auf¬
recht zu halten. Ebenso wenig günstig zeigte sich der König, der spitzig fragte,
wie denn der Großherzog von Toscana zum Vermittler für die Pacificirung
Siciliens sich aufwerfen könne, da er doch die Gesandten der provisorischen
Regierung empfangen habe. Allein Griffoli ließ sich dadurch nicht abschrecken.
In der zweiten Hälfte des September glaubte er eine günstigere Stimmung
beim Könige wahrzunehmen und richtete nun eine ausführliche Denkschrift an
ihn, in welcher vorsichtig, „weil dies keine gute Wirkung gemacht hätte",
die Möglichkeit eines Kriegs gegen Oestreich gänzlich mit Stillschweigen Über¬
gängen und der Bund im Gegentheil als das einzige Mittel gegen den
Krieg wie gegen die revolutionäre Anarchie dargestellt war. Um die Stärke
einer Conföderation zu beweisen, war auf Amerika und die Schweiz hin»
gewiesen und auf die unwiderstehlich wachsende föderative Bewegung in
Deutschland, das im Mittelpunkt Europas das Muster einer Föderativ«
Verfassung liefere (beiläufig bemerkt, in diesen sämmtlichen Verhandlungen
das einzige Mal. daß man sich auf das deutsche Bundeswesen als ein nach¬
zuahmendes Vorbild berief); wäre der Bund schon früher vorhanden gewesen, so
hätte sich Sicilien niemals von Neapel getrennt. Kurz, es war nichts versäumt,
was den König gewinnen konnte und ihm am Schluß zu Gemüthe geführt:
1) der Bund würde in Italien das Fürstenthum und die Ordnung garan-
tiren, die Revolution auslöschen, die Unabhängigkeit der Nationalität sichern,
2) würde der König von Neapel zu dem Gewicht seiner Ueberlieferungen, zu
dem Reichthum der Natur, der Güte seiner Armee, kurz zu den glücklichen
Verhältnissen seines Landes künftig noch eine neue Stütze für seinen Thron
und seine Dynastie hinzufügen, denn Neapel würde das Emporium des
italienischen Handels, der Nerv einer nationalen Kraft sein und den Primat
des verbündeten Italiens besitzen. Später richtete Griffoli noch einmal ein Schrei¬
ben an König Ferdinand, welches dessen Erbitterung über die englische Mediation
in der sicilischen Frage geschickt benutzte. Diese „brüske" Mediation beweise
für sich allein, wie hart es sei, sich immer von Fremden Gesetze vorschreiben
lassen zu müssen, und wie sehr es zu bedauern sei. daß man nicht solchen
Eingriffen eine Conföderation von 24 Mill. Menschen mit 200,000 Streitern
entgegensetzen könne. Neapel wurde schmeichlerisch der erste Staat Italiens
mit der ersten Armee und der ersten Marine genannt. Wolle der König
den Grundstein zum Bund legen, so würde er triumphirend aus der jetzigen
Lage hervorgehen, Sicilien wiedergewinnen u. tgi.
Diese Schriftstücke, vertraulich dem König übergeben, schienen wirklich
Eindruck auf denselben zu machen. Auch der Papst unterstützte die Bemühungen
der toscanischen Diplomatie. Am 19. October wurde Griffoli zu Bozzelli
dem einflußreichsten Minister, beschieden, der ihm eröffnete, daß im Minister'
rath über die Liga verhandelt worden sei und daß man sich geeinigt habe,
folgende Bedingungen für den Beitritt Neapels zu stellen: jedem Staat müsse
ausdrücklich der volle Besitz seines Gebiets garantirr werden, alle Staaten
sollten sich für gegenseitigen Schutz zur Aufrechthaltung der öffentlichen Ord¬
nung verpflichten, endlich seien die gegenwärtigen politischen Einrichtungen
aufrecht zu halten; der Zukunft bleibe es vorbehalten, die Gleichartigkeit der¬
selben anzustreben.' Griffoli, dem diese Bedingungen annehmbar schienen,
arbeitete nun unter Berücksichtigung derselben den förmlichen Entwurf einer
Conföderation mit einem Bundestage aus. Dieser fand zwar entschiedenen
Widerstand beim Fürsten Cariati, im Ministerrath wurde aber doch der Be-
schluß gesaßt: „den Vorschlag, der Verhandlung über einen politischen Bund
zwischen den italienischen Staaten beizutreten, im Princip anzunehmen." Und
dabei blieb es. Die ganze Verhandlung hatte nicht den geringsten Werth.
Aber der Eifer Griffvli's, der noch bis Ende November hingehalten wurde,
hatte nichts zu wünschen übrig gelassen. Er war wirklich in seinen Gründen
unerschöpflich gewesen, und nur dies sei noch als charakteristisch hervorgehoben,
daß Griffoli, obwohl er unverkennbar die künftige Liga als eine Einrichtung
im nationalen Interesse verstand, doch keinen Anstand nahm, die Nieder¬
lage Karl Alberts im Felde geradezu als einen günstigen Umstand hervor¬
zuheben, der die Biloung eines Bundes wesentlich zu erleichtern geeignet sei.
Man sieht, vor welcher Gefahr die Ligaverhandlungen schließlich angekommen
waren: hatten bisher die Gegner Karl Alberts nur behauptet, die Interessen
Piemonts und Italiens seien keineswegs identisch, so war man jetzt nicht
mehr weit davon entfernt, zu beweisen: je unglücklicher das sardinische Heer,
um so besser die Aussichten für den Bund.
Uebrigens konnten die Freunde der Conföderation schon Ende October
sich nicht verbergen, daß die Zeit für deren Verwirklichung vorüber sei.
Während Bargagli und Rossi um die Wette die „unbegreifliche Dummheit"
der Fürsten anklagten, welche eine kostbare Zeit verloren in Verhandlungen
über einen Vertrag, der die konstitutionelle Monarchie unendlich befestigen
müßte, war die Idee einer Conföderation bereits überholt durch das demokra¬
tische Programm, das von dem phantastischen Doctrinär Montanelli zuerst aus¬
gegeben, immer mehr an Terrain gewann und zwar nicht blos in Mittelitalien.
Montanelli verfocht mit unendlichem Wortschwall die Idee, daß, nachdem die
Fürsten es zu nichts zu bringen vermocht, das Volk selbst die Sache in die Hand
nehmen müsse. Italien könne nur durch eine Constituente gerettet werden,
d. h. durch eine souveräne, vom ganzen italienischen Volk gewählte National-
Versammlung. Dazu war vor Allem nöthig, daß in den einzelnen Staaten
die abstracte Demokratie ans Ruder kam. In Toscana war der Fürst
zuerst genöthigt, den Radicalen die Führung seines Staates zu übergeben.
Es war nun an ihnen, zu zeigen, wie sich ihr Programm bewähren würde.
Das Turiner Cabinet säumte nicht, dem neuen Minister sofort auf den
Zahn zu fühlen. Villamarka fragte an. ob die großhcrzogliche Regierung sich
zum Zweck eines neuen Krieges gegen Oestreich mit Piemont verbinden woll?,
und im bejahenden Fall, mit welchen Geldmitteln und welcher Truppenstärke.
Montanelli gab die besten Versprechungen und erklärte sich zu allen Opfern
bereit. Als aber Villamarka einen förmlichen Vertrag zu diesem Zweck ver¬
langte, warf Montanelli sein unvermeidliches Schlagwort der Konstituente
dazwischen. Er erklärte sich in einer Note vom 16. November zwar bereit,
sofort einen Bund mit Piemont abzuschließen, der einmal abgeschlossen für
die anderen Staaten ein mächtiger Impuls zum Beitritt sein werde. Allein
dieser Bund sei etwas nur Provisorisches, er könne keinen anderen Zweck
haben, als die Unabhängigkeit zu erstreiten. Die künftige Form Italiens aber
dürfe nur durch die constituirende Versammlung festgesetzt werden. Möge diese
sich immerhin für die Föderation aussprechen, aber ihrem Ausspruch dürfe
keinenfalls vorgegriffen werden. Im Uebngen stellte er noch für den Fall des
Krieges Bedingungen, welche seine politischen Plane klar durchblicken ließen.
Er erklärte, die Übertragung des Oberbefehls im Krieg sei Sache des Ein¬
verständnisses der Regierungen, und er hatte dabei Garibaldi im Auge, der
zum Bundescapitän ernannt werden sollte. Er verlangte, daß die durch den
Krieg befreiten Staaten sich im Namen des Bundes selber regieren sollten,
bis die constituirende Versammlung über ihre definitive Organisation beschließe;
er wollte damit den Anschluß der Lombardei und Venetiens an Piemont verhin¬
dern. Sein Gedanke war, diese Länder zu Heerden der republicanischen Partei
herzurichten, die den Weg für seine Constituente bereiten sollten. Denn das
letzte Ziel der constituirenden Versammlung war kein anderes als die Auflösung
aller Staaten und ihre Verschmelzung in einen republicanischen Einheitsstaat.
Und alle diese Bedingungen wagte Montanelli zu stellen gegen die Hilfeleistung
eines Staats, der höchstens 10,000 Mann ins Feld führen konnte und der
in den Händen einer schwachen, von den Straßenclubs abhängigen Regie¬
rung war!
Die Ansprüche der turbulenter Demokratie an den piemontesischen Staat
wuchsen mit jedem Tage, zugleich mit den Schwierigkeiten, die sie demselben
bereiteten. Man schrie über Verrath, weil Piemont zögerte, sich in einen hoff¬
nungslosen Krieg zu stürzen, und daß dieser hoffnungslos war, war nicht
zum wenigsten eben die Schuld derer, welche die Kraft der nationalen Be¬
wegung vollends in einem zügellosen Parteikampf verzehrten. Und dieselbe
Zügellosigkeit, welche jetzt in Rom und Florenz ihre Orgien feierte, begann
allmälig auch an den Grundlagen des piemontesischen Staats zu rütteln.
Vor zwei Jahren noch beinahe ein Patrimonialstaat, eine Domäne von Adel,
Klerus und Heer, war er nahe daran, ein Spielball von Demagogen zweifel¬
haftester Sorte zu werden, deren Action in den Volksvereinen ein fortge¬
setzter Krieg gegen das Heer, den König und die Verfassung war. Auch hier
glitt die Herrschaft unvermeidlich in die Hände der Radicalen. Aber indem
am 16. December das Ministerium dem Führer der Opposition, dem Abbate
Vincenz Gioberti übergeben wurde, empfing dieser zugleich die Aufgabe, durch
das Einlenken in die neue Bahn den Staat zu retten. War feine Berufung
eine Genugthuung für die ungestüme demokratische Strömung, so sollte sie
zugleich ein Mittel sein, eben diese Strömung zu zügeln und eine Schutz¬
mauer für den Staat aufzurichten gegen die ansteckende Auflösungskrankheit,
welcher Mitrelitalien verfallen war, wie gegen die von außen heraufziehende
Reaction, die bereits deutlich sich ankündigte.
Es ließen sich der piemontesischen Staatskunst in den letzten Monaten
Schwankungen verschiedener Art vorwerfen. Dazu war der Staat doch zu
klein, als daß er seinen Egoismus rücksichtslos als den unverrückbar festen Punkt
im Wirbel der verschiedenartigen Interessen hätte hinstellen können. In den
Verhandlungen mit Oestreich, wie im Verhältnisse zu Frankreich, in der
Frage des subalpinischen Reichs, wie in der Bundesstaatsfrage waren nicht
immer dieselben Gesichtspunkte festgehalten worden. Erst unter Gioberti
wurde die feste Richtung der piemontesischen Wege wieder erkennbarer. Dies
klingt befremdend; denn Consequenz war im Grunde von ihm am wenigsten
zu erwarten. So bedeutend sein Name in der letzten Zeit hervorgetreten war,
so wenig vertrauenerweckend war er selbst. Es schien ein verzweifeltes Aus¬
kunftsmittel, gerade in dieser Zeit als ersten Minister einen Mann zu be¬
rufen, dessen ganze bisherige Laufbahn unstät, abenteuerlich, voll der auf¬
fallendsten Widersprüche und plötzlichsten Schwenkungen gewesen war. Im
Anfang ein extremer Republicaner, der mit Mazzini Hand in Hand ging
hatte er dann durch jenes epochemachende Werk überrascht, welches den Pri¬
mat des mittelalterlichen Papstthums im 19. Jahrhundert wieder aufrichten
wollte, gleichzeitig aber die Bildung einer gemäßigten Reformpartei einleitete
und damit eines der wichtigsten Fermente der Bewegung wurde. Im An¬
fang 1848 war er dann plötzlich zu einem leidenschaftlichen Vertheidiger des
piemontesischen Staats umgewandelt, er predigte auf seinem Triumphzuge
durch Italien die Mission Karl Alberts und verfocht gegen die Mazzinisten
die Annexionen von Venetien und der Lombardei, Parma und Moden«, ja
von Sicilien. Der katholische Theoretiker von 1843 schien jetzt so sehr zum
Politiker geworden, daß, als Pius IX. von der nationalen Sache zurücktrat.
Gioberti frischweg für die Säkularisation des Kirchenstaats eiferte und so mit
eigener Hand sein einstiges Ideal wieder zertrümmerte. Von da war er
immer tiefer in die demokratische Agitation gerathen, in der sardinischen
Kammer gehörte er zu den heftigsten Anklägern des Ministeriums, das er
mit Profferio um die Wette in einen neuen Krieg treiben wollte, und seine
Verbindung mit den Radicalen war es, die ihn nun jetzt an die Spitze des
Staats stellte, dessen nächste Gefahr eben in dem Andrängen der Radicalen
bestand. Leidenschaftlich, unberechenbar, ehrgeizig, voll von sprudelnden
Ideen, so schien er der gefährlichste Minister, der in diesem Moment der
Krisis die Leitung des Staatsschiffs übernehmen konnte. Und dennoch wird
man sagen müssen, daß schwerlich ein anderer als diese vielseitige Natur den
vielseitigen Anforderungen der Lage gewachsen war. Er versuchte sich an
einer Aufgabe, die bereits unmöglich geworden war, aber er behandelte sie
noch einmal mit einer gewissen Größe, mit einer Geschicklichkeit im Einzelnen
und mit einer Energie, die doch wieder der Versöhnlichkeit nicht entbehrte.
Nicomede Bianchi ist der Meinung, daß Gioberti das Zeug zu einem be¬
deutenden Staatsmann in sich gehabt habe und daß eine längere Erfahrung
auch die Schärfen seines Charakters gemildert und ihm jenes ruhige Gleich'
gewicht verliehen hätte, das ihm allerdings abging. Für uns Deutsche ist
es noch überdem von Interesse, aus einer seiner Depeschen zu ersehen, mit
welcher Scharfsichtigkeit er gleichzeitig unsere Einheitsbewegung beurtheilte.
Die Jnstructionen, die er seinem Bevollmächtigten bei der deutschen Central-
gewalt, dem Demokraten Lorenzo Valerio Ende December 1848 nach Frank¬
furt mitgab, faßten kurz und bündig die Gründe zusammen, welche die deut¬
sche Nation im Interesse ihrer Einheit. Freiheit und Größe bestimmen
müßten, sich von Oestreich zu trennen und sich unter Preußens Führung zu
constituiren, und aus denselben Gründen leitete er den Satz ab, daß für den
deutschen Bund die italienische Allianz ungleich naturgemäßer wäre als die
östreichische, ein Satz, für den er freilich damals in Deutschland ebensowenig
auf Anerkennung rechnen konnte, als für sein nationales Programm bei seinen
Landsleuten.
„Vier Hauptpunkte — sagte Gioberti in seiner Ministerrede vor der
Kammer — umfaßt die Idee der Wiedergeburt Italiens; die Reformen, die
Verfassung, die Unabhängigkeit, die Conföderation. In diesen vier Punkten
ist Alles begriffen, was in unsern Wünschen und Hoffnungen Vernünftiges
und Ausführbares ist. Das Uebrige ist, so wie die Dinge gegenwär-
tig liegen, Traum und Utopie." Damit war den unitarischen Republi¬
kanern sofort der Handschuh hingeworfen, ebenso der Cvnstituente Monta-
nelli's. Gioberti wollte die Nationalversammlung nicht aus dem allge¬
meinen Stimmrecht der Italiener hervorgehen lassen, sondern aus Ver-
tretern der einzelnen Staaten zusammensetzen. Was ihn zum Verfechter des
Staatenprincips machte, war neben dem Wunsch, die anderen Fürsten zu gewin¬
nen, das Bewußtsein von der Nothwendigkeit, daß vor Allem der piemontesische
Staat aufrecht bleiben müsse. Verhütet mußte werden, daß Piemont in den
Strudel der auflösenden Bewegung Mittelitaliens hineingerissen würde. Gioberti
wollte die Conföderation, sie war der Hauptpunkt seines Programms, und
als er nach dem Waffenstillstand Salasco mit dem Ministerium Casati abge¬
treten war, hatte er einen eigenen Verein zur Propaganda für die föderative
Idee gestiftet und in Turin einen, etwas phantastischen, föderativem Congreß
veranstaltet. Dieses Programm war fast unzertrennlich von dem Namen dessen,
der es zum erstenmal ausgesprochen. Allein seitdem er es zuerst als einen
zündenden Funken unter seine Volksgenossen geworfen, war ihm die Be-
deutung des piemontesischen Staats immer deutlicher aufgegangen. Jetzt da
er ihn zu leiten hatte, war ihm vollends die Pflicht gegen diesen Staat
identisch mit der Pflicht gegen Italien. Im Königreich Oberitalien sah er
eine wirksame Garantie für die gemeinsame Unabhängigkeit und darum erklärte
er es für Verbrechen und Frevel, dessen Existenz in Frage zu stellen. Die
Zukunft Italiens lag ihm im Staatenbunde, in den aber Piemont nur als
das vergrößerte Piemont, als der subalpinische Staat, bekleidet mit der un¬
fraglichen Hegemonie, eintreten sollte. So wollte er zwei Standpunkte ver¬
söhnen, die bisher nur gegen einander ins Feld geführt worden waren und
sich paralhsirt hatten. Es war dies in der That die reife Frucht seiner po¬
litischen Erfahrungen, die Abklärung seiner phantastischen Ideale. Er wollte
diejenige Form des italienischen Bundesstaats, von der allein vielleicht be¬
dauert werden mag, daß niemals ein ernstlicher Versuch zu ihrer Durch¬
führung gemacht worden ist. Damals freilich war an eine Durchführung
bereits nicht mehr zu denken, wenn wir auch noch mit Interesse diesen letzten
Versuchen Gioberti's folgen.
Nach Florenz, nach Rom, nach Neapel ließ Gioberti seine Einladung
zur Bildung einer Conföderation ergehen. Ueberall hob er hervor, daß die
Conföderation das Mittel sei, ebenso die Eintracht zwischen den Fürsten und
Völkern behufs Erlangung der nationalen Unabhängigkeit wiederherzustellen, als
insbesondere jede fremde Einmischung in die inneren Angelegenheiten
Italiens zurückzuweisen. Den Fürsten stellte er vor, daß dieser Staatenbund
nichts die Monarchie Beeinträchtigendes habe, jedem Staat seine Selbstän¬
digkeit vielmehr verbürge als entziehe. Der Ernst, mit welchem Gioberti
das Zustandekommen des Bundes betrieb, leuchtet aus jeder seiner Depeschen
hervor. Was Neapel betraf, so war er sogar bereit, einen Gesandten nach
Sicilien zu schicken, um die Aussöhnung der aufgestandenen Insel mit ihrem
Souverän auf Grundlage des Staatenbundes zu versuchen. Allein der Ge-
sandte Gioberti's wurde in Neapel gar nicht angenommen und die Rück¬
sichtslosigkeiten dieses Hoff steigerten sich derart, daß Piemont Anfangs Fe¬
bruar genöthigt war, die diplomatischen Beziehungen mit Neapel abzubrechen.
An Montanelli nach Florenz hatte Gioberti wenige Tage nach seinem
Amtsantritt eine Note geschickt, welche seine Meinung über die Constituente
erläuterte. „Die sardinische Regierung, schrieb er am 21. Dezember, sei
bereit, zu einer föderativem Versammlung die Hand zu bieten, nicht aber zu
einer constituirenden, die in die inneren Verhältnisse der Einzelstaaten ein-
griffe und nothwendig nur zu Hader und Factionen führen würde. Ebenso
wenig könne er einer Constituente beistimmen, welche die legale Existenz
von Oberitalien in Frage stellte, denn dieses sei eine Stütze für ganz Italien
und kein anderer italienischer Staat habe von ihm etwas zu fürchten, da ihre
besonderen Rechte im Bundesvertrag garantirt werden sollten. Am 1- Januar
sandte Gioberti in besonderer Mission Nosellini nach Florenz und ertheilte
ihm Instruktionen, von denen Bianchi nicht zu viel behauptet, wenn er in
ihnen die Signatur eines staatsmännischen Kopfs ersten Ranges findet. Vor
Allem führte Gioberti hier aus, daß es sich jetzt nicht um eine theoretische
Frage, sondern um eine praktische Frage handle, nicht darum, was über¬
haupt das beste, sondern darum, was im Augenblick erreichbar sei. An sich
sei die absolute Einheit, wie Frankreich und die anderen großen Nationen
sie besitzen, das wünschenswertheste; dennoch verzichte er auf die Einheit und
begnüge sich mit der Union, weil sie jetzt allein durchführbar sei. Sie sei
möglich, sobald Rom und Toscana wollten. Toscana halte jetzt eng zu Rom,
aber die beiden zusammen könnten die Unabhängigkeit nicht erlangen, weil sie
ohne Heer seien, und sich selbst überlassen, nur die sichere Beute der Frem¬
den werden würden. Sie also brauchen nothwendig Piemont und müssen
sich dessen Bedürfnissen fügen, nicht aber umgekehrt Piemont den Wünschen
Toscanas und Roms. Dies sage ich als Italiener, nicht als Piemonrese.
Denn nicht das Interesse dieser oder jener Provinz habe ich im Auge, son¬
dern das allgemeine Wohl. Piemont allein steht in Waffen, und die piemon-
tesische Negierung vermag nichts zu thun ohne die Mitwirkung des Heers,
sie kann nur eine Politik befolgen, die ihr das Heer nicht entfremdet. Oder
steht vielleicht das Königreich Oberitalien im Wege? Aber gibt es etwas
Legitimeres als einen Staat, der durch den freien Willen der Bevölkerung
geheiligt ist? Oder steht er etwa den anderen Staaten feindlich im Wege?
Möge Toscana zusehen, daß es nicht von den tückischen Sophismen der
Feinde des piemontesischen Staates sich bethören lasse. Diese Feinde sind
einmal die Fremden, welche in ihm die Kraft Italiens hassen, und dann die
Utopisten, welche die Republik und den Einheitsstaat wollen. Dieser Staat
wird vielmehr Allen ein Schutz sein, denn er ist die wirksamste Bürgschaft
für die nationale Unabhängigkeit. Ja er ist gleichsam ein gemeinsames
Eigenthum der Italiener, die geistige Ringbahn für Alle, das Feld der
Ehre für die Blüthe der Nation, wie der Boden für die bürgerliche Ent¬
wickelung, während die anderen Staaten nichts von ihren Prärogativen ver¬
lieren und Rom der geheiligte Sitz der Religion bleibt, wie Toscana der
Sitz der feinen italienischen Sitte."
Die Beredtsamkeit, die aus diesem Aktenstück sprach, war natürlich ohne
Eindruck auf Montanelli, den der Gang der Dinge in Rom jetzt die Ver¬
wirklichung seiner phantastischen Constituente hoffen ließ. Wiederholte Vor¬
stellungen Gioberti's, der ihn von dem verhängnißvollen Abgrund zurück¬
ziehen wollte, waren vergeblich. Vergebens drangen die toscanischen Diplo¬
maten auch in Leopold, das Anerbieten Piemonts anzunehmen, das den ein¬
zigen Weg zeige, die auswärtige Einmischung und die Restauration in Rom
abzuwenden. Bargagli aus Rom, wie Martini und Nerii aus Turin be¬
schworen in diesem Sinne den Großherzog, und Gioberti ließ ihn geradezu
auffordern, sich von Montanelli zu trennen, der in beständigem Verkehr mit
Mazzini stehe. Aber der Großherzog blieb taub; halbwachend ließ er sich von
Montanelli leiten. Nachdem die römische Nationalversammlung sich als
constituirende erklärt hatte, setzte Montanelli im Ministerrath den Beschluß
durch, toscanische Abgeordnete in diese Versammlung zu schicken, und der
Großherzog, der sich ins Ohr raunen ließ, wenn er diesen Beschluß sanctio-
nire, bahne er sich den Weg zu einem mittelitalienischen Königreich, gab seine
Zustimmung. Gleich darauf aber empfand er Reue, er fürchtete die Ex-
communication von Rom und nach kurzer Zeit des Schwankens und heuch¬
lerischer Seitensprünge ergriff er die Flucht, um sich den fremden Mächten in
die Arme zu werfen, wie das Pius IX. bereits gethan hatte.
Mit dem Sturz des constitutionellen Regiments in Rom und Toscana
war Gioberti's Plan, die nationale Bewegung wieder in das Geleise von
1847 zurückzuführen, gescheitert. Dennoch gab er noch nicht Alles verloren.
Mit einer Unermüdlichkeit ohne Gleichen suchte er noch die fremde Inter¬
vention abzuwehren und den Großherzog und den Papst mit ihren Unter¬
thanen auszusöhnen, bei den Fürsten wie bei den Völkern ohne Erfolg.
Einen Augenblick hatte Leopold zugesagt, die Vermittelung Piemonts an¬
zunehmen, er bat förmlich um sie in einem Briefe an Karl Albert, als einen
ersten Schritt zur Conföderation und als ein Mittel, der Anarchie und dem
Bürgerkriege vorzubeugen; aber am gleichen Tage hatte er sich an Oestreich
gewandt, und einige Tage darauf widerrief er förmlich sein Gesuch um die
piemontesische Intervention. Als Leopold von Porto Santo Stefano den
Weg nach Gaeta nahm, schrieb Villamarka, der ihm mit dem diplomatischen
Körper nach Santo Stefano gefolgt war, an seine Negierung in Turin:
„es ist gar nicht möglich, sich einen Begriff von den'Zweideutigkeiten, Jammer,
lichkeiten und von der Feigheit zu machen, welche dieser Fürst an den Tag
gelegt hat." Im Augenblick, da Gioberti endlich auf eigene Faust im Kirchen¬
staat und in Toscana interveniren wollte, um Oestreich zuvorzukommen, ließ
ihn Karl Albert wie die übrigen Minister im Stich und er nahm seine Ent¬
lassung. Mit Recht war er der Meinung gewesen, daß wenn die Wieder¬
aufnahme des Kriegs wirklich eine verhängnißvolle Nothwendigkeit war, jene
Intervention zu Gunsten des Großherzogs und des Papstes, welcher sich selbst
Lord Palmerston nicht abgeneigt gezeigt hatte, besten Anlaß dargeboten und
Piemont wenigstens eine ungleich günstigere Position verschafft hätte.
Die jämmerliche Unfähigkeit der Radicalen, die nun in Florenz und
Rom schälkelen, zeigte sich jetzt erst, da sie nach Beseitigung der constitutio-
nellen Regierungen Hand an die Aufrichtung der Republik legen sollten. In
Rom wurde der feierliche Beschluß gefaßt, Toscana zur Unification einzu¬
laden. Mazzini selbst erschien festlich aufgenommen in Florenz und predigte
die Verschmelzung. Allein in Florenz war man jetzt plötzlich vorsichtig ge¬
worden, die Union sollte nur im Princip aufgestellt werden, blos über einen
Zoll- und Militärvertrag wollte man zunächst verhandeln, und als man in
Rom detaillirte Vorschläge zu diesem Zweck ausarbeitete, fand man diese zu
weitgehend. Die Constituente, so pomphaft als das Universalheilmittel an¬
gekündigt, schrumpfte schließlich zum Projekt einer gemischten Militärcommission
zu Bologna zusammen, und vor lauter mißtrauischen Bedenken und Eifer¬
süchteleien kam es Nicht einmal darüber zu einer Einigung. Dafür aber
schimpfte man aus Leibeskräften über Karl Albert und die Saumseligkeit der
piemontesischen Kriegsrüstungen, während die letzten Versuche des Turiner
Cabinets, Anfangs März, von Rom und Toscana Hilfe zum Krieg zu er¬
langen, mit leeren Versprechungen beantwortet wurden.
In welchem Credit die Lenker Mittelitaliens standen, zeigte sich nament¬
lich an der Aufnahme, welche ihre Eröffnungen in Sicilien und in Venedig
fanden. Montanelli hatte sich geschmeichelt, daß nach dem neuen nationalen
Centrum ohne Verzug Sicilien und Venedig, und später durch Zwang auch
Neapel und Piemont gravitiren würden. Allein die provisorische Regierung
in Palermo nahm die Gesandten von Rom und Florenz, die über einen
Allianzvertrag und die Beschickung der Constituenten verhandeln sollten,
nicht einmal in offiziöser Weise an, so daß sie sich mit den Sympathie-
bezeugungen der Volksvereine begnügen mußten. Man sprach sich in Palermo
in höchst drastischer Weise über die Unvernunft und die Unsolidität der ephe¬
meren Schöpfung in Mittelitalien aus und erklärte, dem Unifieationsproject
gegenüber am föderativem Princip festzuhalten. Und Mamin versicherte zwar
Mittelitalien seiner größten Sympathien, erklärte aber gleichzeitig, daß er es in
dem Augenblick, da Piemont wieder den Nationalkrieg aufnehme, unmöglich
mit diesem Staat verderben könne. Er hatte sich in der letzten Zeit über¬
haupt dieser Macht wieder genähert. Gegen den toscanischen Bevollmächtig¬
ten bemerkte er, daß man in Rom und Florenz vortreffliche Reden halte,
aber leider gar keine Anstalten treffe, um Waffen und Geld sür die italieni¬
sche Sache aufzubringen. Wenn noch eine Hoffnung für Italien war, so
stand sie im Heere Karl Alberts. Schlug auch diese fehl, so blieb immer
noch die auf den piemontesischen Staat aufrecht, für welchen der kurze un¬
vermeidliche Krieg von 1849 wie ein reinigendes Gewitter war. — Bianchi
urtheilt wohl richtig, daß, so wie die Dinge lagen, die Gefahren für den
Staat größer waren, wenn er einen unrühmlichen Frieden schloß, bedeckt mit
den Verwünschungen der Italiener, als wenn er noch einmal den Krieg
wagte und damit zeigte, daß sein Geschick untrennbar mit dem Italiens ver¬
knüpft war. Er rettete damit sich und die italienische Zukunft. Und kein
ernsthafter Italiener ist mehr auf die Idee der Conföderation zurückgekommen.
Unter den ausländischen Seeleuten, die Peter der Große nach Nußland
zog, um mit ihrer Hilfe eine Flotte zu begründen und seinem Staat dadurch
erhöhten Antheil an den politischen Geschicken Europas zu sichern, spielt der
Admiral von Sivers als Organisator des russischen Seewesens und als Er¬
bauer der Festung Kronstäbe eine beträchtliche Rolle. Sein Name wird in
den Schriften Büschings, Schmidt-Phiseldecks, Mannsteins und dem Tage¬
buch des holsteinschen Kammerjunkers von Berkholz häufig und mit Ehren
genannt, eine zusammenhängende Darstellung seines merkwürdigen Lebens¬
laufs hat aus Mangel an vollständigem Material aber bis jetzt gefehlt. In
neueren Werken über Peter den Großen begegnet man Sivers kaum mehr, ob¬
gleich er für die Begründung des russischen Seewesens von größerer Wichtig¬
keit gewesen ist, als die Mehrzahl der übrigen Marineofsieiere Peters. Auf
Grund handschriftlicher, bis jetzt unveröffentlichter Aufzeichnungen des Ad¬
mirals soll nachstehend ein Abriß seiner Geschichte entworfen werden, die sür
die Sittenzustande jener Zeit und die Charakteristik der an ihnen betheiligten
historischen Personen nicht ohne Interesse ist.
Das Jugendlelxn Peter Sivers breitet ein Stück militärischen Aben¬
teurerlebens im Geschmack des 17ten Jahrhunderts vor uns aus. Von hol-
ländischen Aeltern im Jahre 1674 zu Stade geboren, trat er schon als
14jähriger Knabe in dänische Seedienste, obgleich sein Vater, Capitän in
dänischen Diensten, ihn für die gelehrte Laufbahn bestimmt hatte. Vier Jahre
später trieb die Begierde nach Auszeichnung und nach größeren Verhältnissen
den Jüngling nach Frankreich. Er focht bei la Hogue, Gibraltar (1693)
und Palamos mit, brachte es bald zum Rang eines Lieutenants zur See
und kehrte als solcher im Jahre 1760 auf „Jhro Majestät zu Dänemark
und Norwegen löbliche Flotte" zurück, um an der Begründung des Instituts
für „Campagne-Seecadetten" Theil zu nehmen. Hier lernte Peter der Große
den jungen, aber bereits vielerfahrener Seemann bei Gelegenheit eines Be¬
suchs in Kopenhagen kennen und bot ihm eine vortheilhafte Stellung in sei¬
nen Diensten an. Der am 10. Mai 1704 zwischen Sivers und dem russi¬
schen Gesandten abgeschlossene Vertrag liegt uns in seinem Wortlaut vor:
dem in russische Dienste getretenen Capitän werden Gehalt und Pension,
gute Behandlung, Ranzionirung im Fall der Kriegsgefangenschaft, sowie
freie Hin- und Rückreise zugesichert, wogegen dieser sich zu treuem und auf¬
opferndem Dienst verpflichtet. Außerdem bestand zwischen dem Capitän und
seinem neuen Gebieter ein geheimes Abkommen, welches nur zwei Punkte
enthielt, aber höchst bezeichnend für das Mißtrauen ist, welches die West¬
europäer gegen das damalige Rußland hegten: Sivers bedang sich aus, daß
er unter keinerlei Vorwand körperlich gezüchtigt werden dürfe und daß der
Kaiser selbst nicht das Recht haben sollte, an Bord seines Schiffs zu befehligen.
Schon sehr bald nach seinem Uebertritt in russische Dienste sollte Sivers
Gelegenheit haben, die Vorsicht zu preisen, welche er bei seiner Anstellung
gezeigt"). Eines Tages — so hat Sivers selbst berichtet — erscheint Seine
Czarische Majestät auf dem im finnischen Meerbusen belegenen, von Sivers be¬
fehligten Geschwader im Zustande vollständiger Trunkenheit und befiehlt, die
Flotille zu einem Seemanöver auslaufen zu lassen, bei dem der Kaiser selbst das
Commando übernimmt. Sivers stellt dem Kaiser die augenblickliche Unthunlich-
keit der Sache vor, weil ein Sturm drohe, Peter aber bleibt bei seiner An¬
ordnung und holt, als Sivers ihm nochmalige Vorstellung macht, mit seinem
Stocke nach ihm aus, ohne ihn zu treffen. Die Flotte läuft nun unter per¬
sönlichem Befehl des Kaisers aus und bald bricht ein Sturm los, der die
Schiffe zerstreut. Sivers, für die Flotte besorgt und auf deren Rettung be¬
dacht, benutzt einen Moment, wo Peter seinen Commandoplatz verläßt und
aufs Deck kommt, erfaßt mit riesiger Faust — er ist ein sehr langer und
nach Ausweis seines Porträts ein schöner Mann mit großem, klaren und
klugen blauen Auge gewesen — den Kaiser, grade als derselbe an der auf dem
Decke befindlichen Commandeurkajüte vorübergeht, sperrt ihn in die Kajüte,
verschließt die Thür derselben, übernimmt den Befehl, sammelt die Flotte
und führt sie rechtzeitig in den sichern Hafen zurück. An Land gekommen,
nähert Sivers sich der Kajüte, wo Alles still ist, öffnet ihre Thür, kann jedoch
nicht in den inneren Raum, weil in diesem Se. Majestät ausgestreckt daliegt
und ihren Rausch ausschläft. Als nun nach einiger Zeit Peter erscheint, tritt
Sivers auf ihn salutirend zu und begehrt seinen Abschied. Der Kaiser fährt
auf und fragt nach der Veranlassung des Gesuchs. Sivers erklärt ihm, daß
nach dem Vorgefallenen und da er genöthigt gewesen sei, sich gewissermaßen
an der geheiligten Person des Herrschers zu vergreisen, von einer Fortsetzung
des Dienstverhältnisses nicht wohl die Rede sein könne. Jetzt erst erinnert
Peter sich des Vorganges und fragt seinen Officier, warum er ihn internirt
habe. Sivers motivirt sein Verfahren mit der der Flotte drohend gewesenen
Gefahr und seiner Pflicht ihrer Erhaltung, und hält dem Kaiser vor, daß der¬
selbe die geheime Abmachung doppelt verletzt habe, indem er ihn schlagen und
das Commando usurpiren gewollt. Peter sieht sofort sein Unrecht ein, um¬
armt den muthigen Retter seiner Flotte und bittet ihn, den Dienst nicht zu
verlassen, da ein Mann, der sich so unerschrocken gezeigt, seiner Gnade sür
alle Zeiten sicher sein könne.
Dieses Versprechen hat Peter in der Folge gehalten und Sivers sein
Möglichstes gethan, um desselben würdig zu bleiben. Sowohl als umsichtiger
Organisator und tapferer Seesoldat, wie als Topograph und Wasserbaumeister
erwarb er sich binnen weniger Jahre große Verdienste um den Staat, in
dessen Dienste er getreten war. Er nahm 1706 an der Belagerung von Wyborg
Theil, machte die Expeditionen von 1713 und 1714 mit, focht bei Hangöud,
leitete die Deseente bei Gotland, untersuchte wiederholt das Fahrwasser bei
den finnischen Scheeren, arbeitete an der Befestigung von Kronstäbe und lei¬
tete die Canal- und Hafenbauten dieses wichtigen Platzes nach einem selbst
entworfenen Plan. Für die außerordentliche Wichtigkeit dieser Bauten, welche
erst unter der Kaiserin Anna zum Abschluß gebracht wurden, liegt ein be¬
merkenswerthes Zeugniß von der Hand Ostermanns vor, der, wie wir in
der Folge sehen werden, Sivers Feind und entschiedener Gegner war. Es
heißt in einem vom Jahre 1731 datirten Schreiben dieses berühmten Staats¬
mannes, das sich im Nachlaß des Admirals gefunden hat, wie folgt:
Lsais bien yue es kalt xg.s taut as bruit izus afin^ as I^äoM*)
et us xorte a.Ueuu xrvüt Z, esluz^ ofui en g. ig. eenäuits comme 1'g.nere,
ingis M vois gu'it est an moins g-ut^ut n6eessg.ii-e xour Is bien ne
I'emxirs et e'sse xourciuo^ is xri« Votrs Dxeelleues Ac ni'g.8sistsr as votrs
xouvoir, g.Ku as 1s. xeuvoir g.elisver pour Is xlus Zranä interet ac Lg. Ng.-
MZt6 Iinxeris-Je, et ^js vous g-ssurs <zue 1c; eontinusi'g.v g. v travaillsi' g.ose
leg niLinss follis et üäelite' Ms inse^ues iev i'av tgie et gg.us Zrg.na bruit."
Auch aus den übrigen an Sivers gerichteten Briefen Ostermanns geht
hervor, daß derselbe für einen der talentvollsten, kenntnißreichsten und ver¬
dientesten Ausländer galt, die Peter's Scharfblick in den Dienst des aufstreben¬
den russischen Staats gezogen hatte. Ueber die verschiedensten, auf das See¬
wesen und dessen Verwaltung bezüglichen Fragen wird sein Rath eingeholt,
und zwar von Ostermann, der nicht nur, wie erwähnt, des Admirals per¬
sönlicher Feind war, sondern außerdem den Anspruch machte, selbst für einen
Kenner des Seewesens zu gelten*). Unter der Regentin Anna ließ er sich
zum General-Admiral der gesammten russischen Flotte ernennen, obgleich seine
Hauptthätigkeit seit einem Menschenalter in der meisterhaften Leitung der
diplomatischen Geschicke Rußlands bestanden hatte.
Entsprechend der vielseitigen Thätigkeit, welche Sivers entwickelte, und den
Verdiensten, die er sich erwarb, war auch die Laufbahn, die er raschen
Schritts durchlief, eine glänzende. Schon 1708 wurde er zum Equipagen-
Meister bei der Admiralität, 1714 zum Commandeur der „Arriere-Garde"
ernannt, 1716 kommandirte er das erste russische Geschwader, welches über
die Ostsee nach Kopenhagen segelte, 1719 wurde er „Schoutbeynacht" (diese
alt-holländische Bezeichnung für den Rang des Contreadmirals war von
*) Einem andern an Sivers gerichteten Schreiben Ostermanns entnehmen wir nachstehende
Sätze, welch- beweisen, wie weitsehend die ehrgeizigen Pläne der russischen Politik und ihres
genialen Leiters schon damals waren. In einem Schreiben vom 27. April 1731 heißt es
Wie folgt:
^'»z-- uns olross Ä. cismkmävr -r Votrs Z^xssIIvues si fils vizut visu clonnvr Iss minus.
Norrs. <Zs l/ists in'» eorninuniizus öff iclüss sur I» ssi'es <1o ^-mon ^sa<1o on ^esso et as
^Ämolü-retina; is tronvs bsÄuvoup as or^ssrndlÄnoo clans öff iüsss se Is. clessus is Iuz?
kön voir su Mrtioulisr ig, oUts ^us nous avons Ah O-rmsIiiitttlcs. et nous trouvons
ins vamvIriAtK rr'sse Auorrs sloiAnv alö ^ssso se mssrno guf et'suviiou 150
lion .... als 1» tsrro «1s 1s. vouix-r^mis guf Iss Nollauclsis out äsoouvsrt
su 1640. II ti'Ä.viriIIerg.it si Votrs IZxosIIsuoo vouclrsit bisu »voir ig. bouts als luz^
prosnrvr ciuo la virrts als Aousisur üiunz^ luz^ tut sonrinunicjuv on <^u'on vous orüonii-i. als
lui su clouuer voxis irtiu ein'it x xuisso travaillsr avso apvrodgtiou o-rr sans oslir it u'oss.
rioo tÄirv. O'sse vsritsdlvmslrt un travsil n.ni Souuor» hö-rusoup als eoutsutomsut » S» ZI.
ÜS voir Iss lirnitos' als so» of.ses sruviro „gui s'avnroslisut als si xrös als I'^rusrions it
tail-A an xls.isir Aux ouroanx se äonusr«. dsauvoup als lumisrs irux heav-ruf as Ur seo-
SrÄxtlis.
Peter nach Nußland hinübergenommen worden), zwei Jahre später Vice-
admiral, 1727 Admiral und Vizepräsident des Admtralitätscollegiums. Als
solcher hat er an der Organisation des sich von Jahr zu Jahr weiter aus¬
breitenden russischen Marinewesens entscheidenden und wichtigen Antheil ge¬
nommen. Natürlich fehlte es außerdem an äußeren Ehren und Belohnungen
nicht: schon 1716 war Sivers in die estländische Ritterschaft aufgenommen
worden, 1722 schenkte Katharina I. ihm das in Finnland belegene Gut
Heydola, 1723 wurde er mit dem Alexander-Newsky-Orden belohnt.
Aber jene Unbeständigkeit des Glücks und der Fürstengunst, welcher fast
all' die Staatsmänner und Krieger verfielen, welche Peter in sein nordisches
Reich berufen und zu hohen Ehren befördert hatte, sollte auch Sivers treffen.
Im Jahre 1732 fiel er plötzlich in Ungnade, verlor seine sämmtlichen Aemter
und Würden und wurde angewiesen, binnen vier Stunden Petersburg zu
verlassen und sich auf sein in Finnland belegenes Gütchen zurückzuziehen.
Die Geschichte dieser Ungnade ist aus mehreren Rücksichten von ungewöhn¬
lichem Interesse. Einmal verdanken wir ihr eine Abhandlung von des Ad¬
mirals eigener Hand („Historische Lpeeiss taeti der äisgraes des Admiral
Sivers"), welche über das Partei- und Jntriguenwesen neue Aufschlüsse gibt,
welches nach Peters Tode am russischen Hof herrschte und an dem auch die
ausgezeichnetsten Männer der Zeit unwürdigen Antheil nahmen. Während
das Altrussenthum die verzweifeltsten Anstrengungen machte, um alle Spuren
der civilisatorischen Thätigkeit Peters zu verwischen und die alt-moskowiti¬
sche Barbarei i» integrum zu restituiren, zerfleischten sich die Männer, welche
Rußland umgestaltet hatten und jetzt mit Verlust der Früchte ihrer Thätig¬
keit bedroht waren, in thörichten, durch kleinliche Eifersüchteleien genährten
Fehden. Merkwürdig ist zweitens, daß Sivers trotz seiner ausführlichen Er¬
örterungen über die Gründe des Schlages, der ihn nach 28 jährigen treuen
Diensten am Abend seines Lebens traf, die eigentliche Veranlassung desselben
nicht gekannt zu haben scheint, und daß diese Veranlassung eher ein Verdienst,
als ein Versehen des Admirals bildete. — Zunächst lassen wir die „histori¬
schen Lpoeies taeti" ihrem wichtigsten Theil nach im Wortlaut folgen. Ob¬
gleich mit entschiedener Parteilichkeit und Verbitterung gegen Ostermann und
Mummies geschrieben, bestätigen diese bisher noch nicht veröffentlichten Auf¬
zeichnungen doch die ungünstigen Urtheile, welche bereits andere Zeitgenossen
über die Privatmoral dieser großen Männer gefällt hatten, in zu unwiderleglicher
Weise, als daß sie nicht ihrer Vergessenheit entrissen zu werden verdienten. —
Nach einem kurzen und ziemlich gleichgiltigen Eingang wird Folgendes be¬
richtet:
- „Als der Graf Ostermann mit dem Vice Admiral Cruys Anno 1704 als
ein Schreiber (obwohl er sich Seeretair nannte) nach Nußland kam. so war
auch dessen eonäuite als eines Schreibers beschaffen, nemlich clissolut und
impertinent, und weil er hier und da mit vräres zu überbringen gebrauchet
worden, und sich hierbey viel autorite herausnehmen wollte, hat er sich den
Haß der oköeiers über den Hals gezogen, so daß auch einige Hand an ihn
geleget. Da es sich nun auch Ao. 1706 im 9br. zutrug, daß weil Ostermann
in einer assamdlve einen Kapitain von der Flotte mit seinen Leuten über¬
fiel, und ihn tiÄi'Ässil'te, auch übel würde zugedecket haben, leistete der da¬
malige LaMaiue Sivers bey seiner Ankunft ins Zimmer dem Nothlei¬
denden Hülfe und jagte Ostermann sammpt seinen Anhängern zum Hause
hinaus. Ob dieses nun wohl eine Sache, welche man sich zu erinnern fast
schämet, so ist doch solches die Uhrsache, daß Ostermann einen unversöhnlichen
Haß auf den Admiral Sivers geworfen, der ihn und seine Familie endlich
in das größte unsere gebracht. Den Anfang seines Hasses machte er zwischen
den Vice Admiral Cruys und den Admiral Sivers Verdrüßlichkeit zu säen
und da Ostermann hernach gestiegen, hat er sich jederzeit bemühet, dem Ad¬
miral Siepers zu Schaden. Allein er hat ihm doch bey Lebzeiten des Kay-
sers Petri des Großen und der Kayserinn Katharina Glorwürdigsten An¬
denkens nichts können zufügen. So bald er aber bey dem Gottseligen Kayser
Petro II. glorwürdigsten Angedenkens Gouverneur war, sahe man sogleich
die Würkungen des Hasses gegen den Admiralen Sivers. Denn da derselbe
im November 1727 von Kronstäbe nach Petersburg commandiret wurde im
Collegio (d. h. dem Marineministerium) zu sitzen, hat er sich nicht nur dagegen
gesetzet, daß er Vice-Präsident seyn sollte, sondern hat noch dazu bloß dem Ad¬
miral Sivers tort zu thun gerechnet, daß dem Munich der damals jüngster
Generallieutenant war, das Commando gegeben wurde. Dieser wie er wußte,
daß er von Ostermann unterstützet wurde, suchte alle Mittel und Wege sich
zu erheben, absonderlich verdroß ihn äußerst, daß weil er auch in seinen ge¬
ringsten Actionen aus Eigenliebe die größte glorie suchte, der Admiral Si¬
vers nicht damit einstimmen wollte, sondern von einer jeden Sache nach der
Wahrheit sprach.
Die Arbeit an dem Canal des Ladogaischen Sees wußte sich Munich
recht wunderlich zu Nutzen zu machen, und besonders viel darin aufzuschnei¬
den, obwohl dieses eine Arbeit war, welche außer Landes auch die geringsten
Leute verstehen*). Unterdessen fanden sich doch Leute die nach dem Angeben
von Munich als von etwas wunderwürdigen sprachen, ohnerachtet er solchen
nicht angegeben, so doch allein eine Aufmerksamkeit verdient hätte — da
der Canal lang zuvor, ehe er ins Land gekommen bereits angefangen war.
Weil nun der Admiral Sivers auß diesen roäollwntÄäen nicht viel machete,
suchete sich Munich an ihn zu rächen, und fung er von dem Kronstädter
Canal, worüber der Admiral Sivers die ein'setion hatte verächtlich zu reden,
welches er aber gar nicht achtete, sondern nur die Antwort gab, das Werck
muß seinen Meister, nicht aber der Meister das Werk loben.
Hierauf scheuete der Graf Munich des Admirals Compagnie immer mehr
und mehr ob ihn schon der Admiral öfters zu sich bat und seine Freundschaft
suchete. Er konnte aber nichts ausrichten, vielmehr da er einsmals mit seinen
Töchtern dagewesen blieb er länger und sagte im Weggehen, daß es bey dem
Admiral Sivers starke, um ihm verstehen zu geben, wie sehr er ihn estimire.
Wenn Fremde oder einheimische Standespersonen nach Petersburg kamen
war der Graf Munich gleich bei Ihnen und hielt dieselben sovielmöglich ab
den Admiral Sivers zu sehen. Und obwohl der Admiral Sivers ihn hierum
ansprach und ermahnete, daß sie als Freunde leben müßten, so geschahe doch
denen gethanen Versicherungen ohngeacht keine Aenderung, sondern es blieb
wie es zuvor war.
Unterdessen kamen Jhro Maj. Kayser Peter II. zu sterben, und wurde
die Kayserin Anna Glorwürdigsten Andenkens zur Regierung erwählet. Es
ist mehr alß zu bekannt was vor xunety hochbesagter Kayferl. Maj. zur
Unterschrift nach Mitau überbracht worden. Von diesen nun rühmte sich
der Vicepraesident Fick, daß er dieselben erfunden und angegeben.*) Wie
nun der Graf Munich eine genaue Freundschaft und eorMölies mit erwehn-
ten Fick hatte, rühmete, er ihn dieser punets wegen sehr hoch, und zwar mit
den exxressionön: daß er solche zu ersinnen Salomos Weisheit haben müßte.**)
Der Admiral Sivers aber sagte dem Graf Munich: daß Fick thöricht thäte
sich solcher Dinge zu rühmen die ihm schwere Strafe verursachen könnten,
indem es ihm als einem Ausländer nicht anstünde sich mit solchen Sachen
zu neurer. Wie der Graf Munich solches hörte, schlug er in sich, absonder¬
lich wie man erfuhr, daß Jhro Kayferl. Maj. erwehrte xunetiz eg-ssiret, und
dachte es müßte vielleicht der Admiral Sivers solches berichtet und er mit
zur Verantwortung gezogen werden. Er machte alßo, daß er nach Mosto
käme, denuncirte auch den Fick, der auch gleich in Arrest gezogen wurde, in
wie weit er aber den Admiral Sivers mit angegeben, ist nicht zu erfahren
gewesen. Jedoch die Folge hat es gewiesen. Nachdem er von dar wieder
zurück gekommen, brachte er eine orärs mit sich, wegen der Sache von Fick
weiter zu inquiriren. Er machete auch mit Befragung eines und des anderen
würklich den Anfang, und kam endlich auch an den Admiral Sivers den er
die eoMm von seiner habenden orclrs zusandte und verlangte auf die bey¬
gefügte interroMwirs zu antworten. Der Admiral Sivers hielt sich hierbei)
nicht lange auf, sondern antwortete aus rsspset vor Jhro Kayferl. Maj.
auf die jutk!-roMwjl'«z was sich gehörte, fügte aber mit bey, daß weil er der
Graf Munich in selbiger Zeit mit Fick eonüclenee gepflogen er am besten
davon aperture würde thun können, welche Antwort wie sie ihm nicht ge¬
fallen, wird er sie auch niemals aufgezeiget haben.......
Als der Graf Munich im December Monat aus Mosco kam, hatte er
eine orclrs mit gebracht, um den Eyd der Succession ablegen zu lassen,
welche ol-äre er sich zu wege gebracht um sehen zu lassen, daß er mehr ver¬
trauet als der Admiral, und über ihn zu gebieten habe. Wie er nun in
Petersburg angekommen, ließ er sich den Tag von Niemand sprechen, den
andern Tag sandte er seinen Adjutanten an den Admiral um ihm wissend
zu thun, daß er angekommen. Der Admiral schickte gleich wieder zu ihm
und ließ ihm zu seiner Ankunft gratuliren und sagen, daß er die Ehre wollte
haben den Nachmittag ihm selbst zu telieitiren. Allein der Adjutant bekam
ihn nicht zu sprechen, sondern die Frau sagte, man möchte ihn exeusiren,
daß er diesen Tag niemand sprechen könnte, weil er nicht wohl wäre. Den
dritten Tag des Morgens als am Tage vor Weynachten schickte er eine
Schrift als eine orclre, daß das Admiralitäts-Collegium mit allen darunter
gehörigen vom Generalitäts Rang morgen den ersten Feyertag in Troiza
Kirchen sich gegen Klock acht laut der Ordre vom Senat, wovon er die
LoM beygelegt aber nicht das Formular des Eides, einfinden sollten. Weil
nun der Admiral Sivers in gleichem earactei' damals mit dem Graf
Munich, jedoch älter war, und die Ausländer alle Zeit die Freyheit gehabt,
in ihrer Kirche zu schwöhren, überdem der Graf Munich sich angemaßet
orärs an ein ganzes Collegium zu senden da er nichts mit zu thuen, und
noch jünger in edargs war, als die Admirals so im OollöFic) saßen, so hielt
ihm der Admiral solches für undfragete: ob er expresss orclre hätte also zu
verfahren, darauf er antwortete, daß er keine andere oräre hätte als die aus
dem Senat, wovon er die OoM gesandt.
Nun wurden 2 Glieder aus dem Collegio an den Graf Munich gesandt
um ihm zu sagen, daß die so Russischer Religion den anderen Morgen in
der Iroz^g, Kirche kommen sollten, die ausländischen aber in ihren Kirchen
den Eyd ablegen würden, so antwortete der Graf Munich hierauf: daß
darinnen nichts zu anderen wäre und müßten alle, wes Religion sie auch
wären, sich in angesagter Kirche einfinden. Des Nachmittags kam der Graf
Munich bey den Admiral Sivers und sprach von keinem Eyd ehe er aufstand
wegzugehen, da er zu den Admiral sagte: wir werden uns denn morgen
sehen. Da ihm nun der Admiral fraget?: wo? war die Antwort in der
russischen Kirche. Wie ihm nun der Admiral sagte, daß er wüßte, daß er
nicht Russischer Religion und seinen Eid wie vor diesem in der Lutherischen
Kirche ablegen wollte, gab ihm der Graf Munich zur Antwort: Es müßte
in der Russischen Kirche vor dieß mahl geschehen, und wenn der Admiral
nicht käme, wollte er einen vourior nach'Mosco senden, welches er noch zu
zweyen Malen mit einer' solchen ergrimmten Gestalt und zornigen Gesicht
sagte, als wenn er dem Admiral zu befehlen hätte, und ging damit hin.
Der Admiral Sivers um Jhro Kayferl. Maj. keinen Verdruß zu machen
fuhr des anderen Morgens nach der Russischen Kirche und legete den Eyd
ab. Unterdessen hatte der Admiral Gordon, der LeKout us-ent Deisfus
und alle Ausländer Freyheit den Eyd in der Kirche von ihrer Religion ab¬
zulegen, so ist gar leicht anzunehmen, daß der Graf Munich bloß gesuchet,
dem Admiral womöglich Verdruß zu bringen und ihn als einen Widrig¬
gesinnten anzugeben.
Noch zeigte sich eine Gelegenheit, wovon der Graf Munich aufs fleißigste
suchte zu profitiren. Wie der' Admiral Siepers im Inns Monath A. 1731
in Mosco war, kam ein Englisches Fahrzeug zwischen Kronstäbe und der
Carelschen Küste hinten herein. Ob nun solches nicht das erste Fahrzeug
so solchen Weg gekommen seitdem Kronstäbe gebauet, so machte man daraus
viel Lärmen. Der Schiffer wurde aufgesucht und mit Ernst unterfragt',
warum er nicht die andere Fahrt wäre eingekommen, und wollte man, er
sollte denselben Weg wieder zurücke gehen und die rechte Fahrt einzukommen,
welches von uns recht einfältig anzusehen, weil wenn an der Fahrt was
gelegen, würde der Schiffer im'Rückweg die Fahrt haben yenen müssen,
welches er nothwendig würde ausgeschrieben haben und würde dadurch dieses
Fahrwasser noch mehr bekannt worden sein, da man es itzo vor einen großen
Hazard ansehen muß, daß das Fahrzeug glücklich angekommen, indem
wo es am tiefsten solches nur 12 Fuß Tiefe hat, dahero es auch Ihre
Kayferl. Maj. Peter der Große, Glorwürdigsten Angedenkens keiner g,t>einel<zu
werth geschadet. Der Graf Munich sahe aber dieses als eine vernünftige
Gelegenheit an dem Admiral Sivers zu schaden, daher nach Mosco
i'Äpxortirtö, daß der Feind in Kriegeszeiten diesen Weg gehen und die
Flotte im Hafen ruwirsn könnte, so doch bey 12 Fuß Wasser ganz
unmöglich war, weil nicht einmal eine Fregatte dar durch kann. Noch
hatte der Vice-Admiral Sanders als ein vertrauter Freund vom Grafen
Munich ihm gemeldet, daß sich Cronschlott eine neue Tiefe machte,
wo Schiffe Mssirtzn könnten, welches alles mit viel «zindra,M nach Noseo be¬
richtet und der Admiral Sivers dabey der größten Nachlässigkeit beschuldiget
wurde. Allein es war dem Admiral Sivers wohl bewußt, daß an besagten
Oithe eine Renne gewesen die 11 Fuß Wasser hat, welche schon ehe Kron-
schlott noch gebauer worden, da gewessen, so auch dem höchstglorwürdigsten
Kayser Peter dem Großen gar wohl bewußt, aber nicht Wtiiniröt worden,weil keine
großen Fahrzeuge dadurch können, diese Renne so nahe an Kronstäbe
läuft, daß man es mit mousHuetsu erreichen kann, wegen ihrer Krümmen
und der vorliegenden Sandbänke sich kein klein Fahrzeug dem die Fahrt
nicht recht wohl bekannt dadurch wagen wird. Es hat aber doch dieses
Schreiben des Graf Münichs seine Würkung gehabt, weil, da Jhro Kayferl.
Maj. Anna glorwürdigen Angedenkens in Petersburg angekommen, der Ca-
pitaine über die Steuerleute nebst einiger Ingenieurs beordert worden ohne
des Admirals Wissen die Tiefe zwischen Kronstäbe und Ingermanland, auch
zwischen Kronstäbe und Karela und eine Charte davon zu machen, obgleich
der Admiral diese Charte längst schon fertig hatte, und alle nöthigen sxM-
catioiiös darüber hätte geben können, weil "sie ihm am besten wissend. Nach
diesem ließ der Graf Munich seine guimositö noch mehr und mehr gegen den
Admiral blicken, denn wie sein Bruder angekommen, und der Admiral weil
er beim Graf Munich logirte hinfuhr ihn zu comxlimcmtiren, konnte er we¬
der den einen noch den andern zu sprechen bekommen, und reisten kurz daraus
nach Mosco, ohne daß der Graf Munich noch dessen Bruder von ihm Ab¬
schied genommen. Sobald der Graf Munich in Mosco angekommen, sahe
man gleich die Dienste, so er dem Admiral Sivers zu leisten sich vorge¬
nommen, weil eine orclrs von Mosco kam, daß er mit dem Bau des eg.Qg.Is
in Kronstäbe bis zu Jhro Maj, Ankunft in Petersburg anstehen sollte.
Nun wieder einmal auf Ostermann zu kommen so hatte er, wie Kayser
Peter II. glorwürdigen Andenkens den Trohn bestiegen sich frevelhaft vorge¬
nommen die meisten' Einrichtungen von Kayser Peter dem Großen Glorwür-
digsten Andenkens zu verändern, wozu er den Anfang mit den <nom<zrei(!n
reglöment machte, womit er fast 3 Jahre zubrachte*).'
Bey der g.rmvo mußte auch eine Veränderung sein, hierin aber konnte
er nach seinen Sinn nicht roussirov, ehe er seine liebe und treue Kreatur,
den Graf Munich in Stand gesetzet dabey emvIoM-t, zu werden, denn obwohl
der Feldmarschall Fürst Dolgorucki und Fürst Galitzien die Commission
darüber empfangen, wollte doch die Sache nach seinem Wunsch nicht recht
von Statten gehen. Nachdehm aber kurz darauf der Fürst Galitzin gestorben,
und der Feldmarschall Dolgorucki in Ungnade verwiesen, wußte er den Graf
Munich zu erheben, daß ihm die empfangene Commission aufgetragen wurde,
und wurde Munich als der klügste und erfahrenste ^oinzM ausgerufen, so
daß die alten Feldmarschälle und Generals, die sich während des Schwedischen
Krieges so berühmt und um das Reich verdient gemachet, gegen ihm nur
vor Corporals anzusehen. Nun sollte es auch der Flotte und s-ämiraiitv
' gelten, doch hierbey war ihm der Admiral Sivers im Weg, von dem er wußte, daß
er von denen wohleingerichteten Verfassungen desGlorwürdigsten Kaysers Petri des
Großen nicht abzubringen. Diesen nun wegzuschaffen mußte der Graf Munich das
beste thuen, damit er'selbsten (Ostermann) dabey nicht in Verdacht käme und
er die Sache seines Gefallens also drehen könnete. Munich war willig sei¬
nen Wohlthäter zu dienen, und gleich fertig viele Verleumdungen außzuspeyen.
Es sollte nemlich der Admiral divers 40,000 Rudels von "den viurals-gel-
bem unterschlagen haben. Er hätte die Fahrt bey Kronstäbe sowohl an der
Nord als Südseite zu versichern verabsäumt. Die Bau Direction des eanals
wurde vor schädlich angegeben- Er habe mit Fick genaue eorrWvonäenLö
gepflogen. Er wäre gegen Jhro Kayferl. Maj. Negierung widrig gesinnt,
worm man das lonclemLnt bereits in Mosco geleget, da man vorgebracht, es
hätte der Admiral Sivers allzufleißige und öftere Aufwartungen bey banalen
Kayferl. Hoheit der Großfürstin Elisabeth unsere anitze Allergnädigste Kay-
serinn und Frau gemachet, wodurch nicht eine geringe Mousiö bey der
Höchstseligen Kayserinn Anna entstanden, und da es sich sügete, daß in
Se. Petersburg von dem damaligen Schiffbauer Menczikof unsere allergnä¬
digste Kayserinn und Frau als damahlige Princessin nebst dem Admiral
Sivers zu gevattern gebeten worden,'so gab man vor, daß solches ü. ässsoin
geschehen, und wurde so oclious vorgetragen, daß dadurch des Admirals cliLgraeö
beschleunigt worden, wodurch Ostermann freye Hand behalten mit rö^ulirung' der
Flotte seines Gefallens umzugehen, wodurch sie in denitzigen Zustand gerathen."
"
So berichten die „historischen Lpeeies taeti im Wesentlichen — die am
Schluß weggelassenen Conclusionen des Admirals sind ebenso unwichtig, wie
der Eingang. Aber trotz der Ausführlichkeit dieses im Uebrigen höchst lehr¬
reichen Berichtes, bleibt der Hauptgrund der „äisAr^co des Admirals" uner¬
wähnt. Die wesentliche Ursache derselben ist nicht in Dienstvergehungen,
sondern in einem völlig geringfügigen Umstände zu suchen. Sivers übergeht
nämlich die Vorgeschichte der Eidesleistung, welche gefordert wurde, als die
Kaiserin Anna die ihr zu Mitau abgerungenen, die kaiserliche Souvercnnität
einschränkenden Bedingungen aufgehoben und sich zur unumschränkten Herr¬
scherin von Nußland erklärt hatte, Mannsteins Nvmoircs sur ig. liussiö
(deutsch unter dem Titel „Beitrag zur Geschichte Rußlands von 1727 bis
1744" im I. 1771 zu Hamburg herausgegeben) erzählen uns, daß es mit
diesem zweiten Eide so streng genommen wurde, daß der bloße Schein einer
Abneigung gegen denselben, für Bundesgenossenschaft mit den oligarchischen
Verschwörern des geheimen Conseils genommen wurde. „Gar zu viel Vor¬
sicht — heißt es bei Mannstein — die der Admiral Sivers, ein Mann von großer
Erfahrung im Seewesen, anwenden wollte, verursachte sein Unglück, Bei der
Thronbesteigung der Kaiserin Anna hatte der hohe Rath (das s. g. geheime hohe
Conseil) jedermann einen Eid abgenommen, der Kaiserin nicht anders, als ge¬
meinschaftlich mit dem Rathe zu dienen. Als diese Prinzessin sich zur unumschränk¬
ten Herrscherin machte, bekam Jedermann Befehl, einen neuen Eid abzulegen.
Der Courir, welchen man an die Admiralität abgefertigt hatte, kam
später an, als derjenige, den man an das Kriegscollegium geschickt hatte.
Sivers machte einige-Schwierigkeiten, die Flotte zu beeidigen, und wollte
erst zu Se. Petersburg belehrt sein von allem, was zu Moskov vor¬
ging. Sobald er aber die Befehle, welche er erwartete, empfangen hatte,
unterwarf er sich allem, was man von ihm begehrte. In diesem Betragen
war nichts sträfliches; — Nichts destoweniger fanden sich Leute, welche ihn
bei der Kaiserin anschwärzten und seine Behutsamkeit als ein Zeichen der
Verachtung der kaiserlichen Befehle und als einen förmlichen Ungehorsam
auslegten. Er siel in Ungnade und erhielt Befehl, innerhalb 4 Stunden
Se. Petersburg zu räumen und sich nach seinem kleinen Gütchen in Finnland
zu begeben. Er hatte zween Söhne, wovon einer bei dem Seewesen, der
andere bei der Armee diente. Beide wurden verabschiedet. Man beschuldigte
den Grasen Mummies, daß er am meisten hierzu beigetragen hätte."
So unglaublich es heutzutage klingt, daß der Begründer der russischen
Seemacht einer selbstverständlichen Vorsichtsmaßregel wegen in Ungnade ge¬
fallen sein soll, so vollständig war diese thörichte Barbarei in den Vorstel¬
lungen begründet, welche in jener Zeit und in dem Lande herrschten, wo seit
Peter I. der Absolutismus thatsächlich in eine Despotie verwandelt worden
war und man sich in sklavischen Augendienst zu überbieten suchte. Durch
die Mannsteinsche Erzählung wird Sivers Bericht über die Geschichte der
Eidesleistung in der Troizky-Kirche erst in das rechte Licht gerückt. Aller
Wahrscheinlichkeit nach hatte Mummies es nach dem Bekanntwerden der ersten
Weigerung des Admirals darauf abgesehen, denselben überhaupt als Eides¬
verweigerer erscheinen zu lassen. Aus diesem Grunde wurde Sivers ein¬
geladen, in der russischen Kirche zu huldigen, wo sein Erscheinen bei der
großen Anzahl der versammelten russischen Würdenträger und Beamten leicht
übersehen werden konnte; in der lutherischen Kirche, wo nur eine kleine An¬
zahl von Würdenträgern versammelt wurde, mußte es dagegen auffallen, daß
einer der höchsten deutschen Beamten der Kaiserin fehlte. Die Annahme
liegt nahe, daß beide Vorgänge mit einander von Sivers Feinden in Zu¬
sammenhang gebracht worden sind und seinen Sturz bewirkten.
Acht Jahre lang lebte Sivers in Armuth und Elend auf seiner kleinen
finnländischen Besitzung. — Daß er daselbst, wie Mannstein und nach diesem
Berthold (Raumers historisches Taschenbuch 1836. x. 278 ff,) behauptete —
als Verbannter gestorben, ist unrichtig. Kurz vor dem Tode der Kaiserin
Anna verfiel Sivers in so schwere Krankheit, daß die Aerzte ihn ausgaben
und er sich zum Tode vorbereitete. Um das schwere Schicksal seiner Frau
und seiner um alle Lebensaussichten gebrachten Söhne zu lindern, wandte der
schwer erkrankte Greis sich in der Stunde, die er für die letzte seines Lebens
hielt, an die Gnade der Kaiserin. Er sandte ihr die nachstehende, uns im
Wortlaut erhaltene Bittschrift:
„Allerdurchlauchtigste Großmächtigste Kaiserin Allergnädigste Louveraws
Frau. Da ich nunmehro meinen Geist dem Schöpfer werde wiedergeben
und in Kurzem für den Großen Gerechten Richter erscheinen, habe forderst,
weil noch Athem schöpfen kann Ewr« Kayserliche Majestäten für alle vorher
erwiesene höchste Gnade allerunterthänigst danken wollen. Da aber Ewre
Kayserliche Majestäten in den letzten Jahren meines Lebens eine so hohe
Ungnade auf mich geworfen, daß ich mit Frau und Kindern, so viele Jahre
im Elend Jämmerlich in Armuth hab leben müßen und mir meine Häuser
genommen worden, davon noch einige Hülfe zu leben hätte haben können,
habe ich sterbend Ewre Kayserliche Majestäten in tiefster Demuth zu ver¬
sichern nicht nachlaßen tonnen daß mir nichts bewußt, womit ich solches
mögte verschuldet haben.
Groß Mägtigste Kaiserin! ich werde nun in Kurzem für den Richter
aller Welt erscheinen und befürchte mich nicht es für ihm zu verantworten, wie
ich Ewre Kayserliche Majestäten gedient habe, dieweil ich jeder Zeit mir
höchst angelegen hab laßen sein Ewre Kayserliche Majestäten mit aller Treue
und Fleis und also aufrichtig zu dienen, wie ich Ewre Kayserliche Majestäten
hohe Vorfahren glorwürdigen Andenkens so viele Jahre mit unverletztem
Gewissen gedient habe und niemalen mich in etwas gegen Ewre Kayserliche
Majestäten geheiligte Person oder hohe Interesse mit Worten oder Gedanken
versündiget, vielmehr aber für Ew. Kays. Maj. die höchste äövotion und
schuldigste vorn-rirtilm in meinen Herzen geheget derer ein Mensch in der
Welt immer eapadliz mag seyn.
So kann es also nicht anders sein Allergnädigste Kayserinn als daß ich
armer Mann bey Ewre Kayserliche Majestäten in solche höchste Ungnade
durch meiner Feinde schmeichelnde und nach Wahrheit scheinende unbeweis-
liche Unwahrheiten muß gebracht sein und die Thore zur Gerechtigkeit so
durch die weltberühmte Gnade und große Leutseeligkeit Ewrer Kayferl. Maj.
einem jeden offen, mir allein verschloßen worden, wie mir davon vieles
bekannt geworden, welches aber in die ewige Vergessenheit versenken wil;
selbige auch bey Lebenszeiten Ewre Kaiserliche Majestäten allerunterthänigst zu
hinterbringen habe ich mich nicht unterstanden aus Furcht eines noch härteren
Verfahrens meiner Verfolger, da sie alles, was ihnen nur möglich gewesen, ge¬
than, damit ich bky Lebenszeiten nicht zu Verantwortung kommen mein Unschuld
Ewre Kayferl. Majestät bekannt, und sie mit Schande bestehen mögren.
Ihnen meinen Feinden die mir durch ihre unverantwortlichen Unwahr¬
heiten eine jolche hohe Ungnade verwirkt und mir so großen Schaden ver¬
ursachet, wodurch ich mit meine Familie an den Bettelstab gebracht, wird es
schwer sein, dermaleins es zu verantworten, Ich aber will ihnen nicht allein
als ein wahrer Krist von Herzen vergeben, sondern bitte auch Gott, daß Er
ihnen die an mir ausgeübte Bosheit verzeihen wolle und sie bekehren, damit
sie dieselbe erkennen und ihnen leid sey auf daß sie darüber sür den gerechten
Richter da kein Ansehen der Person gilt dermaleins nicht blosstehen und er¬
schrecken mögen.
Ich habe es meine Schuldigkeit zu sein erachtet für Ewre Kays. Maj.
Füße dieses zu Rettung meiner Unschuld und Ehre, die mir von allen welt¬
lichen das theuerste gewesen allerunterthänigst niederzulegen. Gott der die
Wahrheit selbst ist steht mir zur Seiten; daß ich Ew. Kays. Majestät nicht
ein unwahr Wort berichte, ich werde mich ja sür Gottes strenges Gericht
fürchten, dafür ich in wenige Augenblicke werde treten.
Ew. Kays. Majestät will sterbend allerunterthänigst bitten, daß Höchst
dieselbe allergnädigst belieben die auf mich und^die meinen geworfene Ungnade
von meine arme Wittwe und Kinder zu wenden, Sich ihrer in Gnaden an¬
nehmen, ihnen das allergnädigst zufließen zu lassen, was mir rechtmäßig zu-
kombt, und ihnen ihre angebohrene Freiheit allergnädigst genießen lassen da
ich mich niemals als Unterthan verbunden, wohl aber als ein
treuer Knecht zu dienen mich allezeit höchst beflissen.
Ich hoffe, daß Ewr. Kays. Maj. das allerunterthänigste eines in letzten
Zügen liegenden treuen Dieners allergnädigst werden erhören.
Der allmächtige Gott wolle---'— ze."
Der Admiral genas unverhofft und erlebte seine Rechtfertigung. Er wurde
in Amt und Würde wieder eingesetzt, starb aber bald darauf am Schlagfluß
im 66sten Lebensjahre zu Petersburg am 10 Mai des Jahres 1740.
Nach seinem Tode donirte die Kaiserin Elisabeth (welche für die ver¬
trauten Diener ihres Vaters eine besondere Vorliebe hatte) seiner Witwe und
deren Kindern die Güter Euseküll und Heimthal in Livland.
Auf seine Verordnung wurde ihm zu Hillola, wo er begraben, folgende
Grabschrift gesetzt:
?fern8 Livers
Lques ^.in'Al-ius
^ämiralis liutdeni^e
Vost, üäeleoi servitutem
IriFirM ^unorurn
NaMoshus l^horch
M Lxiliuin 0etc> ^.nuorum
In Il^avia. Lci-reliae
Irluoeens
et
Inoxes
?etrop0liae
Noriens
^uno 1740 Neusis Uf.^ Die 10
Hie ossg. cum s.vis
I>. 1.^)
I?ouere Mssid
^.eratis.
Ein Berliner Blatt dritten Ranges, das obendrein für die Unsolidität
seiner politischen Einfälle und Haltung bekannt ist, erlaubte sich unlängst
mit den dänischgesinnten Nordschleswigern einen rücksichtslosen Scherz. „Ihr
dummen Teufel!" — so redete er sie nicht den Worten, aber dem Sinne nach
ungefähr an: „schmachtet nach Rückkehr zu eurem theuren alten Dänemark,
und seht nicht, daß das Thor offen ist, welches dahin führt! Wo steht denn
geschrieben, daß die Regierung es sein muß, welche zur Veranstaltung der im
Prager Friedensvertrag Art.'3 vorgesehenen Abstimmung die Initiative er¬
greift? Steht da nicht vielmehr „freie Volksabstimmung", und gibt die
preußische Verfassung euch nicht Vereins- und Versammluugsrecht, um dieser
stummen Aufforderung zu entsprechen, die Abstimmung selber vorzu¬
nehmen, auf deren Ausfall sich eure Hoffnungen gründen?"
Man hätte denken sollen, daß die vortreffliche Disciplin und Organi¬
sation, unter welcher unsere dänischgesinnten Staatsgenossen stehen, verhütet
haben würde, daß auch nur ein Theil von ihnen auf den plumpen Köder an¬
beiße. Allein es scheint, daß im Sommer selbst die straffster Federn ein wenig
erschlaffen; und so konnte „Dybbolposten", das dänische Organ für das
Sundewitt und die Insel Alsen, auf den Leim der Staatsbürgerzeitung gehen,
ja vierzehn Biedermänner förmlich mit Namensunterschrift zur Abnahme der
Abstimmung einladen, bevor die Besinnung eintrat. Glücklicherweise hatte
wenigstens die Dannevirke in Hadersleben, die der politisch gewiegte Hjort-
Lorenzen schreibt, sich von Anfang her kühl zu dem Vorschlage gestellt. Sonst
hätten wir ein Schauspiel erleben können, das Niemandem aufrichtige Freude
bereitet haben würde, außer etwa dem in Einfällen schwelgenden Schreiber
der Staatsbürgerzeitung. /
Welcher Regierung der Welt ist es jemals in den Sinn gekommen oder
kann es jemals in den Sinn kommen, einem beliebigen Ausschnitt der ihrer
Fürsorge anvertrauten Bevölkerung das Recht zuzugestehen, über ihre Zuge¬
hörigkeit zu diesem oder irgend einem anderen Staate nach ihrer eigenen
Willkür öffentlich abzustimmen? Der staatliche Zusammenhang bindet nicht
blos einseitig, sondern gegenseitig. Die Glieder einzeln haben nicht die sou-
veränen Rechte der Gesammtheit. Wollte Preußen insbesondere einen solchen
staatsauflösenden Grundsatz anerkennen — wozu kein Staat beiläufig be-
merkt, weniger in der Lage und Meinung sein kann als grade Preußen, das
die Mission hat, der deutschen Nation ihren Staat zu bilden —, so müßte
doch den Polen in Westpreußen, Posen und Oberschlesien billig sein, was den
Dänen in Nordschleswig recht ist, und wo wäre da das Ende blutigster
Verwicklungen?
Es ist nicht wenigen klar, daß die gegenwärtige preußische Regierung
den berühmten fünften Artikel des Prager Vertrags unmöglich in dem Sinn
der spontanen Volksabstimmung verstanden haben kann. Sonst hätte sie ja
die Last nicht auf sich nehmen brauchen, mit Dänemark über Abtretung eines
Stückes Land ohne Volksabstimmung zu unterhandeln und sich anderen
Mächten gegenüber wegen verzögerter Erfüllung des Artikels V. zu rechtfer¬
tigen. Kurz, die ganze Idee war sinnlos.
Das hat man denn bald nach der Mitte des August auch in Kopenhagen
begriffen. Es erging Befehl, die erregten Hoffnungen zu dämpfen. Herr
Ahlmann von Augustenburg, Reichstags- und Landtags-Mitglied in Berlin
und Agent der Kopenhagener Propaganda im südöstlichen Nordschleswig,
sagte die Abstimmung ab und gab statt dessen, um die Fluth der einmal auf¬
gereizten Veränderungswünsche doch nicht ganz im Sande verrinnen zu lassen,
die Losung aus: Massen-Petitionen um Vornahme der Volksabstimmung von
Staats wegen. Diese also werden wir über uns demnächst ergehen lassen müssen.
Mittlerweile ist in Dänemark selbst eine Umstimmung zu Tage getreten,
von welcher wir in Deutschland alle Ursache haben Notiz zu nehmen. Seit
einer Reihe von Monaten befehden sich die beiden Hauptorgane des dänischen
Nationalliberalismus, „Fädrelandet" und „Dagbladet", und in der Hitze des
Gefechts verlauten Dinge, deren Interesse weit über den Inhalt eines ge¬
wöhnlichen Zeitungsstreites hinausliegt, die aber ohne eine solche Versuchung
vielleicht noch lange ungesagt geblieben wären. Es handelt sich dabei wesent¬
lich um das Verhältniß zu uns und unserer neuesten nationalen Entwicklung.
„Dagbladet" setzt seine Hoffnung, daß ein mehr oder minder großes Stück des
1864 verlorenen Bundesbesitzes an Dänemark zurückfalle, auf den armen stein¬
kranken Kaiser Napoleon, — „Fädrelandet" hingegen, ohne natürlich Frankreich
von der Ehrenpflicht loszusprechen, die es mit der Bereicherung des Prager
Friedens um den Art. V übernommen hat, auf eine innere Umstimmung des
deutschen Volkes. Demzufolge behandelt jenes unsre Tagesgeschichte im
Stil gewisser Stuttgarter, Wiener und Pariser Scribenten. unsre Freiheit
als mit dem seligen deutschen Bundestag begraben oder mit den Exdespo-
ten von Hannover und Kassel landflüchtig geworden, während „Fädrelandet"
in der Stiftung des Norddeutschen Bundes einen Sieg der Nationalitäts-
Jdee erkennt, welcher der Freiheit nichts gekostet hat. Daß es von diesem Stand-
Punkte aus seinen Lesern die laufenden Ereignisse erzählt, ist in „Dagbladets."
leidenschaftlich getrübten Augen gradezu ein Verbrechen an der höheren Vater-
landsliebe, und über den entsprechenden Vorwurf hat sich der ganze Streit
entsponnen. Aber was hilft, fragt Hr. Ploug seinen College« Bille mit
Recht, eine Wiedergewinnung Nordschleswigs durch das französische Schwert,
solange Deutschland sie nicht als eine Forderung der Gerechtigkeit anerkennt?
— es würde sie nicht endgültig zugestehen, die erste Gelegenheit zur Zurück-
eroberung ergreifen und so müßte der Dänemark aufreibende Kampf sich ins
Unendliche verlängern. Man wird bekennen, daß in dieser Auffassung unsres
alten Gegners, Fädrelandet sich ein erheblicher Fortschritt zur Würdigung
von Thatsachen kundgibt. Aber noch mehr. Fädrelandet's reife und scharf¬
blickende Politiker wissen jetzt auch gar wohl und sagen es ungescheut heraus,
daß Dänemark 1848—50 mehr Glück als Verdienst hatte. Sie bedauern
fast, daß das vage Versprechen des Prager Friedens so rasch auf die schweren
Verluste des Wiener Friedens gefolgt ist, weil dadurch die hoffnungsvolle
Ermannung im Schoße ihres Volks, die Besinnung auf die Quellen aller
nachhaltigen Kraft wieder mit trügerischer auswärtiger Aussicht unterbrochen
worden. Sie wollen auch nicht mehr — die ehemaligen Eiderdänen! — ein
Dänemark bis zur Eider, geschweige bis zur Elbe. Wie sie zur Zeit des
allgemeinen nationalen UebermutlM 18S0—63. besonnener und voraussichtiger
als der große Haufe waren, indem sie damals schon Holstein preisgeben
wollten, um Schleswig desto sicherer zu Dänemark zu ziehen, so rathen sie
nun im voraus, sich auf jeden Fall mildem dänischen Theil von Schles¬
wig zu begnügen. Sie waren Eiderdänen im Gegensatz zu den Elb-
dänen, nicht etwa zu solchen, welche Schleswig nach den Nationalitäten
getheilt wissen wollten. Sie sind nun vollends zurückgefallen auf diese
letztere Idee Lord Palmerstons und der „Kölnischen Zeitung". Daß sie die
Nationalitätsgrenze etwas südlicher erblicken als wir, ist begreiflich; das
Factum ihrer Selbstbcscheidung wird dadurch nicht umgestoßen. Bevor
Deutschland sich entschließt, ihnen auch nur soviel herauszugeben, mag es
allerdings erst, meinen sie, durch harte Prüfungen gehen müssen. Aber sie
sind nüchtern und erfahren genug, um nicht zu übersehen, daß eben die Be¬
friedigung der legitimen nationalen Tendenzen in einem so civilisirten Vou'e
eine bessere Disposition hinsichtlich streitiger Gebietsfragen begründen muß. So
glauben sie denn, in einer nicht allzu entfernten Zukunft bereits die Möglichkeit
heraufdämmern zu sehen, daß die beiden Zweige des alten, einheitlichen Völker¬
stammes, Germanen und Gothen, Deutsche und Nordländer, einander die Hand
reichen, um gemeinsamen Gegnern mit Überlegenheit die Spitze zu bieten.
"
In einem Berliner Blatte — nicht der „Staatsbürgerzeitung, sondern
der „Post" — war an diese merkwürdige Fehde die Bemerkung geknüpft, es
scheine sich also der französischen Partei in Kopenhagen allmcilig der Keim
einer deutschen Partei gegenüberzustellen. Das hat sich „Fädrelandet" natür¬
lich verbeten, und es ist auch zuviel gesagt, wenn es nicht sehr einschränkend
verstanden wird. Aber es ist der Keim eines dänisch-nordischen Programms,
mit welchem wir uns abzufinden vermögen. Weiterblickende Politiker sind
schon länger, drüben wie hüben, auf den Gedanken hinausgekommen, daß in
dem beiderseitigen Gegensatz zu Rußland Stoff liege für eine Aussöhnung
Deutschlands mit Scandinavien. Die Wahrheit desselben wird offenbar und
handgreiflich werden, sobald irgend eine Wendung der europäischen Politik
das Rothbart zerreißt, welches gegenwärtig noch die Cabinette von Berlin und
Se. Petersburg umschlingt. Das ist der Augenblick, auf welchen „Fädrelandels"
Zukunstspoliti'k gespitzt ist. „Dagbladet" hingegen, das mit dem Strom der
hauptstädtischen Bierstuben-Bestrebungen schwimmt, möchte Dänemark an die
täglich schwindende Macht und Unternehmungslust Frankreichs ketten.
Die überraschenden Fortschritte, welche Rußland in neuster Zeit in
Centralasien gemacht, haben allgemeine Aufmerksamkeit erregt, begreiflicher
Weise speciell in England. Khokand ist schon vor geraumer Zeit in das
russische Reich aufgegangen, das Chanat von Chiwa sieht demnächst einem
gleichen Schicksal entgegen und nun hat ganz neuerlich die Uebergabe der be¬
rühmten Stadt Samarkand und ihres Gebiets den Emir von Bochara zur
Stellung eines russischen Satrapen degradirt. Dieses staunenswerthe Vor¬
dringen hat um so mehr beunruhigt, als grade in jüngster Zeit der ungari¬
sche Reisende Vambery seine bestimmte Ansicht dahin ausgesprochen, daß die
Spitze der russischen Bestrebungen gegen das anglo-indische Reich gerichtet
sei. Dagegen hat nun freilich nicht blos die „Times" remonstrirt von der
man gewohnt ist, daß sie den Kopf in den Busch steckt, sondern auch der
Unterstaatssecretär des indischen Amtes, Mr. Grant Duff. Auf eine Jnter¬
pellation von Mr. Eastwick führte er am 9. Juli im Unterhause aus, daß
einmal Rußland überhaupt den englischen Besitzungen noch bei weitem nicht so
nahe gekommen sei, als man gewöhnlich glaube, und daß es andererseits durchaus
verkehrt sei, einen Angriff auf Indien zu fürchten. Die Politik, durch welche
die indische Regierung sich zu befestigen suche, liege in dem Streben aus¬
gesprochen, den Frieden mit den Nachbarn zu unterstützen, die Nordwestgrenze
zu stärken, den Handel mit Centralasien zu beleben und die englische Herr¬
schaft in Indien durch zeitgemäße Reformen populär zu machen.
Gleiche Ansichten hat Grant Duff schon kurz vor seinem Eintritt ins
Ministerium in seinem Buche ?o1itieg.1 Lurve^ ausgesprochen. Er hat be¬
tont, daß England nicht nur außer Stande gewesen, die Festsetzung Ru߬
lands in Centralasien zu hindern, und daß jede Einmischung die Sache ver¬
schlimmert haben würde, sondern er meint auch, daß die Ersetzung barba¬
rischer Charade durch die russische Herrschaft verhältnißmäßig ein Vortheil für
England sei. Es sei auch sehr möglich, daß man in commercieller Hinsicht
sogar noch dabei gewinnen könne, selbst wenn sich die russischen Eroberungen
noch weiter ausdehnen sollten; es sei wohl nur eine Zeitfrage, daß Rußland
sein bisheriges Prohibitivsystem aufgebe und mit der Einführung des Frei¬
handels könne der indische Handel in Centralasien einen ungeahnten Auf¬
schwung nehmen. Außerdem trenne noch ein weiter Zwischenraum die Sphäre
des russischen Einflusses von Indien. Es werde noch lange dauern, bis die
Eroberungen in Mittelasien dem russischen Reiche einigermaßen assimilirt
seien, und der Krimmkrieg habe gezeigt, wie schwer es sei, nach entlegenen
Punkten Streitkräfte zu dirigiren, wenn keine Eisenbahnen vorhanden seien.
Für eine Kriegführung komme aber außerdem nicht einmal so sehr die Kopfzahl
der Armeen als die Beschaffung des nöthigen Kriegsbedarfs und Proviants
in Betracht und in Betreff beider werde Rußland unter allen Umständen
auf seine europäische Reichshälfte angewiesen sein, während England sich aus
seinen nahegelegenen indischen Hilfsquellen in reichlichem Maße verprovian-
tiren könne.
Diese Auffassung scheint uns stark optimistisch; allerdings ist es vollkom¬
men begründet, daß England für Indien schwerlich einen direcien Angriff
von Nordosten zu fürchten hat, weil Rußland aus den von Grant Duff an¬
geführten Gründen dazu nicht schreiten wird: seine Deduktion von der Un-
gefährlichkeit des russischen Vorgehens überhaupt wurzelt aber in einem Irr¬
thum über die Richtung der russischen Eroberungspläne. Diese aber geht
nicht gegen Südosten auf Indien, sondern gegen Südwesten gegen die asia¬
tische Türkei. Rußland, durch den Pariser Frieden an einem Angriff auf das
türkische Reich gehindert, fucht seine Pläne in doppelter Weise zu verfolgen, ein¬
mal, indem es die Völkerschaften, die unter ottomanischer Herrschaft stehen, zum
Aufstände anstachelt, andererseits indem es schwache Nachbarstaaten der Türkei,
wie Griechenland und Persien, zu fortwährenden Provocationen und Grenz¬
verletzungen aufreizt. Es hat deshalb bet den Verhandlungen des Pariser
Friedens weislich abgelehnt, eine Garantie für die Integrität der Türkei zu
übernehmen, indem es darauf hinwies, daß es sich nicht verbindlich machen
könne, das Gebiet der Pforte z. B. gegen Persien zu vertheidigen. Graf
Orloff wußte wohl, weshalb er sich weigerte, denn Persien ist für Rußland
das Mittel, an den indischen Ocean zu kommen, es ist schon jetzt ganz in
den Händen Rußlands, und hat letzteres einmal am Meere festen Fuß gefaßt,
gründet es dort eine Flotte, so ist ihm auch die Euphratmündung preis¬
gegeben, über welche die Karawanenstraße nach Indien geht.
Von diesem Gesichtspunkt stellt sich die Sache ganz anders. Kein russischer
Staatsmann denkt daran, mit einer Operationsbasis am Kaspischen Meere
und dazwischen liegenden weiten Steppen, die im Besitz feindlicher und krie¬
gerischer Stämme sind, einen Angriff auf die Grenzen Indiens zu unter¬
nehmen. Aber wenn der Kaukasus unterworfen, eine Eisenbahn vom Kaspi-
scheu Meer zum Aralsee gebaut ist, Oxus und Jaxartes russische Ströme gewor¬
den sind, Persien zu einer russischen Satrapie herabgesunken ist, und russische
Generale in Samarkand und Bochara herrschen, so wird die Sache sehr ernst,
denn zwischen Indien und dem russischen Einfluß liegt dann nur Afghanistan.
Durch diese gewaltige Machtstellung imponirt Rußland den Eingeborenen
Indiens so, daß dieselben die Möglichkeit ins Auge fassen, es könne einmal
an Englands Stelle treten. Ein wohlunterrichteter Officier aus dem indi¬
schen Dienste schreibt über diesen Punkt (?lis neutral ^flau Huestion trou
an Lastsrii Ltanäpoillt. I^onäon, Williams & MrMtö 1869): „Man darf
nicht glauben, daß Loyalität im europäischen Sinne bei I. M. Unterthanen
in Indien existire; sie mögen die englische Herrschaft einer anderen Fremd¬
herrschaft vorziehen, aber niemals eine europäische Regierung überhaupt einer
einheimischen. Ein sehr unterrichteter Jndier sagte mir, seine Landsleute
sähen sehr wohl ein, daß keine indische oder asiatische Macht im Stande sei,
die Oberherrschaft in Indien und auf diese Weise Frieden und gute Ord¬
nung zu erhalten. Sie seien demgemäß auch ganz zufrieden, in ihrer jetzigen
Lage, so lange sie gut behandelt würden, zu bleiben. Aber sie würden nicht
mehr zufrieden sein oder irgend welchen Glauben und Vertrauen an den Be¬
stand der britischen Herrschaft in Indien haben, wenn sie glauben müßten,
daß irgend eine andere europäische Macht stärker sei als England. Niemand,
der nicht lange in Indien gelebt und sich nicht mit den geheimen Gedanken
der Einheimischen vertraut gemacht habe, werde den Verlust an moralischem
Einfluß ermessen können, welchen der unglückliche Feldzug gegen Afghanistan im
Orient überhaupt für England gehabt. Damals zuerst seien die Jndier
stutzig geworden, von da datirten die Ideen, welche unter dem Einfluß lang¬
jähriger Mißregierung zum Aufstand von 18S7 geführt hätten." —
In dieser Richtung haben die russischen Eroberungen unzweifelhaft
ernste und drohende Bedeutung für Englands indische Interessen. Die Stel¬
lung Rußlands wird die Eingeborenen in steter Unruhe halten, indem sie
auf dasselbe als einen möglichen Eroberer und Regenten Hinblicken. Diese
Unruhe würde noch vermehrt werden, durch die wechselnden Chancen der
Kämpfe der Grenzstämme, so daß England in den Fall kommen könnte, ein
großes europäisches Heer in Indien zur Ueberwachung der einheimischen
Truppen zu halten. Gegenwärtig zählt die anglo-indische Armee 65,000 Euro¬
päer und 135,000 Eingeborene. Diese 200,000 Mann sind über ein Reich
von 300,000 deutschen Quadratmeilen verstreut, sollen einheimische Fürsten
überwachen, die selbst bedeutende Corps halten und eine Grenze von nahezu
1000 Meilen schützen, an deren Nordwesten regellose Stämme leben, welche
eine große Anzahl waffenfähiger Männer stellen können. Sollte England
sein europäisches Heer so vermehren, daß es die einheimischen Truppen im
Zaume halten könnte, so würden die Kosten unerschwinglich sein.
Der Gesichtspunkt Rußlands ist wenigstens für die nächste Zukunft also
nicht Eroberung Indiens, sondern der, auf England durch indirekten Ein¬
fluß einen solchen Druck auszuüben, daß es sich russischem Vordringen nicht
widersetzen kann, ohne es zum Bruch zu treiben. Dies Vorgehen in Central-
afien ist eben nur ein Zug in dem großen Spiel gegen die Türkei; wenn
England in Indien und durch Amerika in Canada mattgesctzt ist, so hat
Constantinopel nur den papiernen Schutz des Pariser Friedensvertrags.
Die Frage ist, was soll England in dieser Conjunctur thun? Es heißt,
es müsse seine Stellung in Indien stärken, aber wie? —
Als das mindeste Erforderniß für die Sicherung der indischen Grenze
wird allgemein die Unabhängigkeit Afghanistans bezeichnet. Aber wie soll
dieselbe gesichert werden? Man hat dies auf diplomatischem Wege zu thun
versucht, indem man in Petersburg hat erklären lassen, man sehe auf die Be¬
festigung und Erweiterung der russischen Herrschaft in Kleinasten ohne Eifer¬
sucht, lege aber den höchsten Werth darauf, daß Afghanistans Unabhängigkeit
gewahrt bleibe. Rußland hat sich beeilt, zu versichern, daß es nicht daran
denke, diese Unabhängigkeit anzutasten, vielmehr Afghanistan als neutrales
Gebiet betrachte, und diese Antwort ist nach Gladstone's Erklärung mit leb¬
hafter Befriedigung entgegengenommen worden. Man kann indeß kaum glauben,
daß das englische Cabinet auf derartige Versicherungen ernstlichen Werth
lege, wenigstens würde die Geschichte der successiven Einverleibung Polens
ein bedeutsames vsstigm terrens dagegen geltend machen, um so mehr, als
die Grenzen Afghanistans sehr wenig bestimmt sind, also keine Demar¬
kationslinie herzustellen ist.
Sodann hat der neue Vicekönig, Lord Mayo, mit dem Emir von Afgha¬
nistan, Shir Ali, einen Subfidienvertrag abgeschlossen, durch welchen dem¬
selben jährlich 120,000 L. zugesichert werden. Eine solche Summe ist aller¬
dings von großer Bedeutung für den Häuptling eines armen und von
Parteiungen zerrissenen Landes, ob aber damit die Fehler der vergangenen
Politik Englands gut zu machen sind, ist zweifelhaft; daß diese Fehler aber
auch nach der unglücklichen Expedition von 1839 zahlreich sind, ist nicht
zweifelhaft. Man machte einen Vertrag mit Dose Mohammed, durch den
man ihn und seine Erben als Herren des Landes anerkannte. Als aber ein
Bürgerkrieg ausbrach und der Emir in Schwierigkeiten kam, lehnte man
ab, ihm zu helfen. Diese Politik der Nichtintervcntion ward indeß nicht ein¬
mal eingehalten, sondern als der Gegner der Familie. Afzul Khan, die Ober-
Hand zu erhalten schien, und dann Cabul und Candahar in seine Hand fielen
und dieser Nebenbuhler Anerkennung vom Vicekönig forderte, antwortete
derselbe, er sei bereit, ihn als Herrscher von Cabul und Candahar anzuerken¬
nen, während er Shir Ali, den Sohn Mohammeds, als Herrscher von Berat
anerkenne, ein Reich, das damals nicht existirte. Später ward Afzul Khan
getödtet, und nachdem Shir Ali nacheinander alle Nebenbuhler beseitigt hatte,
da erkannte die vicekönigliche Regierung denselben nicht nur formell als
allein berechtigt an, sondern gewährte ihm auch eine feste Subsidie. Wie
gesagt, das Geld wird demselben sehr willkommen sein, aber wahrscheinlich
wäre die Hälfte für ihn wichtiger gewesen, als er noch mit seinen Gegnern
im Kampfe war, denn sie hätte ihm Jahre des Kampfes erspart
und vor Allem hätte man dadurch an Ansehen in Indien gewonnen, wäh¬
rend dort die jetzige Gewährung des Geldes an den Siegreichen angesehen
werden wird, als ob sie aus Furcht gewährt sei. Zunächst bleibt abzuwarten,
ob es schir Ali gelingt, seine Herrschaft zu befestigen, und ob die Begeisterung
andauern wird, mit der er nach seiner Rückkehr von der Begegnung mit Lord
Mayo aufgenommen worden ist. schir Ali beabsichtigt jetzt, die Lehnsfolge der
von ihm abhängigen Häuptlinge in einee stehende, direct von ihm abhängige
und bezahlte Armee zu verwandeln und sucht die Truppen europäisch zu
uniformiren. Ob das gelingt, steht dahin, aber es bleibt uns zweifelhaft,
ob die englische Politik den Grad von Energie entwickelt, der allein geeignet
ist, den Asiaten zu imponiren und Rußlands Vordringen nachhaltig zu
hindern.
Die Hessen scheinen ohne irgend einen Verfassungsstreit nicht lange leben
zu können. Nachdem der Kampf um die Constitution von 1831 fast ein
Menschenalter gedauert hatte und sich gewiß in diesem Augenblicke noch in
irgend einer Form fortspinnen würde, wenn nicht das Jahr 1866 diesem
in letzter Instanz nur unfruchtbaren und die besten Kräfte des Landes auf¬
reibenden Hader mit einem Strich ein Ende gemacht hätte, stehen wir jetzt
schon wieder im lebhaftesten Streite um unsere Kirchenverfassung. Ganz
neuerdings entstanden ist derselbe freilich nicht. Die Vorkämpfe zu dem¬
selben sind so alt als unsere Landesverfassung war; die wichtigsten Entwicke¬
lungsphasen desselben fallen mit denen unseres Verfassungskampfes (1831 und
1848) zusammen; die Parteien, die in demselben agiren und einander gegen-
überstehen, sind im Verfassungsstreite dieselben wie in diesen kirchlichen Hält-
dein. Nur die Position der Parteien zur Regierung hat sich durch die Er¬
eignisse von 1866 gänzlich versnoben: war früher die liberale Partei in
Hessen stets in Opposition mit der Regierung, welche mit den reactionärsten
Kirchenmännern des evangelischen Deutschland verbündet war. so kämpft
jetzt die gesammte liberale Bevölkerung Hessens an der Seite der preußischen
Regierung gegen die politischen und kirchlichen Particularisten und „Nacht¬
hessen". Kann schon darum der Ausgang des Streites nicht zweifelhaft sein,
wenn die Regierung wirklich ernstlich den Willen hat, ihre Entwürfe zur
Ausführung zu bringen, so ist doch die Möglichkeit dieses Kampfes allein
schon ein deutlicher Fingerzeig für die liberalen Parteien aller deutschen
Kleinstaaten, der ihnen zeigt, wie sie, schwach an sich auf kirchlichem Gebiete,
selbst von einem Ministerium Muster in Preußen in ihren Tendenzen doch
kräftiger unterstützt und ihren Zielen näher geführt werden, als es bis auf
einzelne rühmliche Ausnahmen unter den Particularregierungen der Fall war.
Die innere Tendenz der preußischen Politik und die ganze Structur des
Staates treibt dazu, selbst gegen den Willen einzelner Männer, die wohl gern
anders möchten, aber nicht anders können.
Das ehemalige Kurfürstenthum Hessen zählte Angehörige aller evangelischen
Denominationen zu seinen Unterthanen. Die Hauptmasse ist reformirt. Die
hessischen Landgrafen, die im 16. Jahrhundert die Einheit des Protestantismus
aufrecht zu erhalten sich bemüht hatten, waren den lutherischen Zeloten unter¬
legen und allmälig auf die reformirte Seite hinübergedrängt worden, bis die
Einführung der sogenannten Verbesserungspunkte des Landgrafen Moriz im
Anfang des 17. Jahrhunderts den völligen Uebertritt Hessens zur reformir-
ten Kirche auch äußerlich constatirte. Neben dieser reformirten niederhessi¬
schen Kirche umfaßte der Kurstaat aber auch noch lutherische Kirchengemein»
schaften in Oberhessen (Marburg), Schmalkalden. Schaumburg und Fulda.
Dieselben haben aber kein gleiches Bekenntniß, da für Oberhessen z. B. die
hessische Kirchenordnung von 1S73 maßgebend ist und die Concndienformel
nicht gilt, während die Grajschaft Schaumburg eine ganz andere kirchliche
Entwickelung hinter sich hat. In der Provinz Hanau besteht seit dem Ne-
formationsjubiläum dieses Jahrhunderts die Union zu Recht.
Diese verschiedenen kirchlichen Denominationen wurden nun von Con-
sistorien regiert, die, aus lutherischen und reformirten, geistlichen und welt¬
lichen Mitgliedern zusammengesetzt, den Landesbischof im äußeren Kirchen¬
regiment vertraten. Die Consistorien waren natürlich von dem Ministerium
abhängig und im Großen und Ganzen ohne alles Ansehen bei Geistlichen
und Laien. Man nannte sie die „Briefträger" der Negierung und aus meh¬
reren Gründen heißen bei uns die Truthähne: Consistorialvögel. Der Re.
serere für Kirchen- und Schulangelegenheiten im Ministerium des Innern
hatte allein mehr zu sagen und war für die Leitung der kirchlichen Ange¬
legenheiten des ganzen Landes von größerer Bedeutung als alle Consistorien
zusammengenommen. Daß unter solchen Verhältnissen von einer Freiheit
und Selbständigkeit der Kirche nicht die Rede sein konnte, ist mehr als
deutlich.
Wer ein Herz für die Kirche des Landes hatte, mußte darum wün-
schen, daß diesem Mißverhältniß von Kirche und Staat Wandel geschafft
werde. Aber auch Jeder, der die Trennung der Kirche vom Staat aus
rein politischen Gründen erstrebte, mußte diesen Wünschen freudig entgegen-
kommen und sich an Bestrebungen betheiligen, die freilich von anderen Mo¬
tiven als die seinigen waren, ausgehend auf dasselbe Ziel lossteuerten. So
waren denn auch im Anfang der dreißiger Jahre bei uns die jüngere, nicht
altrationalistische Geistlichkeit, die Höpfeld, Vilmar:c. an der Spitze, mit den
Vätern unserer Landesverfassung ganz einig in dem Streben nach Trennung
der Kirche vom Staat. Die Einführung einer Presbytenal- und Synodal-
verfafsung galt den kirchlichen Männern jener Tage als die heilsamste Panacee
gegen allen Unglauben und Jndifferentismus. Wie haben sie seitdem ihre
Ansichten gewechselt! Kaum war Herr v. Hassenpflug ans Regiment gekommen,
als Vilmar nicht nur, sondern nach und nach die ganze Partei sich nicht
nur von dem eben noch so laut gepriesenen Mittel gegen alle kirchlichen Schä¬
den lossagte, und sie dasselbe nun ebenso maßlos verdammten, als sie es bisher
gelobt hatten, sondern den confessionellen Charakter der niederhessischen Kirche
als des Uebels Quelle anzugreifen begannen. Von dem Landtagsavschiede
von 1833, der die Einführung einer Synodal- und Presbyterialordnung ver¬
heißen hatte, war nicht mehr die Rede. Das Kirchenregiment blieb, wie es
war, in den Händen der Consistorien und des Ministeriums. Nachdem
Hassenpflug aus Hessen entfernt war, hatte dasselbe wieder eine mehr ratio¬
nalistische Färbung, bis kurz vor 1848, wo das Ministerium bekanntlich
völlig verfassungswidrig selbst den Leichen von Deutschkatholiken keine Ruhe
gönnte. Da kam das Jahr 1848 und wieder traten die beiden Parteien,
die für die Trennung der Kirche vom Staat gewesen waren, hervor. Doch
der Wechsel der Gesinnung war bei den zu orthodoxen Lutheranern gewor¬
denen kirchlich Gesinnten jetzt so stark, daß sie nichts mehr von Einführung
einer kirchlichen Gemeindevertretung wissen mochten. Die Herren waren jetzt An¬
hänger des Episkopalsystems geworden; die Kirche war ihnen zu einer Anstalt
zusammengeschrumpft, deren Herren die Pastoren, die Nachfolger der Apostel, sein
sollten; die Gemeinde war nur noch eine Heerde, die das Recht hatte, geführt,
geweidet und geschoren zu werden. Dieser sich im Laufe des Jahres 1848
constituirenden Partei gegenüber trat nun die Regierung, von den liberalen
politischen Parteien gedrängt, mit dem Plan zur Einführung einer Kirchen-
Verfassung hervor; es wurde eine Commission eingesetzt, die den Entwurf
zur Berufung einer constitutirenden Synode in Vorlagen für dieselbe aus¬
arbeitete. Aber man hatte zu lange gezögert. Von neuem fiel das Hassen-
pflug'sche Regiment mit seinem Alles niederdrückenden Bleigewicht auf das Land
und Vilmar wurde Referent im Ministerium für Kirchen- und Schulsachen.
Nicht lange darauf machte Vilmar sich zum Stellvertreter des alten General¬
superintendenten der größten Diöcese Niederhessens, um bei den Einführungen
der Pfarrer und bet Kirchenvisitationen die einzelnen Geistlichen persönlich zu
bearbeiten und für seine Anschauungen zu gewinnen und zu zwingen. Die Rich¬
tung, in der dieses geschah, ist bekannt genug. Ebenso wenig ist aber auch
vergessen, daß Vilmar nach dem Tode jenes alten Generalsuperintendenten
von der großen Majorität der Geistlichen zu dessen Nachfolger gewählt, von
dem Kurfürsten die Bestätigung dieser Wahl nicht erwirken konnte und darum
nebst seinem Freunde Hassenpflug den Abschied nahm. Vilmar wurde Professor
in Marburg; Hassenpflug lebte und starb ebendaselbst als pensionirter Minister.
Aber mit dem Austritt Vilmar's aus dem Ministerium war dessen Geist in
demselben noch nicht erstorben. Mußten freilich seine Nachfolger sich hüten,
der Eifersucht unseres Kurfürsten auf seine kirchlichen Rechte neue Nahrung
zu geben, so befragte doch der langjährige Referent für Kirchen- und Schul¬
sachen im Ministerium des Inneren, der Regierungsrath Franz Lotz, seinen
Herrn und Meister hinter dem Rücken des Kurfürsten bei allen wichtigen
Fragen um seine Meinung, Vilmaraner wurden nach wie vor in die wichtigsten
Kirchenämter geschoben, gegen die lutheranisirenden Versuche der Pastoren
kaum irgend welche Schritte gethan. Politisch waren ja diese Herrn auch
unentbehrlich. Bildeten sie doch die einzig zuverlässige Regierungsparlei
im Lande, und mahnten sie den Kurfürsten doch stets in ihrem Blättchen
an die ihm von Preußen durch den berühmten Feldjäger angethane Schmach
und die aufgezwungene Wiederherstellung der Verfassung, von der so wenig
als möglich in Wirksamkeit zu setzen sei.
So lagen die Dinge, als wir zu Preußen wurden. Man konnte
gespannt sein, welche Stellung Vilmar und seine Partei zur neuen Wendung
einnehmen würden. „Wird das Bedürfniß zu herrschen, den Mann wenig¬
stens allmälig auf die Seite der neuen Regierung treiben? Wird der Haß gkgen
die liberale Partei den Rachsüchtigen bestimmen, an dem Tage, an welchem
ein Conflict der national-liberalen Partei in Hessen mit den feudalen Kreuz-
zeitungs-Ministerium ausbucht, sich auf die Seite seiner alten Gesinnungs¬
genossen zu stellen, oder wird er halsstarrig seiner Politik, die den Untergang
des Kurstaates mit herbeigeführt hat, treubleiben und in seinem fanatischen
Hasse gegen Preußen verharren?" Das waren die Fragen, die man sich 1866
in Hessen allgemein vorlegte und je nach der persönlichen Achtung, die man
Mlmar zollte, beantwortete. Wer ihn genauer kannte und außerdem überlegte,
daß seine Partei, so folgsam sie auch sonst war, doch eine solche Schwenkung
vom extremsten Hasse gegen Preußen bis zur Unterstützung der Regierung
dieses Staates schwerlich nachmachen werde, sagte sich freilich vom Anfang
an. jeder Versuch der neuen Negierung, diesen Feind zu versöhnen, werde
vergeblich sein. Das hat sich denn auch vollständig bewahrheitet. Wir
wissen freilich nicht, ob die Angaben der Anhänger des jetzt seit einem Jahr
verstorbenen Mannes richtig sind, nach denen die preußische Regierung durch
namhaft gemachte Unterhändler denselben für sich zu gewinnen versucht haben
soll. Factisch ist, daß Herr von Muster jeden Anstoß mit ihm und seiner
Partei zu vermeiden suchte; daß, als unser Oberpräsident mit einem Bruder Vil-
mars in Conflict gekommen war, eine Zeitlang die Entscheidung schwankte, wer
von beiden weichen werde, Herr von Möller oder der Metropolitan Vilmar; daß
Herr von Muster alle einflußreichen Aemter in Kirche und Schule Hessens
mit Männern aus Preußen besetzte, die in politischer wie in kirchlicher Be¬
ziehung sämmtlich der Kreuzzeitungspartei angehören und Herrn Vilmar ganz
genehm sein konnten und sich ihm auch persönlich genehm zu machen suchten.
Man muß diesen Punkt fest im Auge behalten, um die gegenwärtige Ent¬
wickelung der Dinge verstehen zu können.
Nachdem die Annexion Hessens ausgesprochen war, konnte überall kein
Zweifel darüber bestehen, daß auch die kirchlichen Verhältnisse hier zu Lande
nicht würden unberührt bleiben können. Machte es doch schon Paragraph
16 der Verfassung unmöglich, daß der König durch das Cultusministerium
auf die Dauer die Kirchengewalt werde ausüben lassen können und drängte
doch andererseits der Oberkirchenrath auf eine Erledigung der Verfassungsfrage
in seinem Sinne. Denn blieb ein Theil der evangelischen Kirche des preußi¬
schen Staates von der Leitung des unirten Oberkirchenrathes eximirt, so
konnte bei der unter Friedrich Wilhelm IV. in Preußen großgezogenen con-
fessionalistischen Strömung nicht ausbleiben, daß man in Preußen selbst
den Versuch macht, die Einheit des Kirchenregiments für die alten Pro¬
vinzen zu sprengen. Das ist ja denn auch versucht worden. Aber König
Wilhelm will das Werk seines Vaters nicht nur nicht verkümmern lassen,
sondern, wo dieses ohne Zwang der Gewissen geschehen kann, fördern und
in weitere Kreise tragen. Als der Oberkirchenrath in Berlin sich mit einer
Eingabe an den König wendete und denselben um Unterstellung der evan¬
gelischen Kirchengemeinschaften der neu erworbenen Provinzen unter seine
Oberleitung bat, war der König deshalb ganz einverstanden, aber das
Gesammtstaatsministerium widersprach und bot seiner Majestät die Ent¬
lassung an, wenn dem Gesuche des Oberkirchenraths entsprochen werde. Es
blieb daher bei der Leitung der Kirchenangelegenheiten der neuen Provinzen
durch das Cultusministerium. Aber dieses konnte doch nicht Alles so lassen,
wie es bisher bestanden hatte.
Nachdem man in Hessen z. B. die Provinzialregierungen beseitigt und
den ganzen ehemaligen Kurstaat in einen Regierungsbezirk zusammengezogen
hatte, war es nicht möglich, drei Consistorien dort bestehen zu lassen. Man
trat deshalb vor die Kammer mit einer Geldforderung zur Bildung eines
Consistoriums für den Regierungsbezirk Kassel in Marburg. Die Kammer
schlug die verlangte Geldsumme auf Betrieb der hessischen Abgeordneten ab;
sie machte geltend, Marburg sei nicht der geeignete Ort, um dorthin das Gesammt-
consistorium zu verlegen, dasselbe gehöre nach Kassel; aber auch hiervon abge¬
sehen, würde kein Geld für Herstellung eines Gesammtconsistoriums in
Kassel verwilligt werden, wenn nicht das Ministerium erst die schon wieder¬
holt von der früheren Regierung verheißene Synode zur Einführung einer
neuen Kirchenverfassung berufen habe; aus der Synode werde sich ein ein¬
heitliches provinzielles Kirchenregiment entwickeln, nicht umgekehrt. Aus
Hessen seien Petitionen zur Herstellung einer Presbyterial- und Synodal¬
verfassung schon längst eingelaufen, sagte man weiter, die Petenten seien
aber nicht einmal von dem Ministerium einer Antwort gewürdigt worden;
statt dessen besetze man alle einflußreichen Stellen mit ultrakirchlichen Leuten
und wenn die Communen zu Directorialstellen der von ihnen gegründeten
Schulen tüchtige Männer vorschlugen, so würde denselben keine Bestätigung
zu Theil, wenn sie nicht zugleich in dem Rufe der Rechtgläubigkeit stünden.
Die weiteren Verhandlungen über diesen Punkt sind ja wohl noch im Ge¬
dächtnisse Aller. Soviel sei nur noch bemerkt, daß, wenn der Cultusminister
im ersten Jahr der preußischen Herrschaft nur einen ganz kleinen Theil
des unnöthigen Reformeifers seiner College» im Justizministerium ge¬
habt hätte, er und ganz Hessen jetzt viel besser daran wären. Denn wäre
das Gesammtconsistorium in dem Jahre, in dem der König unbeschränkt
über die neuen Provinzen verfügen konnte, ins Leben gerufen worden,
so würde es unangefochten bestehen und die Bewegung der Gegner
jeder kirchlichen Neuerung in Hessen nicht eine solche Höhe haben
erreichen können, wie dieses jetzt der Fall ist. Freilich würden wir
dann allerdings wohl auch noch auf eine Vorsynode lange zu warten
haben. Aber wie jetzt die Dinge sich entwickelt haben, ist die Regierung in
großen Nachtheil gerathen. Sie besitzt kein einheitliches Organ für das
Kirchenregiment in Hessen; ihre Gegner haben sich seit mehreren Jahren
organisirt, einander in ihren Entschließungen bestärkt, sich vollkommen auf
Alles vorbereitet. Was aber noch schlimmer ist, es fehlt im Larve der Glaube
an den Ernst der Maßregeln des Cultusministeriums bei Freund und Feind
in sehr bedenklichem Maße. Die Regierung ist, so sagen die rennenden Geist-
lichen, im Grunde mit uns; die ganze Synodalberufung ist ihr nur von
der Kammer aufgezwungen worden, weigern wir uns, auf sie einzugehen,
so wird aus der ganzen Geschichte nichts. Auch die Pastoren, welche für Pres-
byterial- und Synodalverfassung sind, raisonniren theilweise nicht viel anders.
„Sehen Sie", sagte mir neulich ein alter Pastor, „wir sind ganz von den
Consistorien abhängig; ist das Gesammtconsistorium errichtet, so wird das
vorläufig nicht besser. Nun werden gewiß die rennenden Superintendenten
u. s. w. doch schließlich ein Mal Mitglieder dieser Behörde, deren Vorstand
allein ein Altpreuße ist, welcher vielleicht über kurz oder lang versetzt wer¬
den wird. Glauben Sie denn, jene geistlichen Würdenträger würden es mir
je persönlich verzeihen, wenn ich mich besonders lebhaft gegen sie erklärt hätte
und mit der Regierung gegangen wäre?" Die Regierung mag an diesen
überzeugungstreuen Seelenhirten nicht viel verloren haben. Aber man soll
arme Leute, die bei 400—600 Thaler Gehalt ihre Söhne gern studiren
lassen möchten, doch auch nicht zu hart beurtheilen. Soviel steht fest, daß
durch dieses jahrelange Hin- und Herlaviren der Regierung der Glaube an
den Ernst des Cultuswinisteriums bei Vielen verloren gegangen ist. Wer
kennt auch hier zu Lande die ewigen Reibereien zwischen dem Cultusministe¬
rium und dem Oberkirchenrathe, und wenn man sie genauer kennte, so würde
daraus doch noch nicht folgern, daß das Cultusministerium jetzt entschlossen sei,
energisch durchzugreifen, nachdem einmal die Sachen so weit gediehen sind. —
Und weit genug sind sie gediehen! Durch einen königlichen Erlaß ist die
Berufung einer außerordentlichen Synode für den Regierungsbezirk Kassel
angeordnet worden. Die Geistlichkeit soll in dieser Vorsynode, der die Re¬
gierung ihre Vorlagen über Einführung einer Preebyterial- und Synodal¬
verfassung ze. machen will, eben so stark als die Laienschaft vertreten sein, nämlich
durch je 44 Deputirte. Außerdem nehmen an derselben die sechs Super¬
intendenten^ des Landes Theil und weitere sechs Mitglieder, darunter zwei
Professoren der Theologie, werden von der Regierung ernannt. Man sieht,
die Geistlichkeit hat bei dieser Composition der Synode die Majorität un¬
bedingt auf ihrer Seite, und man sollte glauben, sie werde der Regierung,
die solches auf Grund der Vorlagen der Kirchencommissionen von 1831
und 48 und mit Berücksichtigung der Zusammensetzung der seit mehr als
zwei Jahrhunderten nicht zusammengetretenen althessischem Generalsynoden
angeordnet hatte, dafür dankbar sein und ihr willig entgegen kommen. Aber
das Gegentheil ist geschehen. Unsere Geistlichen, die gewohnt waren, sich
orthodoxer zu geberden als die Kirchenordnung und die dann sicher sein konn¬
ten, als große Kirchenlichter befördert zu werden, wissen recht gut, daß, je
ungeberdiger sie sich anstellen und je einsichtsloser sie dem Bewußtsein des
gebildeten Theiles der Laienwelt ins Gesicht schlagen, sie nicht nur ungestraft
davon kommen, sondern sogar als die wahrhaft und allein Treuen in diesen
Zeiten des Abfalls vom Glauben von Vielen angesehen werden, denen die
Oberleitung der Kirche einmal anvertraut ist. Und wenn nun gar noch dazu
etwas billiger Märtyrerschein die Köpfe der Herren, wenn auch nur vorüber¬
gehend, umstrahlte, würde das nicht der Eitelkeit derselben schmeicheln?
Manche von den Pastoren sind auch fanatisch genug, die hessischen Kirchen¬
ordnungen völlig der heiligen Schrift gleichzustellen und zu sagen, „das ewige
Leben sei in ihnen ausgegossen." Andere wieder sind über den Verlust ihrer ton¬
angebenden Stellung in der hessischen Kirche mißmuthig und benutzen die
Gelegenheit, der Regierung Eins anzuhängen u. s. w. Kurz, es hat sich eine
Coalition von hohen und niederen Geistlichen verschiedener kirchlicher Par¬
teien in Hessen gebildet, die aus ganz heterogenen Gründen, sittlich verwerf¬
lichen und subjectiv verzeihlichen, der Regierungsvorlage Opposition macht
und ihre Betheiligung an der Vorsynode verweigert. Vier Superintendenten
und zwei geistliche Inspektoren sind mit gutem Beispiel ihren Geist¬
lichen vorangegangen und eine Anzahl der fanatisirtesten Anhänger der Vil-
marschen Partei hat am Tage nach der Publication des königlichen Er¬
lasses eine Adresse an den König unterzeichnet, in der sie erklären, unter kei¬
nen Umständen eine andere Kirchenordnung als zu Recht bestehend erkennen
zu wollen, und an Handlungen sich betheiligen zu können, „welche unserer zu
Recht bestehenden Kirchenordnung widerstreben." Wenn dir Kirchenordnung
von 1657, auf die sich diese Herren berufen, ein für allemal unverbesserlich
und für ewige Zeiten feststehend ist, wie soll man dann noch als Protestant
gegen den katholischen Kirchen- und Traditionsbegriff ankämpfen und das
protestantische Schriftprincip aufrecht erhalten? Wie die Proteste einer An¬
zahl von lutherischen oberhessischen Geistlichen lauten, ist noch nicht bekannt,
ebensowenig wie einzelne Classen ihre Zustimmung zu dem Proteste der
Superintendenten formulirt haben. Ein Pfäfflein hat auch schon im Einzel¬
gefechte im Namen seiner von ihm selbst erkorenen Kirchenältesten seinen
Bannstrahl gegen den Regierungserlaß abgefeuert!
Gegen dieses Treiben der Majorität der Geistlichkeit hat sich nun eine
Versammlung von Laien und Geistlichen aufs bestimmteste erklärt und wir
hoffen, daß diese Erklärung im ganzen Lande Zustimmung und Beifall finden
wird. Auf die Einladung des Herrn Pfarrer Ebert von hier hatte sich näm¬
lich am 24. d. M. eine große Anzahl von Freunden der Presbyterial- und
Synodalverfassung aus allen Theilen Hessens in einem Gasthofe zu Wachters¬
hausen bei Kassel eingefunden und zunächst ihre principielle Zustimmung zur
Einführung einer solchen Verfassung, weil in der heiligen Schrift begründet
und durch die Reformation wieder ans Licht gestellt, gegeben, dann aber auch
erklärt, daß durch die Art, wie unsere Regierung bisher zur Einführung einer
solchen Verfassung bei uns vorgegangen sei, die historische Nechtscontinuität
thunlichst gewahrt und kein Schritt zu einer zwangsweisen Einführung der
Union geschehen, vielmehr nur alte Verheißungen früherer Regierungen er¬
füllt seien. —
So liegt in diesem Augenblicke der Streit um unsere Kirchenverfassung.
An der Regierung ist es nun. auf die Proteste zu antworten. Wird sie
die Männer, welche an der Vorsynode nicht theilnehmen wollen, bei Seite
liegen lassen und sie erst dann anhalten, zu gehorchen, wenn sie sich auch den
Beschlüssen dieser Synode widersetzen, oder wird sie schon jetzt kurzen Proceß
mit ihnen machen und vorläufig mit Ordnungsstrafen gegen sie vorgehen?
Das ist jetzt die allgemeine Frage und man ist im ganzen Lande auf ihre
Beantwortung gespannt. Daß die gesammte Localpresse des Landes, die
hessische Morgenzeitung Friedrich Oetkers an der Spitze, in dieser Frage auf
Seiten der Regierung steht, brauche ich Ihnen nicht zu sagen. Nur die
„Volkszeitung" vertheidigt im Bunde mit dem ehemals deutsch-katholischen
„Frankfurter Journal" und der republikanischen „Frankfurter Zeitung" die
hessischen Vilmarianer und Superintendenten. Wollen diese doch das Land
vor der völligen Verpreußung und dem Mühlerschen Muckerthum beschützen!
Wahrheit und Lüge sind nie besser gemischt worden, wie Sie sehen!
Eine vorwiegend katholische Stadt wie München sieht im Laufe eines
Jahres viele öffentliche Feste, von denen man anderswo nichts merkt und
weiß. Aber die letztvergangene Woche war doch durch drei besondere Tage
ausgezeichnet, die selbst in München eine ungewöhnliche Bewegung hervor¬
zurufen im Stande waren. Am 25. August wurde mit dem herkömmlichen
officiösen Pomp des Königs Geburth- und Namenstag gefeiert, am 28. Aug.
die Goethe-Statue (die, nebenbei gesagt, keinem Menschen gefallen will) ent-
hüllt, am 29. Aug sollte Wagner's Rheingold aufgeführt werden. An die
gelegentlich der Namensfeier stattfindenden Paraden ist die Residenz aller¬
dings längst gewöhnt, die Enthüllung des Standbildes dürste nur sehr wenige
Münchner berührt haben, desto größere Theilnahme fand aber die in Aus¬
sicht stehende Opernaufführung, von der man schon seit Monaten gesprochen,
der zu Liebe man die größten baulichen Veränderungen im Theater vorgenom¬
men und — wie man sich laut und leise sagt — zu deren Ausstattung man
„furchtbare" Summen verausgabt hatte. Das ganze Contingent der Anhänger
des Componisten, dazu Neugierige und Schriftsteller waren in Schaaren von
weit und breit herzugeströmt. Wer von allen diesen erst am Samstag in
München eintraf, sah sich jedoch leider getäuscht, denn die annoneirte Auf¬
führung fand nicht statt.
Wie früher schon, als Hunderte von Fremden vergebens zur ersten
Tristanausführung herbeigekommen waren, mußten auch jetzt wieder die
meisten abreisen, ohne ihren Zweck erreicht zu haben. Man sagt, die Dar¬
stellung sei in erster Linie am Widerspruche des jungen Capellmeisters
Richter gescheitert, der das Ganze noch nicht für reif genug zur Ausführung
hielt; anderntheils sollen aber auch besonders die Wagnerenthusiasten sich be¬
züglich der Wirkungsfähigkeit des neuen Werkes, das in der Hauptprobe
das Publicum vollständig kalt ließ, bitter getäuscht gesehen und deshalb gegen
die Vorstellung protestirt haben. Wie dem auch sei, wir können nur von
der Hauptprobe sprechen, die am Freitag Abend mit Aufwand alles sceni-
nischen Pompes stattfand und recht gut für eine Aufführung gelten kann.
Die Intendanz hatte in öffentlichen Blättern und unmittelbar vor der Probe
nochmals durch den Regisseur die Versammlung um Nachsicht bitten lassen,
falls die äußerst complicirte Maschinerie ihre Schuldigkeit nicht vollständig
thun sollte. Eben deswegen sollte der Eintritt zur Hauptprobe auch nur
Musikern von Fach oder Berichterstattern auswärtiger Blätter genehmigt
werden, um die wünschenswerthe Einsicht und Rücksicht bei den Zuhörern
voraussetzen zu können. Am Abend fanden sich jedoch sämmtliche Sperrsitze
und das ganze Parterre dicht angefüllt und waren mindestens 5—600 Per¬
sonen anwesend. Wie das kam, vermochte Niemand zu erklären. Eine
solche Masse bewahrt ein Geheimniß schlecht und wir befinden uns gewiß
nicht allein in dem Falle, von dieser merkwürdigen Probe einen Bericht zu
geben, ja wir sind dies um so mehr schuldig, als möglicherweise die Auf¬
führung lange hinausgeschoben wird und wir selbst, wenn sie stattfindet, nicht
geneigt sind, nochmals die Qual dieser Musik über uns ergehen zu lassen.
Zudem liegt das Werk im Klavierauszug und Textbuch längst gedruckt vor
und die Kritik ist also berechtigt an dasselbe heranzutreten.
Voraus sei bemerkt, daß für die decorative Ausstattung der neuen Oper
in München das Möglichste geschehen war. Keine andere Oper dürfte je
ähnliche Ansprüche an den Maschinisten erhoben haben. Seit Monaten wurde
mit dem riesigsten Fleiße an der Herstellung der Maschinerien gearbeitet. Die
Probe ging auch ohne erhebliche Störungen vor sich und es ist anzunehmen,
daß bei der außerordentlichen Complicirtheit des Materials keine der Auf¬
führungen je besser gehen wird, als die Probe.
Das Gesangspersonal, voraus Herr Beetz aus Berlin (Wotan) leistete
Treffliches und nur in der Partie Donners und Froh's blieb bezüglich der
Reinheit der Intonation und der Sicherheit der Einsätze noch etwas zu wün¬
schen übrig.
Wagner schrieb bekanntlich um d. I. 1853 eine größere Operndichtung,
derNingdes Nibelungen (ein Bühnenfestspiel), dessen Darstellung auf
vier aufeinanderfolgende Abende berechnet ist. Die einzelnen Partien des
Werkes heißen: Das Rheingold (Vorspiel), die Walküre, der junge
Siegfried, Götterdämmerung (Siegfrieds Tod). Die Idee des Dichter-
componisten ist unbestreitbar eine großartige, aber wo fände sich ein Dichter, wo
ein Tonsetzer für ein solches Riesenwerk, die im Stande wären, durch vier
Abende hindurch ein Publicum zu fesseln, einem Werke solche Kraft der Steige¬
rung zu geben, daß die Hörer immer mehr von Dichtung und Composition an¬
gezogen würden? Wo fände sich eine'Bühne, die den nöthigen, alles gewöhn¬
liche Maß überschreitenden äußern Apparat, wie ihn Wagner ausdrücklich bean¬
sprucht, aufzubringen vermöchte? Wo Sänger, Choristen und Orchestermitglieder,
die sich nach vorausgegangenen unzähligen erschöpfenden Proben noch der An¬
strengung einer solchen Aufführung unterziehen könnten? Wo endlich ein
Publicum, das Wagnerscher Musik gegenüber vier Abende aushielte? Die
Idee eines solchen Werkes ist großartig, ihre Ausführung aber unmöglich.
Wagner scheint zudem die Gefahr nicht bedacht zu haben, welche in der
dramatischen Wiedergabe eines Epos liegt. Um eine epische Dichtung bühnen¬
gerecht zu machen, ist eine ganz ungewöhnliche poetische Begabung nöthig,
die Wagner entschieden nicht hat. Warum vermochte man nie mit Erfolg
den Sagenkreis der Nibelungen, den Parzival, Tristan und Isolde und ähn-
liche epische Stoffe auf die Bühne zu bringen? Weil sie zu mächtig und zu
breit für ein rasch vorübergleitendes Bühnenspiel sind, weil die gewaltige
Handlung nur skizzenhaft dargestellt, die Charaktere nur in flüchtigen Um¬
rissen gezeichnet werden können. Man hat zahlreiche Romane oder Schau¬
spiele mit Glück in Operntexte umgewandelt, aber nie ein Epos, Wir er¬
innern an die häufigen Versuche, die man mit dem Oberon machte, wir er¬
innern serner an Tannhäuser, Lohengrin, Tristan und Isolde. Einen neuen
Beleg für diese unsere Ansicht liefert der vorliegende Text des Nheingoldes.
Es ist ein Bühnenspiel ohne dramatische Handlung; es fesselt nicht, es
vermag keinerlei Interesse zu erregen, auf dem Grunde prachtvoller Dekora¬
tionen bewegen sich Automaten, die uns völlig kalt lassen. Es ist uns dabei
völlig gleichgiltig, ob Wagner mit Geschick den Stabreim nachahmt, ob die
auftretenden Personen entsprechend costümirt, die Dekorationen und Ma¬
schinen richtig construirt sind; der Inhalt des Gedichtes, die Entwickelung
der Handlung sind nicht fesselnd genug.
Auf einem vom Rheine umflutheten Felsenriff ruht das von den Rhein-
töchtern gehütete Rheingold, aus dem ein Ring geschmiedet werden kann,
der maßlose Macht verleiht und seinem Besitzer das Erbe der Welt zu ver¬
schaffen im Stande ist. Aber nur der kann den Hort gewinnen, dessen Herz dem
Zauber der Minne verschlossen ist. Bisher war die Macht des Goldes Göttern
und Menschen unbekannt geblieben, jetzt, da plötzlich das Streben um dessen
Besitz erwacht, bricht auch alles Unheil des Reichthums, Hader, Krieg, Neid,
Haß und Todtschlag, über die Welt herein. Beim Emporrauschen des Vor¬
hangs, dem nur eine kurze Jnstrumentaleinleitung voraus geht, sehen wir
den Rheingrund mit seinen schroffen Felsen und wilden Schluchten. Die
Scene spielt unter dem Wasserspiegel. Der Zuhörer muß es vergessen, daß
es keinem Wesen möglich ist, unter dem Wasser zu sprechen, noch viel weniger
zu singen, und der Dichtereomponist, sonst so strenge auf die reale Wahr¬
heit haltend, muthet plötzlich dem Hörer'zu, das Niedagewesene für möglich
zu halten.
Drei Rheintöchter (Woglinde, Wellgundeund Fi oßhil d e) treiben
in den Wogen ihr neckisches Spiel und singen dabei ihre Lieder. Aber schon
hier erwies es sich als unmöglich, Darstellende und Sängerinnen in
Einer Person zu vereinigen, gleichzeitig die kühnsten Turnerkünste und den
schwierigen Gesang den Sängerinnen zuzumuthen, und so mußte man sich
denn zuletzt entschließen, drei Ballettänzerinnen mit der scenischen Darstellung
zu betrauen und die drei Gesangspartien hinter den Coulissen singen zu
lassen. Der Text der Oper beginnt also (Woglinde und Wellgunde suchen
sich schwimmend zu haschen):
Wem! Waga!
Woge, Du Welle,
walte zur Wiege!Wagalaweia!
Wallala, weiala, weia!
„Woglinde, wachst Du allein?"
Mit Wellgunde wär' ich zu zwei,
„Laß seh'n wie Du wachst."Sicher vor Dir.
Heiala weia!
Windes Geschwister!
Floßhilde, Schwinn!(Floßhilde von oben)
(Wellgunde)
Woglinde flieht:
Hilf mir die fließende fangen!Des Goldes Schlaf
hütet ihr schlecht;
besser bewacht(Floßhilde herabtauchend)
des Schlummernden Bett,
sonst büßt ihr beide das Spiel.
Wallala! Lalaleia! Lalei!
Heia! Heia! Haha!Heiajaheia!
Heiajaheia!
Wallalallalala leiajahei!Rheingold!
Rheingold!
wie lachst Du so hell und hehr!Glühender Glanz
entgleißt Dir weiblich im Wag!Heiajahei!
Heiajaheia! u. s. f.
Der häßliche Zwerg Alb er ich belauscht, aus dem Grunde aufsteigend,
erst das anmuthige Spiel der Wassermädchen mit Wohlgefallen, dann näher
kommend, verliebt er sich in alle der Reihe nach, wird aber von ihnen schmäh¬
lich verhöhnt und ausgelacht. Ueber diese schnöde Behandlung endlich erbost
und als er noch von der Macht des Goldes singen gehört hat, das auf dem
Riffe schlummert, wird er der Räuber des Hortes. Dies ist der Inhalt der
ersten Scene, deren Text 14 Seiten des Buches füllt. Obwohl wir staunend
den Eigenthümlichkeiten des Textes folgen, ist diese erste Scene doch die ge¬
nießbarste der ganzen Oper. So singt Alberich, im Bemühen die Mädchen
zu erjagen, die Spitze des Riffs erkletternd:
Garstig glatter
glitschriger Glimmer!
Wie gien ich aus!
Mit Händen und Füßen
nicht fasse noch halt ich
das schlanke Geschlüpfer!
feuchtes Naß
füllt mir die Nase:
verfluchtes Niesen!
(Wvglinde) „Pruhstend nahtmeines Freiers Pracht!"
Mein Friedel sei
Du frauliches Kind!Die schlanken Arme
Schlinge um mich.
Daß ich den Nacken
Dir neckend betaste,
Mit schmeichelnder Brunst
an die schwellende Brust mich Dir schmiege
(Wellgunde) Bist Du verliebt
und lüstern nach Minne?
Pfui, Du haariger,
hock'riger Geck!
Schwarzes, schwieliges
Schwefelgezwerg!
Such' Dir ein Friede!
Dem Du gefällst!"
Falsches Kind!
Kalter, grätiger Fisch!Schein' ich nicht schön Dir,
niedlich und neckisch,
glatt und glau —
hei! so huste mit Aalen,
ist Dir ecklig mein Balg!"(Alberich) Ihr schmählich schlaues
lüderlich schlechtes Gelichter!.Nährt ihr nur Trug,
ihr treuloses Nickergezücht!Wie in den Gliedern
brünstige Glut
mir brennt und glüht!
Wuth und Minne
wild und mächtig ,
wühlt mir den Muth auf! —
Wie ihr auch lacht und lügt,
lüstern lechz' ich nach euch,
und eine muß mir erliegen u. s. f.
Die zweite Scene (Seite 19—39) zeigt uns im Hintergrunde eine mäch¬
tige Burg mit blinkenden Zinnen, im Vordergrunde tiefes Thal, durch
welches man sich den Rhein fließend zu denken hat. Wotan und Fricka
schlafen auf blumigen Grund. Letztere erwacht und erschrickt dann, denn sie
erblickt im Morgenglanze die von den Riesen Fasolt und Fafner wäh¬
rend der Nacht erbaute Beste, für welche Wotan denselben die holde Frei«
angelobt hat. Wir sind Zeugen einer zwischen Allvater und seiner zürnenden
Gattin stattfindenden heftigen Scene, in der es die Göttin an Vorwürfen
nicht mangeln läßt:
Liebeloser,
leidigster Mann!Um der Macht und der Herrschaft
müßigen Tandverspielst Du in lästernden Spott
Liebe und Weibes Werth?
Die Rissen nahen, ihren Lohn heischend. „Freia, die holde, Holda,
die freie", wie es verabredet, wollen sie heimtragen. Wotan jedoch weigert sich,
den eingegangenen Vertrag zu halten, so daß Fafner zu Fasolt höhnisch
spricht: „Getreu'ster Bruder! Merkst du Tropf nun Betrug?" und dieser dem
meineidiger Gott vergebens in langer Rede die Heiligkeit eines gegebenen
Wortes vor Augen zu führen sucht. Wotan gibt vor, er habe nur im
Scherz den Vertrag geschlossen, denn „die liebliche Göttin, licht und leicht,
was taugt Tölpeln ihr Reiz? Aber die Plumpen, die sich plagend, „schwitzend
mit schwieliger Hand das Weib zu gewinnen suchten, das wonnig und mild
bei ihnen wohnen sollte", sind nicht so leicht zu begütigen. Vergebens
mischen sich auch Froh und Donner noch in den Streit, umsonst sucht
auch der listige, trugvolle Loge die Ungestümen zu besänftigen. Endlich
gelingt es ihm, in ihren Herzen die Gier nach Gold zu erregen. Sie
wollen sich zufrieden geben, wenn bis zum Abend ihnen für Freia der von
Alberich geraubte Hort ausgeliefert wird. Freia, die Hüterin der goldenen
Aepfel, deren Genuß den Göttern ewige Jugend verleiht, ist von den Riesen als
Pfand fortgeschleppt worden, die Aasen gewinnen allmälig ein bleiches, alterndes
Aussehen. Es ist also doppelt nöthig, das Gold zu gewinnen, die holde
Göttin aus ihrer Haft zu lösen. Während aber Loge von dem Golde sprach,
„das zu höchster Macht dem Manne gewinnet die Welt und den Frauen
ein gleißend Geschmeid, das der Gatten Treue zu ertrotzen im Stande wäre",
bemächtigt sich auch der Seele Wotans und seines eifersüchtigen Weibes das
Verlangen nach dessen Besitz. Loge weiß Wotan zu überzeugen, daß es
nicht ungerecht wäre, dem Diebe Alberich seinen geraubten Schatz wieder zu ent¬
reißen und letzterer beschließt nun mit seinem listigen Rathgeber durch die
Schwefelklüfte nach Nibelheim hinabzusteigen, um die unermeßlichen Güter
und das ersehnte Kleinod zu gewinnen.
Die dritte Scene (Seite 40—S4) versetzt uns in die unterirdische Kluft,
das Reich der Zwerge, das Alberich zufolge der Macht, die ihm der aus
dem Horte geschmiedete Ring verleiht, unumschränkt beherrscht. Er zerrt
seinen Bruder, den heulenden Schmied Mime an den Ohren herbei und
entreißt ihm den heimlich vollendeten Tarnhelm, der ihm nun vollends jede
Willkühr gestattet. Den vor Schmerz zusammengesunkenen Mime treffen
Wotan und Loge; sie hören seine Klagen und das Gottes Ohr berauscht
sich aufs Neue in der Schilderung der Schätze des Nibelungenreiches, die zu«
dem auf des unersättlichen Alberich Geheiß die Zwerge jetzt herbeischleppen.
Loge übertölpelt im Laus des Gesprächs den dummen und sich aufblähenden
Nibelung, der sich erst in einen Riesenwurm, dann in eine Kröte verwan¬
delt, die Wotan mit dem Fuße faßt und der Loge den Tarnhelm entreißt.
Der Ueöerwundene wird nun gebunden und von den beiden Siegern auf die
Oberwelt hinaufgeschleppt.
In der vierten Scene (p. 54—78) sehen wir uns in die Decoration der
zweiten zurückversetzt. Wotan und Loge steigen mit Alberich aus der Kluft
empor. Dieser wird gezwungen, seine Schätze auszuliefern und zuletzt auch
noch den Ring, der ihm so große Macht sichert, herzugeben. Nach langem
Sträuben entreißt ihm Wotan denselben, aber der Zwerg spricht, ehe er wieder
verschwindet, einen furchtbaren Fluch über jeden künftigen Besitzer desselben aus.
Fasolt und Fafner bringen Freia zurück. Sie wird mit dem Golde der Ni¬
belungen ausgelöst, aber um das Maß voll zu machen, muß Wotan dem
Schatze den Tarnhelm, soll er ihm auch noch den Ring hinzufügen. Der
Gott weigert sich entschieden, das wunderbare Kleinod herzugeben. Da er¬
scheint die Urmutter (Ur-Wala) Erda in einem aus der Felsenkluft hervor¬
brechenden bläulichen Schein. Auch sie ermahnt ihn, den unheilvollen Ring
von sich zu werfen. Mit schwerem Herzen thut er es endlich. Frei» ist ge¬
löst. Sofort äußert der Fluch seine Wirkung, denn über der Theilung der
Schätze, die die Riesen hastig eingesackt haben, erschlägt Fafner den Fasolt.
„schwüles Gedünst schwebt in der Luft", dies gibt Donner erwünschte Ge¬
legenheit, sich auch bemerklich zu machen. Er zaubert ein blitzendes Wetter
herbei, das den Himmel wieder hell fegen soll. Nachdem das Gewölk sich
verzogen hat, sieht man mit blendendem Leuchten eine Regenbogenbrücke
über das Thal nach der im hellsten Abendglanze strahlenden Burg gezogen.
Wotan führt - sein Weib und seine Genossen über dieselbe nach Walhall
hinüber. Mephisto-Loge mit seinem verachtenden Hohne und die klagenden
Lieder der Rheintöchter beschließen das Stück. — Wäre nun das Ganze in einen
engen Rahmen zusammengedrängt, man würde sich trösten können, aber so
ist es nach Art aller Wagnerschen Dramen in der ermüdendsten Weise breit¬
geschlagen. Die ohnedem karge Handlung und das geringe Interesse, die
dem Werke innewohnen, gehen dabei völlig verloren. Nur Alberich und
Loge vermögen unsern Antheil zu gewinnen, die sämmtlichen übrigen Per¬
sonen sind schattenhafte langweilige Gestalten, die nie irgend eine Theilnahme
erregen werden. Die erste Scene hat einzelne anziehende Momente und in der
letzten wirkt das Erscheinen Erda's gewaltig; aber im Uebrigen ist neben aller
Pracht der Ausstattung vieles Läppische und Kleinliche, z. B. das harmoni¬
sche Spiel d. h. Geklimper auf den (18) Amboßen unter der Bühne, die Ver¬
wandlungen des Zwergs in einen Lindwurm und eine Kröte, die ungeheure
und doch so kleine Regenbogenbrücke, die nur ein Seiltänzer, nie aber ein
Sänger ohne Furcht und Zittern beschreiten wird.
Wenden wir uns nun zur Musik. Die Intendanz hatte die größten
Anstrengungen gemacht, um das Orchester nach dem Wunsche des Tonsetzers
zu verstärken. Eine imposante Jnstrumentalmasse (man spricht von 120 Mann)
war in dem zu diesem Zweck umgebauten und tiefer gelegten Orchesterraum
zusammengebracht worden. Nur die Harfen, deren der Componist zehn be¬
ansprucht hatte, waren blos vierfach besetzt; man hätte aber in dem Orchester¬
trubel nichts von ihnen gehört, auch wenn sie SOfach vertreten gewesen
wären. — Die neue Oper hat alle Mängel der früheren Werke Wagners. Es
ist viel Lärmen um Nichts. Jede Person im Stücke tritt mit einem be¬
sonderen Orchestermotiv auf; diese und zahllose andere Motive drängen
unablässig über einander hin. Es kommt nie zu einer Entwickelung, zu einem
freien Zug, Alles zerbröckelt in kleine Theile, ohne innern Zusammen¬
hang, ohne Wirkungsfähigkeit. Die Oper ist nicht völlig melodielos, aber
überall finden sich nur Ansätze, die sich sofort wieder verlieren und nie eine
naturgemäße Entwickelung gewinnen. Deshalb ist auch keine Steige¬
rung möglich, denn nicht durch kunstvolle thematische Verschlingungen,
nicht durch überraschende Orchestereffecte, nicht durch fremdartige Wendungen,
an denen allen es dem Werke nicht fehlt, sondern nur durch eine freie, natür¬
liche Gestaltung der Melodie, durch eine regelrechte Gliederung der Sätze,
durch eine künstlerische, schön gestaltete und harmonisch abgerundete Form ist
eine Steigerung möglich, Wie kein Mensch über die Gesetze der Sitte, über
die Verpflichtungen der Dankbarkeit und Freundschaft sich ungestraft hinweg¬
setzen darf, so auch kein Componist über die ewigen Regeln und Gesetze der
Kunst. Was besonders im „Rheingold", das ohne alle Chorgesänge ist, un¬
endlich ermüdend wirkt, ist der Mangel fast aller Ensemblesätze. Eine
Stimme singt nach der andern in monotonster Weise ihr Pensum ab. Das
Ohr dürstet nach einer T»z oder Text in den Singstimmen. Da ist denn
das seltene Zusammensingen der drei Nheinnixen ein wirkliches Labsal. Würde
der Text des Rheingoldes ohne Musikbegleitung einfach gesprochen, erwürbe,
rasch dahin gleitend, trotz seiner Härten und Sonderbarkeiten zu wirken ver¬
mögen, aber gesungen erzeugt er die tödtlichste Langeweile; was ihm an
Größe, Witz und dramatischer Combination innewohnt, geht bei solchem
Vortrag spurlos verloren.
Man sagt, die Verehrer Wagners hätten diesem gerathen, Rheingold
gleichzeitig mit der Walküre geben zu lassen. Glauben Sie, daß eine Vor¬
stellung, die mindestens sechs Stunden dauern würde, das Publicum fesseln
könnte? Der Rheingold spielt mindestens 2Vz Stunden ununterbrochen. Die
Walküre hat 3 Akte und gewiß eine Länge von 3—4 Stunden. Wer aber
wäre im Stande, nach dem ermüdenden Vorspiele auch noch das Hauptwerk
zu hören? Die zahlreiche Versammlung hat in der Probe kein Zeichen von
Beifall gegeben. Freunde wie Gegner des Tonsetzers schüttelten bedenklich
die Köpfe. Den ersteren mochte sich der Gedanke aufdrängen, daß die
Schöpfungskraft Wagners im Erlahmen begriffen sei, letztere haben sich wohl
aufs Neue gesagt, daß derselbe längst die Linie überschritten hat, wo Sinn
und Wahnsinn sich scheiden. Wenn das neue Werk auch keine besonderen Aus¬
schreitungen erkennen läßt, so gibt es doch neue Belege für längst gehegte
Befürchtungen.
Die niederländischen Maler stellen auf wichtigem Gebiete moderner Schil¬
derei die Vermittelung zwischen deutscher und französischer Kunst her. Ueber¬
schaut man die Hauptleistungen von diesseits und jenseits des Rheins, so
scheint es, als sollte der Lauf unseres Stroms, der sich im deutschen Lande
nährt, um unter französischem Namen ans Ziel zu kommen, auch für die
Schicksale im ästhetischen Bereich symbolisch sein. Und könnten wir hoffen,
unsere Sorgen und Gebresten gleich den Blumen loszuwerden, die man einst
zu Köln am Johannistage den Rhein hinabschwimmen ließ, so hätten wir
gegen diesen Weg, der uns auch politisch so wichtig ist, nichts einzuwenden.
Selbst mit der romanisirender brabantischen Richtung haben wir, was die
Intention anlangt, noch nähere Verwandtschaft als mit den Franzosen, so
viel ähnlicher sich auch deren Producte ausnehmen, und die neue holländische
Malerei hat mit der neudmlschen den Ursprung gemein: die Wiederaufnahme
einer nationalen Kunstweise der Vergangenheit. Hätten wir Deutsche statt
des geistigen und materiellen Elends aus dem Jahrhundert unsrer Religions¬
kriege eine Kunsttradition wie die Niederländer in ihren Rembrand, Rubens,
Van Dyk besitzen, deren Vorbild auch der modernen brabanter Malerei die
reichste Lehre bietet, dann würde sich unter uns das dogmatische mit dem
gymnastischen Element, Stil und Technik, wol noch eher vereinigen, als bei
den Nachbarn.
Heute sind auch bei ihnen die Gegensätze noch sehr stark. Die Nach¬
ahmung einer alterthümlichen Kunstweise bringt, wenn die geistigen und ge¬
müthlichen Bedingungen sich nicht decken, immer die große Gefahr des Ma¬
nierismus mit sich. Mit ganz anderem Bewußtsein als unsere deutschen
Maler an der Wende des Jahrhunderts erst den Dürer, dann die vorrafaeli-
schen Italiener, haben die Neu-Niederländer ihre Van Eycks wieder studirt.
Jenen ging vermöge einer geistigen Einkehr und Vertiefung, welche mannig¬
faltige Gründe hatte, der Sinn für die gebundene Schönheit der Quattro-
centistenkunst auf und unter gesunden Verhältnissen konnte in dieser Richtung
hier so gut wie in Italien das Höchste erreicht werden, denn die Fühlung
mit der classischen Kunst fehlte nicht. Bei den Holländern dagegen ist das
Verhältniß zu den Altmeistern eine Vernunftheirath, ein Resultat der Re¬
flexion. Das treffliche Mittel, am Studium der mittelalterlichen Meister sich
in die Geheimnisse der Formenstrenge und des stilvollen Colorits einzulernen,
schützt, wenn es Zweck wird, vor dem Widerspruche nicht. Je naiver man
erscheinen will, desto gesuchter wird man, und schließlich verwandelt sich die
Unschuld erst recht in Coquetterie. Mit Vorliebe sehen wir diese Richtung
eine ganz historische Schönheit anstreben, bei welcher die innere Beziehung
zum Urheber immer mehr verschwindet. So gibt uns hier de Vriendt
ein kleines Bild „aus der Geschichte Karls des V.": der Gegenstand spricht
sich nicht aus; ein Paar Figuren, dabei ein Knabe, üben ihre Andacht in
einer reichdecorirten Kapelle; es ist eine distinguirte gedankenlose Gesellschaft,
die nur das Leben der Race und den absoluten Zustand ausdrückt. So
meisterhaft bei aller Härte die Farbenbehandlung auch ist, sie kennt Nichts
als den Localton, Alles erscheint wie Stoff; die Gestalten sind ganz aus die
Fläche projicirt und mit Aengstlichkeit vor dem wenn auch schon seit 300
Jahren modernen Element der Lustperspektive behütet. Etwas mehr Atmo¬
sphäre zeigt Linnig's „flämische Stickerin", aber die Tendenz ist dieselbe:
die eigenthümliche, bei aller Kraft der Farbensubstanz doch blöde Wirkung des
Mosaiks wird auch hier nicht überwunden, ja sie ist ausdrückliche Absicht.
Mit dieser Repristinationssucht, so anziehend bei alledem ihr Effekt sein kann,
wird man schließlich in die reine Teppichmalerei gerathen, wenn nicht die Wahl
der Stoffe einen Ausweg ebnet, auf dem sich z. B. Alma Tadema
mit der Leichtigkeit und Sicherheit des Tänzers bewegt. Offenbar liegt
ein großer Reiz in der drastischen' Belebung von sujets aus dem Alter¬
thume. Seit die modernen Franzosen, geführt von Geröme, die Eindrücke
der immer mehr sich füllenden Museen in Darstellungen aus dem Leben der
Aegypter, Griechen und Römer zu verwerthen anfingen, ist dieser Geschmack
schnell populär geworden. Hier nun haben wir den neusten Routinisten dieser
Richtung in einer ganzen kleinen Gall.crie vor uns. Er zeigt uns die Cul¬
tusgebräuche der Pharaonischen Aegypter bei der Beisetzung einer Mumie,
einen jungen Herrn vom Nil, vielleicht den Architekten einer Pyramide von
Ghizeh, in der Morgentoilette, dann die Kaiserin Agrippina in düsterem Ge¬
mach, oder die lockere Lesbia im Atrium ihres ebenso wohnlichen wie gast¬
lichen Hauses, den Sperling betrauernd, der auf ihrem Schooße liegt („?asssr
wortuus est meae xueU-w") — alles mit höchster Meisterschaft und Sub-
tilität gemalt und mit solcher Detailkenntniß der Privatalterthümer erfun¬
den und gezeichnet, daß man jedes Kleid, jeden Schmuckgegenstand, jedes
Möbel oder Architekturstück wir einem Citat aus antiken Schriftstellern be¬
legen könnte. Unsere Sprache hat für die äußerste Imitation dieser Art
einen Ausdruck, der sehr bezeichnend ist: wir reden von „lächerlicher Ähnlich¬
keit"; diese ist hier im höchsten Grade vorhanden. Die Bildchen wirken wie
Witze und sind es eigentlich auch, denn der Versuch, Etwas zur Totalität
des wirklichen Lebens zu reconstruiren, was uns blos aus leblosen Ueber¬
resten bekannt ist, macht in der That einen komischen Effekt. — Bescheiden sich
solche Darstellungen im Stilleben oder in kleinem Genremotiv, dann kann
eine rein künstlerische Wirkung sehr wohl erreicht werden. Das sieht man
an einem recht hübschen Bilde von Stückelberg in Basel, der zwar bei
weitem nicht mit der Fertigkeit und Kenntniß des Belgiers, aber mit glück¬
licher Erfindung die Scene schildert, wie ein Gaukler einem altgriechischen
Liebespaar Marionettenfiguren von Göttern producirt — eine lukianische
Gruppe, deren eigenes harmloses Amüsement für den Beschauer durch den
Reiz des Fremdartigen gesteigert wird. Versteigt sich aber der Maler in
eine höhere Region, dann ist der unfreiwillige Humor die Strafe. Sowie
wir an einer dramatischen Handlung das Kostüm im weiten Umfange des
Worts d. h. das Ethnographische der Handelnden als Hauptsache empfinden,
ist bei der bildenden Kunst wie bet der Poesie, die ethische Wirkung aus
und das Ganze wird Curiosität oder Travestie. So das kleine Bild, worauf
Alma Tadema den stolzen Tarquinier Disteln köpfend die Gesandten von
Gabii empfangen läßt. Hier wundert man sich, daß diese Figuren in ihrem
maskeradenhaft etrurischen Aufputz nicht selbst in Gelächter ausbrechen; denn
Handlung und Erscheinung sind in demselben Maße ästhetisch incongruent,
in welchem sie antiquarisch richtig sind. Eine quantitative Grenze gibt diesen
sujets ferner der Maßstab. Sollte schon das in heimischen Vorstellungen sich
bewegende Genrebild eine gewisse Größe nicht überschreiten, die sich stark
unter dem Leben hält, so ist diesen fremdartigen Stoffen, die eben immer
genrehaft bleiben, wie hoch man auch die Sohlen machen mag, die Lebens¬
größe vollends schädlich. Die „Siesta" desselben belgischen Virtuosen zeigt
zwei griechische Männer (Dichter ocer Philosophen) mit vollkommen ana-
kreontischer Ungenirtheit auf dem Pfühl ausgestreckt; eine traite Sclavin tulit
sie mit den Tönen der Doppelflöte in Schlummer — wieder alles correct
nach Aglaophamos oder Eharikles, aber Garderobe und Geräthschaften ganz
allein für sich würden dieselbe oder noch packendere Wirkung machen, denn
die Langeweile ins Griechische oder in die naturgroße übersetzt wird nur noch
langweiliger. Sehr anziehend aber ist daneben das Bildchen aus dem Hof¬
leben der Merovinger; hier ist der Stoff wirklich künstlerisch bezwungen.
Als Extrem im Bereiche der Darstellung antiker Gegenstände möchten
Wir Feuervach's „Gastmahl des Platon" anführen. Ebenfalls in lebens-
großen Figuren schildert der Künstler den Moment, wie der weinselige
Alkibiades auf zwei Hetären gestützt und von Sclavenknaben geleitet in das
Gemach des Agathon hereinstürzt und den Wirth beglückwünscht, dessen wür¬
dige Gäste mit der Tiefe- des Polaks auch die Tiefe ihrer Gedanken messen.
Der Gegensatz des wilden Schwarmes der Ungebetenen und der ernsten Ge¬
sellschaft am Tische, deren Mittelpunkt Sokrates bildet, ist gut gedacht und
von den Figuren sind etliche trefflich erfunden, aber das Ganze leidet an
einer Unsicherheit des Vortrags und an einer — sollen wir sagen Beschränkung
oder Unfähigkeit der Durchführung, die es zu keinem reinen Eindrucke kom¬
men lassen. Feuerbach ist ein Sonderling; Stoiker und Epikuräer zugleich
schwankt er zwischen Strenge und Ueppigkeit seltsam hin und her, bald die
volle Farbenskala der Venezianer, bald die Herbigkeit mancher Florentiner
nachahmend bringt er es bei aller Begabung zu keinem individuellen Stil.
Das vorliegende Bild ist zwar insofern in sich harmonisch, als die ganz relief-
arlige Composition auch fast nur grau in grau wie ein leicht getuschter
Karton, nicht wie Oelgemälde erscheint, eine Abschwächung. welche durch die
Nachtdämmerung der Scene doch nicht hinreichend motivirt erscheint, aber dabei
ist wieder der Grad der Körperlichkeit bei den einzelnen Figuren nicht übe»
einstimmend und hier und da ist auf die Stoffe zu viel Aufmerksamkeit ge¬
wandt. Das ist eben das Heikele bei solennen sujets aus der Antike,
daß sie eine abgeklärte Phantasie und einen ganz deutlichen Willen beim
Darsteller verlangen; er kann fehlgreifen und es entsteht dann ein ungenügend
des Bild, aber er muß vor allem das Hybride, schielende der Auffassung
vermeiden.
Zurückführen läßt sich diese Vortragsweise, die in jenem Falle ein Mis-
lingen des Eklektikers ist, auf ein ganz^ bewußtes Verfahren neuerer Fran¬
zosen. Wie die Uebersättigung und Ueberreizung schließlich ins Elementar-
Natürliche flüchtet, so üben sie sich und ihr Publicum zuweilen geradezu in
Hungercur auf malerischem Gebiet. Es ist, als bekäme man statt erwarteten
Weines warmes Wasser vorgesetzt, wenn man eine gewisse Sorte ihrer soge¬
nannten Sittenbilder betrachtet, die man ästhetisch auch Unsittenbilder nennen
könnte. Wir nehmen die Extreme voraus. Dicht unter dem in Ermange¬
lung besseren Spielzeugs mit einem Papagei tändelnden eigenthümlich bleich
gefärbten nackten Mädchen von Courbet hängt das Bild desselben Malers,
welches zwei Steinklopfer darstellt. Ein Alter und ein Junger, beide in der
halbhockenden Stellung, wie es ihr armes Geschäft mit sich bringt, beide
schräg gestellt, sodaß man nicht in den Gesichtern lesen kann, all in ihrer
Dürftigkeit, mit den Lumpen, die sich kaum vom Staube unterscheiden, in
welchem sie Hantiren, mit der ganzen Lahmheit und Formlosigkeit niedrigsten
banausischen Elends. — Lrüvs, vovig, wie lebensgroß in Koth modellirt. Mög-
licherweise sind es Vater und Bruder der Grisette oben, denn sie sind ganz
Fadenscheinigkeit wie alle gemalte Moral, vielleicht haben sie auch weiter
keinen Zweck, als da zu sein und den Beschauer mit der Frage nach dem
Warum? zu veriren.— Eine andere Species vertritt Millet. A la Rem-
brand — d. h. wenn man einen Rembrand nach Art des seligen Andrea del
Sarto in Berlin wüsche — stellt er einen alten häßlichen Holzträger vor,
der seine Bürde eben abgesetzt hat und nur dadurch erträglicher gemacht wird,
daß noch ein Häßlicherer, nämlich Freund Hein erscheint, um ihn abzuholen;
— wir hätten nichts dagegen, wenn dieses Geschäft mit Gegenseitigkeit be¬
trieben würde. Obgleich blos in Halblicht und Halbschatten gemalt, ohne
jede Spur von gezeichneter Form, breit und salopp vorgetragen, hat das
Bild etwas Originelles, ja Fascinirendes. Aber die Farbe ist doch nicht
dazu da, um blos als Geräusch zu wirken? Das Concert muß eine Tonart
haben; warum sonst überhaupt Farbe? Will man die gemeinste Elendigkeit
nicht lieber aus sich beruhen lassen, statt sie darzustellen, dann sollte man ihr
wenigstens einen Schein von Idealität geben, indem man sie etwa mit der
Radirnadel behandelt, die solcher Wirkung völlig gewachsen ist, ja die ihr
noch weit adäquater wäre, wie uns denn, offen gestanden, das ganze Bild
auch vermöge seiner stofflichen Verwandtschaft mit den Todtentänzen darnach
aussieht, als hätte sich der Maler im Mittel vergriffen. Pafsirt dies dem
Arzt, dann kann der Patient sterben; aber auch beim Künstler ist das Spiel
nicht ungefährlich. Immerhin glauben wir Herrn Millet noch eher als
Courbet; jener ist zwar eine wunderliche Natur und bringt es trotz seiner Liebe
zur Häßlichkeit selten bis zum bes-u an IM, aber es ist doch Auffassung,
wenn auch die eines einsiedelnden Autodidakten in dem, was er macht.
Courbet dagegen vertritt in solchen Bildern eine gemachte Naivetät, die des¬
halb so unangenehm wirkt, weil sie sich wie absichtliche Täuschung des Publi-
cums ausnimmt, wenn sie es nicht wirklich ist.
Eine dritte Nuance bietet Gustav Dore'. Er hat sich mit einem halben
Dutzend Oelgemälden über den Rhein gewagt, da seine Bilderbibel ihm so
erfolgreich den Boden bereitet hatte. Nicht das Gemeine, sondern über¬
haupt gemein darzustellen, ist sein Geheimniß. Auf einen Augenblick frap-
piren vielleicht diese in Oel gesetzten Carikaturen; es gibt eine Frechheit, die
beinahe wie Heroismus aussieht; einmal erkannt aber werden seine Gemachte
bis zum Unerträglichen ekelhaft. Sein „Neophyt" zeigt uns einen jungen
Geistlichen, der verdutzt und erschrocken in einer Reihe älterer Genossen sitzt;
sie sind vollendet geschmacklos, wie Messer und Gabeln in einem Etui Einer
neben den Andern postirt und repräsentiren die unterste Classe von Stumpf¬
sinn und Erbärmlichkeit. Ferner eine Gruppe Gaukler, Auswurf von Men¬
schengesichtern, wahrhaft obscön häßlich; dazu ein Paar Bettelkinder aus
Cordova, das einzige seiner bemalten Leinwandstücke, das wie ein Bild aus¬
sieht; der in Schmuz untergegangene spanische Typus der Modelle ist doch
nicht gänzlich umgebracht. Zuletzt: ein Paar rothe, braune, blaue, grüne
Flecke hinter einem gemalten Gitter, das aus völlig parallelen landlosen Baum¬
stämmen besteht: das ist „der Schwarzwald!" — Hier ist weder Laune, noch
Erfindung, sondern eine grasse Wirklichkeit, wie sie etwa dem Huschisch¬
raucher erscheinen mag, zu Deutsch Delirium. Geistesverwandt, aber gehalt¬
voller ist Roybet („siegender Page"); er verwechselt zwar derb mit tölpel¬
haft, wenn er charakterisirt, aber seine Farbe hat doch Saft und die Kostüme
sind mit kräftigem Handgelenk, breit und sicher vorgetragen. Damit haben wir
die Zunft beisammen. Den gesunden Grobian, von dem man das „emmem-
wsut Saulois" rühmen könnte, was jetzt als Ehrenprädikat auf literarischem
Gebiet Mode ist, sucht man vergebens. Blickt man ihnen herzhaft ins Ge¬
sicht, so entpuppen sie sich als Varietäten der Blasirtheit.
Ihnen gegenüber stehen die Erscheinungen, die in gesunder aber reflek-
tirter Art durch absichtliche Gelassenheit und Mäßigung oder durch Verzicht
auf (Komposition den großen Eindruck zu erzeugen streben. In dieser ganz
modernen BeHandlungsweise des Geschichts- und Sittenbildes begegnen wir
allen auf der Ausstellung vertretenen Nationen. Aus der-Reihe der Fran¬
zosen gehört neben Courbet (s. o.) Elie Delaunay hierher mit einem
Bilde, das eine nächtliche Episode aus der Geschichte der Stadt Rom wäh¬
rend der ersten christlichen Jahrhunderte zum Gegenstande hat — Angriff
des Aesculaptempels bei einer Pestilenz —, ernst gedacht und gut gestimmt,
aber ganz von der Lockerheit des Aufbaues, die wie Zufall erscheint. In
einem zweiten Nachtstück stellt H. le Roux die Messalina dar, wie sie in
Gesellschaft ihrer Sclavin an der Thür eines Lupanars lauscht. Eugöne
le Roux gibt in der Versammlung nordfranzösischer Bauern an der Leiche
eines Landsmannes, der begraben werden soll, ein düsteres und ergreifendes
Bild des Respektes vor dem Tode; die Monotonie in Haltung der Figuren
und Arrangement des Ganzen wirkt hier außerordentlich drastisch. Ihnen
gesellen sich bei den Italienern Focosi, der Katharina von Medicis malt, die
ihren Sohn Karl d. IX. bestimmt, das Decret zur Ermordung der Huge¬
notten zu unterschreiben, eine trocken aber kernig colorirte, scharf belich¬
tete Gruppe, dann H ay ez in Mailand mit seiner Befreiung Vittore Pisani's,
und neben Anderen noch Faustini, der eine Verschwörungsscene aus dem
17. Jahrhundert in dieser Auffassungsweise, aber mit sehr feinem Halbdunkel-
Effekt vorführt. — Unter den Niederländern finden wir diesen leidenschaftslosen
Vortrag, der ihnen vermöge ihrer Complexion am natürlichsten zu Gesicht
steht, bei zwei Meistern hohen Ranges wieder: auf dem Gebiete der Ge¬
schichtsillustration bei Gusfens, dessen Zeichnungen zu den leider zerstörten
Antwerpner Fresken neben einer Anzahl biblischer Compositionen ausgestellt
sind, und im Bereich des Sittenbildes bei Leps, der an Ernst und ge¬
diegener Vornehmheit alle mit und seit ihm auf das Studium der alten
heimischen Vorbilder gerichtete Genossen noch immer übertrifft. Der in
Weimar lehrende Pauwels (von dem „die Rückkehr der Verbannten" aus¬
gestellt ist) bildet wie nach der Art seiner Stoffe, so auch nach seiner edlen
Charakteristik die Mitte zwischen beiden. Sehr ungern vermissen wir ein
Gemälde dieser Richtung von G. Spangenberg in Berlin, der in seinen
ersten Bildern einen Ton anschlägt, welcher viel verheißt. Er verband fei¬
nen echten Geschmack in der Wahl der Typen, gute Zeichnung, freies —
etwas zum Lässigen neigendes Arrangement mit einer Farbe, deren stark
contrastirende Accorde eine erfrischende Rauheit und gesunde Kraft athmen.
Sehr zu bedauern wäre, wenn die einseitige Steigerung ins Elegante,
welche die kleinen Proben zeigen, die von ihm vorliegen, eine grundsätzliche
Veränderung seiner Malweise bedeuteten. Ein recht wackeres Bild von ähn¬
licher Intention ist Riesstahls „Kirchhofsbesuch", Erfindung und Farbe
schön und einfach, die Stimmung ernst und herzlich.
Ungebundener und anspruchsvoller treten auf diesem nächst dem kleinen
Genre populärsten Gebiete die Berliner C. Becker (Karl der V. bei Fugger,
ein fein colorirtes und elegant vorgetragenes Anekdotenbild, mit welchem
man Sohn ^jun. in Düsseldorf leider nicht an Ort und Stelle vergleichen
kann) und Henneberg auf. Bei seinem vielbesprochenen „Glücksritter",
der das Studium manches hier vertretenen Vorbildes bekundet, ist es doch
erfreulich, wahrzunehmen, daß er auch in der ungewöhnlichen Gesellschaft sich
mit Ehren zu behaupten weiß.
Den großen Coloristen Gallait finden wir in mehreren hervorragenden
Arbeiten vertreten. Ob man seine Weise, in der das Können stets größer
scheint wie das Wollen, als Muster preisen darf, wie es bei den Rundreisen
seiner Bilder in Deutschland geschah, ist seit den unleugbaren Fortschritten
der letzten Jahre eher zu beantworten. Schade, daß wir Delaroche nicht auch
vor Augen haben, um die beiden Maestri hier aufs Lehrhafte hin zu ver¬
gleichen. Beiden haftet ein gewisser nationaler Kunstdialect an, der die
rechte Vertraulichkeit ausschließt; am meisten in den genrehaften Darstellungen,
so hier in Gallait's „Geiger", gewiß einem seiner vorzüglichsten Gemälde.
Eine Atmosphäre der eleganten Welt umspielt diese Gestalten, die uns heute
wie veraltete Empfindsamkeit vorkommen will, und auch gegen die Süjets
seiner Geschichtsbilder, gegen die unentwegte ritterliche Grausamkeit, welche
die edlen Grasen Egmont und Hoorn mit Glacehandschuhen ins Gefängniß,
aufs Schaffst und wieder herunter geleitet, sind wir bei allem Respekt vor
der Technik heute verstimmt. Um so mehr, wenn man angesichts der Ge-
schichtsbilder aus der neuen Münchener Schule die Befürchtung schöpft als
stünden diese Gegenstände und diese Technik in einem inneren Zusammen¬
hang. Denn auch Piloty malt mit Vorliebe Ereignisse, denen gegenüber
das Gemüth des Beschauers befangen bleibt. Diesmal sehen wir zwar weder
den Mordbrenner Nero, noch den todten Wallenstein oder die letzten Augen¬
blicke Cäsars, aber ein Todesurtheil muß es wenigstens sein. Diese Maria
Stuart mit Hanna und den Großwürdenträgern ist ein einfach comvonirtes
und nicht empfindungsloses Bild; die Mischung von Stolz, Groll und Ent¬
setzen in den gezwungen impassibeln Zügen der schönen Königin sehr ergrei¬
fend, wie ja der ganze Vorwurf in seiner leidenschaftlichen Macht und
Prägnanz dem Künstler Gelegenheit zu außerordentlicher Leistung bietet.
Aber auch höchste Darstellungskraft überwindet die Ungunst nicht, die darin
liegt, daß das Publicum mit Voreingenommenheit an das Bild tritt, und
das ist immer da der Fall, wo der Maler sein Sujet der dramatischen Kunst
direct entlehnt. Er hat alsdann mit den mannigfaltigsten stillen Einwendun¬
gen zu kämpfen, die nicht immer berechtigt, aber.nichtsdestoweniger vorhanden
und um so hartnäckiger sind. Und Piloty bringt sie nicht zum Schweigen.
Die Männergruppe entbehrt des Grades von Individualisirung, den jeder
Leser Schillers verlangt und die äußerst wirksame und meisterhafte Behand¬
lung des Kostüms ersetzt den Mangel nicht, sondern macht ihn nur noch
fühlbarer. Mit Genugthuung nehmen wir wahr, daß der Kürsner neuer¬
dings seine Figuren in kleinerem Maßstabe zeichnet, nur müßte dann auch
der gar zu pastose Farbenauftrag, der auf Fernwirkung berechnet 'ist, mode-
rirt werden. Colossalgestalten zu erfinden, ist ihm nicht gegeben, wie er auch
trotz seines Antheils an den Wandbildern im Nationalmuseum der histori¬
schen Kunst im strengen Sinne ganz fern steht, schon weil sure Erfindungs¬
kraft nicht groß und nicht selbständig ist und die ganze Auffassung der
menschlichen Figur vom Wirbel bis zur Zehe modern und die Färbung
genrehaft bleibt, da es ihr stets vorwiegend auf die Stoffmalerei ankommt.
In beiden Beziehungen hat man in Seelilie wol das entschiedenste
Gegenbild. Leidet sein kleiner Cyclus zu dem Märchen „Schneewittchen
und Rosenroth" , ein ziemlich mißlungener Versuch auf Schwind's Do¬
mains, an gesuchter Stilisirung. die ans Unbeholfene streift, so ist dagegen
die Illustration zu Shakespeare's „Kaufmann von Venedig" (Porzia mit
den Kästchen) eine höchst anmuthige Composition voll guter Laune in Er¬
findung und Vortrag; auch das leichte Colorit des Cartons hat etwas sehr
Ansprechendes und läßt uns den oft zum Bizarren neigenden Meister wieder
einmal in seiner ganzen Liebenswürdigkeit schätzen.
Das beliebte, jetzt schon ins zweiten Stadium modischen Interesses ein¬
getretene Gebiet der Kostümmalerei, die Schilderung des Orients, ist reich
vertreten. Fromentin's „arabische Tänzer" beanspruchen zwar hohen Rang
unter ihres Gleichen, allein der fette flüchtige Vortrag dieses teppichbunten
Gewirres, das nichts als den ungeschminkten Schein der Wirklichkeit geben
will, macht selbst gegen Horace Vernet's ins Arabisch übersetzte Pa¬
triarchen und Stammmutter Israels toleranter, die bei aller Racemäßig-
keit doch die künstlerische Umgangssprache einer durchgebildeten Form reden.
Auch von den Kriegsbildern des Bravsten der Braven auf der Leinwand ist
nur die bekannte Episode aus der Eroberung von Constantine „der Soldat
als Amme" ausgestellt, ein Bild, das freilich durch Glätte und Conventio¬
nalismus sehr von der rücksichtslosen Naturauffcissung abweicht, die heute
bei solchen Stoffen verlangt wird, das aber die Adepten des neuen Realis¬
mus, die es umlagern, an die künstlerischen Rechte der Linie mahnen kann.
Im Schlachtenfach ist Hippolhte Bellange' mit seinen „Kürassierer
von Waterloo" erschienen, einem kleinen Bilde, das die Wucht dramatischer
Massenwirkung durch tiefernstes Colorit steigernd seine Aufgabe meisterhaft
und ohne Phrase löst. Auch deutschen Malern wird das Kriegstheater
ein Feld der Ehren: Franz Adam in München gibt in seiner umfang¬
reichen Schilderung „nach der Schlacht von Solferino" ein ergreifendes, aber
von sicherer Hand des Darstellers beherrschtes Gemälde der Verwüstung und
jenes stupiden Zustandes der Betäubung, den ein geschlagenes Heer von der
Beschaffenheit der fremden Regimenter Oestreichs nach einem solchen Tage
bieten mag. Die gewählten Typen wirken im Gegensatz zu den Franzosen,
welche nicht mehr als Kämpfer, sondern als Mirleidende am Platze sind, fast
wie eine Illustration zu dem Wort von Frankreichs civilisatorischen Kriegen,
das dem kaiserlichen Redner am lOten Erinnerungstage des Ereignisses im
Lager zu Chalons entschlüpfte. Bedeutender noch scheint uns ein anderes kleines
Bild desselben Künstlers — scheinbar ein Zoll poetischer Gerechtigkeit —: eine
Scene aus dem Rückzug der großen Armee aus Rußland, meisterhaft in
Local- und Wetterstimmung, sodaß sich die Gewalt eines ungeheuren Natur¬
ereignisses trotz des kleinen Maaßstabes nicht unvollkommener ausspricht, wie
bei Bellange'. Jllustrationsartiger. aber respeetabel genug nimmt sich daneben
Camphausens Begegnung der Sieger bei China aus. Massenwirkung und
Porträtzeichnung sind aber in allen Fällen schwer zu vereinbaren, namentlich
wo die geringe Zeitentfernung die Phantasie des Künstlers bindet. — Zwei
außerordentliche Talente in naturwahrer Wiedergabe des Menschen- und
Thiermaterials, womit der Kriegsgott seine Spiele spielt, haben wir hier noch
hervorzuheben: Horschelt, den artistischen Begleiter der letzten kaukasischen
Expedition des russischen Heeres, der die Völkermenagerie jenes Kriegstheaters
in der Aufregung passiver Leidenschaften und im Zwange militärischen Dienstes
photographisch exakt und mit absoluter Glaubwürdigkeit der Auffassung ab-
schildert, und Josef Brandt, welcher eine „Episode nach der Schlacht am
weißen Berge", Vorführung von Beutepferden, in einer Farbenstimmung gibt,
die in der gesammten Ausstellung, auch unter den Franzosen, an Geschmack
und Schönheit ihres Gleichen sucht. Beide der Münchener Kunstgenossen-
schaft angehörig, vertreten sie zwei verschiedene Seiten des modernen Rea¬
lismus in der ehrenvollsten Weise. —
Bei Revue der zahlreichen Gesichter, die uns aus dem beinahe endlosen
Gebiet des kleineren Genrebildes mit größerem oder geringerem Humor, fei¬
nerer oder breiterer Charakterschilderung, stillen oder bewegten Gemüthes an¬
setzn, muß ein Name abgesondert werden, der zwar auf den allerkleinsten Bild¬
chen zu lesen steht, aber an Bedeutung alle anderen überragt.
Meissonnier scheint nur aus Laune Cabinetsbilder zu malen. Was er
gibt, hat bei aller Reduction der Verhältnisse eine Großartigkeit und Breite,
eine Vollendung der Figurenauffassung, daß man große Compositionen wie
durch das verkehrte Opernglas zu sehen meint. Er liebt freilich. Gruppen
darzustellen, die in leichter beschaulicher Stimmung eben nur harmonischen
Zustand feiern, und er umgibt sie mit einem Comfort, an dem auch die kleinste
Kleinigkeit liebevoll gezeichnet ist, — lauter eigenthümliche Züge des Genre¬
malers, die ihn als den Meister in diesem Gebiet erscheinen lassen; aber wenn
er daneben seine einsamen Figürchen sehen läßt, diese feingebildeten Naturen
— wohl alle Junggesellen — mit dem Anflug von philosophischem Humor oder
sanfter Schwermuth, dann erhebt er sich zu einer Charakteristik, in welcher er
von keinem Landsmann, ja von keinem Zeitgenossen überhaupt erreicht wird.
Es will uns dann räthselhaft erscheinen, daß er der Schilderei im Großen
wirklich nicht fähig sein soll, denn in diesen Cabinetsstücken ist keine Spur
von Kleinlichkeit, sondern die vollendetste Plastik der Körper, der höchste Ge¬
schmack im Arrangement. Aber ein anderes Räthsel hört dagegen auf: dies näm¬
lich, daß die Liebhaber für solche Bildchen von kaum 8 Zoll im Geviert bis
20.000 Francs bezahlen. Die drei Exemplare, die wir in München sehen
— kartenspielende Soldaten, der lesende Mann im Lehnstuhl und ein Reiter¬
zug — sind zugleich drei Gattungen und je in ihrer Weise fesselnd. Wenn
man auch die contemplative Einzelfigur, ein vollendet erfundenes Porträt,
vorziehen mag, die feine Gemüthsmalerei des erst- und die Subtilität des
letztgenannten, dessen Gestalten die Größe von Stecknadeln haben, können
nicht übertroffen werden. Nur der Loupe erschließen sich die discreten Details
dieser Bildchen, und wenn man sie beschaut, erwärmt die Empfindung, daß
man einen Mann vor sich sieht, dessen schöne Seele noch unendlich mehr
birgt. — Am nächsten unter den Franzosen kommt ihm in Feinheit der
Figurenschilderung auf kleinster Fläche Eugöne Flehet, ursprünglich Schüler
von Delaroche. Auf den ersten Blick erkennt man seine Abhängigkeit
von Meissonnier, aber auch die Inferiorität, obwohl das beste seiner in
München ausgestellten Bilder, „die Verhaftung des Spions", ein Meister¬
stück der Gattung, in der dramatischen Bewegung über Meissonnier hinaus¬
geht. Neben ihm stehen Trayer und Anton Seid in München, beide
mit ähnlichen Mitteln Stoffe aus der Sphäre des ländlichen oder kleinstädti¬
schen Lebens behandelnd, der deutsche besonders durch feine Physiognomik der
Köpfe und Hände hervorragend. Eleganter und mechanischer schon erscheint
der Spanier Zamacois. Er und Comte (hier mit seinen unpassender
Weise wie auf Porcellan gemalten Wachtsoldaten im Katzenjammer) bildet
den Uebergang zu den Malern der Salonscenen. Goupil mit den stark
parfümirten, aber nichtsdestoweniger sehr lebenswahren Damenbildchen ist
nur durch ein kleines Solostück (Mädchen mit Fächer) von schalkhafter Nettig¬
keit vertreten, Stevens dagegen durch eine Gruppe in größerem Format,
eine „Trauervisite", aus der uns die graziöse Gedankenlosigkeit der Pariser
Modeexistenz mit eigenthümlichem Zauber anredet. Auch August v. Hey-
den in Berlin, dessen großes skizzenhaft behandeltes Geschichtsbild „Luther
und Frundsberg" eine mißlungene Vergrößerung zu nennen ist, da sie ihre
Figuren dem Auge wie mit dem Tubus aufdrängt, gehört mit einem sehr
hübschen, trocken doch geschmackvoll behandelten Genrestück, „die alte Chronik"
(zwei Damen in altfranzösischen Kostüm, denen ein Geistlicher vorliest), in
diese Reihe. Wir schließen sie mit Erwähnung des Jtalieners Jduno, der
sein Rokoko-Familienstück sauber und liebevoll vorträgt, und mit dem Fein¬
schmecker Brillouin und seinen etwas preciös vorgetragenen Einzelmotiven
aus entlegener Zeit. In Avancon haben wir dann den Schalk der Rich¬
tung zu erkennen. Er gibt in einem den Stil und das Kostüm des töten
Jahrhunderts meisterlich parodirenden Bildchen „Nonsisur 1ö vkuxlrm" zum
Besten, einen halbwüchsigen Vollblut-Valois, der sein livrs ä'nsures auf den
Stuhl geworfen hat und sich mit der Energie eines gründlich gelangweilten
Bürschchens dem königlichen Vergnügen widmet, mit der hohlen Hand Fliegen
zu fangen. Wenn nur das Fliegenfänger nicht schließlich auch Geschäft der
Kommas du edle auf dem geschilderten Gebiete wird!
Recht vollzählig und in trefflichen Proben sind die heutigen Haupt¬
meister des deutschen Genrebildes beisammen: Vautier, Meyerheim,
Kraus, dessen ergötzliches Kinderbild „Wie die Alten sungen :c." seinen in
Composition etwas saloppen und im Colorit flauen Darstellungen neueren
Datums wieder den munterem, kräftigeren Ton entgegengesetzt, der mehr
an seine frühen, trotz einer gewissen Unfreiheit der Färbung doch besten Ar¬
beiten erinnert. Auch Hagn muß hier genannt werden, der altmünchener
Kleinleben sehr liebenswürdig und mit feingestimmter an Watteau gebildeter
Farbe schildert. Sodann fehlen auch Sale mein und Enhuber nicht, leider
aber Waldmüller, dessen kecke Lichtbehandlung am besten geeignet wäre, un¬
seren französischen Rivalen zu imponiren. Diese haben sich nur spärlich ein¬
gefunden. Wie deutscherseits den einzigen Ludwig Richter, so vermissen wir
Breton und seine Genossen höchst ungern. Als sehr achtungswerther Ver¬
treter der Fremden aber fällt A. de Meuron aus Genf auf; in seinen
vollendet gemalten „Gemsjägern" klingt wenigstens die Tradition Roberts
würdig nach. Ribot präsentirt sich in seiner Domäne, Küche und Keller,
als geschickter Nachahmer der vulgären Altholländer.
Kraus beginnt den Reigen dann auch im Porträtfache mit einigen
meisterhaft breit und trocken behandelten Bildnissen. Bei den Franzosen
steht hier Paul Flandrin's Sattes, glatt verarbeitetes Colorit einer An¬
zahl Deutscher gegenüber, von denen nur Richter in Berlin ähnliche In¬
tention, aber Steigerung ins Elegante zeigt. Werthvoller sind die Porträts
von Lenbach und Leidel in München. Ist es auch für das Original
eines Porträts ein zweifelhaftes Vergnügen, wenn dasselbe wie 300 Jahre
alt aussieht, so hat doch die Anlehnung an classische Vorbilder des Hell¬
dunkels bei dem Geschmack, mit welchem Lenbach verfährt, nichts Bedenkliches.
Wir nennen noch Halber in München, Cajeran Schweizer in Leipzig,
dessen wackere stilistische Intention Lob verdient, endlich Borckmann in
Berlin, dem in der Porträtgruppe die Verbindung modernsten Lebens mit
gediegener Formgebung anmuthig gelingt.
Auch in der Malerei des Thierlebens überwiegen die deutschen Produkte
an Zahl und an künstlerischem Werth. Die photographisch reproducirten
Wiederkäuer von Xaver de Cock und August Bonheur — die virtuosere
Schwester ist leider ausgeblieben — namentlich eine Viehherde des ersteren,
die mit der ganzen Wirklichkeit eines Bildes . in der LailUZi-g, obsoura, auf
den Beschauer losrückt, haben keine Gegenstücke diesseits des Rheins; Gauer¬
mann und Brendel mit ihren cultivirten Thieren lassen Rivalen wie
Braseassat (der nicht vertreten ist) und Verboekhoven den Rang; entschieden
obenan steht aber in der ganzen Section Voltz. Er verbindet Thier, Land¬
schaft und Menschen, ohne einem der Theile Zwang anzuthun, zu der Ein¬
heit behaglichen Gemeinlebens, das uns die alten Niederländer schildern, aber
er bleibt dabei durchaus originell.
Die Landschaften, welche in der Ausstellung vereinigt sind, bieten fast
weniger als die anderen Hauptgebiete einen Ueberblick über die charakteristi¬
schen Richtungen, wenn auch interessante Einzelheiten in großer Zahl vorhan¬
den sind. Beinahe ganz mangelt die historische Landschaft: kein Preller. kein
Rottmann, kein Schirmer oder Richter erfreut das Auge; Albert Zimmer¬
mann hat eine ungünstige Auswahl getroffen; selbst die jüngste Generation der
mittelbaren Schüler des alten Koch auf diesem nur noch bei uns zu Recht be-
stehenden Felde ist schwach vertreten: H. Gärtner's edler Wohllaut fehlt in
dem Concert, wenn auch Hummel in Weimar, R. Hoffmann in Wien,
Rau in Dresden achtungswerthe Kraft der Composition zeigen und Dreber-
Franz in Rom mit einem colossalen Bilde den kühnen Versuch wagt,
eine ganze Gebirgswelt auf ein Mal zu schildern, ein Bild, das leider zugleich
Leiter und Loupe verlangt, um gewürdigt werden zu können.
Ein einziges französisches Bild, P. Fla ndrin's „Erinnerung aus
der römischen Campagna" — freilich sehr absichtsvoll und monoton stilisirt
— zählt in diese Classe. Um so lebhafter wird es im Bereich der Veduten-
und landschaftlichen Stimmungsmalerei. Und sie hat treffliche Dinge auf¬
zuweisen, obgleich die erste Größe dieser zweiten Reihe. Lessing, fehlt, den
wir hier weit mehr vermissen als im Historienfach. Wem die Brüder Andreas
und Oswald Ueberhand das ^ und 0 der Landschaftskunst scheinen —
so sind sie in Düsseldorf alles Ernstes genannt worden — der vergißt, daß
wenn nicht zwischen, so doch außerhalb ihrer eben noch ein ganzes Alsaber
von Möglichkeiten Platz hat. So schön Andreas complicirte Form- und
Lichteffecte zur Geltung zu bringen weiß — wie hier in einem holländischen
Motiv — seine künstlerische Bildung schützt ihn so wenig vor Dürftigkeiten
wie den Bruder Oswald seine größere Fertigkeit und das beschleunigte Tempo
der Mache vor Häßlichkeiten bewahrt. Sein Stolz ist, an Italien nun einmal
blos das Ordinäre zu sehn und in seinen Bildern sagen zu können: das Land,
wo die Orangen blühn, besteht aus eitel Dreck und Feuer. Nun wol, man
muß ihm glauben; denn was er macht, ist unwidersprechlich: gewiß, so wie
er's malt, sieht es aus, wenn die neapolitanischen Fischer beim Scirocco am
Quai entlang lungern oder wenn ein Cardinal, von den tuoelü des Land¬
pöbels begrüßt, die verwitterten Stufen einer römischen Bergstadt herabstrahlt,
und für den Preis, den diese Veduten machen, kann man hingehn, um sich
mit eigenen Augen zu überzeugen. Aber das wird Alles mit einer gewissen
Schadenfreude als die Wirklichkeit Italiens den Idealisten vors Gesicht ge¬
rückt. Von Goethe zeichnete bekanntlich einst Jemand ein Porträt, als der
Göttersohn gerade zum Fenster hinaussah. Es war frappant getroffen —
aber von hinten. — Mit ganz andrem Sinne und doch ohne alle Prciten-
tion und Schwärmerei, sondern hübsch nüchtern und real erfaßt Valen¬
tin Ruths in Hamburg seine italienischen Motive: da ist die Zeichnung der
Form, welche die Natur wirklich hat, nicht weggeleugnet und die freie klare
Modellirung des Terrains mit dem Tastsinn verfolgt, der den inwohnenden
Rhythmus nachzuempfinden vermag. Lieber noch sehen wir den wenig be¬
kannten , kürzlich zum Mitgliede der Berliner Akademie erwählten Künstler
die Natur seiner Heimath schildern: die holsteinische Haide oder die Geest,
das Bodenleben der feuchten Niederungen oder sterilen Campagnen weiß er
mit der ganzen anziehenden Melancholie des menschenleeren Landes, das auch
beim hellsten Mittagssonnenschein wie verzaubert aussieht, aufs wirkungs¬
vollste und doch einfachste zu schildern. Schleich, der mit vorwiegender
Betonung des atmosphärischen Lebens und naturalistischerem Sinn besonders
gern die Poesie der süddeutschen Ebene zeigt, hat in Lier einen würdigen
Genossen; Chr. Morgenstern jedoch, der jüngst verstorbene Meister des Luft¬
lebens, ist nicht in seinen, vorzüglichen skizzenhaften Cabinetbildchen, sondern
durch größere ausgeführte Bilder vertreten, die wesentlich hinter diesen zu¬
rückbleiben. — Zwei geistreiche Maler des Wetters und der Jahreszeit lernen
wir in Scherres und Seidels kennen: jener bringt eine Landstraße, die
sich grad vor uns ganz eben in die Ferne verliert; ein paar Figürchen quälen
sich, diese schlechte Unendlichkeit im vollen Landregen abzumessen, ein Bild,
das mit größter Fertigkeit gemalt einen höchst humoristischen Eindruck macht.
Seidels malt ein Stück Dorfgegend in dem Schimmer des Frühlings, alle
Dinge durch die klar gewordene Lust angefrischt, alles Leben neu aufathmend,
eine Schaafheerde vorn, die sich den triefenden Weg in ganzer Breite daher
drängt. Daneben erscheinen Decamps mit den leimig zähen Tönen seiner
überkräftigen Localskizzen, Harpignies mit den fleckigen, vor lauter Sub¬
stanz nicht zur Plastik gelangenden Studien, Camille Bernier mit seinem
frappanten Waldporträt, zu welchem L am oriniöre in Brüssel das geschmack¬
vollere Gegenbild gibt, ziemlich roh. B a üble und Appian, ebenfalls aus¬
schließlich mit Farbe modellirend, beschränken sich in den hier vorliegenden Proben
zu sehr auf die bizarren Phänomene des Sumpflandes. Sie sämmtlich, ebenso
wie Corot, der in ähnlicher Intention einen „Windstoß" gemalt hat,
zwingen uns nicht zu der Ueberzeugung, daß das, was sie geben, gerade in
Oel gemalt werden mußte, wie man denn überhaupt bei den Naturalisten
eine große Unsicherheit im Instinkt für die Darstellungsmittel wahrnimmt.
Nicht blos in diesem Sinne heimathlos sind nun auch die Bilder Hilde¬
brandt's, den übereifrige Bewunderung kürzlich mit dem Titel „Maler
deS Kosmos" gekränkt hat. Die Kunst wird nicht wie manche Weine
besser, wenn sie die Linie passirt; im Gegentheil, mit der wachsenden Kenntniß
des Tropen-Kostüms der Natur, des Fremdartigen und seltenen wird der
Sinn für die immer einfache künstlerische Wirkung getrübt. So ist es Hilde-
brandt gegangen und infolge dessen eine ursprünglich vielleicht recht tüchtige
Kraft ins Absurde geführt worden. Sein ausgestelltes Bild aus der
Tropenwelt erhebt sich nicht über die handfesten Dekorationsstücke, wie man
sie in Dioramen aus dem Jahrmarkt bewundern kann. Nur in ganz wenig
Proben ist die Marine vertreten, doch sind sie dafür von ausgezeichneter Art.
Neben einem überaus subtil und schön gestimmten Strand im vollen Sonnen¬
glanze von Gudin, der in dieser räumlichen Einschränkung noch Besseres
leistet als auf großen Flächen, gebührt den beiden Bildchen von Sturm in
Baden (Brigg an der norwegischen Küste und Schaluppe vorm Winde
segelnd) besondere Auszeichnung. Hier erhebt Bescheidung und Liebe des
Künstlers eine anspruchslose Specialität zur reinsten ästhetischen Wirkung. —
Auf dem Meere, dem Raum der Hoffnung, verlassen wir die bunte Ma¬
lergesellschaft, die jetzt in München wettstreitet. Es wäre unrecht vom Laien,
ohne Dank zu scheiden, und gefährlich für den Künstler, nach irgend einer
Richtung mit Steinen zu werfen; nicht blos weil man sich wirklich im Glas¬
hause befindet, sondern weil Keiner ist, der nicht von einem Andern lernen
könnte. Das einzige Gemeinsame, das wir wahrnehmen, ist die unter den
Künstlern immer fester werdende Ueberzeugung, daß die Farbe wieder
zu einem wesentlichen Element erhoben werden müsse, — eine Einsicht,
die uns Deutschen lange gefehlt hat. Noch heute thun es uns Franzosen
und Belgier darin zuvor. Wie ihre Sprache sich formelhafter entwickelt hat
als die unsrige, haben sie auch einen deutlicheren Instinkt für die koloristische
Benennung ihrer Kunsterzeugnisse. Und das ist mit Nichten ein müheloser
Besitz. Es kann nicht geleugnet werden, daß sie fleißiger und ausdauernder
studiren, denn wenn wir die gegenseitigen Kunstleistungen der Vergangenheit
vergleichen, erkennen wir es als eine Selbsttäuschung, daß die Fähigkeit, die
Dinge farbig zu sehn, Naturvorzug ihrer Race sei. Die Wahrheit ist: das Stu¬
dium des Künstlers diesseits des Rheins wird viel zu sehr in Zeichnung und
Malerei getrennt, sodaß sich das Verständniß des Formenwesens und des
Lichtscheines der Dinge nur in seltenen Fällen schon im Auge der Lernenden
zu der Einheit verbindet, die das malerische Kunstwerk bedingt. Auch her¬
vorragenden Gemälden aus deutschen Schulen merkt man ab, daß sie gefärbt,
nicht in Farbe erfunden sind. Franzosen und Niederländer haben in ihrer
Ausbildung auch dem Umstände viel zu danken, daß sich das bei uns verzettelte
und verachtete Erbe des 18. Jahrhunderts unter ihnen in lebendigerer Ueber¬
lieferung erhielt und sie die Technik der Malerei nicht erst so gut wie neu
erfinden mußten. Und auch die Zucht war bereits in der vorigen Genera¬
tion weit strenger. Man lasse sich nur erzählen, mit welcher Feldwebel¬
energie z. B. der alte Van Brie in Antwerpen seine Schüler vor früh¬
reifem Meisterspielen bewahrte.
Am saftigsten ringen ohne Frage die Münchener, aus diesem Bann
herauszukommen, in den uns eine zu weiche Erziehung gebracht, und wir
haben manches sehr achtbare Resultat zu verzeichnen gehabt. Aber uns
Deutschen liegt die Gefahr, in Extreme zu gerathen, nicht ferner, sondern
näher als Anderen, weil wir zu leicht geneigt sind, aus einer neuen Wahrheit
einseitig Princip zu machen. So wird heute in demselben München, in
welchem vor 40 Jahren die deutsche Monumentalmalerei ihre Triumphe
feierte, aus einer wahren Tyrannei des Colorits Schule gemacht. Gleich
einem Adepten hat man hier einen Maler wie Makart erhoben, dessen ganzes
Geheimniß in der Naivetät besteht, womit er alle Hauptelemente der Figuren-
compofition dem Lüstre seiner papageiartig gestimmten, kaleidoskopisch com-
binirten Farbentöne opfert. Ein gut Theil Schuld an dieser Verirrung tragen
allerdings die modernen Franzosen mit ihrer kecken Experimentirlust in der
Wahl der sujets, aber im Technischen sind sie, — und vollends die Nieder¬
länder mit ihrer aristokratischen Ruhe — immer noch besonnener, wenn sie
auch die Grenzen der einzelnen Darstellungsmittel oft mißachten. Da¬
gegen ist die Phantasie der deutschen Maler unbefleckter und künstlerischer;
die jungen Münchener Extravaganzen sind doch Ausnahmen und bestätigen die
Regel. Darf man bei der Lückenhaftigkeit dieser Ausstellung der künftigen Ent¬
wickelung der Malerei ein Prognostikon stellen, so wird es alldem Unzuläng¬
lichen zum Trotz doch am günstigsten für uns ausfallen. Die Franzosen sind
auf einem Niveau angelangt, das unendliche Ausdehnung in die Breite ge¬
stattet; doch haben sie ihre Kunst dergestalt mit dem Leben, d. h. der moder¬
nen Anschauung verquickt, daß sie nicht nicht wissen, wie wieder herauszukom¬
men, und so werden sie das, was wir vor ihnen voraushaben, den Glauben
an den Selbstzweck der Kunst, nicht leicht zurückerwerben. Wohl aber können
wir lernen., was jetzt noch ihr Vorzug ist.
Dazu ist nur Eins noth. Beim Eintritt in den Transept der
Münchener Ausstellung starrt uns eine Unform von plastischem Conglome-
rat entgegen, die sich beim Nähertreten in Haustrümmer und Körperfetzen
auseinander thut. Es ist das Effectstück eines italienischen Patrioten und soll
an die Verwüstungen der Revolutionskämpfe mahnen. Zu diesem Ende führt
es die Aufschrift: „Dem Gewissen der Regierungen gewidmet." Gut gebrüllt,
Löwe! Dem Künstler aber männiglich, nicht blos diesem hier, möchten wir
rathen, künftig jedes Werk nur dem eigenen Gewissen zu widmen. Dann
wird die Kunst nicht lange mehr fehl gehen, wenn sie auch den goldenen
Bergen noch eine Weile fern bleibt.
In nächster Zeit muß der Landtag zur Erledigung der vielen dringenden
Geschäfte, die seiner harren, einberufen werden. Was wird er bringen?
Werden die Liberalen, werden die Ultramontanen Herren der Lage werden?
Jedenfalls steht fest, daß die Ultramontanen eine, wenn auch ganz kleine
Mehrheit ihrer Leute durchgesetzt haben und daß Bayern, seit die Constitution
besteht, noch nie so schwer zu regieren war als gegenwärtig. Bisher stand
der Regierung eine ausschlaggebende Anzahl von Abgeordneten entweder als
mehr oder minder ausgesprochene ministerielle Partei zur Seite oder als er¬
drückende Opposition gegenüber. Was aber soll jetzt geschehen, wo die
Parteien sich so vollständig die Waage halten, daß das Erkranken oder Aus¬
bleiben des einen oder anderen Abgeordneten der Gegenpartei zum Siege
verhelfen kann? Durch einen Wechsel des Ministeriums ist selbstverständlich
dem Lande der Friede nicht wiederzugeben. Denn ein ultramontanes Ca-
binet würde nicht allein eine seine Thätigkeit lähmende Opposition in der
Kammer vorfinden, sondern überdies die Gefahr heraufbeschwören, daß in den
protestantischen Provinzen sich eine rein annexionistische Partei heraus¬
bildete.
Unter diesen Umständen hat nach unserem Dafürhalten die gegenwärtige
Regierung ganz mit Recht und ganz im konstitutionellen Sinne den Ent¬
schluß gefaßt, trotz der wenig verlockenden Situation am Ruder zu bleiben.
Freilich die Tage der Reform in Kirche und Schule, die Tage, wo an eine
Ausdehnung der Beziehungen zum norddeutschen Bunde gedacht werden konnte,
sind für einige Zeit vorüber. Darüber wird man sich wohl in. den ma߬
gebenden Kreisen keinen Illusionen hingeben, und so viel man hört, soll auch
das „moll ins temAers" dieser sturmerregenden Fragen in das neue Pro¬
gramm des Ministeriums aufgenommen worden sein. Die gegenwärtige Re¬
gierung vermag aber doch zu hindern, daß Bayern durch die Ultramontanen
von dem Punkte wieder herabgestoßen werde, den es in Folge seines funfzig¬
jährigen Verfassungslebens bereits erreicht hat. Auch wird auf neutralem
Gebiete,— wenn dieser Ausdruck hier erlaubt ist, — die gesetzgebende Maschine
unter der jetzigen Regierung nicht zum Stillstand gebracht werden können.
Denn daß, wie sich vielleicht Lucas, Buchner und Consorten einbilden mögen, die
ultramontane Partei Parteifragen nicht berührende Vorlagen des Ministeriums
nur deswegen verwerfen wolle oder könne, weil sie von einem liberalen Mi¬
nisterium kommen, das glauben wir nicht. An sich Gutes zu verwerfen, weil
man den Spender desselben nicht mag, — diese Methode ist in der Politik
in Folge trauriger Erfahrung in Abgang gekommen und wir sind fest über¬
zeugt, daß sich die Ultramontanen diese Erfahrung ihrer Gegner ebenfalls zu
Herzen genommen haben. Sollte ein derartiger Versuch dennoch gemacht
werden, so würde dies sicher eine jener Spaltungen innerhalb der ultramon¬
tanen Partei hervorrufen, mit denen zu calculiren die Liberalen schon längst
gewohnt sind. Aus der bis jetzt geschlossenen Phalanx der Ultramon¬
tanen würde sich eine Mittelpartei abzweigen, die zwar in äußeren Fragen
stark blau-weiß auftreten, in inneren Fragen aber der Verständigung mit den
Liberalen nicht principiell unzugänglich sein würde, — Sind auch die Trauben
der Ultramontanen nicht sämmtlich zur Reife gekommen, so bleibt die Lage doch
immer eine sehr unbefriedigende und unsichere, und dies um so mehr, je weniger
man im Lande weiß, wie der König persönlich zu dem ganzen Treiben steht.
Stimmen seine Ansichten im Wesentlichen mit denen seiner Minister überein,
oder hält er die jetzige Zusammensetzung seiner Regierung nur eben für
opportun? Hierüber ist bis jetzt nicht das Geringste in die Oeffentlichkeit
gedrungen, obwohl eine Kundgebung in dieser Richtung zur Stärkung der
ministeriellen Position dringend nothwendig wäre. Der König — das weiß
Jedermann — ist eben Interessen aller Art zugänglicher als denen, welche
sich auf die Lage des Landes und seine Negierung beziehen.
Sie sehen hieraus, daß zwar das Ministerium Hohenlohe auch durch die
jetzige Zusammensetzung der Kammer der Abgeordneten keineswegs zu einer Un¬
möglichkeit geworden ist, daß sich aber andererseits das Feld seiner Thätigkeit
von verschiedenen Seiten her verengt hat, daß seine Thätigkeit zu einer blos
conservirenden herabgesunken ist. Daß die Reorganisation der Volksschulen
in der nächsten Zeit, so wie sie beabsichtigt war, nicht wieder aufs Tapet
gebracht werden kann, halten wir, offen gestanden, für das allergeringste
Unglück, das die Ultramontanen angestiftet haben. Denn keine der vielen
inneren Fragen drängt trotz aller gegenseitigen Behauptungen so wenig zur
Entscheidung, wie die Schulfrage. Läßt man alle Parteiphrasen, die sich ja
reichlich in dieselbe gemischt haben, weg, so ist das Wahre an der Sache
dies: die Schullehrer sind unzufrieden mit ihrer socialen Stellung, insbeson¬
dere mit ihrer Bezahlung und wohl mit Recht. Diese lediglich in den Personen
der Lehrer begründeten Bedürfnisse hat man nun mit anerkennungswerthen
Geschick als Fehler der Schulorganisation darzustellen gewußt und behauptet,
das bayerische Schulwesen tauge überhaupt nichts, während statistisch längst nach¬
gewiesen ist, daß unsere Schulen den Vergleich selbst mit den preußischen kaum zu
scheuen haben. In der That lassen unsere Schulen -— allerdings mit Aus¬
nahme der niederbayrischen — weniger zu wünschen übrig, als man all¬
gemein annimmt, ja sie sind in einzelnen Kreisen, wie in Oberbayern, Schwa¬
ben, Mittel- und Unterfranken geradezu gut. Hätte das Ministerium den
Grund der Agitation richtig erkannt, so hätte es sich die Schulfrage, die
ihm so vielen Haß zugezogen hat, durch eine etwas ausgibige Gehaltsaus¬
besserung der Lehrer ohne große Mühe bis zu einem bequemen Zeitpunkt
vertagen können.
Was der liberalen Partei diese Frage so anziehend machte, war der Um¬
stand, daß die Reorganisation der Schule auf Beseitigung der Geistlichkeit
durch Aufstellung weltlicher Inspektoren hinauslief und man hiedurch eine
Beschränkung des cleriealen Einflusses überhaupt herbeiführen zu können
glaubte, ein Glaube, der sich indessen als sehr trügerisch herausstellen dürfte.
Ganz läßt sich indessen der Eifer der liberalen Partei hieraus nicht erklären;
auch die Furcht hat eine nicht unbedeutende Rolle in dieser Angelegenheit
gespielt. Die Schullehrer sind aus dem Platten Lande bereits zu einer keines¬
wegs zu unterschätzenden Macht herangewachsen. Da sie allein im Stande sind,
den Einfluß der Geistlichen auf die Landbevölkerung einigermaßen zu Para¬
lysiren, so waren sie der liberalen Partei bei den Wahlen ganz unentbehr¬
lich. So ist denn manches Wort, das die Kammerdebatte der wahren Sach¬
lage etwas näher gebracht hätte, im Hinblick auf diese Unentbehrlichkeit in
der Brust der Volksvertreter verschlossen geblieben.
Nun, der Entwurf ist gefallen; das aber, was nach unserem Dafürhalten
den einzigen stichhaltigen Grund der ganzen Agitation bildete, nämlich die
Verbesserung der Gehalte der Lehrer und damit die Verbesserung ihrer ganzen
socialen Stellung, kann auch von der jetzigen Kammer jeden Augenblick
erlangt werden.
Wir würden uns nicht so lange bei dieser bereits abgethanen Sache
aufgehalten haben, wenn es nicht in Bayern gegenwärtig Mode wäre, Alles
auf die Mängel des Schulwesens zu schieben. Mag es in der Armee oder
der Justiz, bei der Eisenbahn oder beim Theater an irgend etwas fehlen,
überall ist der wahre Grund die mangelhafte Schulbildung. Erlauben Sie mir
eine kleine Geschichte anzuführen, welche Ihnen beweisen wird, bis zu welcher
Verwirrung die Klagen über das Schulwesen bereits in einigen Köpfen ge¬
diehen sind. Vor einiger Zeit veranstalteten mehrere Dilettanten zu einem
wohlthätigen Zwecke eine Vorstellung im Nesidenztheater. Der Berichterstatter
eines sehr verbreiteten Augsburger Blattes hatte sehr viel an der Darstellung
der als Schauspieler auftretenden Herren auszusetzen, und schloß seine Recension
mit dem Ausrufe: Es müßten doch die Volksschulen recht dringend einer Ver¬
besserung bedürfen, wenn so wenig in der darstellenden Kunst geleistet werde.
Möge nur solchen Uebertreibungen nicht eine Reaction auf dem Fuße
folgen, welche der Schule selbst verderblich wird.
Nach alledem werden wir wohl einer Kammersaison entgegengehen, welche
weniger stürmisch sein wird, als dies die politische Constellation herbeiführen
zu müssen scheint. Jedenfalls wird die Loosung für den Feldzug sein müssen,
Alles zu vermeiden, was den Ultramontanen Gelegenheit geben könnte, ihre
Stärke und ihren Einfluß zu zeigen, und dies kann um so leichter geschehen, als
die äußeren Beziehungen Bayerns, namentlich die zum norddeutschen Bunde, ver¬
tragsmäßig geordnet und im Innern die Socialgesetzung bereits ins Leben
getreten ist. Die Ultramontanen sind in diesen Beziehungen entschieden schon
zu spät gekommen!
Rinne par Z?rii<z->t üonan, mombro av l'instiwt. ?aris, N. I^foz' ^rörss, 1869.
Paulus. Von Ernst Renan. Autor, deutsche Uebersetzung. Leipzig, F. A. Brock¬
haus. 1869.
Der dritte Band des Werks, das den Franzosen „die Geschichte der
Anfänge des Christenthums" erzählt, ist dem Apostel Paulus gewidmet.
Sanct-Paulus lautet der Titel, im Anschluß an den populären Sprach¬
gebrauch, aber immerhin auffallend bei einem Werke, das die Geschichte eines
Mannes, nicht die Legende eines Heiligen erzählen will. Es ist als ob
schon der Titel den Leser darauf vorbereiten wollte, daß die Auffassung, die
sich in der katholischen Tradition von dem Apostel gebildet hat, mehr als
billig auch noch diese neueste geschichtliche Darstellung beeinflußt. So gründ¬
lich, so tödtlich möchte man sagen, hat die Kirche selbst das Bild eines ihrer
größten Helden entstellt, daß der Gelehrte des 19. Jahrhunderts, der im
besten Glauben an seine gänzliche Unbefangenheit zu Werke geht, Schritt für
Schritt in die Schlingen sich verwirrt, die der Parteigeist des zweiten.christ¬
lichen Jahrhunderts ersonnen. Ahnungslos tritt er in die künstlich angelegten
Jrrgänge, stets mit vergnügtester Miene versichernd, daß er auf dem rechten
Wege sei.
Und doch ist der begrenzte Zeitraum, den das neue Buch behandelt,
eine verhältnißmäßig geschichtlich klar aufgehellte Zeit, die hellste in der ganzen
Geschichte des Urchristenthums. Es ist nicht die ganze Lebensgeschichte des
Apostels die in diesem Bande erzählt wird. Der Anfang fehlt und das
Ende. Mit der Geschichte der ersten christlichen Kirche zu Jerusalem sind
auch die Anfänge des Paulus, seine Bekehrung, sein Leben bis zur ersten
Missionsreise im vorausgehenden Werke beschrieben. Andererseits wird das
Ende des Paulus, die drei letzten Jahre seines römischen Aufenthalts bis zu
der vermuthlichen Katastrophe, die mit der neronischen Verfolgung zusam¬
menfällt, in einem folgenden Band erzählt werden. Aber gerade die sechzehn
Jahre, die dazwischen liegen, heben sich mit geschichtlicher Bestimmtheit aus
ihrer Umgebung ab. Paulus selbst macht den Eindruck einer scharf aus-
geprägten Persönlichkeit, im Unterschied von allen andern Aposteln, deren
Leben sich völlig in die Sage verliert/ Eigenlich Legendarisches hat sich nur
weniges an seine Gestalt zu heften vermocht, so gewaltig und einschnei¬
dend war sein Wirken. Vor Allem aber sind uns eine Anzahl ächter Briefe
von ihm erhalten, welche über seine Persönlichkeit, über den Gang und In¬
halt seines Lebens die wichtigsten Aufschlüsse geben. Endlich ist gerade für
den in Frage stehenden Zeitraum die Apostelgeschichte eine werthvolle, ob¬
wohl mit Vorsicht zu gebrauchende, für einzelne Partien sogar eine authen¬
tische Quelle.
Freilich ganz glatt und lückenlos lassen sich diese sechzehn Jahre nicht
erzählen, — wenn man nicht eben ein Renan ist. Ein gewissenhafter Er¬
zähler wird-da und dort auf Punkte stoßen, wo er sich mit einem ehrlichen
non liiMöt bescheiden muß, für ganze Zeiträume lassen die Quellen im Stich,
und nicht immer ist aus den verworrenen Berichten das wirklich Geschehene
oder auch nur das Wahrscheinliche wiederherzustellen. Will man sehen, zu
welchen Resultaten mit demselben Material die deutsche Wissenschaft gelangte,
so möge man A. Hausraths „der Apostel Paulus"") vergleichen, ein Buel,
das ungefähr auf denselben kritischen Prämissen beruht und gleichfalls nicht
eine gelehrte Untersuchung, sondern eine geschichtliche Erzählung ist. Und
doch wäre es ungerecht, wenn man Renan nach unseren strengeren Begriffen
Mangel an Gewissenhaftigkeit vorwerfen wollte. Der Maßstab, den wir an-
zulegen pflegen, paßt nicht, denn er ist ihm unverständlich. Renan ist eine
völlig naive Natur, er weiß es nicht anders, ihm ist es nun einmal Bedürf¬
niß, Alles zu harmonischen Geschichtsbildern auszugestalten, es darf kein un¬
gelöster Rest bleiben, und wo die Quellen das nicht erlauben, da hilft die
ordnende geschickt disponirende Hand des Autors, zuletzt seine Phantasie
nach. Das ist die Schwäche, aber auch die Stärke und der Reiz seiner Ge¬
schichtserzählung. Die Wirkung seines Lebens Jesu beruht darauf. An die
Stelle einer großen Lücke, welche die eigentliche Geschichte nie mehr aus-
füllen kann, setzte er ein geistvolles anziehendes Gemälde, willkürlich zwar
aber lebendig. In derselben Weise fährt er nun fort zu erzählen. Nur wird
die Wirkung bedeutend schwächer, das Verfahren bedenklicher werden, wenn
es, wie in der Geschichte des Paulus, auf einen Stoff angewandt wird, für
welchen ein ungleich größeres wirklich geschichtliches Material vorhanden ist,
das nur kritisch gesichtet werden darf, um die Darstellung auf allen Punkten
zu controliren.
Man weiß wie Renan mit den Quellen der Geschichte des Urchristen-
thums sich auseinandersetzt. Er kennt und schätzt die Arbeiten der deutschen
Wissenschaft, die auf diesem Gebiet eine so große Umwälzung hervorgebracht
haben, und er ist nicht blos in die Probleme und Resultate eingeweiht,
sondern auch, was wichtiger ist, in die Methode der Forschung; er wieder¬
holt selbst vor seinen Lehren den kritischen Prozeß, in welchem Aechtheit. Zeit
der Auffassung, Motive u, s. w. der einzelnen Erzeugnisse der urchristlicher
Literatur geprüft werden. Aber merkwürdig, es fällt ihm gar nicht ein, die
Konsequenzen daraus zu ziehen. Oper er thut es das einemal, das andere-
mal nicht, und beidemal weiß man nicht recht warum. Es ist ihm genug,
wenn er, z. B. bei einer Schrift deren Aechtheit in Frage steht, alle Ein¬
wendungen der Kritik aufgeführt hat; wenn nur dies geschehen ist, so hat
die Wissenschaft ihre Pflicht gethan. Aber wer wird so unbillig sein, auf
diese Gründe hin eine Entscheidung zu verlangen? Wer kann gezwungen
werden, sich ihrem Gewicht zu unterwerfen? Ist es doch das Einfachste und kränkt
es doch Niemanden, wenn man erst der Kritik das Wort verstattet, um es
schließlich mit überlegenem Lächeln bei der traditionellen Ansicht bewenden zu
lassen? Renan erscheint hier wie ein liebenswürdiger, gutmüthiger Examina¬
tor, der, nachdem der Candidat herzlich schlecht bestanden, ihm in seines
Herzens Güte und in Gottes Namen schließlich doch eine gute Note ertheilt.
Oder man denke sich eine kunstgeschichtliche Streitfrage. Ein Gemälde trägt,
wer weiß seit wie lange, den Namen Raphael's. Nun finden sich Aktenstücke,
mit denen dieser Ursprung schwer in Einklang zu bringen ist. Man unter¬
sucht das Bild genauer und findet nun noch eine Reihe innerer Gründe,
welche überraschenderweise zusammenstimmend auf einen ganz andern Ursprung
weisen. Allein was thuts? Warum den Besitzer kränken? Das Bild heißt
einmal Raphael, warum soll es nicht ferner so heißen? Den interessirten
Eifer alter und neuer Apologeten kennt Renan freilich nicht. Es ist nicht
etwa so, daß auf der andern Seite nun auch für die Ansicht von der Aecht¬
heit der betreffenden Schrift gewichtige Gründe herbeigeschleppt würden, so
daß der Kritiker die Schaale zuletzt auf diese Seite sich neigen ließe. Keines¬
wegs, solche Gründe werden gar nicht zusammengetragen. Genug, daß die
Schrift seit bald zweitausend Jahren den Namen dieses oder jenes Apostels
an der Stirne trägt, warum sie dieses Schmucks berauben? Warum soll es
in Zukunft anders sein, wenn die Welt sich so lange dabei beruhigt hat?
Am Ende ist ja die Sache des vielen Streits nicht werth. Lassen wir also
dem Apostel die Schrift und sehen wir lieber zu, daß wir aus ihr sür eine
möglichst detaillirte Geschichtserzählung möglichst viel kleine Züge zusammen¬
tragen und geschickt verwenden. Auf solche Grundsätze wenigstens ist das
Verfahren Renan's durchgängig basirt.
Dreizehn Briefe befinden sich in unserer Sammlung neutestamentlicher
Schriften, welche sich selbst sür p-ulinisch ausgeben. Darunter befinden sich
*
unzweifelhaft ächte, deren apostolischer Ursprung noch nie in Frage gestellt
worden ist, dann unzweifelhaft falsche Briefe, endlich eine Anzahl bestrittener,
über welche die Acten noch nicht endgiltig geschlossen sind. Die ächten sind
der Brief an die Galater, die beiden an die Korinther und der an die Römer.
Die sicher unächten — auch von Renan als solche anerkannt — sind die
beiden Briefe an Timotheus und der an Titus, die sogenannten Pastoral¬
briefe. Was die sechs anderen Briefe betrifft, so versäumt Renan nicht, das
kritische Material seinen Lesern vorzulegen, Diese Briefe enthalten theils
vorgeschrittenere Lehrmeinungen, als sie sonst bei Paulus sich finden,
theils weisen sie auf eine festere kirchliche Organisation hin, als sie zu den
Zeiten des Apostels vorhanden war. Auch ihre Etnreihung in das Leben
des Paulus macht Mühe. Vor Allem aber haben sie nichts von dem per¬
sönlichen und gelegenheitlichen Charakter, der den vier Hauptbriefen eigen
ist; überhaupt vermißt man an ihnen das eigenthümliche Gepräge des pauli-
nischen Geistes. Es sind lehrhafte Episteln, die, nach der Ansicht der kriti¬
schen Schule, der nachapostolischen Zeit angehören, in welcher man bemüht
war, den durch das Auftreten des Paulus entstandenen Streitigkeiten die
Spitze abzubrechen, einer vermittelnden Meinung die Herrschaft in der Kirche
zu gewinnen, und in welcher man, wie dies nachweisbar ist, keinen Anstand
nahm, Schriften, die in dieser Absicht verfaßt waren, auf Apostelnamen zu¬
rückzuführen, um ihnen'dadurch ihre Wirkung in den Gemeinden zu sichern.
Renan erklärt sich nun nach Aufzählung aller Gegengründe doch für die
Aechtheit dieser Briefe, selbst des Epheserbriefs, bei welchem es ihn sichtliche
Mühe kostet, die kritischen Bedenken zu überwinden. Uebrigens ist zu be¬
merken, daß vom historischen Gesichtspunkt die Frage der Aechtheit dieser
sechs Briefe wirklich nur eine untergeordnete Bedeutung hat. Gerade um
ihres vorherrschend lehrhaften Charakters willen, und weil sie so wenig Per¬
sönliches und eigenthümlich Paulinisches enthalten, sind sie in jedem Fall nur
ein secundärer Beitrag für die Biographie des Apostels, die in erster Linie
auf jene vier großen Briefe angewiesen ist. Der Biograph, der die kleineren
Briefe als ächt benutzt, gewinnt an ihnen nicht viel, wie umgekehrt der¬
jenige nichts Wesentliches verliert, der sie bei Seite liegen läßt.
Weit wichtiger ist die Frage nach den Grundsätzen, denen der Biograph
bei Benutzung der Apostelgeschichte folgt. Hier ist das Verfahren von Renan
ganz eigenthümlich. In der Theorie ist er ganz Kritiker, in der Praxis fällt
er immer wieder in die kirchliche Tradition zurück. Er beurtheilt die Com-
position der Apostelgeschichte ganz richtig, aber es ist ihm nicht möglich, sich
daraus eine feste Norm für seine Erzählung zu bilden. Indem er dem Buch
seine einzelnen Angaben nacherzählt, vergißt er immer wieder, was er selbst
über die Unglaubwürdigkeit und das Tendentiöse seiner ganzen Anlage ge-
sagt hat. Bekanntlich ist die Apostelgeschichte von einem Pauliner geschrieben,
aber zu dem Zweck, eine Versöhnung zwischen der paulinischen und der da¬
mals überwiegenden judenchristlichen Partei herbeizuführen. Der Verfasser
bietet gleichsam einen Vergleich an, durch Modificationen in der Lebens¬
beschreibung der beiden Hauptapostel, deren Ungeschichtlichkeit namentlich durch
den Inhalt des Galaterbriefs erhärtet ist. Er macht den Paulus, kurz ge¬
sagt, zu einem gesetzesfrommen Judenchristen, damit diese Partei an dem
gegnerischen Haupt nicht länger Anstoß nehme, und er macht umgekehrt den
Petrus zu einem freisinnigen Heidenchristen, damit das wesentliche Resultat
des Paulinismus, die Universalität des Christenthums, durch die Autorität des
Petrus selbst gedeckt werde. Er vertauscht also die Rolle beider und sucht
das Wesentliche im Werk des Paulus zu retten, indem er es dem Petrus auf
die Rechnung schreibt. Im Uebrigen werden beide als die besten Freunde
geschildert, die Streitpunkte überhaupt vermischt, die Erinnerung an so schroffe
Scenen, wie die für welche der Galaterbrief als geschichtlicher Zeuge dasteht,
möglichst getilgt. Der Zweck, den die Apostelgeschichte und mit ihr andere Schrif¬
ten verfolgten, ist denn auch vollständig erreicht worden. Der Compromiß der
Parteien drang in der Kirche durch; der Haß, mit welchem Paulus von der
judenchristlichen Partei noch im 2. Jahrhundert verfolgt wurde, verlor sich und
rehabilitirt nahm der Apostel seine Stellung in der Kirche unmittelbar neben
Petrus ein; beide wurden jetzt als Häupter und Gründer der vornehmsten
Gemeinden verehrt. Das freundschaftliche Zusammenwirken der beiden
Hauptapostel bildet von nun an beinahe einen Glaubenssatz der Kirche, der
vollendete Ausgleich des Parteistreits findet darin seinen sprechendsten Aus¬
druck. Aber der kirchliche Paulus war nicht mehr der geschichtliche Paulus;
schon der Paulus der Apostelgeschichte ist nicht mehr der des Galaterbriefs.
Gerade seine eigenthümliche Persönlichkeit hatte müssen daran gegeben wer¬
den, damit der Ausgleich zu Stande komme. Denn die spätere Kirche
wollte nichts mehr von dem kühnen Neuerer wissen, der erst in leidenschaft¬
lichem Kampf mit den Uraposteln den Fortschritt ertrotzte, dessen jetzt die ge-
sammte Kirche sich freute. Im Wesentlichen siegten die Pauliner, sofern die
Losreißung vom gesetzlichen Judenthum eine vollendete Thatsache wurde.
Allein der Sieg war theuer, sie bezahlten ihn damit, daß sie die Individuali¬
tät ihres Parteihauptes preisgaben, und die Aufgabe des Geschichtsschreibers
ist es, diese Individualität wiederherzustellen.
Daß nun jene Tendenz der Abfassung der Apostelgeschichte zu Grunde
liegt, — welche im Uebrigen allerdings Stücke enthält, die unzweifelhaft von
einem Reisebegleiter des Paulus herrühren — wird auch von Renan zuge¬
standen. Da wo in der Darstellung der Apostelgeschichte und in jener der
paulinischen Briefe sich erhebliche Differenzen finden, stellt er den Grundsatz
auf, daß für die Genauigkeit der thatsächlichen Ereignisse der eigene Bericht
des' Paulus vorzuziehen sei. So namentlich in Betreff jener Zusammenkunft,
die Paulus in Jerusalem mit den älteren Aposteln zu dem Zwecke hatte, die
freiere Weise seiner Predigt zu rechtfertigen. Renan legt hier mit Recht sei¬
ner Erzählung den Bericht des Galaterbriefs zu Grunde, der wesentlich von
dem der Apostelgeschichte abweicht. Es ist ja auch nichts selbstverständlicher,
denn die Darstellung des Paulus, der mitten in diesen Kämpfen stand , ist
ja offenbar zuverlässiger als die eines späteren Schriftstellers, der absichtlich
im Interesse der Versöhnung schrieb. Allein dieses Interesse der Versöhnung
beseelte den Verfasser der Apostelgeschichte nicht lebhafter, als es Renan be¬
seelt; genau dasselbe Geschäft der Vermittelung setzt nach 18 Jahrhunderten
der französische Gelehrte fort. Der Umstand, daß die älteren Apostel im
Bericht des Paulus allerdings nicht im günstigsten Licht erscheinen, genügt,
um ihnen die Protection des edeldenkender inöwbrö Ah 1'institut zu ver¬
schaffen. Ist nicht Paulus selbst Partei? Schreibt er nicht im eigenen In¬
teresse? Ist nicht seine Darstellung „sür die augenblicklichen Bedürfnisse zu¬
gestutzt?" So ist also die Aufgabe des unparteiischen Geschichtsschreibers viel¬
mehr die: „beide Erzählungen zu combiniren, zu ändern und in Einklang zu
bringen." Der ganze Brief an die Galater ist ja auch so leidenschaftlich,
daß Paulus — so versichert Renan in vollem Ernst — hätte er sich nur
eine Stunde Ueberlegung gelassen, ihn ohne Zweifel garnicht abgesandt hätte.
Ja er dichtet ihm geradezu nachträgliche Reue an, daß er seine Galater so
schroff angelassen. Kurz, die Vorgänge werden zwar im Wesentlichen richtig
erzählt, aber überall mit Details, deren Zweck ist, den damals zwischen
Judenchristen und Heidenchristen geführten Parteistreit in einem milderen Lichte
erscheinen zu lassen, ganz wie die Kirchenmänner des 2. Jahrhunderts diesen
Zweck verfolgt haben. Bei der bald nach der Besprechung in Jerusalem
stattgehabten Scene in Antiochia, wo Paulus sich genöthigt sieht, Aug in
Auge dem Petrus seine Schwäche und Grundsatzlosigkeit vorzuwerfen, wieder¬
holt sich Nenans verknöchertes System in noch höherem Grade. „Petrus
und Paulus liebten sich", versichert Renan mehrmals angelegentlich, als
wollte er mehr sich selbst als Andere überzeugen. Im Uebrigen ist seine
Parteinahme sür den „guten Petrus" unverkennbar. Dieser wird immer
von den eigentlichen Jerusalemiten getrennt, auf welche all das Maß von
Schuld abgeladen wird, das nicht auf Paulus selber fällt. Trifft es sich, daß
Paulus aus irgend einem Grund von einem Genossen sich trennt, wie von
Barnabas, so läßt Renan durchblicken, daß der Stolz und die Herrschsucht
des Paulus, mit dem kein Mensch auskommen kann, die Schuld trägt. Wo
er dagegen eine vermittelnde Denkart entdeckt oder vermuthet, da ist seine
ganze Sympathie. Er bedauert es, daß Männer wie Barnabas, Timotheus,
sitas und Andere, von denen uns die Geschichte kaum mehr als die Namen
aufbewahrt hat, durch die Alles verdrängende Persönlichkeit des Paulus um
ihren Theil des Ruhmes betrogen worden seien. Mit wahrer Idiosynkrasie
sucht er das Mittelmäßige auf, um es auf Kosten starker Naturen zu erheben.
Das geht so weit, daß er andererseits auch den Paulus wieder auf das Ni¬
veau der Mittelmäßigkeit herabzudrücken bemüht ist. Denn er läßt ihm nicht
einmal den Ruhm der Schroffheit und der unbeugsamen Consequenz. Hier
nimmt er nämlich alle jene Züge aus der Apostelgeschichte auf, welche den
Paulus als frommen Gesetzesmann der judenchristlichen Partei empfehlen
sollen. Er, der Störenfried, wird doch wieder als ein Mann geschildert,
der die Dinge nie auf die Spitze treiben mag und bei Zeiten nachgiebt. Dem
klaren Zeugniß des Galaterbriefs entgegen nimmt Renan sogar an, daß
Paulus bei seiner Zusammenkunft in Jerusalem, zu welcher er den Titus
ausdrücklich als ein lebendiges Zeugniß des Heidenchristenthums mitnahm,
seine Einwilligung zu der von den Jerusalemiten verlangten Beschneidung des
Titus gegeben habe. Wenn Paulus im Galaterbrief sage, Titus sei nicht
zur Beschneidung gezwungen worden, so sei dies nur ein „origineller Aus¬
druck", der vielmehr sagen wolle, allerdings sei Titus beschnitten worden,
nur habe er sich damit nicht im Princip unterworfen, sondern blos, um
Friede zu behalten, ein Zugeständnis) gemacht. So läßt denn auch Renan
den Apostel die wiederholten Reisen nach Jerusalem machen, die ihn als ge¬
wissenhaften Beobachter des Gesetzes charakterisiren sollen, von denen aber die
Briefe nichts wissen; ja Paulus muß schließlich den Judenchristen das Opfer
bringen, daß er die nasiräischen Gelübde, eine siebentägige Uebung rabbini-
scher, aberwitziger Gebräuche übernimmt, was, wie Hausrath treffend bemerkt,
grade so glaublich ist, als daß Luther in seinem Alter auf Erbsen nach Ein¬
siedeln gewallfahrtet oder daß Calvin auf seinem Todtenbett der heiligen
Mutter Gottes einen goldenen Rock gelobt habe.
Es liegt auf der Hand, wie durch eine solche Darstellung der wirkliche
Charakter jener Parteikämpfe, die sich an das Auftreten, des Paulus knüpf¬
ten, verwischt wird. Man begreift gar nicht das gewaltige Feuer in den
Briefen des Apostels, den Zorn, der ihn nach Jahren noch übermannte, wenn
er auf jene Begegnungen mit den Uraposteln zu reden kam. Der Zweck, die
Veranlassung dieser Briefe wird unverständlich, und vor Allem wird es der
Charakter des Paulus. Erscheint doch sein Thun zusammenhangslos, schwach,
willkürlich. Ueberhaupt versucht man vergebens, aus den widerstreitenden
Zügen, die Renan austrägt, sich ein harmonisches Bild von der Persönlich¬
keit des Apostels zusammenzusetzen. Der „kleine häßliche Jude", wie ihn
Renan mehr als einmal nennt, wird fast in demselben Athem als „von ge¬
winnender Anmuth" gerühmt. Ueberraschende Sanftmuth und Zartheit und
dann wieder Bosheit und versteckter Sarcasmus — das wechselt nur so mit
einander ab. Er zeigt demüthige Unterwürfigkeit, aber Eifersucht und Empfind¬
lichkeit find seine wesentlichen Charakterzüge. Seine Herrschsucht vermag Nie¬
manden neben sich zu dulden, und doch ist sein Leben von dem Grundsatz
beherrscht, daß über persönlichen Meinungen und Gefühlen die Liebe stehe.
Was soll man sich bei dieser Art der Charakteristik denken? Allerdings ist
Paulus eine überaus zusammengesetzte Natur. Aber es ist doch nicht so
schwer, auf seine Briefe gestützt sich die Grundzüge seiner Persönlichkeit zu
vergegenwärtigen. Entseelte ist das Bild doch hauptsächlich dadurch, daß
Züge dazu verwandt sind, die gefärbte Geschichtsquellen geliefert haben,
Quellen, in denen gerade die specifische Eigenart des Apostels sür bestimmte
Zwecke modificirt erscheint. Renan hat sich so das Gelingen eines Porträts
unmöglich gemacht, welches grade für sein künstlerisches Talent eine an¬
ziehende Aufgabe war.
Renans Stärke ist auch in diesem Bande die culturgeschichtliche Schil¬
derung oder, genauer gesagt, die geschichtliche Kleinmalerei. Unnachahmlich
ist seine Feder, wenn sie das Leben jener ersten Missionäre beschreibt, ihr
Reisen und ihre Fährlichkeiten, die Bedingungen ihrer Wirksamkeit und die
Zusammensetzung der ersten Gemeinden. Schön ist auch die Schilderung des
Moments, da das Christenthum, zum ersten Male nach der Ferne strebend,
sich dem offenen Meere anvertraut:
„Die Fröhlichkeit, die Jugendlichkeit, die diese evangelischen Irrfahrten
athmeten, waren etwas Neues, Originelles, Entzückendes. Die Apostel¬
geschichte, der Ausdruck dieses ersten Aufschwungs christlichen Bewußtseins,
ist ein Buch der Lust, des freudigen Feuers. Seit den Homerischen Gedich¬
ten hatte man kein Werk so voll von frischen Eindrücken gesehen. Eine
Morgenluft, ein Mceresduft, wenn ich so sagen darf, die dem Buche eine ge¬
wisse Frische und Stärke verleihen, durchhauchen das Ganze und machen es
zum ausgezeichneten Reisegefährten, zum auserwählten Brevier desjenigen,
der den alten Spuren an den Südmeeren folgt. Das war die zweite Dich¬
tung des Christenthums. Die erste hatten der See von Tiberias und die
Fischernachen geliefert, jetzt führt uns ein stärkerer Hauch, das Sehnen nach
entfernteren Ländern, auf das hohe Meer."
Einen großen Raum nehmen ferner die wohlausgeführten Landschüsts-
bilder ein; wohin der Fuß des Apostels dringt, überall sind wir Mitreisende.
Theils aus eigener Erinnerung, theils aus Reisewerken aller Art zeichnet
Renan die Oertlichkeiten, die Aussichten, die Eigenthümlichkeiten der Vege¬
tation. Und mit nicht minderer Sorgfalt sind die Zustände der Völker¬
schaften geschildert, durch welche der Apostel reist, vor Allem aber die großen
Städte, welche bald die Mittelpunkte des neuen Glaubens sind, jene großen
Emporien, die längst entnationalifirt eine bunte Mischung von Völkern und
von Bekenntnissen in ihrem Schoße tragen und „jene verpesteten Schlupf¬
winkel der Seeleute, in denen das Christenthum Wunder thut." Denn „wie
der Socialismus unserer Tage, wie jede neue Idee, keimte das Christenthum
in dem, was man die Fäulniß der großen Städte nennen kann, die in der
That ost nur ein volleres und freieres Leben, eine größere Erweckung der
inneren Kräfte der Menschheit ist." Mit großer Gelehrsamkeit werden aus
den alten Schriftstellern und aus den neuesten Jnschriftenwerken die Elemente
zu diesen Culturbildern zusammengetragen, die in der That nicht außerhalb
der Aufgabe eines Biographen des Paulus liegen. Eine bis ins Einzelste
gehende Kenntniß der damaligen Zustände der römischen Welt kann für das
Verständniß jener folgereichen Missionen nur förderlich sein, und auf diesem
Gebiet erwirbt sich Renan wirklich ein Verdienst. Dagegen erscheint das viele
Detail überall dort überflüssiger, wo der Verf. es aus seiner eigenen Phantasie
schöpft; wenn er z. B. die Gemüthsbewegungen schildert, welche die Sendboten
bei dem Betreten dieses oder jenes Orts empfanden. Ueberhaupt weiß Renan
immer mehr, als in den Quellen steht. Gibt er doch z. B. eine seitenlange
Charakteristik von Lucas, dem Begleiter des Paulus, als ob ihm ganz neu-
entdeckte Quellen zu Gebote ständen. „Er hatte einen sanften, versöhnlichen
Geist, eine zarte sympathische Seele, einen bescheidenen nachgiebigen Charakter.
Paulus liebte ihn sehr, Lucas blieb seinerseits seinem Lehrer immer treu . .
Er liebte die römischen Officiere und hielt sie gern für tugendhaft" u. tgi. in.
— Alles fo ziemlich reine Erfindung von Renan. Dahin gehört überhaupt
die Vorliebe, die Renan für die kleinen, meistens kaum genannten Mitglieder
des apostolischen Kreises zeigt. Aquila und Priscilla, Lydia und Phöbe
reizen fortwährend die Phantasie des Autors. Man sieht ihn ordentlich den
Zipfel des Vorhangs neugierig in die Höhe heben oder durch die Thür¬
spalte blicken, denn er möchte gar zu gerne wissen, was dahinter ist. Der
Leser möge selbst urtheilen. In der Apostelgeschichte ist erzählt, daß Paulus
zu Philippi eine Zeitlang bei einer frommen Lydierin wohnte, die mit Pur¬
pur handelte. Dies ist Alles. Aber diese „Lydia" und ihr Verhältniß zu
Paulus beschäftigt Renan in hohem Grade. Er schreibt folgende charakte¬
ristische Sätze: „Die vollkommene Reinheit der christlichen Sitten hielt jeden
Verdacht fern. Uebrigens ist die Vermuthung vielleicht nicht zu kühn, daß
Lydia es ist, die Paulus in seinem Briefe an die Philipper „meine liebe Ge.
nasum" anredet (!!); doch würde der Ausdruck, wenn man will, eine einfache
Metapher sein. Aber ist es ganz unmöglich, daß Paulus mit dieser Schwester
eine engere Verbindung geschlossen? Man möchte es nicht als bestimmt hin¬
stellen. Sicher ist nur, daß Paulus sie nicht als Schwester auf seine Reisen
mit sich nahm; trotzdem hat ein ganzer Zweig der kirchlichen Ueberlieferung
behauptet, daß er verheirathet war."
Am Schlüsse wird das Gesammturtheil über Paulus und sein Volk ge¬
fällt. Daß es nicht übermäßig günstig ausfallen werde, darauf sind wir
vorbereitet. Denn bet jeder Gelegenheit kommt die Abneigung des Schrift¬
stellers gegen den Helden seiner Biographie zu Tage. Was das letzte Motiv
seiner Abneigung ist, darüber spricht sich Renan zum Schluß mit aller Offen¬
heit aus. Er mag nämlich die Männer der That nicht leiden. Sein Ideal
ist die vollkommen schöne und gute Natur, die ungetrübte Gottinnigkeit, wie
er sie bei Jesus findet, und wie sie, ihm zufolge, der Charakter der eisten
christlichen Gemeinschaft am See Tiberias war. Aber Paulus war „ein her¬
vorragender Mann der That, ein starker mit sich sortreißender enthusiastischer
Geist, ein Eroberer, ein Verkündiger, nach allen Seiten um so eifriger, als
er früher seinen Fanatismus im entgegengesetzten Sinn entfaltet hatte. Der
Mann der That aber, so edel er auch ist, wenn es sich um ein edles Ziel
handelt, ist Gott weniger nahe, als der, der in reiner Liebe sür das Gute,
Wahre oder Schöne gelebt hat. Der Apostel ist von Natur ein etwas be¬
schränkter Geist; er will zur Geltung gelangen und dafür bringt er Opfer;
die Berührung mit der Wirklichkeit beschmutzt immer, die ersten Plätze im,
Himmelreich sind denen aufbewahrt, die ein Strahl der Gnade berührt hat,
die nur das Ideal angebetet haben." Ein solcher Missionär, erfahren wir
weiter, ist immer ein mittelmäßiger Künstler, er ist kein Gelehrter, er ist nicht
einmal ganz tugendhaft, denn die Bosheit der Menschen zwingt ihn, sich mit
ihnen abzufinden; vor Allem aber ist er niemals liebenswürdig. „Ein Mann
der streitet, der Widerstand leistet, von sich selbst redet, ein Mann, der seine
Meinung und seine Ansprüche aufrecht hält, der Anderen lästig wird, sie hart
anfährt — ein solcher ist uns antipathisch. In ähnlichen Fällen gestand Jesus
Alles zu und zog sich mit einem bezaubernden Wort aus der Verlegenheit."
Kurz, mit Jesus ist Paulus nicht zu vergleichen. Er verhält sich zu Jesus,
wie der Mensch zum Gott. Ja er steht selbst unter dem bei Renan nun ein¬
mal unvermeidlichen Franz von Assisi und dem Verfasser der Nachahmung
Christi.
Man sieht, Renan verbirgt gar nicht die Motive seines Urtheils. Er ge¬
steht, daß ihm energische Männer der That nun einmal nicht sympathisch sind.
Nun ist über Geschmackssachen bekanntlich nicht zu streiten. Wenn ihm wun¬
derliche stigmatisirte Heilige wie Franz von Assisi lieber sind, so ist das seine
Sache. Nur darf er diesen unschuldigen Ausdruck seiner Geschmacksrichtung
nicht verwechseln mit einem geschichtlichen Urtheil. Er kann als Geschichts¬
schreiber nicht die Summe seiner Kritik zusammenfassen in die Worte: Solche
Leute sind mir unangenehm. Was Paulus wirklich gewesen ist und geleistet
hat. wird im Grunde von Renan nur beiläufig erwähnt, weil es doch nicht
verschwiegen werden kann: „Er hat die enge und wunderbar gefährliche
Windel zerrissen, mit der das Kind seit seiner Geburt umgeben war, er hat
verkündet, daß das Christenthum keine einfache Form des Judenthums, son¬
dern eine vollständige, durch sich selbst bestimmte Religion sei." Diese Worte
sagen Alles. In ihnen liegt das geschichtliche Urtheil über den Heidenapostel,
nicht aber in der müßigen Frage, ob Paulus größer als Jesus oder kleiner
als Franz von Assise gewesen sei.
Man hat allen Grund, anzunehmen, daß Jesus grade so universalistisch
dachte als Paulus, und sein Evangelium für alle Welt ohne Unterschied der
Nationalität bestimmte. Aber ausgesprochen war es noch nicht, oder wenn
es als Grundsatz ausgesprochen war, so hatte es sich an der Wirklichkeit noch
nicht gemessen; es war eine unvermeidliche Consequenz, aber sie war noch nicht
gezogen. Jesus selbst, der ausschließlich unter Juden lebte, hatte die Ver¬
anlassung gar nicht, seiner Lehre die polemische Spitze gegen die Exclusivität
dieses einzelnen Volksstammes zu geben. Aber die Polemik, der Kampf
konnte nicht ausbleiben, wenn die Lehre Jesu eine weltgeschichtliche Bedeu¬
tung haben sollte. Diese Polemik aufgenommen und durchgeführt zu haben,
ist der Dienst, den Paulus der Lehre Jesu geleistet hat. Und zwar mußte er
den Kampf aufnehmen gegen die unmittelbaren Schüler Jesu selbst, die Renan
gleichfalls über Paulus locirt, weil sie „Jesu Wort gehört und die göttlichen
Logia und Parabeln aus dem eigenen Munde des Meisters vernommen."
Was das Christenthum unter der Leitung dieser bevorzugten Apostel war,
als der unabhängige Geist des Paulus in die Bewegung eintrat, und was
jene älteren Apostel aus dem Christenthum dem Paulus zum Trotz machen
wollten, dafür liegen die geschichtlichen Zeugnisse vor. Es war eine jüdische
Secte und es wollte nichts Anderes sein, bis die Energie des Paulus und
die thatsächlichen Erfolge seiner Heidenmission den Standpunkt der Jünger
Jesu unhaltbar machten. Die Idylle am See Tiberias, die Renan mit so
schwärmerischer Begeisterung feiert, hat thatsächlich nicht dazu genügt, die von
Jesus ausgesprochenen Ideen zu einem weltgeschichtlichen Princip zu erheben.
Soll eine neue Welt geschaffen werden, so bedarf es nicht blos solcher, „die
das Ideal anbeten", sondern auch solcher, die den Muth haben, es in die.
Wirklichkeit zu tragen und den Widerstand herauszufordern. Dann verwan¬
delt sich die Idylle freilich in Kampf und Streit, der Duft des Ideals ist
abgestreift, aber wenn das Christenthum des Paulus mit seiner dogmatischen
Begründung in gewissem Sinne bereits eine Entstellung des ursprünglichen
Christenthums ist, so ist es doch zugleich die Form gewesen, in welcher das
Christenthum weltgeschichtlich fruchtbar geworden ist und die heidnische Welt durch¬
drungen hat. Ein Aehnliches hat sich in der deutschen Reformation wieder-
holt, die auch zu ihrer Fundirung gleichsam einer neuen verhärteten Dogmatik
bedürfte, und zwar genau dieselben Grunddogmen wieder hervorsuchte, auf
die Paulus sein Evangelium gestützt hatte. Diese Erneuerung des Pauli¬
nismus in der Reformation gibt auch Renan zu denken, wie ihm die Cha¬
rakterverwandtschaft des Paulus mit Luther nicht entgeht. Allein er zieht
die Parallele nur, um beide gleichmäßig seine Ungnade fühlen zu lassen.
„Paulus als der in jeder Beziehung erste Vorgänger des Protestantismus,
besitzt die Fehler eines Protestanten: lange Zeit und Erfahrung gehört dazu,
um zur Erkenntniß zu gelangen, daß kein Dogma die Mühe offenen Wider¬
standes, Verletzung der Liebe lohnt." Hätte Renan im 16. Jahrhundert ge¬
lebt, er wäre nicht über die Linie des Erasmus hinausgegangen. Derselbe
Freisinn, dasselbe vornehme Lächeln, dieselbe Antipathie gegen die energische
That. — Nehmen wir Alles in Allem, so ist Renan eines der interessantesten
Beispiele für jenen Mangel an geschichtlichem Sinn, der sast überall da un¬
vermeidlich scheint, wo der Sprung aus dem Katholicismus unmittelbar in
die moderne Aufklärung gemacht wird. Auch dem ausbündigsten Liberalis¬
mus hängt noch ein katholisches Zöpfchen an. Der beständige Rückfall in
die kirchliche Tradition, die Neigung zu dem Legendarischen ist hierfür nicht
minder bezeichnend als die Abneigung gegen Charaktere wie Paulus und
Luther. Schließlich wird man den Zusammenhang nicht verkennen können,
in welchem die ganze Richtung Renans mit dem Geist der heutigen franzö¬
sischen Gesellschaft steht. Dieser abstracte humanitäre Idealismus, diese Ab¬
kehr von der Energie der That, diese Leidenschaft für das Mittelmäßige, —
sind sie nicht Symptome des öffentlichen Geistes in Frankreich?
Es gibt Männer, deren Wirksamkeit, ohne mit ausfallenden und in die
Augen stechenden Thaten nach außen zu treten, doch eine heilsame und frucht¬
bare ist, die selbst nie berühmt geworden sind, undnichts desto weniger zu den
Besten ihres Volkes gehören. Ein solcher war der Duc de Luynes. Unter
allen, die seinem Andenken Worte der Verehrung gezollt, ist kaum einer, der
ihm nicht nachgerühmt, daß er in eminenter Weise den alten, schönen
Spruch: NoblosLö odligö stets im Herzen gehabt und demgemäß empfunden
und gehandelt habe. Adel in Geist und Gemüth, Adel in Neigungen und
Ansichten, das ist der Hauptzug dieser harmonischen, von schroffen Einseitig¬
keiten und unduldsamen Härten gänzlich freien Natur.
Honore d'Albert, Herzog von Luynes und Chevreuse, wurde in Paris
am 15. Dec. 1802 geboren; die Familie, aus der er stammt, ist zwar sehr alt,
doch war der erste Luynes, der eine bedeutende Rolle spielte, Ludwigs XIII.
bekannter Günstling und Minister. Kolossal aber ist das Vermögen des Ge¬
schlechts: das dem Herzoge allein aus seinen liegenden Gütern (Dampierre;
in der Picardie; in Hyeres u. a.) zufließende Einkommen wurde auf 800,000 Frs.
jährlich geschätzt, und es hätte leicht noch vermehrt werden können.
Nur kurze Zeit diente der Jüngling unter der Restauration in einem
Garderegimente; erst zwanzig Jahre alt wurde er von seiner Familie ver-
heirathet, aber die junge Herzogin starb schon 1824, mit Hinterlassung eines
einzigen Sohnes, der später durch sein Leben und Ende den Vater so tief
niederschlagen sollte. Von gleichfalls geringer Dauer war die Anstellung,
die er 1825 am Louvre erhalten, um das Musee Charles X. zu organisiren,
(die einzige öffentliche Anstalt, die heute noch den Namen dieses Königs trägt).
Früh nämlich hatte der Herzog seine Anlage und Neigung zu den bildenden
Künsten durch eigene Studien und Reisen nach Italien entwickelt. Die
Archäologie war gerade im mächtigsten Aufschwünge begriffen; Visconti hatte
die durch die Raubzüge der Franzosen nach Paris zusammengeschleppten
Kunstsammlungen wissenschaftlich verwerthet und ihr Studium eifrig be¬
fördert. Es verdient jede Anerkennung, wie die Direction des Louvre da¬
mals eine staunenswerthe Thätigkeit bewiesen und die wenigen Jahre, wäh¬
rend deren die Kunstwerke in Paris blieben, zu umfassenden und sorgfältigen
Publicationen vortrefflich angewandt hat. Jetzt wurden die großen Nekro-
polen Etruriens erforscht; Athen, Griechenland eröffnete sich zu gleicher Zeit:
mit rüstigen Kräften bemächtigte man sich des neugewonnenen Materials,
ein frisches Leben ging durch die noch junge Wissenschaft.
Der Duc de Luynes ergab sich ihr gänzlich und trat auf seinen italieni¬
schen Reisen in persönliche Verbindung mit den bedeutendsten Gelehrten aller
Nationen, die in Rom weilten. Fruchtbar war namentlich die in den Jahren
1825 und 1828 vorgenommene Erforschung der Ruinen von Metapont, der
mächtigen großgnechischen Handelsstadt, dem Sitze des pythagoreischen Phi¬
losophenstaats. Die Ergebnisse dieser Untersuchungen wurden 1833 in einem
Prachtwerke veröffentlicht; mehrere an Ort und Stelle gefundene architekto-
mische Fragmente, Münzen u. s. w. nahm der Herzog in seine Sammlungen
auf. Sie erregten großes Aussehen, denn die meisten von ihnen prangten
noch in ihrem ursprünglichen Farbenschmuck, und die Frage über die Poly-
chromie der alten Architektur war eben erst angeregt.
Otto Jahr hat in seiner schönen Biographie Gerhard's dargelegt, welchen
Antheil der Duc de Luynes an der Gründung des archäologischen Instituts
in Rom (1828—1829) gehabt hat; durch seine Persönlichkeit und sein Ver¬
mögen war er geeignet, Schwierigkeiten aller Art zu ebnen, und gleich im
ersten Bande der Annali gab er Beweise auch von dem wissenschaftlichen Bei¬
stande, den zu leisten er fähig und gesonnen war. Am meisten beschäftigte
er sich mit Numismatik, dann mit Vasenkunde und Topographie; klares
methodisches Vorschreiten, reiner und seiner Kunstgeschmack zeichnen seine
zahlreichen Arbeiten aus. Er ließ seine Aufsätze gewöhnlich in den Publica¬
tionen des Instituts, später in der Revuv muni^ir>g.ti<ins erscheinen. Sie sollen
in Frankreich vielfach zum Studium der alten Sagen und Religionen an¬
geregt haben; seine eigenen mythologischen Erklärungen sind von nüchternem
kalten Rationalismus wie von überschwänglicher Symbolik frei.
Seit 1842 wandte sich der Herzog vorzüglich, jedoch ohne den klassischen
Boden ganz zu verlassen, der orientalischen Philologie und Archäologie zu,
namentlich beschäftigten ihn die Verbindungen uralten Völkerverkehrs zwischen
Orient und Occident. Untersuchungen über phönikische sowie kypriotische
Münzen und Inschriften, der bekannte Aufsatz über den Sarkophag des Es-
munazar, Königs von Sidon, (jetzt im Louvre), sind das Bedeutendste, was
er auf diesem Gebiete hervorbrachte.
Neben dem Alterthum war es auf historischem Felde besonders das
mittelalterliche Italien, das den Duc de Luynes anzog: seine Bibliothek ist
ungemein reich an Büchern über diese Epoche, und diese Sammlung ist um
so werthvoller, als solche vielfach nur locale Publicationen selten diesseits
der Alpen gelangen. Eine Frucht dieser Arbeiten war der historisch-chrono¬
logische Cowmentar über die sogenannte Diurnali des Matteo ti Giovenazzo
(1839); diese Diurnali, für die Geschichte Süditaliens in der Mitte des
13. Jahrhunderts wichtig, sind zwar jüngst von deutscher Kritik als eine
tendenziöse Fälschung späterer Zeit erkannt worden, aber ein solches Ergebniß
wäre unmöglich gewesen ohne das Vorgehen sorgfältiger analytischer Arbeiten,
wie es diejenigen waren, denen sich der Duc de Luynes unterzogen hatte.
Endlich interessirte sich der vielseitige Mann für Mineralogie, worüber
auch kleine Aussähe erschienen, für Photographie, die er durch Aussetzen, von
Prämien zu fördern und sür die Verbreitung der Kunstwerke nutzbar zu
machen suchte, sür Kunstindustrie: 1851 wurde er französischerseits mit der
Abfassung des Berichtes über die Arbeiten in edeln Metallen auf der Londoner
Ausstellung beauftragt.
Als Gelehrter war der Duc de Luynes nicht bahnbrechend; aber er
arbeitete als Fachmann, nicht als Dilettant, er scheute vor keiner mühsamen
Untersuchung zurück, und verschmähte es nicht sich mit dem Handwerkszeuge
wissenschaftlicher Forschung zu rüsten, — Doch sind es nicht sowohl diese eigenen
Arbeiten, die den Namen des Herzogs zu einem gefeierten gemacht haben,
als die Pflege und die Unterstützung, die er wissenschaftlichen und künstlerischen
Bestrebungen mit der größten Liberalität, aber mit feiner Unterscheidung des
Würdigen, mit dem für den Empfänger wohlthuendsten Zartgefühl, stets
mehr unter der Form einer Auszeichnung als einer Hilfeleistung gewährte.
Ohne jede Ostentation und Ruhmredigkeit, nur von der wärmsten Liebe zur
Sache geleitet, hat er mehrere Unternehmungen von der größten Bedeutung allein
möglich gemacht. Unter den Werken, die auf seine Kosten, oft auch auf seinen
Antrieb erschienen, nennen wir nur die wichtigsten: die Chronik des Matthieu
Paris, Untersuchungen über die Denkmäler und die Geschichte der Normanen
und des schwäbischen Kaiserhauses in Süditalien, die große zwölfbändige
Ilistoria äixlomatieg. Kaiser Friedrichs II. (Friedrich Wilhelm IV. gewidmet);
alle diese Werke sind von Huillard-Bre'bottes, der zu den nächsten Vertrauten
des Herzogs gehörte, und auch eine schöne, von herzlicher Wärme eingegebene
Biographie seines edeln Freundes geschrieben hat. Ferner verdanken wir dem
Duc de Luynes noch die Publication der Amari-Dufour'schen vergleichenden
Karte des modernen und arabischen Sicilien, des Werth von Cochet über
das Grab Childerichs I., der archäologischen Reise nach Tunis von Gue'rin,
der wichtigen Untersuchungen über den Mithrasdienst von Lajard, endlich
vieler Cartularien von Abteien und Klöstern aus der Gegend von Paris.
Auf die Kunstwerke, die der reiche Gönner ausführen ließ, werden wir später
zurückkommen.
Der Duc de Luynes, obgleich dem bourbonischen Königshause ergeben,
war von liberalen Grundsätzen erfüllt, seine Familie war während der Re¬
volution nicht ausgewandert und hatte nichts von den Vorurtheilen und dem
Groll gegen das neue System, welche die Emigrirten in ihre Heimath
zurückbrachten. Er selbst tadelte die Juliverordnungen scharf, aber er konnte
sich nicht entschließen, unter der Regierung Louis Philipp's seinen Sitz in
der Pairskammer einzunehmen. Das einzige öffentliche Amt, das er beklei¬
dete, war die Mitgliedschaft des Loriseil Mu6rs.1 im Departement Seine
et Oise; es wäre unmöglich, alle Wohlthaten aufzuführen, die er in den
16 Jahren, während deren er diese Stellung behielt, der Gegend erwies.
Anlagen von Straßen, Stiftungen von Schulen und Asylen, Unterstützungen
aller Art an Bedürftige und öffentliche Anstalten, endlich seine persönliche
aufopfernde Thätigkeit haben ihm die Liebe und Achtung Aller erworben; es
ist rührend, wie noch jetzt die Bauern der Dörfer in der Nähe seines Wohn¬
sitzes von ihrem vieux ane nur mit Dankbarkeit und Verehrung reden;
wir haben oft die Redensart gehört: Ja, wenn der Herzog noch lebte! und
mancher hat uns versichert, seine Wohlthätigkeit sei zu weit gegangen, denn
nun fiele es schwer, die Leute zum Arbeiten zu bringen. Im Jahr 1848
wurde der Herzog mit 60,000 Stimmen in die constituirende und bald auch
in die gesetzgebende Versammlung gewählt: er hielt es für seine Pflicht, sich
dieser Mühewaltung zu unterziehen. In der Kammer sprach er wenig; desto
mehr arbeitete er in den Commissionen. Während der Junitage stand er
selbst mit seinem Sohne im Feuer an der Spitze der Bataillone der Natio¬
nalgarde von Dampierre und Chevreuse; das Contingent aus seinem Wohn¬
orte hatte er auf eigene Kosten equipirt. Das Uebergewicht des Präsidenten
sah er nicht ohne Furcht in beständigem Wachsen begriffen, und er setzte sich
mit allen Mitteln demselben entgegen. Am 2. Decbr. wurde er natürlich, wie
Alles, was Frankreich an ehrlichen und bedeutenden Männern besaß, fest¬
genommen; nach einer zweitägigen Gefangenschaft im Mont Valerien wieder
freigelassen, entsagte er allem öffentlichen Leben. Wie viele Edelleute, darunter
Tocqueville u. A., hätte er, obgleich Royalist, doch nicht ungern die Republik
in Frankreich gesehen, und er hätte ihr seine Treue und seine Dienste be¬
wahrt. Aber unter der Regierung des Staatsstreichs irgend noch Theil¬
nahme an den Geschäften zu haben, war ihm unmöglich. Nur ein einziges
Mal ließ er in der Politik noch viel von sich reden, als er nämlich 1864
dem Grafen von Chambord, der sich in bedrängter Lage befand, mit einer
bedeutenden Summe zu Hilfe kam. Seine Anhänglichkeit an das königliche
Haus, welches das Glück seines Geschlechts gegründet hatte, war unbeschränkt,
und er handelte in Folge seines Grundsatzes: ig. reeormiüsLanes us Lo
xreserit xoint.
Gewöhnlich wohnte der Duc dö Luynes in seinem Stammschlosse
Dampierre, im Thal der Avette, 8 Stunden südlich von Paris. Es ist ein
stilles, außerhalb des großen Verkehrs liegendes grünes Thal, von mäßigen,
bewaldeten Höhen begrenzt: alles darin athmet Ruhe und Frieden. Nicht
weit davon entfernt sind die Ruinen der berühmten Abtei von Port-Royal,
die bekanntlich als jansenistisch am Ende von Ludwigs XIV. Regierung zer¬
stört wurde. Die Jesuiten sind gründlich zu Werke gegangen: die Funda¬
mente der Klosterkirche sind erst durch Ausgrabungen, die der Herzog vor¬
nehmen ließ, wieder ans Licht getreten; die öde Stätte verdient wieder den
Namen, den sie trug, ehe die Abtei zu ihrer Blüthe gelangte: 1s Oossrt!
Gibt es wohl ein Land, in dem im Namen Gottes und der Freiheit mehr
gefrevelt worden ist als in dem armen Frankreich!
Das jetzige Schloß Dampierre wurde auf den Grundlagen des alten im I.
1667 gebaut, als sein Besitzer eine Tochter Colbert's heirathete; es ist großartig,
obgleich nicht sehr hoch, streng symmetrisch gegliedert, die Faxade vielleicht
etwas zu wenig belebt. Eine Beschreibung des bis in den letzten Winkel
schönen und harmonischen Gebäudes würde uns hier zu weit führen; wir
wollen nur die Kunstschöpfungen berühren, die dem unmittelbaren Antriebe
des Herzogs ihre Entstehung verdanken. Wir gehen an Cavelier's schlafender
Penelope vorbei, einem herrlichen, vom edelsten Gefühle künstlerischen Maßes
beseelten Werke; auch bei der kecken, jugendfrischem Statue Ludwigs XIII.,
von Fr. Unde in Silber getrieben, halten wir uns nicht auf, um gleich nach
dem Saale zu gelangen, der die Schätze des Schlosses enthält, das Wand¬
bild von Ingres und Simart's chryselephantine Athene. Aus diesem Saale,
seiner Lieblingsschöpfung, hat der Herzog ein wahres Kunstheiligthum ge¬
schaffen. An den Schmalseiten erheben sich schlanke, von polychromen Karya¬
tiden getragene Gallerien. Die eine Langseite nimmt jetzt eine prächtige,
höchst geschmackvoll aufgestellte Waffensammlung ein, darunter ein wirklich
ächter Helm von Benvenuto. Diese Wand war dazu bestimmt, ebenfalls
von Ingres mit einem Gemälde geschmückt zu werden, aber der Plan ward
zu nichte durch die gleich zu besprechenden MißHelligkeiten. Schon 1840
hatte der Duc de Luynes in Rom den Meister aufgefordert, seinen Saal mit
Wandbildern zu zieren, und eine günstige Antwort erhalten, aber erst im Früh¬
jahre 1843 konnte Ingres ans Werk schreiten. In einer großen Composition
sollte das goldene Zeitalter dargestellt werden; aber schon die Feststellung der
zu wählenden Technik stieß auf Schwierigkeiten; der eine hätte lieber Bilder auf
Leinwand gehabt, der andere wollte Fresken; man entschied sich für eine Art
von Oelmalerei auf Stuck. Nun wurde Ingres der eine Flügel des Schlosses
zur Verfügung gestellt, und er nahm darin mit seiner ganzen Familie
Quartier. Aber nur sehr langsam schritt die Arbeit vorwärts. Der launen¬
hafte Meister, dessen Charakter ebenso spröde und mürrisch war wie die
Figuren, die er malte, fühlte sich selten aufgelegt, und spielte, wie erzählt
wird, hoch oben auf seinem Gerüst den ganzen Tag Geige; die Fertigkeit,
die er auf diesem Instrument, besaß, machte ihn stolzer als sein Malerruhm.
Der Herzog trieb das Zartgefühl so weit, daß er über anderthalb Jahre
nicht in seinen eigenen Saal kam, um den Meister nicht zu stören; als er
aber nach dieser Frist die begonnene Arbeit besichtigte, fand Ingres das Lob
nicht uneingeschränkt genug; einige Nuditäten, die in einem bewohnten, von
Frauen täglich besuchten Raume nicht zu ertragen waren, mußten verändert
werden, die einzelnen Gruppen standen ohne Verbindung unter einander;
Ingres verlor immer mehr die Lust an dem angefangenen Werke, seine Auf¬
enthalte in Paris, wo er sich mit kleineren Arbeiten erholte, wurden immer
häufiger und immer länger; nach dem Tode seiner Frau, im Jahre 1849,
verschloß er sich einige Zeit jedem Umgange, stumm seinem Schmerze hin¬
gegeben: kein Wunder, daß das große Wandgemälde unvollendet blieb. Das
Gegenstück, das eiserne Zeitalter, war nicht einmal begonnen. Hippolyte
Flandrin, dem die Vollendung der Bilder angeboten ward, nahm es nicht an
und so blieb Ingres Composition — Gruppen von nackten Männern, Frauen
und Kindern, unter ihnen weilend Asträa — halbfertig bis zur heutigen
Stunde; sie ist großartig, edel und stilvoll wie Alles von dem ernsten hoch¬
strebenden Meister, aber die Theile des Bildes fallen allerdings auseinander,
und die Gesichter leiden sämmtlich an einer störenden Monotonie des Typus
und des Ausdrucks. Die ganze Wand ist jetzt mit einem Vorhange bedeckt.
Davor steht die Athene, das Hauptstück der Sammlung.
Es war stets eine Lieblingsidee der Archäologen, die verlorene Technik
der Goldelsenbeinsculptur wieder zu entdecken und die Restitution der Meister¬
werke eines Phydias und Polyklet zu versuchen. Dieser Wunsch scheiterte
meist an der Spärlichkeit der Notizen über diesen Zweig der Kunst, außer¬
dem aber an der Kostspieligkeit des- Unternehmens. Um eine solche Restau¬
ration zu wagen, waren nicht nur die Kunstliebe und die archäologische Bil¬
dung des Duc de Luynes, sondern auch sein Vermögen nothwendig. Im
Jahre 1834 gab er dem Bildhauer Simart den Auftrag, seine Entwürfe
auszuführen; die Statue war 1865 auf der Ausstellung, aber ungünstig be¬
leuchtet scheint sie ihre Wirkung gänzlich verfehlt zu haben; sie gab Anlaß
zu vielen lebhaften Discussionen, vielfach unberechtigt sind die gegen sie ge¬
richteten Vorwürfe.
In langem, bis an die Füße reichenden Gewände steht die Zeustochter
da, den Fuß wenig vorhaltend: eine Bewegung, durch welche, wie bei den
attischen Karyatiden, die schönste Faltengebung entsteht. An ihrer rechten
Seite erhebt sich in schrecklichen Ringen die Burgschlange; die rechte Hand
der Göttin hält die palmentragende Nike, die linke die Lanze; der Schild
steht daneben angelehnt. Athene ist mit Helm und Aegis gerüstet. Die
nackten Theile der Statue sind aus Elfenbein; die Augen, Halsband und
Ohrgehänge aus Edelstein; Mund und Augenlider roth gefärbt. Das Kleid
ist aus vergoldetem Silber; Helm, Aegis und Schild von Gold, die Schlange
endlich von Bronze. Das Ganze ist über 8 Fuß hoch. Die Frage nun, ob
wir wirklich die Athene Parthenos des Phidias vor uns haben, müssen wir
entschieden verneinen; es lassen sich aber viele Umstände anführen, die es unmög¬
lich machen, dem Bildhauer und seinem Gönner einen Vorwurf daraus zu
machen. Die Nachrichten, die wir bei den alten Schriftstellern über die
Schöpfung des attischen Meisters finden, sind so spärlich und so unbestimmt,
daß sie durchaus kein anschauliches Bild bieten; erst seit wenigen Jahren
sind wir durch eine von Lenormant auf der Akropolis gefundene Statuette
im Stande, uns von der Haltung der Göttin, der Vertheilung der Attribute
eine klare Vorstellung zu machen; namentlich die Stellung der Schlange
hatte immer Schwierigkeiten gemacht; bei der Statue Simart's nimmt sie
einen viel zu großen Raum ein, und dadurch, so wie durch das ver¬
schiedene Material, sticht sie zu sehr in die Augen; dies schwierige Problem
der Composition hatte Phidias gelöst, indem er das mächtige Thier zwischen
der Göttin und dem Schilde ruhen ließ. Der französische Künstler hat auch
den Schild der Athene nicht richtig getroffen, indem er ihn mit concentri-
schen Bilderkreisen schmückte; die attische Statuette und andere Fragmente
zeigen, daß eine einzige Darstellung die ganze Außenfläche einnahm. In
allen diesen Fällen also war Simart unschuldig, wenn er fehl ging; ernster
sind die Einwendungen, die man gegen den Kopf der Göttin erheben kann.
Der Ausdruck ist mehr melancholisch und traurig als ernst und großartig
und allerdings weit entfernt von jener Phidias'schen Hoheit, die wir aus
den Köpfen des Parthenon mehr ahnen als deutlich erkennen. Der griechi¬
sche Typus, den der moderne Bildhauer sich zum Muster nahm, ist aus ver¬
hältnißmäßig später Zeit; demselben übel gewählten Vorbilde fällt auch der
Helm zur Last, dessen überladene Pracht mit der attischen Einfachheit des
übrigen Kostüms in ungünstigem Gegensatze steht. Endlich ist auch die Art
der Anwendung der Farbe nicht tadelfrei: die Farbe war nicht nur berech¬
tigt, sondern nothwendig gefordert, aber einmal angenommen mußte sie weiter
durchgeführt werden; dadurch, daß nur Mund und Augen farbig sind, erhält
das Elfenbein der anderen Gesichtstheile eine todtenähnliche Blässe.
Trotz dieser nicht zu leugnendem Mängel ist das Werk des Duc de
Luynes und Simart's ein äußerst verdienstliches und interessantes. Wenn¬
gleich noch manches in der Technik unklar geblieben, so können wir uns
wenigstens annähernd von der chryselephantinen Sculptur einen Begriff
machen: ungemein großartig, ernst, fast herbe ist die Verbindung der beiden
Farben, des leuchtenden, in verschiedene Nuancen schimmernden Goldes, und
des matter glänzenden, sanfteren Elfenbeins.
Das Piedestal der Statue ist von weißem Marmor; hier folgte Simart
nur seiner Eingebung und schuf ein zwar modernes, aber allerliebstes Relief.
Das Ganze ruht auf einer gleichfalls weißmarmornen Basis, die, mit bunten
Palmetten enkaustisch bemalt, den überaus ernsten Eindruck der Statue er¬
heiternd mildert und belebt. —
Das Privatleben des Herzogs war reich an schweren Prüfungen, an
harten Schlägen des Schicksals. Seine erste Gemahlin war, wie wir ge¬
sehen, schon 1824 gestorben; die Vicomtesse de Contades, mit welcher er sich
1846 vermählte, wurde ihm 186l entrissen; sie war ihm gie'abgeartet an
Adel und Hoheit des Sinnes, sie nahm Theil an seinen Studien wie an
seinen Werken der Wohlthätigkeit. Von diesem Schmerze hat sich der tief¬
gebeugte Herzog nie erholt. Sein Sohn, eine rohe, sinnliche Natur, niedri¬
gen Ausschweifungen ergeben, war bereits 1834 elend umgekommen. Eine
Enkelin, die hochbegabte, reizende Marquise von Sabrau, wurde, eben erst
verheirathet, aus der Mitte der Ihrigen plötzlich hinweggerafft. Seine jungen
Enkel endlich zeigten zu wissenschaftlicher Beschäftigung weder Lust nach An¬
lage, und so fühlte sich der Herzog, den Schwermuth und Gram nicht zu
eigner Arbeit kommen ließen, bewogen, die kostbaren Sammlungen, die er
während eines thätigen Lebens auf Reisen angelegt hatte, der kaiserlichen
Bibliothek in Paris zu überreichen. (Ende 1862.) Wohl nie ist von einem
Privatmanne einem öffentlichen Institute ein solches Geschenk gemacht wor¬
den ; die Sammlungen, deren Hauptreichthum in Münzen, geschnittenen Stei¬
nen, Goldkleinodien und bemalten Basen besteht, haben einen Werth von
über 1,300,000 Fras. Von besonderem Interesse sind die Architekturfrag¬
mente aus Metapont, und der herrliche Marmortorso einer aus dem Meere
aufsteigenden Aphrodite. Alle diese Gegenstände sind in einem besonderen,
geschmackvoll decorirten Saale vereinigt, der den Namen des Duc de
Luynes trägt.
Noch einmal (1864) raffte sich der leidende, hartgeprüfte Herzog zu einer
großen wissenschaftlichen Unternehmung auf. Das gelobte Land und nament¬
lich das Todte Meer wollte er selbst besuchen und erforschen. In Beglei¬
tung von tüchtigen Gelehrten und Officieren erreichte er diesen merkwürdigen
Binnensee; ein eigens zu diesem Zweck gebautes und unter großen Schwie¬
rigkeiten transportirtes Boot nahm die kleine Erpedition auf, die in der un¬
gesunden, von der glühendsten Sonne gesengten Gegend einen längeren Auf¬
enthalt nahm. Die naturwissenschaftlichen Ergebnisse der Reise sind großen-
theils schon publient, die archäologischen Resulate, die dem Duc de Luynes
selbst zu verarbeiten nicht mehr vergönnt war, wird der bekannte Vicomte
Melchior de Vogüe' veröffentlichen.
Wir haben gesehen, daß der Duc de Luynes von Herzen Legitimist
war; es wird uns daher nicht wundern, daß er eifriger Anhänger der welt¬
lichen Macht des Papstes war, und zwar waren seine Beweggründe rein
politischer, durchaus nicht religiöser Art. Als Mitglied der Nationalver¬
sammlungen 1848 und 1849 hatte er für alle Maßregeln gestimmt, die der
römischen Curie Schutz zu bieten bestimmt waren. Er steuerte auch mit be¬
deutenden Summen zur Ausrüstung des päpstlichen Heeres bei, und sein
eigener Enkel — übrigens ein ganz unbedeutender junger Mann — nahm
bei den Zuaven Dienste. Er selbst entschloß sich, durch eigene Gegenwart
seine Principien laut kundzugeben, und als Ende 1867 die ewige Stadt von
den Garibaldianern bedrängt wurde, eilte er dahin. Er kam in Rom wenige
Stunden vor der Schlacht bei Mendana an; gleich am folgenden Tage war
er auf dem Schlachtfelde; er sorgte selbst für die Verwundeten — einem
Schwergetrosfenen gab er seinen Mantel hin — für die Einrichtung von
Spitälern, für ihren Transport nach Rom; überall forschte er den Spuren
der Vermißten nach. Aber die Anstrengung war zu stark für den bereits
gebrochenen Mann; seine aufopfernde Thätigkeit zog ihm eine Krankheit zu,
welche die letzte sein sollte. Nach kurzem Leiden starb er in Rom den 15. Dec.
1867, gerade 62 Jahre alt.
Auf dem diesjährigen Salon war ein lebensgroßes Porträt des Duc
de Luynes ausgestellt: der hervortretende Zug ist mehr Offenheit und Würde,
die sich namentlich in der breiten Stirne spiegeln, als Geist und Witz; doch
haben die kleinen blauen Augen, der etwas große Mund bei aller Gut¬
müthigkeit eine gewisse Feinheit, welche die hohe Richtung, die edeln Nei¬
gungen ihres Besitzers verrathen.
Endlich sei noch bemerkt, daß der Herzog nie von irgend einem Souverän
einen Orden annahm, mit einziger Ausnahme des preußischen ?our is um'its,
den ihm Friedrich Wilhelm IV. verlieh. — Wir wollen das Bild nicht trüben
indem wir hinzufügen, wie unwürdig ihres hochsinnigen Vorfahren die näch¬
sten Nachkommen des Duc de Luynes sich gezeigt haben: wenn wir sagen,
daß sie nicht besser und nicht schlechter sind als die meisten jungen Leute aus
dem Faubourg Saint-Germain, so ist damit genug gesagt, und ihre trostlose
Nichtigkeit deutlich genug bezeichnet.
Solche Naturen wie der Duc de Luynes waren zu allen Zeiten selten,
sie werden es immer mehr. Heute scheinen die Franzosen Geldsucht und
Egoismus als die Haupteigenschaften ihres Charakters auszubilden; und
wenn das Vermögen zusammengehäuft ist, so ist der Genuß, den der Besitzer
davon hat, ein precärer, der Gebrauch, den er davon macht, ein kleinlicher
und engherziger. Die altgallische Lebenslust, der überschäumende Enthusias¬
mus, der den Nachbarn so oft unbequem war, sie sind verschwunden. Kaum
glaubt einer an sich selbst, kaum an die Wissenschaft, der er sich vielleicht er¬
geben hat; wie sollte er dazu kommen, sein Bestes, d. h. sein Vermögen, zur
Erreichung idealer Träumereien zu verschwenden! ! Es ist ein trauriges Bild,
das namentlich von den höchsten Classen der französischen Gesellschaft ge¬
boten wird.
Man hat den Duc de Luynes Is äLimier gMtillwmmö genannt: ein
Edelmann war er, ein ganzer, voller, im besten, schönsten, Sinne des Wortes.
Möge er nicht der letzte gewesen sein!
Der Congreß deutscher Volkswirthe war, bevor er sich diesmal (1- 4.
September) in Mainz versammelte, von den süddeutschen Radicalen in die
Acht erklärt worden. Man mußte sich demnach — da die Herren Carl Mayer
und Julius Frese in Volkswirthschaft augenscheinlich nie gemacht haben —
auf die Abwesenheit des Herrn Leopold Sonnemann gesaßt halten; und in
der That, er blieb aus. Sonst sind von dem Anathema weiter keine bösen
Einflüsse verspürt worden. Wenn es überhaupt irgend eine Wirkung ge¬
than hat, so mag es die gewesen sein, daß verhältnißmäßig wenige Mainzer,
nur einige dreißig nämlich, sich in die Liste des Congresses haben eintragen
lassen. Aber Niemand, der jemals einer Wanderversammlung mit wachen
Sinnen beigewohnt hat. wird dies für einen Gegenstand der Condolenz an¬
sehen. Nicht zu starke örtliche und möglichst starke anderweitige Betheiligung
sind immer die beiden herrschenden Wünsche der Unternehmer.
So war es denn diesmal. Die Theilnahme von auswärts war quanti¬
tativ bedeutend, und qualitativ ist sie kaum je früher gleich bedeutend ge¬
wesen. Während von den alten Trägern des Congresses neben dem ver¬
storbenen unvergeßlichen Lette eigentlich nur Michaelis fehlte, stieß zu ihnen
ein Contingent von ErstlingSbesuchern, wie man es sich nicht feiner und viel¬
seitiger hätte auslesen können. Da waren Gneist, Ludwig Bamberger.
W. Löwe. v. Hennig, Stephani, Weigel von den Berliner Parlamenten,
serner H. B. Oppenheim, und Laster, wenigstens auf der Durchreise; Ab¬
gesandte der englischen Regierung, Mr. Morier in Darmstadt, und der nor¬
wegischen, Herr Eilert Sünde aus Christiania; Maurice Block aus Paris,
;zu junger russischer Wirthschaftsgelehrter Namens Messojedow u. f. f. Eine
andere auffällige Verstärkung zeigte sich auf den Bänken, wo die Damen
des Congresses Platz zu nehmen pflegen. Der Ort, die Jahreszeit,-die gute
Gelegenheit zu einer kleinen vorausgehenden oder nachfolgenden Rheinreise
mögen daran 'dren Antheil gehabt haben. Aber trotz des schönen Wetters
schwärmten diese nur geduldeten, nicht aufgeforderten, wenn auch allgemein
sehr gern gesehenen Mitglieder keineswegs im Freien umher, während die
Männer tagten; sie waren vielmehr fast seßhafter als diese, schon weil das
anstoßende Frühstückszimmer für sie weniger Anziehungskraft besaß, und
fühlten sich durch Festbankett, Ball, Rheinfahrt nach Rüdesheim, vielleicht
auch durch die zwischenein erfolgende Verlobung eines Breslauers mit einer
— Breslauerin (auf Reisen thaut man so viel leichter auf) hinlänglich be¬
lohnt. Wann wird der Congreß aber seinerseits den Cavalier spielen, und
die Frauenfrage auf die Tagesordnung setzen? — wann wird er Damen
das Recht zugestehen, in seiner Mitte aufzutreten und mit abzustimmen, wenn
es ihnen beliebt? Auf seiner Spitze soll man in diesem Stücke, und nicht
blos in diesem, etwas conservativ und aristokratisch gesinnt sein.
Die Ersetzung Lettes durch Prince Smith als Vorsitzenden der ständigen
Deputation, der von Amts wegen den Congreß zu eröffnen hat, ist übrigens
zum Vortheil der stets bedrängten Zeit der Versammlung ausgeschlagen. In
den von Smith vermiedenen Fehler schien Braun zu verfallen, als er sein
observanzmäßiges Präsidentenamt mit einer Rede übernahm; aber es hatte ihn
wohl gereizt, daß gerade gegen ihn vor Allem und seinetwegen besonders auch
gegen den- Congreß gehetzt Worden war, und so hielt er es für Pflicht, neben
dem herkömmlichen Verzeichnis; der Erfolge, welche der Congreß schon davon
getragen, auch den Nachweis zu führen, daß derselbe niemals offen oder versteckt
politischen Parteizwecken gefröhnt habe. In Wahrheit, wäre dies je der Fall
gewesen, so würde die Wachsamkeit der benachtheiligten oder bedrohten Par¬
teien gewiß längst darauf aufmerksam gemacht haben. Eine Gesellschaft aber,
in deren Vorstand der Fortschrittsmann Schultze. Delitzsch, der National¬
liberale Braun, der Geheimrath Michaelis vom Bundeskanzleramt, und der
altconservativ-orthodoxe v. Behr zusammensitzen, sieht nicht sehr nach einem
Partei-Conclave aus. Wenn der süddeutsche Radicalismus in ihr allerdings
ebensowenig vertreten ist wie die Clericalen. so liegt das wohl an dem man¬
gelnden Geschmack dieser Herrschaften für volkswirthschaftliches Studium.
Ließen die Getreuen des Bischofs Ketteler sich doch nicht einmal durch ein
Thema wie die Armenpflege, und die Aussicht, für ihre Forderung freier
Armenpflege Bundesgenossen zu finden, wenn auch Bundesgenossen von
ganz verschiedener Tendenz, auf den für 3 Thlr. Cre. doch Jedermann zu¬
gänglichen Congreß locken! Sie werden am besten gewußt haben, warum
nicht; sie gehen gern sicher und vermeiden Glatteis. Aber das muß man
freilich mit Braun behaupten, daß es nicht die Schuld der Volkswirthschaft
oder des ihr gewidmeten deutschen Wandercongresses ist, wenn es Parteien
gibt, welche beiden systematisch fernbleiben. Ultramontane und Radicale
suchen die Volkswohlfahrt anderswo, als auf diesem geraden und offenen
Wege. Die einen lassen sie vom Himmel herunterfallen und die andern
prophezeien sie aus dem Kaffeesatz der Revolution.
Die Verhandlung über Armenpflege, welche der Grund war, der die
meisten außerordentlichen Theilnehmer herangezogen hatte, verlief eben des¬
wegen anders, als man sonst hätte erwarten müssen. Sie war keine bloße
Auseinandersetzung innerhalb derselben allgemeinen Weltanschauung, wobei
entweder die Entschiedeneren die Gemäßigteren fortgerissen oder diese jene
festgehalten hätten; es entwickelte sich vielmehr an dieser Frage der ganze
Gegensatz zwischen den beiden Fortschrittsprogrammen, welche hinsichtlich des
inneren Staatslebens in Deutschland heute auf dem Platze sind, das der
Selbstverwaltung und das der Freiheit, Das letztere Programm, welches
im Wesentlichen natürlich vom volkswirtschaftlichen Congreß bekannt wird,
hatte in der Person des Berichterstatters Prof. Böhmert das erste und das
das letzte Wort, Dafür aber wurde das erstere Programm von seinem
Bannerträger selbst vertreten, von Gneist. Das stellte die Partei, äußerlich
genommen, zu Gunsten der Selbstverwaltung mehr als her, Denn Gneist's
Name ist heutigentags eine Autorität selbst auf einem Congreß deutscher
Volkswirthe; während diese unter einander natürlich keine Autorität statuiren
können, da eine mindestens die andere aufwiegt. Außerdem fochten auf
Gneist's Seite H. B. Oppenheim, Ludwig Bamberger, O. Wolff, Alex.
Meyer, ja einigermaßen selbst Pfeiffer und Eras, während Böhmert nur von
Emminghaus und Rickert unterstützt wurde, und auch von diesen nicht ein¬
mal unbedingt.
Schon die Vorbereitungen zur Debatte waren nämlich unglücklich ab¬
gelaufen. Man hatte sich im engeren Kreise weidlich mit einer Compromiß-
resolution geplagt, da die ursprünglich eingebrachte von Böhmert, Emming¬
haus und Lammers selbst Gesinnungsgenossen zuviel Anstoß gab; aber jene
erwies sich schließlich als eine noch weit ausgemachtere Fehlgeburt. Es be¬
zeichnete die Unklarheit, in welcher selbst eingeweihte Köpfe sich gegenwärtig
meistens noch über die Probleme der Armenpflege befinden, daß die Antrag¬
steller gleichzeitig nach rechts und nach links hin wegen eines Ausgleichs
unterhandelten — mit Solchen, die imGrunde-gar keine Armenpflege nöthig
erachten, am liebsten einen Gewaltstrich durch alle Ausübung von Barm¬
herzigkeit zögen, und mit Solchen, denen der bestehende Zustand in der
Hauptsache genehm ist, die nur hier und da an der herkömmlichen Mischung
von Zwangsarmenpflege und Pnvatwohlthätigkeit etwas abändern, aber bei
Leibe nicht zu freier Armenpflege übergehen wollen. Das Produkt derartiger
Transactionen konnte unmöglich eine praktisch brauchbare Formel sein. Es
war Gneist's leichteste Aufgabe, in ihm die inneren Widersprüche darzuthun.
Man mußte die Loyalität des Berichterstatters bewundern, der selbst im
Schlußwort, nachdem er die ganze Morschheit des betretenen Compromiß-
bodens kennen gelernt hatte, die vereinbarte Formel noch nicht kurzweg
hinter sich warf und zu irgend einer reinen Ausprägung seiner Idee zurück¬
kehrte, sondern an dem Werk so heterogener Factoren festhielt.
Worin besteht denn nun diese Idee, dieser Versuch kühner Neuerung?
Nicht eine philosophische Speculation oder theoretische Lectüre, sondern lang¬
jähriges Eindringen in factische Armenzustände und vergleichende Betrachtung
der bisher üblichen Armenpflege hat die Träger dieses Gedankens überzeugt,
daß das Unkraut der Massennoth mit den alten Mitteln nicht ausgerottet
werden kann. Sie glauben die Zwangsarmenpflege, zu welcher der Staat
durch seine Gesetzgebung die Gemeinden anhält und welche die Gemeinden auf
Grund ihres Besteuerungsrechts ausüben, in einem falschen Zirkel befangen
zu sehen, der sie niemals und nirgendwo ein nennenswerthes Stück Weges
vorwärts gelangen lasse. Daher meinen sie empfehlen zu müssen, daß man
mit diesem System vollständig breche; daß man den in des Menschen Brust
gepflanzten Trieb des Mitgefühls, der am Ende auch alle Hilfsgesetzgebung
und Gemeindefürsorge eingegeben hat, sich einmal völlig frei organisiren, die
erforderlichen Kräfte und Mittel selbstthätig in Bewegung setzen lasse und zu¬
sehe, ob nicht so bessere Ergebnisse zu gewinnen seien. Was von theilweiser
Annäherung an solche Freiwilligkeit der Armenpflege hier oder da bereits
besteht, finden sie ihrem Rathe nur günstig. Sollte derselbe aber wider alle
Wahrscheinlichkeit doch verkehrt sein, nun, so ist inzwischen ja weder der
Staat noch die Gemeinde verschwunden, und beide können jeden Augenblick
die Aufgabe wieder an sich nehmen, welche den unabhängigen Kräften der
Gesellschaft mißglückt ist. Glückte sie diesen aber, so wäre der verderbliche
Zwiespalt zwischen Zwangsarmenpflege und Privatwohlthätigkeit gehoben,
die Quelle der verschwenderisch - wüsten Almosenwirthschaft verstopft, und jede
kranke wirthschaftliche Existenz empfinge, was gerade sie zur Wiederherstellung
bedarf, statt daß jetzt in Bausch und Bogen Hunderte nach demselben rohen
Recept ans Leben oder Tod behandelt werden.
Wir denken, daß dies eine leidlich klare und umfassende Bezeichnung der
Idee freier Armenpflege ist, welche am 2. September zu Mainz eine Art
Niederlage erlitten hat, aber schwerlich eine definitive. Gneist nannte sie
etwas herausfordernd einen Traum; er schalt die Volkswirthe, daß sie über
freie Armenpflege philosophirten, während der norddeutsche Bund von ihnen
wissen wollte, wie er seine Zwangsarmenpflege am besten unificire und in
Einzelheiten reformire. und während es ihre eigentliche Pflicht und
Schuldigkeit wäre, sich für den preußischen Entwurf wegen des Unterstützungs¬
wohnsitzes auszusprechen. Ja, er schien andeuten zu wollen, diese Ventilirung
eines Zukunftsgedankens sei am Ende wohl nur eine Diversion, welche die
Senate der Hansestädte veranlaßt hätten, um sich in ihrem verzweifelten
Widerstand gegen den Erwerb des Unterstützungswohnsitzes durch blos zwei¬
jährigen Aufenthalt ein wenig Last zu verschaffen. Daß das Organ der An¬
tragsteller, das „Bremer Handelsblatt", diesen Widerstand getheilt oder er-
muthigt hatte, wird er eben nicht erfahren haben. Im Allgemeinen aberwünscht
der beredte Prophet des Selfgovernment selbstverständlich nicht, daß dieser
Verwaltungsform zu Gunsten freier Vereine irgend etwas ohne Noth ent¬
zogen werde. Er sieht alle Schwächen freiwilliger Organisationen mit ver¬
schärften Auge; die unvermeidlichen Nachtheile des Gesetzeszwanges schlägt
er geringer an und berücksichtigt zu wenig, daß man über die Leistungs¬
fähigkeit der vom Staate nicht gegängelten Gesellschaft so lange keine echten
Proben haben wird, als man ihr das Gängelband nicht einmal gänzlich abge¬
nommen. So ausschließlich bewegt sich die schöpferische Phantasie dieses begabten
und thätigen Staatsdenkers in den Formen sogenannter Selbstverwaltung, daß
er auch öffentliches Pflichtgefühl nur bei den Funktionären von Staat, Kreis
oder Gemeinde voraussetzt, aber anscheinend keines bei den zahlreichen Leuten,
welche sogar heute schon dem Gemeinwohl, dem Vaterlande und der Mensch¬
heit leben, ohne durch irgend ein Anstellungspatent dazu verpflichtet und
durch eine jährliche Summe Geldes dafür belohnt zu sein. Die freie Armen¬
pflege, behauptet er mit der größten Zuversicht, könne sogar den rechten Geist
für die Ausübung ihres Berufs nur von der öffentlichen Zwangsarmenpflege
entlehnen. Wogegen denn allerdings Stadtrath Rickert aus Danzig erklärte,
ihn habe siebenjährige praktische Beschäftigung mit der Communalarmenpflege
vom Gegentheil und von der Nothwendigkeit des Uebergangs zu freier
Armenpflege überzeugt.
Mit der Gegenüberstellung dieser unversöhnlichen Grundansichten wird
das Interesse für den Gegenstand des Streites hinlänglich geweckt sein. Der
Congreß hat natürlich keinen Beschluß fassen wollen, da es ja nicht darauf
ankommen konnte, zu erfahren, ob eine zufällige Mehrheit sich für Böhmert
oder für Gneist aussprechen werde; aber er hat die Frage auch nicht etwa
von seiner Tagesordnung abgesetzt, sondern einem Ausschuß zu weiterer
Durcharbeitung und Vorbereitung sür die nächste Versammlung überwiesen.
Mehr Hoffnung, als auf diesen örtlich weitgetrennten und in sich uneinigen
Ausschuß, gründen wir auf die so nachdrücklich angeregte weitere Behandlung
der Sache in Gemeindeeollegien, auf engeren volkswirthschaftlichen Versamm¬
lungen und in der Presse. Zu ihr wird das Sammelwerk über europäische
Armenpflege, welches Professor Emminghaus veranstaltet hat, und welches
eben jetzt erscheint, ein reiches Material hergeben.
Das Actiengesellschaftsrecht war ein Gegenstand der Tagesordnung,
welche der volkswirthschaftliche Congreß mit dem in Heidelberg kurz vorher
versammelt gewesenen Juristentage theilte. Aber kritischer als dieser gestimmt,
begnügte er sich nicht, die Aufhebung der Concessionspflicht für Aktiengesell¬
schaften zu fordern. In der Verhandlung wenigstens, wenn auch nicht in
dem Beschluß, wurden allerhand Einschränkungen in dem Gebrauch dieser
Gesellschaftsform empfohlen, von denen der Gesetzgeber demnächst Nutzen
ziehen mag. Dabei nahmen Becker (Dortmund) und Faucher sich mehr des
außenstehenden Publicums, L. Bamberger der Actionäre gegen selbstsüchtig¬
eigenmächtige Directoren und Verwaltungsräthe an, indem der Letztere das
größte Unheil in der Verwirthschaftung des Actiencapitals erblickte, die
Ersteren hingegen in der Verleitung Dritter zu schlechtfundirtcn Darlehen an
Actiengesellschaften. Der Berichterstatter, Alexander Meyer, bewährte seinen
Scharfsinn und Ideen-Reichthum in der Darbietung einer förmlichen Lehre
über die Grenzen der Anwendung von Actiengesellschaften. Zum Abschluß
gelangte auch diese Verhandlung nicht.
Ein gleiches, aber negatives, definitiv beseitigendes Resultat hatte die
Erörterung zwischen den Professoren Emminghaus und Dietzel über die legitime
Benutzung des Staatscredits. Prof. Dietzel hatte sich früher einmal mit einer
Art neuer Theorie über das Staatsschuldenwesen einen gewissen Namen
gemacht. Er ist aber, wie Emminghaus annimmt, wesentlich doch ganz in
dem Gleise der alten Schule geblieben, die sich weniger um die Berechtigung
des Staats zum Anleihen als um die beste Art und Form ihrer Aufnahme
kümmerte. Emminghaus hingegen stellte sich auf den neuen Boden, welchen
namentlich Soetbeer's und Gildenmeister's Untersuchungen der Wissenschaft er¬
obert haben, und wonach Anleihen machen keineswegs blos der Zukunft die
Last oder einen Theil der Last zuwälzen heißt und Steuern erheben unter jedem
Gesichtspunkte selbst in Kriegsfällen vortheilhafter ist. Er ging in dieser
Richtung soweit, die Anleihen für eigentliche Staatszwecke (also nicht z. B.
für Staats-Eisenbahnen, Staats- und Bergwerke u. s. f.) ganz zu perhores-
ciren. Doch stimmte nur eine Minderheit mit ihm. Mit Prof. Dietzel
freilich, der das Princip der alten Schule formulirte, stimmte Niemand als
er selbst.
Gleichfalls in der Minderheit blieb Emminghaus mit einem von ihm vor¬
geschlagenen Protest gegen die Prämienanleihe der vier großen preußischen Eisen¬
bahnen, in welchem er solche Anleihen überhaupt verwarf. Sein Gegner Dr.
Wolfs, und mit ihm die Mehrheit fand es theils theoretisch richtiger, theils politisch
wirksamer, sich nur gegen die privilegienmäßige Ermächtigung einzelner Unter-
nehmungen (oder Staaten im Norddeutschen Bunde wie z. B. Braunschweig)
zu solchen Anleihen auszusprechen. Ein bekanntes Organ der Fortschritts¬
partei in Berlin, der „Volksfreund" von L. Parisius. hat hieran eine starke
Verurtheilung der im Congreß obenaufgekommenen transigirenden Richtung
geknüpft. Aber in dem fraglichen Falle ließ sich der principielle Stand¬
punkt schwerlich für die unterlegene Meinung allein vindiciren. Die
siegreiche Ansicht hatte in dieser Beziehung für sich, selbst dem Spiel
(d. h. dem Spiel mit ersparten Zinsen, wie Faucher es zum Unterschied
vom Lotteriespiel nannte) seine Freiheit sichern zu wollen. Der grundsätzliche
Boden, auf welchem Emminghaus, Böhnert und Löwe standen, war weniger
ein volkswirthschaftlicher als ein rechtlich-moralischer. Wirthschaftlich war
Wolff, der Gegner des früher von ihm selbst gehegten wirthschaftlichen
Radicalismus, diesmal radicaler als sie, und hatte für seinen Antrag oben-
drein einen so handgreiflichen Vortheil politischer Effectivitcit, daß die ganze
Gleichgültigkeit einer des Erfolgs entwöhnten Mißvergnügtheits-Politik gegen
praktische Berechnungen dazu gehört, um dies — nicht in Mainz, sondern —
in Berlin zu übersehen. Der Volkswirtschaftliche Congreß ist aber keines¬
wegs verdammt, den Prediger in der Wüste zu spielen. Grade der Credit,
welchen er sich allmählich selbst bei den Regierungen und gesetzgebenden Ge¬
walten erworben hat, verpflichtet ihn zur politischen Berechnung seines Thuns
und Lassens. Diese wird allerdings nicht immer zusammenfallen mit der Be¬
rechnung von oder in Versammlungen, welche unmittelbar an der Legislation
oder Gesetzgebung des Staats betheiligt sind. Er steht den praktischen Dingen
fern; er ist ein Verein von Volkswirth en, hat also ein volkswirthschaft-
liches Augenmerk. Aber er wird von seiner wirthschaftlichen Weisheit doch
allemal einen Gebrauch zu machen suchen, der sie den unmittelbar handelnden
Körperschaften empfiehlt, sowohl durch die Auswahl der behandelten Fragen,
als durch eine Behandlung, welche Wirkung verspricht. Von einer abstracten
Verurtheilung der Prämienanleihen hätte man schwerlich einen praktischen Ein¬
druck erwarten können. Der nachdrückliche Hinweis dagegen, daß hier Mi-
nisterialwillkür der Gesetzgebung, Privilegien der Gleichberechtigung noch
breit im Wege stehen, kann unmöglich verfehlen sich fühlbar machen.
Daß der Congreß in der That auf seine Art der Gesetzgebung vorzu¬
arbeiten hat, zeigte sich handgreiflich bei der Frage des letzten Tages, der
Haftbarkeit für Körperbeschädigungen beim Gewerbebetriebe. Diese schwierige
und weitschichtige Frage behandelte zumal der Berichterstatter auf der einen
Seite so rein und streng volkswirthschaftlich, auf der andern so gesetzgeberisch
präcis, daß wohl auch der Berliner „Volksfreund", der Braun's Präsidium
eine gewisse mysteriöse Kraft, die Versammlung irrezuleiten, zutraut, es kaum
besser zu machen wissen würde. Der Congreß hat eben zwei Aufgaben, —
oder vielmehr, die verschiedene Lage verschiedener Verhandlungsgegenstände
nöthigt ihn, bald dies bald jenes Verfahren anzuwenden, bald ein nicht hin¬
länglich gewürdigtes großes Princip in seiner vollen Hoheit und Reinheit
auf den Schild zu erheben, bald sich dem Bedürfniß der Gesetzgeber oder
des öffentlichen Verwalters anschmiegend concretere Vorschläge für die Praxis
zu machen.
Die stürmische und erfolgreiche Initiative des Grafen Bismarck im Jahre
1866 hat die liberale Nationalpartei nicht blos von der Spitze der Be¬
wegung verdrängt, sondern in zunächst unabwendbarer Folge auch ihre agi-
tatorische Form zerschlagen, ihren früheren Zusammenhang durch ganz Deutsch¬
land gelöst. Was sich in der Gestalt parlamentarischer Parteien erst im
Reichstage und dann im Zollparlament aus den alten Elementen wiederge¬
bildet hat, erfüllt nur zum Theil die Functionen, welche vormals theils der
Nationalverein und dessen permanente Organe, theils der Abgeordnetentag
ausübten. Allerdings haben die Nationalliberalen in den Berliner Parlamenten
einen unmittelbarern Einfluß auf Deutschlands Geschicke, wie weder der
Abgeordnetentag noch der Nationalverein; aber deswegen ist. noch nicht
schlechthin alles überflüssig geworden, was diese letzteren ihrer Zeit leisteten,
und könnte in der vorgerückten Epoche mit einem geringeren Aufgebot von
Kräften und Mitteln ungleich Vollkommeneres geleistet werden.
Das Gefühl, daß hier etwas Wesentliches fehle, hat sich neuerdings überall
geltend gemacht, wo Parteigenossen frei von drängenden Tagessorgen bei¬
sammensaßen. Sowohl neben dem Juristentage in Heidelberg wie neben dem
Volkswirthschaftlichen Congreß in Mainz gingen Besprechungen her, welche
Abhilfe für diesen Mangel suchten. An den genannten beiden Orten lag
selbstverständlich das süddeutsche Interesse zunächst. Wie zwischen den natio¬
nalliberalen Parteien der viertehalb süddeutschen Staaten das Band flechten,
welches wenigstens die Angehörigen der kleineren unter ihnen schmerzlich ver¬
missen und welches jeder Zeit geeignet wäre, den „Südbund" der Radicalen,
Ultramontanen und Particularisten von einem ins Mark dringenden schäd¬
lichen Einfluß auf unsere nationale Integrität wirksam abzuhalten?
'
Die Lage ist keineswegs in allen diesen Staaten dieselbe. In Württem¬
berg und Hessen steht die liberale Nationalpartei Ministern gegenüber, die
keine schonende Rücksicht verdienen; in Bayern hingegen scheut sie wohl mit
Recht davor zurück, den Fürsten Hohenlohe entweder im Stich zu lassen, oder
gewaltsam vorwärts zu drängen, — und in Baden endlich kann man höchstens
zweifelhaft sein, wessen Patriotismus entschlossener und klarer ist, der der Re¬
gierung oder der der Partei. Aus dieser Situation im Einzelstaat geht bet den
Hessen und Württembergern naturgemäß eine lebhafte Neigung hervor, den
Kampf jeden Augenblick aufs Aeußerste zu treiben. Sie sind über die Zeit
des Transigirens mit dem angestammten Particularismus und selbst mit der
sogenannten süddeutschen Stimmung hinaus. Sie scheuen vor der Forderung
des unverzüglichen und unbedingten Eintritts in den Nordbund, ja unter
Umständen auch wohl vor der Annexion durch das zu Deutschland auf¬
wachsende Preußen nicht zurück. Schon in Baden herrscht natürlich, trotz
der Klarheit und Entschlossenheit der Regierung, trotz ihres Einverständnisses
mit der Landtagsmehrheit, und obwohl der Großherzog seine Bereitschaft zu
den im Interesse des Vaterlands erforderlichen Opfern wiederholt vertrauens¬
würdig kundgegeben hat, eine weitergehende Rücksicht auf das Bestehende,
wie man sie in Stuttgart und Darmstadt ebenfalls natürlich finden würde,
wenn dort die entfernteste Aussicht bestünde, Hof und Staat im Guten auf
die vaterländische Seite hinüberzuziehen. Wie vorsichtig man vollends in
Bayern vorgehen muß, wo ein nationalgesinnter Ministerpräsident nur gleich¬
sam auf Wohlverhalten geduldet wird, die ganze Dynastie den feindlichen
Mächten huldigt, der Ultramontanismus noch fast über die Hälfte der Wahl¬
kreise verfügt, ist leicht zu verstehen. Rücksichtsloses Vorgehen der National¬
partei wird dort nur dann denkbar sein, wenn es den Gegnern gelingen sollte,
Hohenlohe zu stürzen, und wenn ein ultramontan-particularistisches Cabinet die
Zügel der Regierung übernähme. Obgleich es auch dann noch die Aufsaugung
der alten Mittelpartei mit ihrer mehr specifisch bayrischen Färbung und der
mit Verantwortlichkeit verknüpfte Besitz der Mehrheit in der Abgeordneten¬
kammer der Fortschrittspartei erschweren würden, so reine Zukunftspolitik zu
treiben, wie eine Minderheit allenfalls kann.
„Fortschrittspartei" nennen sich die bayrischen Nationalliberalen noch
von Anno 1863 her, und das ist nicht blos ein zufällig stehengebliebener
Name. Wenn ihre Führer zum Zollparlament in Berlin erscheinen, so lehnen
gerade die populärsten unter ihnen, Volk und Cramer, es allemal ab, zwischen
den Nationalliberalen und der sich noch immer so nennenden Fortschritts¬
partei in Norddeutschland — zu wählen. Wie in München nach rechts und
oben hin, so wollen sie in Berlin nach links und unten hin die Brücke
nicht abbrechen, welche in ein benachbartes Lager führt. Da die Stunde der
Entscheidungsschlacht für sie doch einmal nicht geschlagen hat, sehen sie auch
die Nothwendigkeit einer völlig klaren und überall scharf umschriebenen Posi¬
tion noch nicht ein Durch Aufrechterhaltung ihrer früheren Beziehungen zu
Männern wie Schulze-Delitzsch, Löwe, Duncker hoffen sie den Radicalismus
in ihrem Lande desto erfolgreicher niederzuhalten. Sie befinden sich mit alle-
dem jetzt genau in der Lage und Stimmung, wie bis vor wenigen Jahren
noch die Masse der heutigen „deutschen Partei" in Württemberg, wo auch
die Anlehnung nach links und rechts hin sorgfältig festgehalten wurde, Hölder
mit Probst und Oesterlen vertrauliche Parteiberathungen pflog und der Schwä¬
bische Mercur sein heutiges Maß von bestimmter nationaler Farbe noch nicht
angelegt hatte. Sich dieser Götterdämmerung erinnernd, werden die Würt¬
temberger das Verhalten ihrer bayrischen Nachbarn richtiger und gerechter
beurtheilen.
Auf der anderen Seite aber sollte freilich das zarte Verhältniß zum
Fürsten Hohenlohe die bayrischen Nationalliberalen auch nicht abhalten, die
Hand zu ergreifen, welche ihre minder gebundenen Freunde in Württemberg,
Baden und Hessen ihnen bieten. Die Organisation braucht ja nicht so eng,
das Programm nicht so absolut zu sein, daß es ihre innere Lage verhängniß-
voll compromittirte. An Zahl wie an Bedeutung sind die Bayern den
Uebrigen vielleicht gewachsen, so daß Eintritt in eine fortlaufende regelmäßige
Verbindung für sie nichts weniger bedeutete als Unterordnung. Im Gegen¬
theil können sie, wenn sie sich des Vortheils solchen Zusammenhangs mit
Geschick und Kraft zu bedienen wissen, auch für den Kampf mit ihren ein¬
heimischen Gegnern daraus nur gewinnen, und am Ende gar jene ministeri¬
elle Position verstärken, der zu Gefallen ihre Schritte bisher so leicht auf¬
traten und so bescheiden ausgriffen.
Eine der nächsten Aufgaben der hergestellten süddeutschen Nationalpartei
würde sein müssen, ihre Vertretung in der Tagespresse zu verstärken. Zumal
im Nordwesten, wo der Main zum Rhein strömt, fehlt es ganz an den
wünschenswerthen größeren Organen. Die Frankfurter Presse steht unter
dem Einfluß der verbitterten örtlichen Meinung, während die Lahnkreise,
denen sie dient, zu einem großen Theile gern die belebende, ermuthigende
Sprache einer positiven und activen Neformpolitik vernehmen würden. Man
sollte mindestens die Mainzeitung, das Organ der hessischen Fortschrittspartei,
das jetzt an der Darm erscheint, an den Main verlegen, und ein Blatt des
Umfangs aus ihr machen, daß sie die längst fällige Erbschaft des Frank¬
furter Journals in nationalgesinnten Kreisen auch über Hessen hinaus anzu¬
treten vermöchte.
Der künftige Geschichtschreiber wird Mühe haben zu verstehen, wie eine
Partei soviel gediegene und glänzende schriftstellerische Kräfte in sich vereinigen
konnte und doch gerade auf den entscheidenden Punkten d. h. in erster Linie
Berlin, in zweiter Frankfurt am Main, jahrelang so wenig Gebrauch von
ihnen machte. Das Talent der Bamberger, Braun, Gildemeister, Alexander
Meyer, Oppenheim u. A, verzettelt sich in Provinzialzeitungen; die ehemaligen
Redner des Natioualvereins wie Rochau und Nagel scheinen ganz zu ruhen,
nicht aus innewohnender Erschlaffung, sondern aus Mangel an entsprechen¬
der Verwendung. Die Partei und ihre Führer sind dafür verantwortlich
zu machen, daß eine solche passive Verschwendung mit tüchtigen Kräften getrieben
wird, während doch die Lage des Vaterlandes noch immer von Allen die
höchsten Anstrengungen erheischt.
Eine wohlorganisirte Presse, die wenigstens auf den Hciuplposten Blät¬
ter ersten Ranges aufstellte, würde ein ganz anderes Gefühl der Soli¬
darität unter den zerstreut fechtenden Bestandtheilen der Partei wecken
und wacherhalten, als jetzt in der Mehrzahl lebt. Sie würde jedem Ein¬
zelnen den Muth erhöhen, Alle übereinstimmender und geschlossenener han¬
deln machen. Aber auch nach außenhin könnte sie Deutschland wesentliche
Dienste thun. Gegenwärtig verschwindet für das Ausland das nationale
Bewußtsein zu sehr hinter des Grafen Bismarck einzelner Gestalt. Eine täglich
erscheinende deutsche Times, die aber nicht irgend eines Herrn Schulze oder
Müller Einfälle ausspönne, sondern die Ideen und Tendenzen der liberalen
deutschen Nationalpartei auf die Tagesgeschichte anwendete, würde jenseit
unserer Grenzen einen reineren, richtigeren und vielfach vortheilhafteren
Begriff von der deutschen Politik hervorbringen helfen. In ihr würde z> B.
das Mittel gegeben sein, Ungarn und Schweden die Furcht vor einer zu¬
künftigen Verschwörung Deutschlands mit Rußland gegen die nationale
Unabhängigkeit der benachbarten kleineren Staaten zu benehmen.
Freilich, wenn die Verjüngung der Partei solche Wirkungen nach sich
ziehen sollte, müßte sie sich vor allem auch in Berlin fühlbar machen. Berlin
aber ist bisher kein besonders fruchtbarer Boden für politische Organisation
gewesen. Die Menschen denken und arbeiten dort nur parlamentarisch.
Ueber diese engere Sphäre hinaus hören sie wenigstens auf, Parteimitglieder
zu sein, sind sie nur noch Menschen. Wenn die letzte Sitzung einer Session
zu Ende ist, so mag Niemand mehr von öffentlichen Geschäften etwas hören,
sondern eilt, sich in Wald und Feld, an der See oder im Gebirge von den
erschöpfenden Mühen der Parlamentsarbeit zu erholen, jedem Gedanken
unzugänglich, der ins politische Leben zurücklenkt. Dies ist die natürliche,
und im Allgemeinen auch nicht abzustellende Folge der legislativen Ueber¬
häufung; aber eine gewisse Organisation würde wenigstens ihrem nachtheiligen
Einfluß auf die wichtigsten Interessen der Partei abwehren. Die Aufstellung
eines Geschäftsführers z. B. — wie die englischen Parteien ihn haben, und
wie auch der deutsche Nationalverein, ihn hatte — würde verhüten, daß die
Partei jedes Jahr einige Monate hindurch von der Oberfläche der Welt
verschwindet, während ihr gegenüber die Negierung doch beständig auf dem
Platze ist, und soviel Radien von dem Centrum nach der Pheripherie hin aus¬
sendet, als für Wahlzwecke, harmonisches Handeln bei Agitationsanläßen
u. tgi. nöthig sind.
Eine reorganisiere nationalliberale Partei Norddeutschlands würde die
Verbindung mit der demnächst ebenfalls organisirten liberalen Nationalpartei
des Südens leicht finden und erhalten. Die Initiative zu einem zweckmäßig
befundenen neuen Agitationsorgan für ganz Deutschland mag man augen¬
blicklich besser den Süddeutschen überlassen, die Initiative aber zu einem Be¬
nehmen der Führer unter einander sollte von Berlin ausgehen, denn dort
fließen die Erkenntnißquellen und die leitenden Gesichtspunkte der deutschen
Politik zusammen.
Aber wer in Berlin wird die Frage aufnehmen, wer ist verpflichtet, sie
aufzunehmen, und wen vorab trifft die Verantwortlichkeit, wenn sie nicht
rechtzeitig oder nicht geschickt und erfolgreich aufgenommen wird? Die öffent¬
liche Meinung, so könnte man sagen, wälzt diesen ehrenvollen Beruf
zwei Männern zu, Einem aus Alt- und Einem aus Neupreußen, den Herren
v. Benningsen und v. Forkenbeck.
- Ein frommer Kaufmannsdiener, der zum „christlichen Jünglingsverein"
(^oung Um'L lüIiriktiÄQ ^ssoeili-lion) gehört, erklärte einmal, daß er selbst
auf einer wüsten Insel wie Robinson Crusoe lebend, ohne Kalender und
Buchführung immer wissen würde, wann es Sonntag ist; er würde den Tag
des Herrn an der Sabbathstille der Natur erkennen. In Gower - Street,
glaube ich, erkennt man den Sonntag noch leichter als auf Robinsons Insel.
Seit die alte Frau vorüberkam,' die Punkt 8 Uhr im feinsten Unkenton
„Frische Wasserkress'" ruft, hat sich in der ganzen langen Straße nur selten
ein gedämpfter Laut vernehmen lassen. Die Hausthür hat Ruhe vor dem
doppelten Hammerschlag des Briefträgers, die Luft vor den Klagetönen des
wandernden Leierkastens. Mehr oder minder tiefe Stille herrscht im übrigen
London und im ganzen vereinigten Königreich. Alle Theater, Concertsäle
und Musikhallen, so wie Astleh's Circus und Cremorne Gartens, das bri¬
tische Museum, das Kensington Museum, die Nationalgallerie, das Poly-
technicum mit der Taucherglocke, Mme. Tussand's Wachsfigurencabinet — Alles
geschlossen; geschlossen, außer sür ihre Eigenthümer, die Actionäre, sind der
zoologische Garten und der Cristallpallaft. Offen ist von 1 Uhr an der bo¬
tanische Garten in Kew, eine Dampfstunde von London; offen sind die Parks,
offen endlich nach dem ersten und zweiten Gottesdienst die Wirthshäuser, wo-
rinnen von 1. bis 3 und von 5 bis 10 oder 11 andächtig und leise ge¬
trunken wird.
Für die Hunderttausende, die in der Woche wie Maschinen arbeiten, ist
die große Sonntagsruhe allerdings eine Wohlthat. Gelegentlich bemerkt ein
Fremder, daß sie zu weit gehe, daß die Regierung wohl Post und Börse,
Kaufläden und Werkstätten mit Recht schließe, aber den Leuten etwas mehr
Unterhaltung gestatten sollte, denn auch die Langeweile sei eine Arbeit, und
eine sehr ungesunde obendrein. Wenn der Einheimische solche Aeußerungen
hört, sagt er: Der Engländer will keine Unterhaltung; sie ist ihm eine Last.
Oder: Unser Pöbel würde schrecklich ausarten, wenn er sich am Sonntag
unterhalten dürfte. Oder: Wir haben keine WM. denn unsere angeborene
Erwerbs- und Arbeitslust ist so mächtig, daß nur das Gebot der Bibel sie
auf 24 Stunden hemmen kann. Um dem Volke die nothwendige leibliche
Rast zu verschaffen, muß die Gesetzgebung sich auf die Kirche stützen. Die
Kirchen- und Sectenmänner aber würden eher noch alle Fabriken am Sonn¬
tag öffnen, als ein einziges Theater. Geschäft bleibt immer verzeihlicher als
Vergnügen. Daher sehen unsere Missionäre oft nichts Arges darin, wenn
wir einmal hinten in Asien, mitten in der Sabbathstille der Natur, ein
Städtchen bombardiren, das keine englische Waare nimmt. Ein kleines Bom¬
bardement zur Ausbreitung des Handels und der Gesittung gehört ohne
Zweifel zu jenen Werken der Nothwendigkeit und christlichen Liebe, die auch
am Tage des Herrn erlaubt sind.
Der Londoner Sonntag gestattet immer noch viele ungeistliche Beschäf¬
tigungen und hat in den Augen frommer Briten immer noch frivole und
allzu weltliche Neigungen. Nur die öffentlichen Arbeiten und Unterhaltungen
beschränkt er auf eine kleine Zahl; meinen häuslichen Freuden und Bequem¬
lichkeiten, so versichert der aufgeklärte Londoner, legt er nichts — d. h. nicht
allzuviel — in den Weg. Kein Pastor, kein Polizeimann hat das Recht,
mich zur Kirche zu schleppen. Eine Parlamentsacte aus der Regierungszeit
der Königin Elisabeth belegt zwar das Wegbleiben vom Sonntagsgottesdienst
mit einer Geldbuße, doch wer fürchtet in London ein veraltetes Gesetz? Die
Acte ist meines Wissens nur ein Mal in neuerer Zeit zur Anwendung ge¬
kommen, als nämlich, wie Lord Brougham einst im Oberhause erzählte, ein
ländlicher Friedensrichter ein paar Bauern, die ihn durch unerweisbare Ka¬
ninchendiebstähle geärgert hatten, nicht anders als mit Hilfe der lang ver¬
ewigten Königin Elisabeth zu verdonnern wußte. Nein, ich bleibe zwischen
meinen vier Pfählen, lese, schreibe, rauche, begieße Blumen, so lange ich will.
Wenn ich nicht zufällig bei ängstlichen Leuten als Aftermiether wohne —
und ein respectabler Mensch hat immer ein Haus für sich — so darf ich
lachen, ja pfeifen, plaudern. Schach spielen kann ich, denn mein Haus ist
meine Burg. Mr. Daffke sieht es gern, wenn seine Tochter nach Tische
sich ans Clavier setzt, nur schließt er vorher sorgsam alle Thüren, verhängt
alle Fenster und ersucht Miß D., immer erst ein bischen Kirchenmusik torts
und darauf eine Polka Muo zu spielen. Doch wohlgemerkt — denn Mr.
Daffke ist ein unabhängiger Mann, der keinen Credit braucht — Niemand
zwingt ihn, solche Vorsicht anzuwenden; er thut es freiwillig aus zarter
Achtung für die Gefühle der Nachbarhäuser. Und ähnliche Rücksichten
beobachten seine Nachbarn gegen ihn.
Wenn es nicht regnet, darf ich in den Parks lustwandeln oder ausfahren
und gebe damit kein Aergerniß. Noch sind wir nicht im alten Jerusalem
angelangt, wie sehr auch die Stillen und Frommen uns dahin'zu steuern
suchen, und wir leben auch nicht im gelobten Lande der Schotten, auf dem
ein starker Abglanz altjüdischer Heiligkeit ruht. Nördlich von Tweed sind
durch Parlamentsacte*) die Wirthshäuser den ganzen Sabbath geschlossen. Es
geschieht trotzdem oder in Folge davon, daß mancher strenger Presbyterianer
schon Vormittags auf der Straße krumme Linien beschreibt. Im Zustande
spirituöser Verzückung tanzt er gleichsam vor einer unsichtbaren Bundeslade;
denn vorsorglich nimmt er jeden Sonnabend einen Tropfen der Tröstung
ins Haus, und da in der 24stündigen Sperre selbst das Ale-Krüglein der
Wittwe versiegen würde, Bier ohnehin leicht schal wird, läßt er sich ein paar
große Sonntagskannen bis an den Rand mit Whisky füllen. In den
schottischen Städten arbeitet kein Cad- (Droschken-) oder Omnibuspferd am
Sabbath. Ein weltlich gesinnter Speculant in Glasgow kam vor ungefähr
1.4 Jahren auf den Gedanken, billige Sonntagsfahrten mit seinem Dampf¬
boot Emperor auf dem Clyde zu unternehmen, und in der volkreichen
Fabrikstadt fanden sich schwache Christen genug, die der Versuchung nicht
widerstehen konnten, auf solche Art frische Luft zu schöpfen und die hübschen
Stromufer zu bewundern. Aber den Lustfahrern wurde an mehreren Punkten
das Landen verwehrt, und als sie in Glasgow wieder ausstiegen, empfing
sie ein Schnaps- und glaubenstrunkenes Heer streitbarer aller Weiber und
Männer mit frommen Flüchen, und suchte an ihnen die mosaische Operation
der Steinigung zu vollziehen. Bei solchen Drohungen blieb es nicht, sondern
ein Mann Gottes schlich sich im Dunkeln auf das freche Fahrzeug und bohrte
ein Loch in den Boden. Der Emperor fuhr keinen Sabbath mehr.
Dem Schotten, der zum ersten Mal den milderen Süden besucht, erscheint
daher London als ein „gottloses Nest", doch bald begnügt er sich, den
schottischen Sabbath mit Worten zu vertheidigen, während er hier mit in
den Apfel der Sünde beißt und ihn gar nicht sauer findet. Cabs, Omnibusse,
Themseboote und Eisenbahnen haben in London auch am Sonntag zu thun.
Des ersten Gottesdienstes halber darf zwischen 11 und 1 Uhr kein Zug abgehen,
aber mancher Zug flüchtet mit einer Menge von Weltkindern beladen. 10 oder
5 Minuten vor 11 aus dem Bahnhof hinaus nach den grünen Fluren, so
daß der Himmel auch um seine zwei Stunden betrogen wird.
Ueberall in englischen Parks und Gärten sieht die Natur grade so aus
wie in der Woche, und fast scheint es, daß sie kein Gewissen hat und keine
Reue kennt. Doch behauptet man, daß der Menschengeist allmälig auf jede
Landschaft wirke, daß er in ihrem Gesicht und Charakter lang dauernde
Spuren zurücklasse. Der amerikanische Urwald, zum Beispiel, soll vor der
Ankunft der puritanischen Ansiedler aus England Momente sanfter Heiter¬
keit gehabt, der Fink, die Grasmücke, Sprosser, Zaunkönig und Rothkehlchen
sollen dort gepfiffen und gesungen haben, als wären sie in Europa. Jene
Puritaner nun waren fromm und auch mannhaft, sie wußten ebensogut
zu bauen und zu pflanzen wie Urwälder und Urvölker auszurotten, aber
Musik in der Seele hatten sie nicht. Pilgrim Fathers nennt man sie, aber
sie können wohl Grim Fathers heißen, und als diese grimmen Väter den
Müttern verboten, am Sabbath ihren Säugling zu küssen oder anzulächeln,
ging ein kalter Schauer durch die Wildniß, und die gefiederten Sänger alle
mit Ausnahme des gefühllosen Spottvogels, verloren ihre holde Stimme.
Auf einigen englischen Landstrichen lagert auch noch ein Schatten aus der
Puritanerzeit, wofür man freilich oft rationalistische Erklärungen vorbringt.
So theilte ein naturgeschichtliches Wochenblatt einmal die Beobachtung mit,
daß die fremden Singvögel, die aus Frankreich zur Sommerfrische über den
Canal kommen, wie ein schmales Band über die Mitte der Insel hinziehen
und von dieser Linie selten nach Westen und nie nach Osten abschweifen, als
scheuten sie die kühle Nachbarschaft der Nordsee. Ein Alterthumsforscher da¬
gegen erzählte mir, daß im 17. Jahrhundert eine Nachtigall in Essex vor
den Friedensrichter gestellt wurde, weil sie am Sabbath geschlagen hatte.
Ihre Entschuldigung, sie habe den Schöpfer gepriesen, fand keinen Glauben,
denn ihr Organ klang anakreontisch: sie wurde zu einer Buße von 3 s. 6 ä.
verurtheilt und, da sie nach Poetenart grade nicht bei Gelde war, in den
Thurm gesteckt. Aehnliche Urtheile wurden in mehreren Grafschaften gefällt.
Nach solchen Gegenden soll heute noch keine freie Philomele sich leicht ver¬
irren; und wenn eine dort zufällig im Käfig sitzt, beobachtet sie, wie es heißt,
an allen Sonn- Buß- und Festtagen des Jahres ein respektvolles Schweigen.
Dies sind Geschichten, die sich nicht , begeben haben. Dafür ist es
Thatsache, daß vor kaum 40 Jahren in London ein Versuch gemacht wurde,
die Parkthore am Sonntag durch Parlamentsacte zuzusperren. Das laute
Gemurr des Publicums vereitelte die Maßregel, und bejahrte Londoner, die
sich jener Zeit erinnern, habe ich mit gerechtem Stolz davon sprechen hören,
wie das englische Volk damals den Beweis geliefert, daß es sich nicht knech¬
ten lasse. Andere wieder geben zu verstehen, daß Sir Andrew Agnews, der
die betreffende Bill einbrachte, und sein Anhang im Parlament es eigentlich
mit Gott und Menschen gut gemeint hätten. Wer wollte dies bezweifeln?
Jedermann kann im Kreise seiner Bekannten wohlmeinende Personen entdecken,
die von dem frommen Sinn des erwähnten Ritters beseelt sind. Zahlreiche
Familien genießen am Sabbath nur kalte Speisen, damit auf dem Küchen-
heerd Ruhe herrsche; sie halten es für Sünde, einen Hemdenknopf anzunähen,
in ein profanes Buch zu gucken, zu fahren oder zu reiten. Der heilige Eifer
fällt zuweilen ins Komische. Ein deutscher Freund, der bei einer Mrs. Jones in
der City wohnt, sah einmal die junge Dienstmagd vor einem aufgeschlagenen Fo¬
liobandsitzen und gefährlich mit dem Kopfe nicken. Auf die Frage, was sie da thue,
erwiderte sie gähnend, !daß sie jeden Sonntag eine Stunde „bei dem Buch
sein" müsse; „Herrin" (Mrs. ohne Namen und Artikel) wolle es so." — „Es
ist wol recht langweilig?" meinte er. — „Ich weiß nicht, ich kann nicht lesen."
— „El, warum liest dann „Mrs." Dir nicht lieber daraus vor?" — „Hat
sie schon ost gethan, aber ich versteh's nicht." Er blickte hinein, es war die heilige
Schrift in neidischer Uebertraaung, denn Mrs. Jones stammte aus Wales
und sprach mit Gott nur wallisisch, obgleich sie diese halbtodte Sprache schon
mehr als halb vergessen hatte. Als aber mein Freund der Hausfrau be¬
merkte, das Mädchen möge wohl über dem Buch sitzen, aber sich dabei schwer¬
lich etwas denken, war die Antwort: „Wenn auch! Es ist doch immer die
Bibel, und" — (wie man von Hausmitteln sagt) — eem't Kurt"
(schaden kann's nicht). — Ich bin überzeugt, manche Leute lächeln über
Mrs. Jones, die blos weniger consequent, aber keinen Gran weiser sind als
die wallisische Dame. Herrscht nicht ewige Unzufriedenheit mit dem bestehen¬
den Sabbathgesetz? Wenn Hunderte es ein wenig mildern möchten, wollen
Tausende und Zehntausende es verschärfen, während die feinen und schein¬
feinen Classen sich den stsrtus puo loben, der keinen respectablen Menschen
beenge. In jeder Session empfängt das Parlament eine Handvoll Petitio¬
nen um Oeffnung von Museen und Gallerien und eine Schiffsladung Pe¬
titionen nicht nur dagegen, sondern auch um Schließung der Wirthshäuser
während des ganzen Sonntags, und um weitere Kürzung der Frist am
Morgen, während deren Milch, Wochenblätter. Hciringe und andere Luxus¬
gegenstände verkauft werden dürfen. Zu letzterem Zweck wurden seit 1860
verschiedene Gesetze nach einander gegeben, die das Gemüth der Frommen
aber noch nicht beruhigt haben. Merkwürdig ist der Aufwand an Geld und
Wachsamkeit, womit die Liga „lor tke I^ora's va^'s Letter 0dsörvg.ne<z" (die
Gegner lesen „Lieder Obssrvanee") für ihre Sache kämpft. Neulich erst er¬
schien in den Blättern ein Jahresbericht der Liga, wonach sie 30,000 Pfd. Se.
zum Auslaufen von Cristallpalastactien verwandt hat. Die Besitzer dieser
Actien werden mit ihrem Recht als Miteigenthümer keinen Mißbrauch trei¬
ben, werden um Sonntag weder selber den Palast betreten, noch einen Gast
dort einführen. Etwas ist damit schon gewonnen. Jede an Ort und Stelle
bezahlte Unterhaltung ist als ein sabbathwidriger Verkehr untersagt. Um
diese Schwierigkeit zu umgehen, veranstaltete ein Kreis von Aufklärern, der
das Publicum an die Sünde gewöhnen will, auf eigene Kosten eine unent¬
geltliche Sonntagsmusik in Regents Park. Was war zu thun? Man mußte
dem Janhagel seine Lustbarkeit verleiden. Dus scharfe Auge der Liga ent¬
deckte bald, daß die Zuhörer gern während des Spieles auf gemietheten
Sesseln sich niederließen und daß außerdem Concertprogramme im Park ver¬
kauft wurden. Beides war in der That gesetzwidrig. Flugs wurde die Po¬
lizei angerufen und dem Unfug Einhalt gethan. Mögen die Schwelger ihre
Programme in der Woche kaufen, mögen sie zur Musik sich ihre eigenen
Sessel von Hause mitbringen. Zur Enthaltung vom Fahren am Sonntag
ist vor geraumer Zeit ein christlicher Droschkenkutscherverein gestiftet worden,
dessen Mitgliederzahl sich aber nicht zu mehren scheint. Gelänge es der Liga,
den ganzen Cnstallvallast, alle Droschken, Eisenbahnen und Pennyboote käuf¬
lich an sich zu bringen, so würden einige Millionen Briten ruhiger schlafen.
Um die englische Sabbathschwärmerei zu erklären, müßte man ein dickes
Buch schreiben. Genug, daß sür den gewöhnlichen Engländer die Religion
ganz und gar im Sonntag besteht, mit der Sonntagsruhe zahlt er dem Him¬
mel seine Schuldigkeit auf Einem Bret ab. Viele, die nicht grade zu den
Bibelreitern gehören, haben die dunkle Borstellung, daß eine weniger strenge
Sonntagsordnung den nationalen Charakter schwächen, daß der männliche
Ernst und Anstand, der die Engländer vor andern Völkern auszeichnet,
darunter leiden, ja daß der geborene Insulaner dann bald nicht mehr englisch
sondern wie ein torsigner aussehen würde. Die Prophetenausleger (stuävnts
ok xropiilze^) aber, deren es unter allen Ständen gibt, zittern für Thron
und Reich beim Gedanken, daß dem Sabbath ein Härchen gekrümmt werden
könnte. Sie wissen ziemlich genau, welche kleine und große Strafgerichte
der „nationalen Sünde", je nach ihrem Grade, auf der Ferse folgen. Auf
schwachen Kirchenbesuch am Sonntag steht die Cholera, im Wiederholungs¬
fall eine Viehseuche. Wie nun, wenn — was freilich undenkbar ist — welches
Ministerium wird die Verantwortlichkeit auf sich laden es zu erlauben? —
aber sprechen wir das Aecgste aus — wenn das Publicum an einem Sonn¬
tag Abend in die Oper ginge! Würde der Golfstrom nicht seinen Lauf än¬
dern? Würde der Canal nicht über Nacht austrocknen, daß am nächsten
Mittag schon eine französische Jnvasionsarmee im Sturmschritt herüberkäme?
Wer weiß, ob die Ausfuhr nicht im Nu um S0°/<> fiele? Und wer sagt, die
Welt habe zu viel Wissen und zu wenig Glauben? Nein, auch eine Ver¬
fassung vom höchsten Alter schützt vor Thorheit nicht und selbst die Magna
Charta, ein so schätzbares Kleinod sie ist, verwandelt nicht alle Philister in
Philosophen.
Vor 1848 indeß gab es'freigesinnte Deutsche, die den Bibelbuchstaben¬
dienst der Engländer und Amerikaner zu den Geheimnissen der angelsäch¬
sischen Erbweisheit zu rechnen schienen. Der geiht- und talentvolle Sealsfield
unter Andern, dessen Schriften einst die Sympathie für Nordamerika mächtig
nährten, spricht mehrmals mit Achtung von der steifen Rechtgläubigkeit Neu¬
englands, und läßt durchblicken, daß er sie als die unerläßliche Bedingung —
(oder Kehrseite?) — politischer Freiheit ansehe, — als glaubte er, die arme
menschliche Natur sei zu schwach, um auf zwei Gebieten zugleich sich selbst zu
regieren. Nun, wenn auch die große Glocke der englischen Meinung die
Times über die Religionslosigkeit der Deutschen brummt, so fehlt es uns
doch.^veiß Gott, nicht an Stillen und Frommen im Lande. Aber Niemand
betrachtet sie als Stützen nationaler Unabhängigkeit oder als Gründer
deutscher Macht und Größe, wie einst die Puritaner die der angelsächsischen
waren. Eckig und gallig und finster wie das Wesen der ersten Puritaner
fein mochte, sie hatten wenigstens Mark in den Knochen: ihre Nachfolger in
aller Herren Ländern haben von ihnen nichts, als — die Grazie.
Briefe von Alexander von Humboldt an Christian Carl Josias
Freiherr von Bunsen. (Leipzig bei F. A. Brockhaus.) 209 S. in 12.
Das Jahr 1769 war bekanntlich an großen und ausgezeichneten Männern
(Napoleon, Wellington, Canning, Chateaubriand, Moreau, Kleber, Mehemed Ali
u. A. in.) besonders reich. Für uns Deutsche ist es vornehmlich als Geburtsjahr
Alexander von Humboldt's von Bedeutung und die festliche Begehung des 14. Sep¬
tember, an welchem der Verfasser des Kosmos hundert Jahre alt geworden wäre,
ist eine Ehrensache gewesen, wo immer nur Deutsche leben, freilich ohne auf diese
beschränkt zu bleiben. An kleineren und größeren Festschriften, namentlich solchen,
welche darauf abzielten, die Bedeutung des großen Forschers weiteren Kreisen zu¬
gänglich zu machen, ist natürlich kein Mangel gewesen. Bon größerem Interesse
als weitaus die größte Zahl derselben ist die in diesen Tagen ausgegebene Samm¬
lung von 92 Briefen, welche Humboldt in den Jahren 1816 bis 1856 an Bunsen
gerichtet hatte und welche sich auf Gegenstände der verschiedensten Art beziehen.
Obgleich diese Briefe keine neuen Aufschlüsse über zweifelhaft gebliebene Partien der Zeit¬
geschichte oder auch nur der Lebensgeschichte beider Männer enthalten, zwischen denen sie
gewechselt worden, werden sie einem großen Theil der deutschen Lesewelt willkommen
sein, schon weil sie von dem ungeheuren Universalismus der Ideen und Interessen
Humboldt's zeugen, dem die Gebiete, auf denen Bunsen sich ausgezeichnet hat,
eigentlich alle gleich fern abzuliegen schienen. — Das Hauptgewicht ist auf die
zweite Hälfte der Sammlung, die in den Jahren 1848 bis 1856 geschriebenen
Briese zu legen, sowohl weil denselben eine vertrautere Bekanntschaft zwischen Brief¬
steller und Briefempfänger vorausgegangen, als weil dieselben ausführlicher sind und
sich wenigstens zum Theil auf politische Gegenstände beziehen. Zwischen Mitthei¬
lungen privater oder doch nebensächlicher Natur, welche sich auf Empfehlungen, aus¬
getauschte Bücher und tgi. beziehen, laufen Andeutungen und Berichte Humboldt's
über die politische Lage, die Stimmung des Königs und seiner Umgebung und die
von den verschiedenen Parteien geübten Einflüsse unter, die entschieden lesenswert!)
sind. Besondere Aufmerksamkeit verdienen in dieser Beziehung die dreizehn zum
Theil ziemlich ausführlichen Briefe aus den Jahren 1851 und 1852, durch welche
Humboldt's Freisinn und seine richtige Beurtheilung der politischen Lage aufs neue
bestätigt werde. Namentlich die Schmach von Olmütz ist von dem großen Freunde
Friedrich Wilhelms IV. bitter empfunden worden und der Unmuth über dieselbe
mischt sich ziemlich deutlich der nicht eben vortheilhaften Schilderung zu, welche von
dem Kaiser Franz Joseph („häßlich, mit stieren Augenbrauen über nichtssagenden
Augen u. s. w.") und dessen Bruder Maximilian bei Gelegenheit des Besuchs vom
December 1852 entworfen wird. Von den Briefen der letzten Jahre sind beson¬
ders diejenigen merkwürdig, welche Humboldt's tiefe Verstimmung über Preußens
Verhalten während des orientalischen Kriegs bekunden — ein Punkt, in welchem
Humboldt bekanntlich mit Bunsen, dem Anwalt einer Alliance mit England, beson¬
ders lebhast sympathisirte.
Mit Ur. -MO beginnt diese Zeitschrift ein neues Quartal,
welches durch alle Buchhandlungen und Dvstämter zu be¬
ziehen ist.
Leipzig, im September 1869.Die Verlagshandlung
Der Nachgrabungseifer auf dem Boden des alten Rom hat in den letzten
Jahren neue Impulse erhalten und überraschende Früchte getragen. Während
die vom Kaiser der Franzosen angeordneten Ausgrabungen in den Farne¬
sischen Gärten fortfahren, uns die Reste der Kaiserpaläste des Palatin in
weitem Umfange bloszulegen, und die unerschöpfliche Fundgrube der Marmo-
rata am Tiber-Emporium mehr dem päpstlichen Seckel eine willkommene
Einnahmequelle als eine ergiebige wissenschaftliche Ausbeute zu liefern ver¬
spricht, haben durch die Förderung des preußischen Königshauses die Nach¬
forschungen in dem Hain der Arvalbrüder der Alterthumskunde einen über
Erwarten reichen Ertrag gewährt.
Für die Bestimmung der Stätte, wo jene uralte Genossenschaft dem
Cult der Göttin der Erdfruchtbarkeit oblag, fehlt es nicht an Anhaltepunkten.
Jnschristliche Notizen in den bisher bekannten Acten der Arvalbrüder setzten
den heiligen Hain an den fünften Meilenstein der Via Campana, welche
freilich mit Sicherheit nicht nachzuweisen war. Die Berichte von dem wich¬
tigen Funde des Jahres 1S70, der außer 19 Jnschriftfragmenten auch
7 Basen zu Statuen römischer Kaiser in ihrer Eigenschaft als Urvater ans
Licht förderte, leiteten auf die Vigna Galletti am 4. Stein vor Porta
Portese, auf die Stelle, die damals wie noch heute im Volksmund den
Namen ^Kogo (Ertränk den Esel) führte. An derselben Stelle
wurden auch 1699 zwei Tafeln mit Arvalenacten ausgegraben; nur der Irr¬
thum des ersten Herausgebers derselben, der den 4. Stein der Via Ostiensis
(statt Portuensis) als Fundort angab, war daran Schuld, daß noch der
treffliche Marini, als, er zu Ende des vorigen Jahrhunderts seine muster-
giltige Sammlung der durch Rom hin verstreuten Urvater-Monumente ver¬
anstaltete bei der Bestimmung jener Via Campana irre ging. Erst neuer¬
dings ist durch genauere Prüfung der authentischen Fundnotizen und richtigere
Combination Seitens der römischen Gelehrten Biondi. Melchiorri und de
Rossi die alte Via Campana als die von der Portuensis sich abzweigende
und längs des Stromes nach der Villa Magliana führende Straße, und in
der Mgna der Gebrüder Cecccirelli (zwischen dem 4. und 3. Meilenstein) jene
frühere Vigna Galletti, das heißt die Stätte des Arvalenhains richtig er¬
kannt worden. Kleine Fragmente von Inschriften, welche im Jahr 18S7
an eben dieser Stelle zum Vorschein kamen, hoben jeden Zweifel: und schon
damals wiesen manche Stimmen auf das Wünschenswert!)« und den voraus¬
sichtlichen Erfolg einer neuen methodisch unternommenen Ausgrabung hin.
Aber erst als im Sommer 1866 die Eigenthümer der Vigna bei gelegentlichen
Erdarbeiten am Fuß der antiken Grundmauern ihres Casino's eine unversehrt
erhaltene Marmortafel entdeckten, welche für Nero's Regierungszeit unge¬
ahnte Aufschlüsse brachte, erwachte der Eifer und machte den Wunsch zur
That. Die wirksame Anregung zu Ausgrabungen am genannten Orte ebenso
wie später die umsichtige Controle der Arbeiten und schließlich die Ordnung
und kundige Ausbeutung des Gefundenen, wie sie uns jetzt vorliegt, sind
wesentlich W. Herzen's Verdienst, des langjährigen Secretärs am Archäo¬
logischen Institut in Rom. Seinen Bemühungen gelang es, die Besitzer der
Vigna für eine planmäßige Ausgrabung im Namen des Instituts zu ge¬
winnen , die Jenen das Eigenthumsrecht ließ, dem Institut das Recht der
Publication sicherte. Durch die liberale Unterstützung der Königin und später
auch des Königs von Preußen wurde es möglich, die Arbeit seit dem ersten
Spatenstich (Ende April 1867) mit wenigen durch die Jahreszeit veranlaßten
Unterbrechungen eifrig zu fördern und in verhältnißmäßig kurzer Zeit
bedeutende Resultate zu erzielen.
Die Untersuchung hielt sich anfangs in der Nachbarschaft jenes Casinos,
das sich durch den antiken runden Unterbau als eines der Heiligthümer des
Urvater-Collegiums kennzeichnete. Die Funde von zahlreichen Architektur- und
Sculptur-Resten, Stücken von Carnieß, von Statuen und Reliefs, wie kleinerer
inschriftlichen Fragmente von Arvalenacten ließen daran nicht zweifeln: die
letzteren zeigten überdies in ihrer Lage, daß sie einst in chronologischer
Reihenfolge die Wände des Gebäudes geschmückt hatten. Doch entsprach die
Ausbeute den Erwartungen nicht, und man verlegte daher im Jahre 1868
die Ausgrabung auf die Anhöhe hinter dem Casino, wo die Masse der den
Boden bedeckenden Marmorstückchen längst die Aufmerksamkeit der Besitzer
geweckt hatte. Hier gerieth man auf der Höhe des Hügels bald in einen
Begräbnißplatz aus spätchristlicher Zeit, der wohl nur armen Leuten gedient
hatte: anstatt der Sarkophage fanden sich einfache Platten von Marmor
oder Terracotta zur Schließung der Gräber verwandt, und unter diesen
Platten kam denn auch eine ganze Reihe Tafeln mit Arvalenacten. theils
unversehrt, theils in trümmerhaftem Zustande zum Vorschein; darunter solche,
von denen andere Theile sich in der Umgebung des Casinos gefunden hatten;
außerdem Reste von Jahresfasten (Beamtenregistern) und schöne Bruchstücke
eines Kalenders. Es war klar, daß die Christen sich ihre Grabdeckel aus
der Nähe nach Bedürfniß zusammengesucht und dabei auch die Wände des
verlassenen Arvalenheiligthums nicht geschont hatten- An die Grabstätte
schloß sich auf dem Gipfel des Hügels eine christliche Katakombe höchst ein¬
facher Anlage; die Grabhöhle in der Wand auch hier nur mit Backsteinen
verschlossen, höchst selten Malereien oder eingeritzte Inschriften: vor derselben
zahlreiche Ueberreste'von Säulen, Stufen, Mosaiken eines Oratoriums, das
läut' der Inschrift Papst Damasus (-j- 384) den Märtyrern Simplicius,
Faustinus und Beatrix geweiht hatte, und christliche Grabinschriften des
vierten Jahrhunderts, welche einst den Boden und Grund des Oratoriums
bedeckt hatten und welche die Anlage der Gräberstätte in der Nähe erklärten.
Auf dieser ward nun die Untersuchung eifrig weitergeführt und ergab besonders
in den Monaten Mai und Juni eine reiche Ernte an Arvaleninschriften, in
der Regel nur Fragmenten, deren Zusammengehörigkeit sich jedoch in den
meisten Fällen mit Bestimmtheit hat erweisen lassen. Von der Mühe und
Ausdauer allerdings, welche das Zusammensetzen der so gefundenen Bruch¬
stücke erforderte, wird sich nur der einen Begriff machen können, der, wie
der Schreiber dieser Zeilen, im vergangenen Winter die Fundgegenstände
selbst an dem provisorischen Aufbewahrungsorte in einem Schuppen der Vigna
Ceccarelli hat betrachten können. Sorgfältigste Prüfung des Materials
und der Buchstabenform, fortwährende Begleichung aller einschlagenden
Momente und unermüdete Erwägung aller Möglichkeiten, ein an der Ent¬
zifferung epigraphischer Denkmäler geschärftes Auge und eine bewegliche und
nie unstete Combination gehörten dazu, Hunderten von Bruchstücken, die, an
verschiedenen Orten gefunden, oft ohne jedes charakteristische Zeichen waren,
in der betreffenden Tafel ihren Platz anzuweisen und sie nach Analogie zu
ergänzen. In überraschender Weise hat Herzen diese Aufgabe gelöst: noch
im Laufe des Jahres 1868 konnte er die Resultate der Ausgrabungen bis
zum September, die Tafeln und Tafelfragmente mit den Protokollen des
Collegiums in chronologischer Folge und mit fortlaufendem, alle einschlagen¬
den Punkte trefflich erörternden Commentar in einem stattlichen Bande dem
Publikum vorlegen.*)
Ueber die Anlage und Ausdehnung des Arvalenhains gestatten uns die
neuen Ausgrabungen eine nahezu sichere Orientirung. Der heilige Hain lag
auf der Höhe und an der Senkung des Hügels: wahrscheinlich bildeten das
Oratorium des Damasus und die Katakombe die äußere Grenze desselben.
Hier fand sich noch ein kleiner Altar mit einer Schlange, wohl dem Genius
des Hains geweiht dem die Brüder opfern. .Die heiligen Gebäude der
Brüderschaft hingegen, der Tempel der Dea Dia und das Cäsareum befanden
sich in der Ebene am Hügel: hier verrichtete das Colleg am Maifest die
heiligen Bräuche, ehe der Meister den Hügel erstieg, das Zeichen zum Beginn
des Wettrennens zu geben. Der runde Unterbau des heutigen Casino hat
einst, wie man annehmen darf, den Tempel getragen. Nach den Architektur¬
stücken, welche sich hier in beträchtlicher Zahl vorfanden, hat der Architekt
Lanciani eine Restitution des Gebäudes versucht, die freilich sehr proble¬
matisch bleibt, zumal der ziemlich junge Stil der Decorationsstücke eher auf
einen späteren Anbau als auf den alten Tempel hinweist. Auch von den
übrigen Bauwerken, deren die Acten erwähnen, dem Cäsareum, dem Circus
und dem Tetrastylum hat man Reste gesunden und danach ihre Oertlichkeit
mit mehr oder weniger Sicherheit bestimmt. Der Tempelbezirk erstreckte sich
noch über die heutige Straße hinaus: seine westliche Grenze scheint durch
Entdeckung einer Reihe Weihinschriften gegeben zu sein, welche von ver¬
schiedenen Innungen noch in republikanischer Zeit der Fors Fortuna gesetzt
sind. Das Heiligthum dieser Gottheit, dessen Gründung auf König Servius
Tullius zurückgeführt wurde und das alte Schriftsteller an den-6. Meilen¬
stein nahe dem Tiber setzen, befand sich also in der Nachbarschaft des Hains
der Dea Dia.
Das Hauptinteresse concentrirt sich indeß ohne Frage in den neu ge¬
fundenen Inschriften der Sitzungsprotokolle, welche zu der bereits
in Marini's Sammlung vorliegenden nicht blos ergänzend, sondern als ein,
auch der Masse nach ebenbürtiger Bestandtheil hinzutreten. In dieser Jn-
schriftenfolge ist uns ein Schatz von Notizen aufbewahrt, der sie an Wichtig¬
keit neben die Consular- und Triumphalfasten zu stellen erlaubt. Zu Ende
jedes Jahres, später meist erst in den Anfangsmonaten des folgenden Jahres,
wurden die Protokolle des Collegs auf einzelne in die Tempelwände des
Stylobats eingelassene Tafeln eingegraben: erst in der späteren Zeit, als es
an Raum gebrach, scheint man sie auf freistehende Steine, Stuhlwände u. a.
an verschiedenen Plätzen des Hains geschrieben zu haben: ein Umstand, der
die nachmalige Zerstreuung der Arvalacten besonders erleichterte. Dank dem
neuesten Funde können wir nunmehr die Geschichte der Brüderschaft durch
die Regierungen aller Kaiser von Augustus ab bis ins dritte Jahrhundert,
wo sich mit Gordianus die Spur verliert, verfolgen. Besonders reich sind
in dem jetzt Gefundenen die Regierungen Nero's, der Flavier und Trajan's
bedacht, auch das tolle Jahr des Interregnums nach Nero's Tod (69)
fehlt nicht.
Aus der Zeit vor August haben wir keine Protokolle: gewiß fing man
erst unter den Kaisern an, dieselben aufzuzeichnen. Aber diese Auszeichnung
hing wieder eng mit einer Reorganisation des Collegiums zusammen, als
deren Schöpfer wir Augustus um so eher betrachten dürfen, je mehr die¬
selbe mit den sonstigen Tendenzen dieses Herrschers übereinstimmt. Fehlt es
uns gleich an directen Zeugnissen darüber, so sprechen die Acten selbst doch
laut genug für diese Neuordnung des Instituts, welche den ganzen Charakter
desselben umgewandelt und ihm eine Bedeutung gegeben haben muß, deren
es unter der Republik nie genoß.
Die Corporation der zwölf „Feldbrüder" gehört zu den uralten lateini¬
schen Stiftungen, die von den römischen Königen in deren Staat hinüber¬
genommen wurden. Die Legende leitete ihren Ursprung und Namen von
den zwölf Larenbrüdern ab, den Söhnen der Anna Larentia („Larenmutter")
und guten Geistern des Feldes, als welche die Laren neben dem alten Feld¬
gott Mars auch in dem Arvallied, der ältesten sprachlichen Urkunde Roms,
angerufen werden. Alljährlich im Mai hielt das Collegium der zwölf
Brüder, mit Aehrenkränzen und weißen Binden geschmückt, den festlichen
Umzug und erflehte für die Stadtflur den Segen der Dea Dia, der „Spende¬
göttin", die, identisch mit der Larenmutter und der Erd- und Saatgöttin
nah verwandt, nur in diesem Cult auftritt. Außer diesem dreitägigen Jahres¬
fest hatten die Urvater keinerlei öffentliche Function'.
In unsern Acten bildet das Maifest allerdings fortwährend den Mittel¬
punkt der jährlichen Verrichtungen. Stets an drei Tagen dieses Monats,
am 17. 19. und 20. oder am 27. 29. und 30. (je nach der feierlichen An¬
kündigung am Jahresanfang) versammeln sich die Arvalbrüder zum Fest¬
mahl, am ersten und dritten Tag im Hause ihres Meisters oder eines Mit¬
gliedes, am zweiten, dem Hauptfesttag, im Hause des Meisters und im hei¬
ligen Hain, wo nach den üblichen Lammopfern und dem Festmahl im Cäsa-
reum oder Tetrastylum noch regelmäßig Wettrennen im Circus um den Preis
silberner Kränze gehalten wurden: dies gewiß eine spätere Stiftung. In
dem an diesem Tag üblichen Ritual, das uns in späterer Zeit immer aus¬
führlicher berichtet wird, unter den Vorschriften über Oeffnen und Schließen
der Tempelthüren, Salben und Kränzen der Götterbilder, Recitation der
alten Litanei (nach Textbüchern) im Tanzschritt, über Speise, Kleidung, Ge¬
räth u. s. w. hat sich neben später Eingeführten mancher uralte Brauch er¬
halten; wie auch die überlieferten Gebetformeln manchen kostbaren Sprach¬
rest aus der Vorzeit bewahren. Die Brüder beten zu den Töpfen, d. h. zu
den aus ältester Zeit kommenden irdenen Tempelgeräthen, die bei Opferhand¬
lungen im Gebrauch blieben und denen man eine besondere Heiligkeit bei¬
maß. So wissen wir, daß König Numa's „schwarze Schüssel" göttliche Ver¬
ehrung genoß. Und in der That haben die neuen Ausgrabungen zahlreiche
Fragmente solcher Thongeschirre der ältesten, noch ganz rohen Form und
Arbeit ans Licht gebracht, die mit ihrem eigenthümlichen Stoff und ihrer
primitiven Ausführung in Rom ihres Gleichen nicht haben. Ebenso charak¬
teristisch für das hohe Alter des Collegiums sind die häufigen Sühnopfer,
welche nöthig werden, wenn Eisen in das Heiligthum oder den Hain ge¬
bracht worden war, die Jahresprotokolle einzugraben oder einen gefallenen
oder vom Blitz getroffenen Baum herauszuschaffen, oder neue Bäume zu
pflanzen. Der Dienst der Dea Dia erweist sich damit als in eine Periode
hinaufreichend, wo man das Eisen noch nicht anwendete: gerade in ältester
Zeit war strenge Vorschrift, bei heiligen Handlungen und Gründungen sich
bronzener Gerätschaften zu bedienen, und die heilige „Holzbrücke" über den
Tiber durfte nicht einen Nagel von Eisen haben.
Dies sind Reste altheiliger Brauchs, der, vielleicht unverstanden, wie
seine Litanei, doch mit römischer Zähigkeit festgehalten ward. Aber das
Maifest der Göttin mit den zugehörigen Ceremonien nimmt sich wie eine
ehrwürdige Ruine aus in der Masse neuer, den modernen Verhältnissen ent¬
sprechender Funktionen, die jetzt das Arvalenalbum füllen. Der Gegensatz
springt in die Augen; das Arvalcncollegium der Kaiserzeit in unseren Ur¬
kunden ist nicht mehr die einfache Corporation, welcher die Verehrung
der Flurgottin anvertraut ist; es ist eine neue Priesterschaft mit dem
ganzen Apparat einer solchen, oder besser ein Orden privilegirter Leute, der
dem Kaiser nahe steht und den Cult der herrschenden Dynastie ganz speciell zu
seiner Aufgabe macht. Das Institut erscheint jetzt mit einem neuen Glanz
umgeben, zugleich ein neuer Trabant, der um die kaiserliche Sonne kreist.
Es lag ganz im Geist von August's Reformpolitik und im System seines
Neubaues, die alttraditionellen Formen mit neuem Inhalt zu erfüllen, zu
erweitern und zu vervielfältigen: eine scheinbare Bereicherung, der in der
That die Eigenart und Selbständigkeit der Institute zum Opfer siel. Das
galt besonders auch für die Priestercollegien, in welchen die Kaiser eine
Hauptstütze ihrer Macht suchen mußten; wie sie denn auch durch Cumulation
der höchsten Priesterämter auf ihrem Haupt sich diesen Einfluß sicherten.
, So treten die Urvater jetzt als eine neue Stiftung neben die übrigen
Priestercollegien; bei Weitem den größten Theil ihrer heiligen Handlungen,
welche die Protocolle zu verzeichnen haben, nehmen die jährlichen Gelübde
für das Wohl des Kaisers und des kaiserlichen Hauses, für die Ewigkeit des
Reiches, Gebete und Opfer für die Gesundheit, die glückliche Rückkehr, die
Siege des Kaisers. Feier von Geburtstagen und Consecrationen und ande¬
ren mehr oder minder wichtigen Vorgängen in der kaiserlichen Familie in
Anspruch. Und diese Opfer und Gelübde richten sich nur in äußerst seltenen
Ausnahmefällen an die Dea Dia. die Patronin der Urvater; in erster Linie
stehen jetzt die capitolinischen Gottheiten Jupiter, Juno und Minerva, denen
sich dann auch die Linus xudlies, und der Genius des Kaisers, öfter auch der
Genius des römischen Volks und zu verschiedenen Zeiten und bei verschie¬
denen Festgelegenheiten andere Gottheiten anschließen; bei einer Siegesfeier
Jovis Victor und Mars Ultor. Victoria und Fortuna, ganz spät auch die
I^res Militäres, sonst abstracte Mächte wie Felicitas, Concordia, Par, Pro-
videntia; endlich bei Familienfesten die heiliggesprochenen Mitglieder des
jütischen Hauses, deren Cult erst Vitellius aufhob. Als Kaiser Trajan im
März des Jahres 101 zum ersten dorischen Feldzug aufbricht, bieten die Ur-
vater in weitschweifigen Gelübden den ganzen römischen Olymp auf, den
Herrscher aus den Gegenden, die er zu Wasser und zu Lande betreten, un¬
versehrt und siegreich zur Stadt zurückzuführen; die Gottheiten erschienen zu
Gruppen verbunden, als letzte Neptun, der Hüter der Seefahrt, mit Herkules
Victor, dem Triumphalgott. Die Versammlungsstätte der Brüder zu solchen
Zwecken ist nicht der heilige Hain, der nur dem Maifest und den nöthigen
Sühnopfern bestimmt bleibt, sondern regelmäßig das Capital als Sitz der
Stadtgottheiten und specieller der Pronaos des Jupitertempels; für die
dem Augustischen Hause geltenden Handlungen der neue Tempel August's,
und bei besonderen Anlässen das Forum Augustum. Selbst die feierliche
Ankündigung des Maifestes geschieht in der Stadt anfangs im Pantheon,
später beständig in der Vorhalle des Concordiatempels auf dem Forum; der
Meister des Collegs oder sein Stellvertreter sprach vor der Halle, das ver¬
hüllte Haupt nach Osten gewendet, das Gebet und bestimmte die drei Mai¬
tage. An derselben Stätte wurden später auch die neuen Mitglieder des
Collegs gewählt (früher auch im Kaiserpalast oder im Tempel des Dipus
Julius); nur die jährliche Wahl des Meisters und des Priesters (Flamen)
fand am Haupttage des Maifestes im Haine statt. Die Kaiser bekleideten
die Würde des Magisters häufig selbst, jedenfalls waren sie stets Mitglieder
des Arvalencollegs. Die Cooptation eines Mitgliedes geschah zwar mittelst
schriftlicher Abstimmung, aber auf briefliche Empfehlung, das heißt auf Ordre
des Kaisers. Einige dieser kaiserlichen Handschreiben werden in den Pro¬
tokollen referirt; sie sind durch des Kaisers Siegel (meist den Augustuskopf)
beglaubigt und lauten ganz lakonisch) „Kaiser Trajanus !c. entbietet den Arval-
brüdern. seinen Collegen. Gruß. An Stelle des N. N. cooptire ich uns als
Collegen mit meiner Stimme den N. N." Eine Debatte knüpft sich nicht
daran; der betreffende Cooptirte wohnt regelmäßig bereits der Verlesung
bei. Die Mitglieder des Collegiums, deren Anwesenheit bei jeder Zusammen¬
kunft verzeichnet wird, gehören zu den höchsten, dem Kaiserhause am nächsten
stehenden Familien; es ist die Elite des römischen Beamtenadels, wir finden
unter den Brüdern Verwandte des Kaisers, Generale und spätere Kaiser,
wie Otho und Vitellius; kein Zweifel, daß in der Corporation der zwölf
Urvater zu sein ein Zeichen allerhöchster Huld und eine vielbegehrte Aus¬
zeichnung war.
Dem entsprach der Pomp und Aufwand für die Festlichkeiten, für die
zahlreichen Opfer und für gelegentliche Spenden an einzelne Götter, die aus
der Kasse des Collegs bestritten werden müssen. Auch die Diener, deren einen
jeder Bruder aus der Zahl seiner Freigelassenen stellt, bringen zuweilen
solche Spenden und müssen sogar zur Aufnahme ein Eintrittsgeld entrichten
Bei den Opferhandlungen versehen Senatorensöhne echten Bluts den Dienst
als eamilli; zu den niederen Handreichungen standen dem Collegium eine
Anzahl Staatssclaven zur Verfügung.
Diese Reorganisation des Instituts, so sehr sie dessen ursprünglichen
Charakter verwischt hat, begründet doch den hauptsächlichen Werth unserer Ar-
valenacten. Die Thaten der Brüderschaft an sich, das ewige Einerlei von
Opfern und Gebeten, die ängstlich beobachteten und immer wieder beinahe
mit denselben Worten verzeichneten Ceremonien würden unser Interesse
bald erschöpfen. Aber eine durch Jahrhunderte laufende geordnete Reihe
von religiösen Handlungen, die sich meist auf den Cult der Kaiser, auf ge¬
schichtliche Vorfälle der Dynastie beziehen, die ausgeführt werden von den
vornehmsten und bekanntesten Männern der Kaiserzeit, liefert uns eine un¬
schätzbare Ergänzung der historischen Quellen für diese merkwürdige Periode,
die wichtigsten Notizen über bisher nur mangelhaft Bekanntes und Auf¬
schlüsse über streitige Punkte. An Beiträgen zur Kenntniß der Familien- und
Geschlechtergeschichte, der Beziehungen des Adels zum Kaiser sind diese Pro¬
tokolle, wie natürlich, besonders reich. Die meisten Namen sind uns aus
Geschichtsschreibern oder Inschriften bekannt, als Freunde, mitunter als spätere
Gegner oder als Opfer des Kaisers, als Feldherrn und erste Beamte kehren
sie in Rom oder den Provinzen wieder; bei nicht Wenigen vermögen wir
die ganze Aemtercarriere zu verfolgen und uns dadurch wieder über Ordnung
und Geschichte der Reichsadministration bestimmtere Begriffe zu bilden.
Die Chronologie der Kaiserzeit gewinnt zahlreiche neue Haltpunkte.
Was dieselbe gerade für diese Periode trotz vieler Einzelnotizen so complicirt
macht, ist bekanntlich vorwiegend der Umstand, daß die eponymen Stadt¬
beamten Roms, der sichere chronologische Führer durch die Zeit der Republik,
unter den Kaisern nicht mehr jährlich gewählt werden, sondern zunächst ein
halbes Jahr, später vier oder drei, und endlich (seit Hadrian regelmäßig) nur
zwei Monate im Amte sind, während die Historiker nach wie vor das Jahr
nach dem ersten Consularpaar bezeichnen. Die Verwirrung wird noch ver¬
mehrt durch die große Anzahl von Ersatzconsuln, deren Eintritt namentlich
die kaiserliche Gewohnheit begünstigte für den Jahresanfang selbst die
Consulfasces zu übernehmen, sie aber schon im Laufe der ersten Wochen ab-
zugeben. Der lange als hoffnungslos betrachteten Aufgabe, aus der Fülle
uns bekannter Consulnamen die Fasten der Kaiserzeit herzustellen, hat erst der
glänzende Scharfsinn und die ausgedehnte Quellenkenntniß Bartolommeo
Borghefi's, des Ministers und Gelehrten von San Marino, gerecht zu werden
versucht: aus seinem Nachlaß ist in nächster Zeit die Veröffentlichung der¬
selben durch Mommsen und Herzen zu erwarten. Die Arvalenacten, welche
mit großer Genauigkeit die Consulnamen den betreffenden Feierlichkeiten vor¬
anstellen, liefern für diese Frage ein reiches Material, mit dessen Hilfe sich
Borghesi's Combinationen vielfach bestätigen, häufig auch berichtigen und
vervollständigen lassen.
Das Hauptinteresse dieser Acten knüpft sich indessen immer an die
Bereicherungen, welche die Chronik der Kaiser und ihrer Familien aus ihnen
empfängt. Geburth- und Todestage in dem kaiserlichen Hause, Vergötterungen
der Mitglieder, Verwandtenmorde, ferner Aemterübernahmen Seitens des
Kaisers, dessen Reisen, Rückkehr und feierliche Einzuge in Rom, Kriegszüge
und Siege des Herrschers oder seiner Generale, Triumphfeste, Einweihung
von Heiligthümern erscheinen hier theils firirt, theils überhaupt zuerst
genannt; und manche irrige Hypothese wird dadurch berichtigt. So, um
nur aufs Gerathewohl herauszugreifen, wird als Livia's, der Gattin August's,
Geburtstag nicht der 28. September wie man bisher annahm, sondern der
29. Januar erwiesen, als der des Germanicus der 25. Mai; die Verschwörung
des Lentulus Gätulieus gegen Caligula fällt in das Jahr 40, nicht 39,
Caracallas Sieg über die Germanen und dritter Jmperatortitel nicht 214,
sondern schon 213: bei dieser Gelegenheit wird die Ueberschreitung des limos
Rlrastig-c;, unsres „Pfahlgrabens" zwischen Donau und Rhein. Gegenstand
besonderer Feier. Zu einer Chronik der römischen Kaiser, wie sie für die
deutsche Kaisergeschichte die Rankesche Schule unternommen hat, würden
unsere Tafeln zahlreiche Bausteine liefern können.
Und für den Geschichtsfreund und Kenner jener Periode enthalten diese
Acten mehr als trockene Notizen. Diese alljährlich registrieren Feste, Gebete
und Spenden, die mit regelmäßigem Taktschlag die gewöhnlichen und unge¬
wöhnlichen Vorfälle im Palast begleiten,-haben auch ihr culturhistorisches
Interesse. Sie liefern uns authentische Züge zu dem Bilde, das wir uns
von dem Zustand der damaligen Gesellschaft zu machen berechtigt sind, von
der tiefen Verkommenheit, dem Zerfall mit aller politischen und religiösen
Tradition, dem Mandarinenthum der Vornehmen, dem „Stürzen in die
Knechtschaft", wie es Tacitus nennt, der Stumpfheit des Volkes, der völligen'
Unfruchtbarkeit der edleren Lebenskräfte, wie sie den Absolutismus zu be¬
gleiten pflegt. Was uns Tacitus mit gewaltigen Strichen schildert, erhält
hier thatsächliche Bestätigung, die in dem einförmigen Uetersen an Eindruck
nicht.,,verliert.
Ein lebendiges Beispiel für die Gesunkenheit der damaligen Römer zeigt
uns der Geschichtsschreiber in ihrer Haltung bei Nero's Muttermord.
Während der Tyrann, mit dem unnatürlichsten aller Verbrechen befleckt,
noch in den Städten Campaniens zögert, unsicher, wie er die Stadt betreten
soll, welche Stimmung er finden werde und nur halb beruhigt durch die
Freudenfeste in den Municipien Campaniens, beschließt der Senat Dankfeste
in den Tempeln aller Götter und jährliche Spiele am Todestage Agrippina's:
ihr Geburtstag wird unheilig erklärt; ein goldnes Standbild der Minerva
soll in der Curie und daneben das des Kaisers aufgestellt werden. Und da
Nero sich auf Zureden der Freunde endlich zur Rückkehr in die Stadt er¬
mannt, findet er dieselbe im Festschmuck, der Senat und die Bezirke in feier¬
licher Aufstellung, die Frauen und Kinder nach Alter und Geschlecht getheilt,
allenthalben Tribünen erbaut, „wie man Triumphzüge zu schauen pflegt",
sagt Tacitus. „Dann zog er stolz und Sieger über das öffentliche Knecht-
thum auf das Capital zur Danksagung." — Die Arvalbrüder blieben nicht
zurück. Schon am 28. März, wenige Tage nach dem Verbrechen, finden wir
sie auf dem Capitol festlich versammelt: am 3. April betheiligen sich die
Brüder an dem durch den Senat vorgeschriebenen Dankfest für Nero's Heil
durch Opfer an die capitolinischen Götter, an L^Ius xudliea, Providentia
und den Genius des Kaisers: am 23. Juni endlich — so lange währte
Nero's furchtsames Fernbleiben — wird des Kaisers Heil und Rückkehr
gefeiert mit Opfern auf dem Capitol an die Stadtgottheiten und an Salus
und Felicitas, im Augustustempel an die vergötterten Glieder der kaiserlichen
Familie, auf dem Forum Augustum an den Genius des Kaisers und an
Mars Ultor; die letzte Gottheit bezeichnend genug gewählt, um den Einzug
Nero's als einen Triumphzug des Siegers zu charakterisiren.
Aehnlich ward der Besuch des Armenierkönigs Tiridates im Jahre 66
zu einem theatralischen Triumph Nero's benutzt. Auf dem Forum,, so wird
uns berichtet, umgeben von bewaffneten Schaaren und Feldzeichen, auf
curulischem Stuhl und im Triumphkleide empfing der Kaiser den Ankömm¬
ling, erhob den Knieenden zum Kusse und vertauschte seine Tiara mit dem
Diadem, während ein hoher Beamter die Worte des Schutzflehenden der
Menge laut verdollmetschte: dann führte er denselben ins Theater und hieß
ihn zur Rechten sitzen. Da ward der Kaiser als Imperator begrüßt, der
Lorbeer aufs Capitol getragen und der Janustempel geschlossen. — Das
Actenfragment ist uns noch erhalten, nach welchem die Urvater diesen er¬
hebenden Tag, den kaiserlichen Lorbeer und die vom Senat angeordneten
Dankseste — wie sie stets dem Triumph folgen, mit immer wiederholten
Opfern an verschiedenen Stätten feiern: den ccipitolinischen und Triumphal-
Gottheiten findet sich dabei auch Par gesellt, eine Hinweisung auf die
prahlerische Schließung des Janustempels; sowie Felicitas und Clementia,
ein leichtverständliches Compliment. Endlich folgt zu derselben Gelegenheit
noch ein specielles Opferfest der Brüder im neuen Augustustempel an die
vergötterten Glieder der Kaiserfamilie, zu welchen außer August, Livia und
Claudius die göttliche Poppäa, Nero's erste Gemahlin, sowie die göttliche
Jungfrau Claudia, ihr im zarten Alter von vier Monaten verstorbenes Kind,
endlich der Genius des Kaisers und der weibliche Genius seiner zweiten
Gattin Messallina gehören. — In dasselbe an loyalen Freuden reiche Jahr
fällt auch, wie wir jetzt mit Bestimmtheit erfahren, die Verschwörung des
Vinicius gegen den Kaiser, welche den Urvater Gelegenheit gibt, den Stadt¬
göttern und der Providentia „wegen der Entdeckung ruchloser Anschläge"
für des geheiligtesten Kaisers Wohl und Unversehrtheit, sowie für die ewige
Dauer des Reichs Opfer und Gelübde zu bringen.
Besonders deutlich läßt sich die Wiederspiegelung der Ereignisse, die uns
die Schriftsteller berichten, in unsern Acten bei dem Jahr 69 verfolgen, als
nach Nero's jähem Sturz der Thron zu einem Beutestücke in den Händen
der concurrirenden Heerführer Galba, Otho und Vitellius ward, bis ihn mit
Vespasians Eintritt die slavische Dynastie behauptete. Ein buntes Jahr
voller Ohnmacht und Verwirrung, das an die bequeme gedankenlose Servi-
lität harte Zumuthungen stellte. Die Ironie der Geschichte treibt hier ihr
Spiel und hat Tacitus Historien inspirirt: auch unsere Arvalenprotokolle, in
welchen dieses Jahr allein zwei Tafeln beanspruchte, zeigen in dem erhaltenen
Stück (von Januar bis Juli) noch einige Spuren davon. Beim Jahres¬
beginn ist der alte Galba noch im Besitz der usmpirten Macht; er ist zu¬
gleich Magister des Arvalencollegs. und der Bruder seines Rivalen Otho
spricht als Promagister am dritten Januar die üblichen Jahresgelübde für
das Heil des Kaisers und seine Erhaltung bis zum nächsten 3. Januar.
Doch scheinen solche Gelübde den Kaiser nicht über die schon damals in Volk
und Heer glimmende Unzufriedenheit getäuscht zu haben: er sucht seine ge¬
sunkene Popularität im letzten Moment durch Adoption des trefflichen Cal-
purnius Piso aufzubessern, den er zum Cäsar macht und zu seinem Nach¬
folger bestimmt. Am 10. Januar — Tacitus gedenkt des Tages, an dem das
Volk mit Schrecken in Regen und Gewitter den göttlichen Zorn erkannte —
fand die übereilte Ceremonie und ihre Verkündigung im Lager statt. Am
selben Tag opferten die Arvalbrüder für die Adoption des Servius Sulpicius
Galba Cäsar — so heißt Piso jeht — einer Reihe von Gottheiten, darunter
auch der Providentia und Securitas. Fromme Wünsche: nur fünf Tage,
und Galba und Piso sind getödtet, von einer Handvoll Meuterer aus hat
der Aufstand sich rasch über das Lager ausgedehnt, Otho ist Herr der Lage,
und Senat und Volk, die noch am Morgen im Hof des Palastes auf die
falsche Nachricht von Otho's Tod ihren Jubel laut werden ließen, eilen
Abends mit gleichem Jubel zu dem Sieger ins Lager. Auch die Urvater
finden sich schnell in den Wechsel: der neue Kaiser erscheint sofort als Magi¬
ster an Stelle seines Vorgängers, wie er desselben erledigtes Consulat über¬
nimmt. Der Antrittstag des Imperiums, wie der Tag der Consulwahl
(26. Januar) werden durch Opferhandlungen ausgezeichnet, und am 30.
werden die Gelübde vom 3. Januar feierlich auf Otho übertragen. Mit
demselben regelmäßigen Eifer begleitet das Collegium die Uebertragung der
tribunicischen Gewalt, der verschiedenen Pnesterthümer, zuletzt des Oberponti-
ficats auf Otho; ein Fest am 1. März wegen des auf dem Capitol nieder¬
gelegten Lorbeers bestätigt uns die von Tacitus gegebene Notiz, daß der
Kaiser den Sieg eines Legaten über die Sarmaten zu einem Triumph für
sich selbst ausbeutete. Daß es bei diesen Freudenbezeugungen den Brüdern
wohl zu Muthe war, dürfen wir bezweifeln. Schon näherte sich Vitellius,
noch vor Galba's Untergang von seinen deutschen Legionen zum Kaiser aus¬
gerufen, in siegreichem Marsch der italienischen Grenze, schon fielen ihm die
gallischen, britcmischen, spanischen Provinzen zu; Otho rüstete zum Ent¬
scheidungskamps. Tacitus malt uns die Stimmung der Hauptstadt, den
chronischen Schreckenszustand, die Scham der Edleren, daß für Leute vom
Gehalt eines Otho und Vitellius sich Cäsar's und August's Bürgerkriege er¬
neuern sollten, die Verwirrung der Meisten sich durch Parteinahme sür die
vielleicht unterliegende Sache zu compromittiren. Der allgemeine Zweifel,
wie er ihn faßt „soll man für Otho oder Vitellius in die Tempel gehen?"
empfängt durch unsere Acten eine merkwürdige Illustration. Vom Tag der
Abreise Otho's zum Heere (14. März) bis zu dem Zeitpunkt, da Vitellius'
Herrschaft gesichert und seine Ankunft bevorstehend ist (Ende Juni) ist das
Arvalencollegium factisch auf einen Bruder zusammengeschmolzen. Ein uns
sonst wenig bekannter L. Mäcius Postumus hat die Ausdauer, die hier fast
moralischer Muth genannt werden könnte, die Opferhandlungen dieser Periode,
auch das Maifest, als Promagister und einziger Assistent allein zu begehen:
seinen College» scheint die Feststimmung ausgegangen zu sein, soweit
sie nicht etwa Otho in den Krieg gefolgt sind. Am 14. März, dem Tage der
Abreise Otho's, bringt dieser Mäcius den Göttern Gelübde für das Heil und
die Rückkehr — nicht Otho's, sondern des Vitellius, den er obenein eigen¬
mächtig zum Magister des Collegs macht/ Wenn hier nicht eine Actenfälschung
vorliegt — denn unter Vitellius' Regierung sind diese Protokolle geschrieben
— so müssen wir dem richtigen Calcül unseres Arvalbruders alle Ehre wieder¬
fahren lassen, der sich einen vollen Monat vor Vitellius' Sieg und Anerkennung
und während Otho's Bruder noch als Statthalter in Rom waltete, kühn
entschloß' dem aufgehenden Gestirn zu huldigen. Mit geringerem Risico
feiert er dann im April und Mai die Uebernahme der tribunicischen Gewalt
durch Vitellius, sowie nachträglich den 19. April als Tag des Imperiums,
da an diesem Tag aus die Kunde von Otho's Niederlage und Selbstmord
der Senat und das Volk im Theater den neuen Herrscher proclamirt hatten;
später die erwartete Ankunft desselben. Erst Ende Juni scheint sich das Colleg
wieder zusammengefunden zu haben, da jetzt ein neuer Promagister bei dem
Geburtstagsfest für des Vitellius' Gemahlin fungirt. Mit dieser Feier bricht
unsere Tafel «b, der Name des Vitellius ist nach Vespasians Regierungsantritt
überall ausgekratzt worden.
Weitere Beispiele zu geben müssen wir uns versagen; es genügt, auf die
wiederholten Freudenfeste wegen Domitian's Siegen über die Suchen (89),
sowie auf die ausführlich wiedergegebene Acclamation an den siegreichen
Caracalla (213) zu verweisen. Auch an dem Stil unserer Acten läßt sich die
zunehmende Verknöcherung und Verwilderung des geistigen und religiösen
Lebens verfolgen. Bereits unter den Flaviern macht sich die größere Ver-
schnörkelung und Weitschweifigkeit in. der Abfassung bemerklich; unter den
späteren Kaisern nehmen zeitweilig die Kaiserfeste ab und machen der peinlich
detaillirten, oft recht barbarisch stilisirten Beschreibung des Maisestes Platz.
Seit der Mitte des dritten Jahrhunderts, mit Gordian's Regierung, lassen
uns die Fragmente im Stich, auch Schriftsteller und Inschriften gedenken der
Urvater nicht weiter. Seitdem scheint das Institut seine Bedeutung verloren
zu haben, jedenfalls aus Mangel an Interesse der Kaiser, von denen es lebte
und die sich jetzt mit Vorliebe den orientalischen Culten zuwenden: möglich
auch, wie de Rosse annimmt, daß eine förmliche Aufhebung durch Philippus,
den Nachfolger. Gordian's, ersolgre, den ersten Kaiser, der im Verdacht stand,
dem. christlichen Bekenntnisse zuzuneigen. Seitdem blieb der heilige Hain
verlassen und der Plünderung späterer Jahrhunderte offen.
Mit diesen flüchtigen Zügen brechen wir ab: es würde zu weit führen,
den aus dem neuen Material gewonnenen wichtigen Ergebnissen für Staats-
Sycral- und Rechtsalterthümer nachzugehen. Die eifrige Fortsetzung der
Ausgrabungen läßt uns, wenn die Mittel nicht ausbleiben, weitere Funde
hoffen, welche manche der großen Lücken in der Reihe ausfüllen werden.
Unsere Wissenschaft aber darf sich Glück wünschen zu der Bereicherung, die
ihr durch die Munificenz des Preußischen Herrscherpaares und die Initiative
und Unermüdlichkeit unserer deutschen Pioniere in Rom geworden ist und
verheißen bleibt.
Die civilisatorische Thätigkeit der Deutschen, die in der Levante überall
ihre Rolle spielt, erhält in dem heutigen Rumänien keine besondere Illustra¬
tion, so sehr auch diese Länder durch ihre geographische Lage und durch die
in einer Strecke von hundert Meilen an den rumänischen Grenzen vorbei-
fließende Donau an deutschen Einfluß von der Natur schon angewiesen
sind. Die Rumänen sind allerdings am Deutschthum aus ihrer langen
orientalischen Verkommenheit erwacht, an deutscher Hand in die civilisatori-
schen Kreise Europas eingetreten, aber die Deutschen ließen sich aus diesen
Positionen von Franzosen und Engländern bald verdrängen. Diese That¬
sache hatte in den alten Systemen der deutschen Regierungen und nament¬
lich in der Metternich'schen Politik wenigstens zum Theil ihre Erklärung.
Metternich machte den deutsch-östreichischen Namen durch seine türkenfreund¬
liche Politik bei den Moldau-Wallachen wie bei allen übrigen christlichen Be¬
wohnern des Orients verhaßt; er fürchtete ebenso, diese Länder dem russischen
Einflüsse völlig anheimzugeben, als in denselben eine freisinnige volkstümliche
Verfassung aufkommen zu sehen und suchte, so gut es nur ging, jede Be¬
rührung mit denselben zu vermeiden. Als in den Jahren 1844—4S das
Elend der Weber im schlesischen Gebirge die öffentliche Aufmerksamkeit zu
beschäftigen begann, machte der preußische Generalconsul v. Neigebauer seine
Regierung auf die Vortheile einer Colonisation in den so reichen Fürsten-
thümern aufmerksam. Er erhielt zur Antwort: „Man möge solche Gedanken
ja nicht öffentlich zur Sprache bringen." Sowohl Neigebauer wie dessen fran¬
zösischer College Ritter v. Villecoq, der seine Negierung beständig auf die
politische und mercantile Wichtigkeit dieser Länder aufmerksam machte, wurde
als unbequem abgerufen und durch andere Beamte, die sich um dergleichen
Dinge nicht zu kümmern den Austrag erhielten, ersetzt. Freilich blieb noch
die Action der Privaten übrig. Diese von ihren Consuln nicht unterstützten
mittellosen Individuen, die zum großen Theile von ihrer Heimath gleichsam
über Bord geworfen waren, sämmtlich aber auf Begründung irgend einer
Existenz ausgingen, thaten, was sie eben thun konnten, waren aber wenig
geeignet, dem deutschen Element Einfluß zu verschaffen. Die ersten Ein¬
wanderer waren galizische oder deutsche Juden, die hier auch unter
türkischem Regime mehr Freiheit als in der sie verfolgenden Heimath vor¬
fanden. Sie machten sich hier an die verschiedenen Handwerke, vermittelten
den Handelsverkehr mit ihrer ehemaligen Heimath und den Nachbarstaaten,
schafften auf diese Art die ersten Culturelemente herbei und legten den Grund
zu einem künftigen Mittelstande. Ihnen nach kamen einzelne versprengte In¬
dividuen aus dem nahen Oestreich, um als Diener oder Hauslehrer in den
Bojarenhäusern Beschäftigung zu suchen. Erst später wagten sich nach ein¬
ander Handwerker aus verschiedenen deutschen Staaten, Kaufleute niederen
Ranges und Architekten ins Land — fast lauter Leute, die nichts zu ver¬
lieren, alles zu gewinnen hatten. Wie wenig sich auch von diesen Ein¬
wanderern hoffen ließ, sie fanden doch ihre Rechnung und die Resultate ihres
Wirkens blieben auch nicht aus; leider nun war der Gesichtskreis dieser
Leute ein beschränkter, er ging über eine erträgliche bescheidene Lebensstellung
nicht hinaus. Aus den Hauslehrern wurden Beamte, die Dankbarkeit der
Aeltern brachte den fleißigen Lehrer in den Staatsdienst. Hier hätte sich
nun allerdings ein reformatorisches oder eigentlich organisatorisches Wirken
entwickeln können, wenn der Antrieb hierzu in der Natur dieser neuen Be¬
amten gelegen hätte. Auf einmal zu einer gewissen Selbständigkeit und zu
Ansehen gelangt, sahen sie in ihren Amtsstellungen bloße Versorgungen und
gaben sich mit diesen zufrieden. Ihr Ziel war ja erreicht, sie schlossen sich
darin ab und ließen im Uebrigen die Dinge gehen, wie sie eben gingen.
Auch die Industriellen und Kaufleute wußten es zu wirklichem Ansehen nicht
zu bringen und ein paar unglückliche Bankerotte erstickten den deutschen
Credit in der Geburt. Das Ausland hatte zu den rumänischen Verhältnissen
kein Vertrauen und der Handel kam schon darum nicht recht in Zug. Selbst
die Wiener Donau-Dampsschifffahrtgesellschaft, welche das ausschließliche
Privilegium hatte, diesen Strom bis zu seiner Einmündung in das schwarze
Meer mit ihren Schiffen zu befahren, und die den Personen- und Handels¬
verkehr in den verschiedenen Stationen Rumäniens allein vermittelte, ver¬
mochte dem deutschen Unternehmungsgeist in diesen Gegenden keinen Auf¬
schwung zu geben. Oestreich begnügte sich damit, in den Donauländern
einen Markt zu besitzen, wo es seine Fabrikate und Manufakturen ab¬
setzen und gegen hierländische Rohprodukte austauschen konnte. Nichts¬
destoweniger hatten die Deutschen doch einmal Fuß gefaßt und ging es lang¬
sam vorwärts; namentlich fand die Wissenschaft in einigen deutschen Aerzten
hier ihre würdigen und eifrigen Missionäre. Dr. Gihak aus Aschaffenburg
z. B. regelte das moldauische Sanitätswesen, stiftete in Jassy die erste Natur¬
forschende Gesellschaft und machte sich durch Herausgabe der ersten Natur¬
geschichte in der Landessprache und überhaupt durch sein sonstiges Wirken im
Lande verdient. In der Wallachei wirkte Dr. Mayer aus Wien eben so
nachhaltig und Dr. Barrasch gab in Bukarest eine illustrirte naturwissen¬
schaftliche Wochenschrift in der Landessprache heraus und hielt zeitweise und
namentlich bet vorkommenden Veranlassungen öffentlich unentgeltliche aus-
klärende Vorträge. Namentlich suchte er den hier so stark in allen Schichten
eingewurzelten Aberglauben zu bekämpfen, so z. B. während der Erscheinung des
Cometen von 1858, den man bekanntlich mit dem Weltende in Zusammenhang
brachte und der hier eine allgemeine Bestürzung hervorrief, —um durch eine
Erklärung der Natur dieser Himmelskörper die Bevölkerung aufklärend zu be¬
ruhigen u. s. w. Diese Aerzte wirkten auch auf die Errichtung von Gewerbe-
und Handwerksschulen hin, in denen die Eingeborenen unentgeltlich in den
verschiedenen Fächern des Handwerks Unterricht erhielten und noch erhalten.
Das deutsche Element begann von dieser Seite aus seine heilsamsten Wir¬
kungen im Lande auszubreiten; bereits schickten die Bojaren ihre Söhne in
die deutschen Schulen und die Töchter in die Klöster nach Galizien oder
hielten deutsche Hauslehrer und eine deutsche Umgebung, um den Kindern
diese Sprache praktisch zu vermitteln. — Mancher Fremde war nicht wenig
überrascht, selbst alte Bojaren in ihrer orientalischen Tracht in Kaftan
und mit dem langen Barte ganz gut deutsch sprechen zu hören —, in den
meisten Bojarenhäusern war diese Sprache heimisch. Man erkannte die Noth¬
wendigkeit, die Sprache jenes Volkes zu erlernen, zu dem man sich bei den
so oft vorkommenden Gefahren zu flüchten Pflegte und wo man immer gast¬
liche Aufnahme und sicheres Asyl gefunden — dieses Volk nun sind die
siebenbürger Sachsen; seitdem ging die deutsche Sprache neben der allgemei¬
nen Landes- und Conversationssprache immer zur Seite her. Das Deutsch-
thum, das dieser durch Ungunst der Zeiten unter türkischem Drucke ver¬
kommenen Bevölkerung unter die Arme griff, ihr europäische Häuser und
Städte baute, sie europäisch wohnen, sich kleiden und sich nähren lehrte, das
ihr die ersten Elemente unseres Geisteslebens zuführte und allüberall den
Grund zu organisatorischer Entwickelung legte, gewann bei allen Mißgriffen
und Mängeln der Einwanderer doch eine breite Basis, und es schien anfangs
das hiesige Leben sich in dieser Richtung heraus gestalten zu wollen. Aber
der Charakter der rumänischen Bojaren wurde durch die öfteren und lang an¬
dauernden russischen Occupationen für eine normale langsame und gründ¬
liche Entwickelung der Dinge ein für allemal verdorben. Die' Russen mit
ihrer europäisirten Außenseite und inneren Ungeheuerlichkeiten verleideten den
Rumänen den ruhigen Ernst des Lebens, wozu das Deutschthum sie geneigt
zu machen begann; die Russen wendeten sie davon ab und verleiteten sie auf
die schlüpfrigen Bahnen des frivolen Pariserthums, auf denen sie selbst unser
Culturleben sich angeeignet zu haben glaubten. Es ist bekannt, wie weit die
hohe russische Aristokratie in ihrer Nachäffung dieses Franzosenthums ging,
wie es bei ihr z. B. zum guten Ton gehörte, sich nicht nur bis in die kleinsten
Details mit Pariser Mache zu umgeben, sondern selbst die Leibwäsche nicht zu
Hause waschen zu lassen, sondern zu diesem Behufe mittelst Couriren nach
Paris zu senden. Die hohe nordische Gesellschaft legte auf diese Aeußer-
lichkeiten großen Nachdruck, denn sie verdeckte damit ihre innnere Roh¬
heit und Barbarei, sie dienten ihr als Maske, womit angethan sie sich anstän¬
dig in der Reihe der Culturvölker präsentiren konnte. Die Officiere der
russischen Occupalionstruppen waren zum großen Theile Angehörige jener
russischen Aristokratie. Als Gäste in den Bojarenhäusern gern gesehen —
war ja doch dazumal Rußland die rumänische Schutzmacht — wußten diese
Krieger mit dem den Barbaren eigenen Ungestüm das Gelüste nach den
raffinirten Genüssen des Lebens, die nur die Weltstadt an der Seine zu
bieten im Stande sei, zu wecken, und sie reizten, sich selbst als Muster dar¬
stellend, dieselben zur Nachahmung. Unsere Bojaren brauchten nur ihre in den
den vorigen Zeiten gefüllten Goldkisten zu öffnen, um ihre neuen Wünsche
zu verwirklichen. Und sie thaten es auch. Alles strömte nach Paris, ja
es verging kein Decennium und die rumänischen Hauptstädte Bukarest und
Jassy wurden zu Spiegelbildern von Paris. Mit unglaublicher Hast wurde
auf einmal alles französirt, nach französischen Modellen Häuser, Haushal¬
tungen, Möbel, Kleidung, kurzum alles bis in das kleinste Detail eingerichtet
und selbst in der persönlichen Erscheinung. Ton, Mienen und Bewegungen
nach dem Muster der Weltstadt copirt. Diese kostspieligen Spielereien erschöpften
bald die Kassen, veranlaßten aber nichtsdestoweniger fortwährend ungewöhnliche
Ausgaben, deren Herbeischaffung die Bojarenwelt in Schulden und in immer
größere Verlegenheiten versetzte. Bei den eingewanderten Deutschen war kein
Geld auszutreiben, diese konnten hier nicht helfend einschreiten. Oestreich war
wohl Abnehmer für gewisse Rohprodukte, aber ebensowenig wie Deutschland für
das Getreide, das hier die Hauptquelle der Erträgnisse bildet. In diesen
Nöthen, welche die Ohnmacht der Deutschen bloslegten, stellten sich plötzlich
Helfer von anderwärts ein. Italienische Unternehmer bauten großartige
Dampfmühlen, welche sehr bedeutende Getreidequantitäten verarbeiteten und
mit daraus erzeugten Mehle wurden Constantinopel und die Levante ver¬
sehen; französische Spekulanten exploitirten mit ansehnlichen Summen die
wallachischen Eichenwälder, wo sie mit aus ihrer Heimath hereingezogenen
Arbeitern durch viele Jahre jene Faßtauben erzeugten, die von hier zu Wasser
nach Marseille versandt wurden. Die Engländer, brachten ihrerseits bedeu¬
tende Baarsummen in Umlauf, legten großartige Anstalten an, in denen
das massenhaft im Lande zusammengekaufte Hornvieh geschlachtet und das
Fleisch davon zubereitet un5 in blecherne Büchsen luftdicht verschlossen jahre¬
lang frisch erhalten werden konnte; sie versahen damit die ganze englische
Marine. Ebenso bemächtigten sie sich mit den Franzosen der im Lande auf¬
gefundenen Petroleumquellen, errichteten großartige Raffinerien an mehreren
Orten, und brachten auch damit große Baarsummen in Umlauf. Und als
die Bauernemancipation zur Sprache kam, waren es wieder Engländer und
Belgier, die das Land mit landwirthschaftlichen Maschinen überschwemmten
und selbst im Lande zur Erzeugung derselben mehrere Fabriken anlegten.
Diese Fremden, die sich mit namhaften Capitalien im Lande bethätigten,
setzten es auch trotz Rußland und Oestreich durch, daß die von den Russen
absichtlich den fremden Schiffen unzugänzlich gemachten Sulinamündungen
denselben geöffnet wurden; und schwedische, dänische, holländische, englische
und französische Schiffe, die nunmehr in die rumänischen Donauhäfen ein¬
liefen, überschwemmten Rumänien förmlich mit den Erzeugnissen ihrer Hei¬
math, verdrängten die östreichischen Fabrikate und Manufacturen von den
hiesigen Märkten, und nahmen als Rückfracht die Rohproducte des Landes,
namentlich viel Getreide auf, wodurch die Preise desselben stiegen und viel
baares Geld in Umlauf kam. Dem gegenüber konnten sich die Deutschen nur
passiv verhalten. Die Eingebornen wandten sich ihnen ab und jenen'ener¬
gischen Helfern zu, die ihren Bedürfnissen so gut entgegenzukommen verstanden.
Aber noch ein anderer Umstand trug dazu bei, die deutschen Sym-
pathien im Lande abzuschwächen. Die militärischen Occupationen der
Russen hatten bei ihrer öfteren Wiederkehr und jedesmaligen langen Dauer
dem Lande allerdings viel gekostet, aber sie trugen andererseits und
namentlich den Städten sehr beträchtliche Summen ein. Die russischen
Officiere hatten höchsten Orts den Auftrag, alle in den hiesigen Ver¬
kaufsmagazinen vorräthigen Fabrikate und Manufacturen zusammenzukaufen
und nach Rußland zu expediren, wozu ihnen Zollfreiheit zugestanden wurde.
Bei der russischen Maßlosigkeit und Großthuerei geschah es mehr als ein mal,
daß Officiere in die Verkaufsladen der Kaufleute traten und da nicht nach ein¬
zelnen Gegenständen, sondern gleich nach dem Preise sämmtlicher Waaren frugen
und ohne zu feilschen die begehrte Summe zahlten. Sie warfen überhaupt
in den Fürstenthümern das Geld buchstäblich um sich her. und dies ge¬
schah bei jeder Occupation und in allen hiesigen Städten, so daß die Russen
bei den Städtern als wahre Retter in der Noth angesehen wurden, und man
sich noch jetzt, wenn eine Geschäftsstockung eintritt, mit der Aussicht tröstet,
„daß die Russen im Anzüge seien". Bei dieser Nachricht, so unwahrschein¬
lich sie sich auch herausstellt, belebt sich alles wieder mit freudigem Muthe.
In dem letzten Krimkriege kam nach der russischen die östreichische Occupation
ins Land. Die östreichischen Officiere führen ein mehr geregeltes sparsames
Leben und haben im Allgemeinen nicht viel hinauszuwerfen. Der große
Abstand zwischen ihnen und den Russen wurde natürlich von der Kaufmanns-
welt sehr mißliebig empfunden, aber auch die Bojaren fanden bei diesen
neuen Gästen ihre Rechnung nicht. An die russischen Schwelgereien, und
namentlich an das Hazardspiel gewöhnt, sagte ihnen der deutsche Officier,
bei dem alles das nicht anwendbar war, nicht zu, er erschien ihm lang¬
weilig, weil mit ihm in ihrer Weise nichts anzufangen war. Es stellten sich
Erkältung, Reibungen, Entfremdung und zuletzt auch der Haß ein. Man
nannte ihn spottweise „Kartoffler" Erdäpfelesser, weil er nicht wie der Russe
sich in Champagner badete und das Geld mit vollen Händen nach links und
rechts streute. Man erinnerte sich, daß die Russen die Deutschen nie anders
als: die getauften Juden nannten, mit welchem Ausdrucke der Slave
die größte Verachtung verbindet. Seit der letzten östreichischen Occupation
datirt der Haß der Eingebornen gegen die Deutschen, und um die Wahrheit
zu sagen, die östreichischen Occupationstruppen haben ihn auch redlich ver¬
dient — nur war es ungerecht, ihn aus die Deutschen im Allgemeinen zu
übertragen. Dies ging so weit, daß man die deutsche Sprache aus der
Schule verbannte und die Lehrer insultirte, und es ist bemerkenswerth, daß
dies gerade unter dem deutsch gesinnten Fürsten Alexander Ghika stattgefunden
hat — ja deutsche resp, östreichische Waare konnte sich damals nur unter
französischen oder englischen Firmen auf dem Markte zeigen u. f. w. Bei alle-
dem darf man das nicht gar zu ernst nehmen, denn hier kann überhaupt
von dem wahren Ernste des Lebens nicht viel die Rede sein. Dieselben
Herrn, die untereinander so weidlich auf die Deutschen schimpften und sie
lächerlich machten, schlichen sich einzelweise Nachts zu den östreichischen Be¬
fehlshabern, um sie von ihren angeblichen Verdiensten um-das Haus Oestreich
zu überzeugen und um ihre Bevorwortung zu bitten, damit ihnen von
Wien Titel und Orden geschickt würden. Die Bojaren sind eben große
Kinder— sie sind wie die verzogenen Söhne eines Zrauä LeiZneur, die sich
für gereifte Männer halten, weil ihnen gewisse Dinge der großen Welt ge¬
läufig sind und sie aus Virtuosität deren Aeußerlichkeit zu copiren verstehen.
Wie bei sinnlichen Menschen Eindrücke nie von ewiger Dauer sind —
so beginnt auch hier bereits die Manie für Franzosen und Engländer
nachzulassen, und der von ihnen zurückgedrängte ruhig und unbeirrt fort¬
arbeitende Deutsche wieder in den Vordergrund zu treten. Die englischen
Fleischversendungsanstalten sind gleich den französischen Waldexploitationen
wieder eingegangen, sie haben' die sanguinischen Hoffnungen nicht erfüllt, ja
das Blatt hat sich derart gewendet, daß man die französischen Militärin-
structoren und Finanzoperateure nach Frankreich wieder zurückschickte, und
diese beiden wichtigen Fächer den Deutschen übertrug. Der Deutsche mit
seiner Geduld, seiner beharrlichen Ausdauer, seiner unermüdeten Arbeit hat
sie alle überdauert, und wird noch vieles andere überdauern und zuletzt die
Früchte seiner Mühen ernten, wenn nur auch die deutschen Regierungen
diesen Ländern mehr Aufmerksamkeit zuwenden, und nächst ihren politischen
Bestrebungen auch andere volkswirtschaftliche, namentlich die Colonisations-
interesser, die sich hier so sehr lohnend gestalten konnten, mehr berücksich¬
tigen wollten. Mit dem Rumänen läßt sich Alles machen, läßt sich ganz gut
auskommen, wenn man nur die rechte Methode, ihn zu behandeln, versteht.
Ein Beweis für seine gesunde Urteilsfähigkeit ist die Thatsache, daß er bei
all seiner Nussomanie sich rechtzeitig zu orientiren und einzusehen verstand,
daß sein Schwerpunkt nicht in Rußland liege — eine Thatsache, die täglich
deutlicher hervortritt.
Als die Bojaren aus dem langen türkischen Drucke unter dem russischen
Protectorate zur Selbständigkeit erwachten, war es natürlich, daß sie sich da
vor Allem mit ihren nächsten Nachbarn zu befreunden suchten, und so kam
es, daß sie ihre Kinder in östreichische und deutsche Schulen schickten, und
alles zu Hause nach deutschen Modellen einzurichten begannen. Den Russen
mußte ein solches Vorgehen aber höchst mißliebig sein, denn sie fürchteten,
daß auf solche Weise der deutsche Einfluß in den für sie so wichtigen Fürsten -
thümern überHand nehmen und den ihrigen verdrängen oder doch Paralysiren
werde. Sie setzten daher Alles in Bewegung, um die rumänischen Sympathien
von Deutschland ab- und nach Frankreich zu lenken, was ihnen dann auch
durch verschiedene Mittel gelang, namentlich auch, weil das Franzosenthum
dem rumänischen Charakter mehr zusagte; am Ende war ja dazumal der
Wille des Czaren dem Lande, das unter seiner Obhut stand, ein Gesetz, und
der Vertreter dieses Czaren saß in der Person seines mit besonderen Voll¬
machten ausgerüsteten Consuls mitten unter ihnen und regelte ihr Verhalten
auf despotische Weise.
Die Sympathien für das Deutschthum und namentlich für Oestreich,
waren in diesen Ländern in früherer Zeit sehr lebendig gewesen. Schon 1717
mußte der regierende Fürst Bramovano mit seinen vier Söhnen seine Hin¬
neigung zu Oestreich auf Denunciation Peters des Großen, mit dem Leben
bezahlen. Die meisten jetzt lebenden Glieder der Geschlechter der Ghika.
Stourdza, Batsch, Stirbej, Cantacuzeno u. A. sind innerlich deutsch gesinnt,
und selbst der in dieser Beziehung so verketzerte Cusa hatte zu seinem Älter
kZo einen Deutschen, den obersten Chef der Telegraphen- und Postämter,
Liebrecht, den die Jnscenesetzer der Entthronung dieses Fürsten so schmählich
behandelten, und an dem sie ihr Müthchen kühlten, da sie bei dem Dazwischen¬
treten des östreichischen General-Consuls den Fürsten selbst.nicht weiter
kränken durften. Während seiner Regierung hatte sich Fürst Cusa dem in
Bukarest gebildeten deutschen Schühenverein einverleiben lassen und war ein
eifriges Mitglied desselben; nach seiner Entthronung hat er ein deutsches
Land, Oestreich zu seinem Aufenthalte erwählt. Die liberale Partei der
Patrioten, die mit Cusa zur Regierung gelangte, hatte es sich zur Aufgabe
gestellt, gegenüber den entnationalisirten Bojaren das Nationalbewußtsein im
Volke zu wecken und groß zu ziehen, Ihre Hoffnung auf das Gedeihen des
Landes basirt auf dieser Grundlage. Um nun dieses Nationalbewußtsein dem
ausgesprochenen Jndisser^'ntismus des Volkes gegenüber wach zu erhalten,
mußte diesem Volke das Fremde als solches, als Gegensatz zu dem nationalen
Element gezeigt, beständig darauf als auf etwas Feindseliges hingewiesen
werden und darauf sind alle jene gegen die Deutschen gerichtet gewesenen
und noch gerichteten Demonstrationen zu reduciren: Gehässigkeiten, die haupt¬
sächlich als künstliches Mittel angewendet wurden. Man weiß hier ganz gut,
was man an den Deutschen hat, und wird sich sehr hüten, sich ernstlich
an ihnen zu versündigen. Ist ja doch die Berufung eines deutschen Fürsten
auf den rumänischen Thron hierfür das beste Beleg. Nichtsdestoweniger liegt
in diesem deutschen Fürsten allein noch lange keine Bürgschaft für das Gedeihen
deutschen Elements in diesen Ländern, der rumänische Fürst ist unter allen
constitutionellen souverainen der allerbeschränkteste. Was Cusa den Bojaren
zum Trotz durchsetzte, geschah nicht aus seiner fürstlichen Machtvollkommenheit,
sondern in Folge eines Plebiscits, das ihm eine zeitweilige discretionärc
Gewalt verlieh, die er dazu anwandte, um die Bauernemancipntion und
andere sür den Neubau des Staates höchst wichtige Grundgesetze -durchzu¬
führen. Ob aber jetzt noch zu einem solchen Mittel Zuflucht genommen
werden könnte — ist eine große Frage. Cusa kannte seine Leute und war
ein fester, durchgreifend energischer Charakter. Mit eben solcher Leichtigkeit,
wie Cusa beseitigt wurde, kann hier noch anderes Unglaubliche ausgeführt
werden, wenn es einer gewissen Macht daran liegt, daß es geschehen soll.
Las Man doch, und es war noch kein Jahr nach der Thronbesteigung des
Fürsten Hohenzollern verstrichen, an dem Palaste zu Bukarest affischirte
Plakate des Inhalts: „daß dieses Haus wieder zu vermiethen sei."
Der jugendliche Fürst Karl opfert in seiner deutschen treuen Gesinnung dem
Lande seine Schätze, und wird zum Danke dafür lächerlich gemacht, ja sogar
vernachlässigt. Bei einem Diner, zu dem ein fremder Gast, ein Ausländer,
geladen ward, entfaltete der Fürst neulich seine Serviette und es zeigte sich, daß
sie abgenutzt und zerrissen war, „Sehen Sie," sprach er lächelnd zu seinem
Gaste, „wie ich hier bedient werde." Seine strenge Rechtlichkeit und Sitt¬
lichkeit ist den Bojaren ein Dorn im Auge; sie können-nicht begreifen, wie
ein kräftiger junger Mann ein ordentliches Leben zu führen vermöge. Ich
will hier nicht wiederholen, auf welche Proben man den guten Fürsten setzte,
welche Streiche man ihm spielte. Und diese Possen beschäftigten die rumänische
Diplomatie weit mehr, als die brennenden Fragen ihres eigenen Landes.
Um den rumänischen Bojarencharakter richtig zu beurtheilen, muß
man nicht damit anfangen, Sittenlosigknt, Verderbniß u. s. w. in den
Vordergrund zu stellen; die Sache will von ihrem eigentlichen Grunde
aus angesehen werden. Jeder Bojar ist geborener Diplomat, seine Eigen¬
schaft als Fürstenwähler und die Fähigkeit, selbst gewählt zu werden,
zudem das Gefühl, Landesherr zu sein, wie er es bis auf die neueste Zeit
— im ganzen Sinne des Worts — gewesen, alles das gibt ihm ein
stark ausgeprägtes Bewußtsein. Beständige auf den Sturz des jeweilig re¬
gierenden Fürsten gerichtete Intriguen, die dabei gemachte Erfahrung, daß
mit Geld nicht nur Staatsgeheimnisse fremder Höfe erkauft werden kön¬
nen, sondern überhaupt Alles und von allen auch auf noch so hohem
Piedestal stehenden Personen zu haben sei, lehrten sie den Werth der Menschen
und die von ihnen zur Schau getragenen Theorien gering achten, entwickelten
in ihnen Schlauheit, Verstandesfertigkeit und Menschenkenntniß. Sie lernten
mit Menschen wie mit Zahlen rechnen, sie eigneten sich den diplomatischen
Grundsatz: „keinen Grundsatz zusahen", an, und wie sich des Lebens innerer
Gehalt auf diese Art bei ihnen entwerthete, wurden sie auch gegen alles gleich-
giltig, was sonst unter Menschen für schätzenswerth gilt. Schon unter den
Fanariotenfürsten, welche über die Vorgänge an den benachbarten christlichen
Höfen in Bezug auf die Türkei, bei Todesstrafe nach Konstantinopel zu
berichten hatten, wurden die Bojaren vielfach als Kundschafter verwendet
und erlangten auf diese Art, wie der Consul Villecocq berichtet, die seltene
Gabe, schon aus Mienen und Geberden die Gedanken Anderer zu errathen.
Gewöhnt an einen solchen Maßstab, müssen sich ihnen nothwendig die rich¬
tigen Gesichtspunkte für Welt und Leben verrücken. Die Rumänen sind
fortwährend auf die Ausübung diplomatischer Künste angewiesen, weil
die fremden Mächte auf unnachweislichen Wegen beständig Intriguen in die¬
sen Ländern spinnen, sich gegenseitig conterminiren, Jeder beständig auf sei¬
ner Huth vor Freund und Feind sein muß und dabei genöthigt ist sich in
genauester Kenntniß der Dinge um ihn her, ja der Gedanken seiner Umgebung
selbst, zu erhalten. So lange die Intriguen fremder Mächte das Land
durchwehen, ist an eine Aenderung der hiesigen Zustände nicht zu denken.
In dieser Erkenntniß, und um dem Adel in dem Bauernstande ein Gegen¬
gewicht zu geben und ihn unschädlich zu machen, arbeitet die Patrioten¬
partei an der Hebung der Selbständigkeit des Landmanns, aber dieser ist'
aus seiner Versumpfung nicht so bald zu heben; mittlerweile ist alle In¬
telligenz und alles Geld und somit alle Macht in den Händen der Bojaren,
und die fremde Intrigue ist darum um so thätiger, die noch günstige Zeit
nach Möglichkeit auszunutzen.
Wie unter der Willkürherrschaft des Adels der Bauer .verthierte, so
konnte andererseits der Adel auch den Folgen der hundertjährigen Fanarioten-
despotie nicht entgehen. Diese fremden Fürsten mißhandelten die Landes¬
bojaren in wahrhaft asiatischer Weise. Selbst Bojaren ersten Ranges durften
nur selten die fürstliche Hand, sie mußten die Füße, die Säume des Kleides
ihrer Fürsten küssen, wurden von diesen mit der Tapaze — dem Fürsten-
stabe — geschlagen, ja sogar zu Bauern degradirt und gleich diesen ge¬
prügelt. Die barbarische Willkür der Fanarioten hatte eine vollständige
Rechtlosigkeit zur Folge, benahm den Individuen allen Halt, den ihnen die
fortwährend entweihten Kreise ihrer Familien nicht mehr zu geben vermochten.
Diese beständigen Verletzungen, Demüthigungen, Erniedrigungen und Ver«
höhnungen der heiligsten Gefühle mußten mit der Zeit die innere persönliche
Würde völlig abstumpfen. In dieser heillosen Wirthschaft, wo das Weib nur
zu oft durch Preisgebung zur Retterin seiner Familie werden mußte, liegt
der Keim jener Entsittlichung, die uns jetzt an den Rumänen so anstößig ist.
Wir dürfen nicht vergessen, daß diese Wirthschaft ein volles langes Jahr¬
hundert dauerte, in welcher Dauer sie Zeit hatte, alles höhere Leben bis in
den Keim hinein zu ertödten, alles für heilig gehaltene Althergebrachte, selbst
die Ehe, das Familienleben, die Verwandtschaftstreue u. s. w. zu zerstören
und den inneren ganzen Menschen, in seinen Gefühlen und Begriffen radical
und in jeder Beziehung zu demoralisiren. Ist es da zu verwundern, wenn
dieser aus solcher Sclaverei zur Selbständigkeit erwachte Adel einer länge¬
ren Zeit benöthigt, um wieder zu sich selbst zu kommen, zum Gefühl
menschlicher Würde zu erstarken — sich gleichsam selbst wiederzufinden?
Wir finden ihn gegenwärtig in einer solchen Uebergangsperiode, welche vor
ein paar Decennien natürlich ein noch viel drastischeres Gemälde darbot.
Hierin liegt der Schlüssel zur Lösung so manchen Räthsels in diesen Ländern
und namentlich zu dem brutalen Auftreten der russischen Consuln, die wie
Fanarioten verfahren zu müssen glaubten, um durchdringen zu können.
Fühlte sich doch auch der östreichische Beamte jener Zeit versucht, in noch
ärgerer Art vorzugehen. Ein östreichischer Consul ließ einem Bojaren aus
der Mittelklasse, der einen östreichischen, in seinen Diensten stehenden Unter¬
than mit Stockstreichen bestrafte, durch seine Corporäle aufpassen, und als
dieser eines Tages am Consulate vorüberfahren wollte, in dasselbe mit Gutem
oder Bösem bringen. Im Hofe angelangt, wurden die Thore gesperrt und
der Bojar erhielt nebst einer väterlichen Ermahnung die seinem Diener er¬
theilten Prügel in voller Zahl und auf dieselbe Weise auf einer Bank aus¬
gestreckt — auf gut östreichisch wieder. Nach dieser Execution durfte er
wieder in seinen Wagen steigen und wurde er zu dem gefeiten Hause höf¬
lich hinauscomplementirt- Die Sache wurde stadtkundig, sie hatte ja die
Diener des Bojaren zu Zeugen, aber sie hatte keine weiteren Folgen. —
Während der letzten Regierungszeit des Fürsten Stirbej in den fünfziger
Jahren machte der russische Consul diesem Fürsten eines Tages seinen Be¬
such. Der Fürst, obwohl in seinem Cabinette mit dringender Arbeit be-
schäftigt, läßt ihn eintreten, blickt aber, in seine Arbeit vertieft, nicht'sogleich
auf. Der Consul, über solche Mißachtung empört, geht aus den Schreibenden
zu, wirft seinen Hut auf dessen Schreibereien, sich selbst aber in ein Fauteuil
und streckt aus gut amerikanisch die Beine auf den fürstlichen Schreibtisch.
Stirbej zuckt über diese Impertinenz zusammen, erkennt aber sogleich, daß er
sich an der Etikette vergangen habe, und sucht mit Entschuldigungen sein
Versehen wieder gut zu machen. „Ah, das ist was Anderes", entgegnet der
Russe, erhebt sich auch seinerseits und die Visite hat nach diesem kleinen Inter¬
mezzo ihren normalen Verlauf. Unter Cusa's Regierung prügelte der Aga
(Polizeiminister) Marghellomcm seinen Kutscher mitten in der Stadt bei
Hellem Tage und auf der Gasse buchstäblich zu Tode. Der Getödtete war
russischer Unterthan. Als dieser letztere Umstand bekannt geworden, eilten
die Bojaren in eoivorö zum russischen Consul, um den Sturm, der daraus
folgen mußte, wenn die Sache weiter zur Sprache käme, zu beschwören.
Dieser Beamte bekam dadurch die erwünschte Gelegenheit, sich alles dessen,
was er gegen die Bojaren auf dem Herzen hatte, zu entledigen,
und er that es mit so harter Rede und so rücksichtslosen Aus¬
drücken, daß man in der That zweifelhaft sein mußte, ob man die
Zuhörer, die dies alles geduldig ertrugen, oder den Redner, der ihnen
alles das zu sagen den Muth hatte, mehr bewundern sollte. Es ist aber
auch in der That erfahrungsgemäß, daß man mit Bescheidenheit bei den
Bojaren nie etwas ausrichtet. — Diese Bojaren, welche sich solche und ähn¬
liche Erniedrigungen gefallen ließen, forderten nichtsdestoweniger von dem
Bauernvolke eine abgöttische Verehrung, und behandelten es mit grausamer
Härte. Ich habe persönlich einer Audienz beigewohnt, die der vor Cusa
regierende Fürst Alexander Ghika einer zahlreichen Bauerudeputation im
Regierungsgebäude gab. Im Hofe waren aus allen Gegenden des Landes,
von Nah' und Fern', über 200 Bauern mit Bittschriften versammelt. Man
stellte sie in ein Spalier, das von der ersten Etage zu beiden Seiten der
Treppe bis herab in den Hof an den fürstlichen Wagen lief. Als sich oben
eine Bewegung kundgab, woraus auf das Erscheinen des Fürsten geschlossen
wurde, warfen sich alle Bauern auf die Kniee, und als der Fürst in der
geöffneten Thüre erschien, fielen alle vor ihm mit dem Angesicht zur Erde
und verharrten in dieser Stellung so lange, bis er ihre Reihen, ohne sie auch
nur eines Blickes, viel weniger eines Wortes zu würdigen, durchschritten
hatte und ihnen gemeldet ward, daß der Landesvater bereits in seinen
Wagen gestiegen und davon gefahren sei. Hieraus erhoben sie ihre Häupter
vom Boden, fürstliche Adjutanten nahmen ihnen ihre Bittschriften aus den
Händen, und die Audienz war aus; sie konnten 'wieder nach ihrer Heimath
wandern ohne ihren Landesvater gesprochen ja ohne ihn auch nur gesehen
zu haben; sie fühlten seine Nähe, sie hörten seine Schritte, und sie waren
zufriedengestellt. Und Alexander Ghika war ein milder menschenfreundlicher
Fürst, von deutscher Bildung, aber dies war hergebrachter Usus, und
dagegen ließ sich nichts machen. — Die Bojaren pflegen ja den Plebs —
und sie pflegten auch ihre einst verkaufbaren Sklaven, die Zigeuner mit
„trals ara^g." „theurer Bruder" anzureden; aber dieser theure Bruder wurde
bei jeder noch so kleinen Veranlassung, oft auch nur aus Laune gar rück¬
sichtslos malträtirt, mit Prügeln und Fußtritten behandelt. — Unter dem
früheren Drucke war dem Adel diese Grausamkeit gleichsam eine nothwendige
Lebensbethätigung, er nahm zu derselben seine Zuflucht, um hiedurch zum Selbst¬
gefühl, zum Bewußtsein dessen, was er eigentlich vorstellt, zu kommen. Nach
Aenderung der Zustände blieb der Usus aufrecht, um sich dadurch des unbe¬
dingten Gehorsams der niederen Volksklassen zu vergewissern.
Die Arbeit eines Jahrhunderts hat aus diesen einst so stolzen unbändigen
Kriegern, die dem Türkenthume am längsten Widerstand zu leisten vermochten,
geschmeidige Diplomaten gemacht, die innerlich Barbaren geblieben sind.
Seit sie in die europäische Culturwelt eintraten, sind noch nicht vier Decennien
verflossen und darnach sind sie zu beurtheilen. Bei dieser Beurtheilung
darf das Eine nie außer Acht gelassen werden, daß wir hier an der Schwelle
des Orients — des Asiatenthums stehen, und es nicht mit reinen Europäern
zu thun haben. Es sind nicht die modernen frivolen französischen Theorien
allein, die uns hier in deu Eingebornen entgegentreten, sondern auch die
asiatische Natur, welcher wesentliche Faktor bei Beurtheilung ihres Charakters
nie unberücksichtigt gelassen werden darf. Wer vor ein paar Decennien hier
gewesen ist. hatte den Beweis hiefür vor Augen, — einige Decennien aber
können keine radicale Umgestaltung zu Wege bringen. Das, was wir hier
zu sehen bekommen, und was wir mit dem Namen Verderbniß, Auflösung —
bezeichnen, ist im Grunde nichts anderes als ein Prozeß, den West und Ost
mit einander eingegangen sind, und der hier nicht mit Worten, sondern mit
thatsächlichen Lebenserweisungen ausgetragen wird. An dem Ausgange dieses
Prozesses ist unsere nächste Zukunft betheiligt, und schon deshalb muß derselbe
sür uns von hohem Interesse sein. Es ist demnach nicht allein ein politisches,
nationalöconomisches und mercantiles, sondern hauptsächlich culturhistorisches
Interesse, welches diese Länder und Völker für uns haben, und es ist in der
That höchst auffallend, daß man sie bisher so wenig berücksichtigt hat. —
Nirgend läßt sich das Hereinbrechen der neuen Zeit so verfolgen und beob¬
achten, wie in Rumänien, nirgends sind aber auch die Verhältnisse dafür
so günstig, wie gerade hier. Hier gibt es keine verknöcherten Begriffe zu
bewältigen, keine ehernen Formen zu zerbrechen, keine angehäuften Trümmer
hinwegzuräumen. Hier braucht kein blutiger langer Kampf voranzugehen,
um der Zukunft Wege zu bahnen. Hier treibt und gedeiht alles, was
hineingelegt und hineingesäet wird, und sprießt- schnell und üppig empor, hier
kennt man überhaupt die Mühen und Arbeiten, des Lebens nicht, denn hier
gilt das strenge Wort: „Im Schweiße deines Angesichtes" u. s. w. nicht.
Fremde Völker haben es förmlich über sich genommen, diesem Volke in Allem
dienend an die Hand zu gehen, ihm alle Anstrengungen zu ersparen. So
günstige Verhältnisse können überhaupt nur in einem Staate stattfinden, der
eigentlich noch kein Staat, sondern eine von einem Staate getragene Gesell¬
schaft, gleichsam eine sich herausgestaltende Frucht im Mutterschooße ist. —
Dieser Staat der doch kein Staat ist, hat Alles, was sonst einen Staat aus¬
macht, aber alle diese Elemente sind so zu sagen erst im Werden, in der Aus¬
bildung begriffen, wie die Theile, wie die Organe des neugebornen Kindes schon
die Gestalt dessen, was sie einst vorstellen sollen, haben, aber noch zu schwach,
zu ohnmächtig, zu unzeitig sind, um ihre Functionen selbst zu verrichten.
Rumänien hat eine Verwaltung beweglich, schwankend und ohne alle Festig¬
keit, eine Militärmacht, selbst zur bloßen Vertheidigung zu schwach, Schulen,
die nur den Grund zur Ausbildung legen, welche im Auslande weiter gesucht
werden muß, eine Justiz so voller Launen,, so feil und so ohne alle Würde,
daß die Richter öffentlich von den Parteien mit Schlägen behandelt werden,
und daß man auf seine Widersacher in den Gerichtssälen schießt, und sich am
liebsten auf eigene Selbsthilfe verläßt, — eine Familie, die nur noch der
äußeren Form nach eine solche ist.
Die letzten Wochen haben einen neuen Nagel in den Sarg des zweiten
Kaiserthums getrieben. Die Krankheit des Staatsoberhaupts hat den Freunden
und Feinden des napoleonischen Frankreich den Beweis geliefert, daß die
Regierung, welche sich rühmte, das unruhigste Volk der Erde für immer
gebändigt zu haben, in der That nur auf zwei Augen steht. Gerade in dem
Zeitpunkt, wo ein neues Kapitel der französischen Kaisergeschichte beginnen,
der schwierige Versuch gemacht werden sollte, das persönliche Regiment mit
dem Parlamentarismus zu versöhnen, als der Kaiser seinen veränderten Planen
durch ein neues Kabinet Ausdruck gegeben hatte, versagte die Kraft des
einzigen Mannes, an den die Franzosen noch glauben, dem Europa die
Fähigkeit zutraut, Herr der schwierigen Lage an der Seine zu bleiben. Und
um allen Zweifel daran auszuschließen, daß Napoleon III. in der That der
einzige kaiserliche Staatsmann Frankreichs sei, der nicht allen Credit verloren,
brach sofort nach der ersten Kunde von seiner Erkrankung eine Verwirrung,
ein allgemeines Angst- und Nothgeschrei aus, wie es am Tage nach dem
Tode des Kaisers nicht hätte schlimmer sein können und das sich allmälig
auf alle europäischen Börsen ausdehnte. Die ostensible Schuld an demselben
trug allerdings das Ungeschick der offiziellen Pariser Publicistik, deren be¬
ruhigende Nachrichten nicht nur bestimmt schienen, das Publikum mißtrauisch
und unruhig zu machen, sondern außerdem so formulirt waren, daß man
eigentlich erst durch sie erfuhr, wie krank der Kaiser gewesen. Darüber, daß
der eigentliche Grund tiefer liegt, daß das Kaiserthum geblieben ist, was es
gewesen, ein Compromiß egoistischer Sonderinteressen der verschiedensten Art,
— darüber konnte man freilich nicht in Zweifel sein. Die nur mit dem
Glück des dritten Napoleon ihren Bund geschlossen, bereiteten sich zur Flucht
sobald dieses Glück zu wanken schien. Die Furcht davor, bei einer Cata-
strophe in Mitleidenschaft gezogen zu werden, das Bemühen, im äußersten
Falle zuerst aus dem Platze zu sein und sich die Volksgunst schon vorläufig
zu sichern — diese Auswüchse niedrigen und pietätslosen Egoismus traten so
ungeschminkt und brutal hervor, daß man unwillkürlich an die Zeiten
erinnert wurde, in denen die Demoralisation der Stützen des zweiten Kaiser-
thums das Lieblingsthema mißgünstiger Feuilletons bildete. Im Schooß
der kaiserlichen Familie trat sofort der feindliche Gegensatz zwischen der Kaiserin
und dem Prinzen Napoleon zu Tage, mehr noch durch persönliche Motive,
wie durch principielle Discrepanzen genährt und mit jener formlosen Bruta¬
lität ausgefochten, welche neu emporgekommene Dynastien trotz allen Strebens
nach einer den alten Herrschergeschlechtern ebenbürtigen Haltung nicht so leicht
los werden zu können scheinen. Innerhalb der eigentlich gouvernementalen
Sphäre herrschte die vollständigste Ratlosigkeit. Rouher, der als Senats-
Präsident die Rolle des leitenden Ministers fortzuführen versucht, ist als Ver¬
treter des alten Systems doch nur ein Staatsmann von gestern und die
Glieder des gegenwärtigen Cabinets haben eigentlich nie eine Zeit gehabt.
Bei Hof als Vertreter des unbequemen neuen Systems verhaßt, von der
Opposition als bloße Uebergangsmänner kaum beachtet, unter sich gespalten
und verfeindet, üben die neuen Minister nach keiner Seite Autorität, war
während der Tage der Besorgniß von ihnen am wenigsten die Rede.
Zu einer Vorstellung von der ungeheuren Umwandlung, welche sich
während der verhängnißvollen letzten Wochen in den Gemüthern der
Franzosen vollzogen hat, genügt ein Vergleich zwischen der Sprache, welche
die Presse vor der ersten Septemberwoche führte und welche seit derselben
üblich geworden. Der Zustand des Kaisers, die Beziehungen und Pläne der
Glieder der kaiserlichen Familie, die Eventualitäten, welche im Todesfall ein¬
treten würden, werden mit einem geflissentlicher Cynismus besprochen , der
sich vor jeder gouvernementalen Verfolgung sicher fühlt und die Tage des .
Sicherheitsgesetzes und der Proscription jeder freien Meinungsäußerung bis
auf die Spur vergessen hat. Ton und Gehalt der publicistischen Erörterung
haben sich so gründlich und so allgemein verändert, daß an eine vollständige
Wiederherstellung des alten Subordinationsverhältnisses seit den Erörterungen
über die Rathsamkeit eines neuen suktrag'ö uviversel nicht mehr zu denken ist,
die Regierung eine thatsächliche Erhöhung des Maaßes geduldeter Pre߬
freiheit als tiZ.it aeeomM hinnehmen und zum Uebrigen thun muß. — Und
während die arti-gouvernementale Stimmung auf diese Weise die raschesten
und unerwartetesten Fortschritte gemacht hat, zum Theil schon in eine anti¬
dynastische umgeschlagen ist und den Zauber der Unnahbarkeit, der den restau-
rirten Napoleonismus zu umgeben schien, vollends zerstört hat, ist von der
Negierung nichts geschehen, um den veränderten Verhältnissen Rechnung zu
tragen oder ihnen entgegen zu treten. Von den Berathungen der General¬
räthe sind auf Betrieb der Minister alle Gegenstände von politischer Bedeu¬
tung ausgeschlossen geblieben und der Senat hat seine Abhängigkeit und
innere Leblosigkeit dadurch bekundet, daß er die die Staatsverfassrmg ab¬
ändernden Artikel genau in der von Rvuher empfohlenen Form angenommen,
die Bonjean'schen Amendements verworfen und die Rede des Prinzen Na¬
poleon desavouirt hat. Daß diese Symptome für die Unfähigkeit der zeit¬
weiligen Machthaber mit dem Zeitpunkt zusammentrafen, in welchem die ein¬
zige reale Grundlage des Kaisertums, die Person des Kaisers, zusammen¬
zubrechen drohte, hat die allgemeine Erregung, welche sich in den letzten
Augusttagen bereits gelegt hatte, auss Neue heraufbeschworen. In der
Hauptstadt bildet neben Erörterungen über die Zukunft der Dynastie das
leidenschaftliche Verlangen nach Einberufung des gesetzgebenden Körpers den
Hauptgegenstand der Allarmartikel der liberalen Presse. Daß die Regierung
diese peinliche Nothwendigkeit bis aufs Aeußerste hinausschieben will, ist er¬
klärlich genug, denn bevor die Räthe des Kaisers vor die Volksvertretung
treten, muß der Kaiser zu Entschließungen gekommen sein, die durch seinen
gegenwärtigen Körperzustand erschwert, wenn ' nicht ausgeschlossen sind.
Grade diese Rechnung auf die wirkliche Verlegenheit der Regierung ist es,
welche den Angriffen der Opposition ihre Lebendigkeit gibt und dem vom
Grafen Kiratay ausgegebenen Stichwort so zahlreiche Anhänger zuführt.
Auch in den Departements bekunden die Feinde und die liberalen Freunde
des Kaisertums eine ungewöhnliche Regsamkeit und Activität. Der thörichte
Ausschluß politischer Materien aus den Generalrathsverhandlungen, den
Foreade de la Noquette den Präfekten zur Pflicht gemacht hatte, hat das
Verlangen nach Decentralisation der Verwaltung, größere Selbständigkeit der
Communalbeamten, Wählbarkeit der Maires u. s. w. zu einem allgemeinen
gemacht und eine g.ä Koe geschlossene Liga der größeren liberalen Provinzial-
Zeitungen herbeigeführt. Daß an eine Erreichung des angestrebten Zwecks
nicht zu denken ist, dieselbe wohl auch nur von einem kleinen Theil derer,
welche mitmachen, ernst gemeint ist, schränkt die Unbequemlichkeit dieser Agi¬
tation nicht ein, welche wesentlich dazu beiträgt, die Regierung unsicher, deren
Gegner vertrauensvoll und ungeduldig zu machen.
Von einer activen auswärtigen Politik hat bei so bewandten Umständen
natürlich kaum die Rede sein können, zumal der ehemalige Minister des Aus¬
wärtigen und jetzige Botschafter in London, Lavalette, der Befestigung seines
Nachfolgers des Fürsten Latour d'Auvergne, sichtlich im Wege gestanden hat.
Wenn viel geschah, nahm man an den Versuchen Englands Theil, zwischen Egyp-
ten und der Pfordte, Spanien und der nordamerikanischen Republik zu vermitteln.
— Dieses momentane Stillstehen der französischen Staatsmaschine ist für die
inneren Zustände des Staats ebenso verderblich, wie für das übrige Europa
vortheilhaft gewesen. Für Frankreich nimmt die Wahrscheinlichkeit chaotischen
Zusammenbrechens der gegenwärtigen Verhältnisse zu, für den übrigen Welt¬
theil die Erhaltung des Friedens. Ob es für uns Deutsche möglich sein
wird, die Früchte desselben einzuheimsen, ist freilich ebenso zweifelhaft geblieben,
wie vor der neuesten Catastrophe in der französischen Kaisergeschichte. Zu¬
nächst macht sich geltend, daß Unternehmungslust und Selbstvertrauen der
depossedirten Fürsten und ihres schwindenden Anhangs von Tag zu Tage
bergab gehen und daß die östreichisch-ungarische Diplomatie sich in die Noth¬
wendigkeit zu finden beginnt, mit der friedlichen Weltlage wenigstens vor¬
läufig Frieden zu schließen.
Inzwischen haben die in der Mehrzahl der cisleithanischen Provinzen zu¬
sammengetretenen Landtage den Lenker der> östreichischen Staatsgeschicke aufs
Neue daran erinnert, daß die Ausgleichung der nationalen und landschaft¬
lichen Gegensätze innerhalb des vielgliederigen Kaiserstaates eine nahezu un¬
lösbare Aufgabe ist. Selbst die beiden innerhalb des dualistischen Systems
vertretenen Gruppen sind schwer in Frieden zu erhalten und die außerordent¬
lich abfälligen Urtheile mit denen die Wiener Presse den Schluß der Dele¬
gationen begleitete, ließen durchsehen, daß der eine der beiden Füße, aus denen das
constitutionelle Oestreich steht, aus Thon und zwar aus schwachem Thon geformt
ist. Nach der etwas kurzathmiger Freude des deutsch-östreichischen Liberalis¬
mus über den Sieg, 'den die Negierung bei Gelegenheit der Schulrathswahlen
in Böhmen erfochten, sind die Ansprüche der slavischen Länder der Monarchie
wieder in ihrer ganzen Schroffheit hervorgetreten und wird die Nothwendig¬
keit von Zugeständnissen, mindestens an die Czechen, bis in die höchsten
Regierungskreise hinaus anerkannt. Zu der Czechennoth droht eine Polen¬
noth zu kommen. Schon bei der Schlußabstimmung in den Delegationen
war man von der Rücksichtslosigkeit peinlich berührt worden, mit welcher
sich die galizischen Repräsentanten von den übrigen Cisleithaniern getrennt
hatten, um ihr Gewicht zu Gunsten der Magyaren in die Wagschaale zu
werfen. Gegenwärtig wird im Lemberger Landtagssaale bei offenen Thüren
darüber berathen, ob man sich der Beschickung des Reichstages nicht zunächst
vollständig enthalten und im Bunde mit den Czechen direct zur Opposition
übergehen soll, um auf diese Weise die gewünschte Autonomie und die
Adoption eines föderalistischen Systems zu ertrotzen. Wenn der galizische
Landtag vor diesem Wagniß zurückschreckt, so wird das nicht das Verdienst
der polnischen Demokratie und ihres Führers Smolt'a, sondern lediglich die
Folge von § 11 des im Jahre 1860 angenommenen Wahlgesetzes sein, das
der zur Regierung und zu Goluchowski haltenden Bureaukratie sehr viel
weiteren Spielraum sicherte, als man im Lager der kurzsichtigen und leicht¬
sinnigen polnischen Volksfreunde angenommen hatte. Mit einer Feindselig¬
keit, die ebenso gegen die östreichische Regierung wie gegen das herrschende
polnische Element gerichtet ist, sehen die Ruthenen Galiziens den Verhand¬
lungen der soeben zusammengetretenen Versammlung zu, denn zu den dieser
übergebenen Vorlagen gehört ein Antrag auf Abschaffung des für die Volks- und
Mittelschulen obligatorisch gewesenen russischen Sprachunterrichts (der „zweiten
Landessprache" wie es officiell heißt) dessen Erthe'lung künstig von dem Willen
der einzelnen Gemeinden abhängig sein soll. Von der Ablehnung oder Annahme
dieses Antrags wird abhängen, ob die Ruthenen sich vollständig und für immer
von Oestreich abwenden und nur noch den panslavistischen Einflüsterungen
des Slavo und der großrussischen Agitation Raum geben, denn in der Ab¬
schaffung des obligatorischen Unterrichts ihrer Sprache sehen sie zugleich ein
Attentat auf ihre Nationalität, die sie als die von Rechtswegen in Ostgali-
zien erstberufene ansehen. — In der benachbarten Bukowina hat die zahl¬
reiche ruthenische Bevölkerung durchzusetzen gewußt, daß die Landtagsproto¬
kolle zugleich in russischer, rumänischer und deutscher Sprache geführt werden,
in den ruthenischen Comitaten Ungarns ist gleichfalls eine lebhafte Sprach¬
agitation in Wendung — Grund genug für die galizischen Russen, welche
sich als Führer des gesammten kleinrussischen Stamms ansehen, ihren An¬
sprüchen nicht ein Haar breit zu vergeben.
Für die slavische Welt ist übrigens nicht sowohl der Zusammentritt des
galizischen Landtags, als die Feier des Hußjubiläums das große Ereigniß des
Monats gewesen. Von den auswärtigen Stämmen war der russische bei der
Feier in Prag am stärksten vertreten und auch in Petersburg und Moskau
ist der Geburtstag des Märtyrers von Constanz mit öffentlichen Feierlich¬
keiten begangen worden. Für die Czechen selbst hat diese Feier in zwiefacher
Beziehung eine politische Bedeutung. Alt und Jung-Czechen denken über den
nationalen böhmischen Reformator ebenso verschieden, wie über viele andere
wichtige Fragen. Die Ersteren haben schon aus Rücksicht auf den ihrer
Sache verbündeten katholischen Clerus an der Hußfeier nicht so lebhaften An¬
theil nehmen können, wie die Letzteren; dazu kommt, daß die außerböhmischen
Panslavisten, namentlich die Russen, schon lange den Wunsch hegen, das
Czechenvolk mit Hilfe husfitischer Traditionen dem Katholicismus abwendig zu
machen und der Kirche des Morgenlandes anzunähern. Aus diesem Grunde
ist nicht nur die Zahl russischer Gäste und Festgrüße eine außerordentlich
zahlreiche gewesen, sondern der Erinnerungstag an den Vorläufer der natio¬
nalen und kirchlichen Vorkämpfer Böhmens in den russischen Hauptstädten ebenso
festlich begangen worden, wie in Prag. Besonderes Gewicht wurde von den
russischen Festrednern darauf gelegt, daß Huß entschiedene Sympathien für
die griechische Kirche gehabt und auch in dieser Beziehung bewiesen habe, daß
er das slavische Interesse richtig verstand und beurtheilte. — Die Mei¬
nungsverschiedenheiten im czechischen Lager haben indessen nicht verhindert
daß man er Bezug auf die Verfassungsfrage durchaus einig ist und der Regie¬
rungspolitik gegenüber nach wie vor die gleichen Wege geht. Für das Maß
der den Czechen zu machenden Concessionen (darüber, daß überhaupt nachge¬
geben werde, sollen die Grasen Beust und Taafe bereits einig sein) werden die
Entscheidungen des galizischen Landtags wohl auch mitwiegen, denn die polni¬
schen Demokraten haben sich mit den Czechenführern schon vor einiger Zeit über
gemeinsame Action verständigt. — Auf den deutsch-östreichischen Landtagen steht
die Frage nach dem künftigen Modus für die Reichstagswahlen im Mittel¬
punkt der Interessen; man ist hier der Einführung directer Wahlen ebenso geneigt,
wie in den slavischen Provinzen feindlich. Möglich daß die Gegensätze in
Galizien auch in diesem Königreich eine Wendung zu Gunsten des allge¬
meinen Wahlrechts herbeiführen; die polnische Demokratie ist demselben an
und für sich nicht ungünstig , hat über das numerische Uebergewicht der
Nuthenen zu berücksichtigen. — Jenseit der Leitha haben die Magyaren
eine neue Besiegelung des dualistischen Systems durchzusetzen gewußt; am
8. und 9. September fand zu Agram die feierliche Einholung und Beeidigung
des Barus statt, durch welche das Verhältniß Croatiens zur Stephanskrone
endgiltig geordnet worden ist.
Ungarns eifersüchtigster und turbulentester Nachbar, der junge rumäni¬
sche Staat, scheint sich mehr und mehr in die friedlichen Bahnen zu gewöhnen,
welche ihm durch den Fürsten Karl und das Ministerium Ghika-Cogolnitsche-
ano vorgezeichnet werden. Obgleich Jean Bratiano auf seine Versuche, die
Partei der Rothen und damit eine türkenfeindliche Vergrößerungspolitik ans
Ruder zu bringen, keineswegs verzichtet und seinen Bruder Demeter in Paris
stationirt hat, um Frankreichs Eifersucht auf den preußischen Einfluß in
Bukarest wach zu erhalten, ist das Land ruhig geblieben und stehen die Kam¬
mern in überwiegender Majorität zu der gegenwärtigen Regierung. Von
seinem Besuch am russischen Hoflager in Taurien zurückgekehrt, hat der Fürst
eine Reise nach Westeuropa angetreten und zunächst Wien aufgesucht, wo
Hof und Ministerium ihm einen überraschend freundlichen Empfang zu Theil
werden ließen. Wesentlich dem preußischen Einfluß in Bukarest, ist es zu
danken, daß die moldau-wallachische Regierung in Mitten der widerstreiten¬
den oft- und westeuropäischen Interessen eine Position genommen hat, die nach
keiner Seite hin Anstoß gibt und für die Entwickelung und Kräftigung
des rumänischen Staats wirken kann, ohne die Eifersucht der Pfordte
zu reizen.
In Constantinopel dauerte der Conflikt zwischen dem Sultan und seinem
mächtigen Egyptischen Vasallen fort. Selbst die Specialnachrichten über
den Verlauf dieses Handels haben sich als so unzuverlässig erwiesen, daß sich
der Ausgang desselben nicht absehen, kaum errathen läßt. Entsprechend ihren
Wünschen und Hoffnungen versichern die Organe der Westmächte, daß die
Sache einen Verlauf nehme, der eine acute Krisis ausschließe und den Höfen
von London und Paris die Möglichkeit sichere, durch Rathschläge nach beiden
Seiten hin versöhnend einzuwirken. Im Gegensatz dazu sind die russische und
ein Theil der westslavischen Presse der Meinung, durch ihre Erfolge auf der letzten
Pariser Conferenz sei die Pfordte so anmaßend und selbstvertrauend geworden,
daß der Vicekönig zu Gewaltschritten gedrängt werden werde, die eine Kata¬
strophe herbei führen müßten. — Unterdessen hat der griechisch-bulgarische
Kirchenstreit seinen ununterbrochenen Fortgang genommen. Durch die Unter¬
stützung der türkischen Minister und die russische Ablehnung des vom Pa¬
triarchen vorgeschlagenen abendländischen Concils ermuthigt, beharren die
Bulgaren auf der Forderung einer vom griechischen Patriarchen unabhängigen
Nationalkirche, die dem constantinopolitanischen Oberhirten nur äußerlich und
formell untergeordnet sein, ihre Angelegenheiten aber durch eine selbständige
Synode ordnen soll. Griechenland, dem naturgemäß daran gelegen ist, die
Einheit der griechischen Kirche in den türkischen Ländern erhalten und den
traditionell seine Interessen verbündeten Patriarchen an der Spitze aller
morgenländischen Christen des Nachbarstaats zu sehen — Griechenland hat
sich noch entschiedener gegen die Bulgaren ausgesprochen als Rußland, und
den Concilvorschlag, den der Petersburger spröd. aus Opportunitätsgründen
ablehnte, gebilligt. Dadurch in die Sache ist ein neues Stadium getreten,
und das russische Kirchenregiment wird sich zu nochmaliger Prüfung der Wünsche
des Patriarchen Gregorius entschließen müssen. — In Rußland ist es auf
dem Gebiet der inneren Politik während des September eben still geblieben,
wie in den Sommermonaten. Der Kaiser verweilt noch immer am Ufer des
schwarzen Meeres und die meisten Minister (Fürst Gortschakow, Graf Pahlen,
General Miljutin) sind auf Reisen. Für, den Beginn des Winters steht
daftjr eine Reihe wichtiger legislatorischer Neuerungen in Aussicht. Im
Reichsrath ist ein Gesetzentwurf über Reorganisation des Städtewesens zur
Berathung gekommen, der noch zu Zeiten des früheren Ministers des
Inneren, Walujew, ausgearbeitet worden war und für die Provinzial-
städte (die beiden Hauptstädte sind bereits im Besitz neuer Verfassungen) von
besonderer Wichtigkeit sein wird, weil den städtischen Communen größere,
wenn auch keineswegs genügende Unabhängigkeit von der Administration zu¬
gestanden werden soll. Ferner ist von einer Reorganisation des Kloster¬
wesens und von Amendirung des am 8. April 1865 „probeweise" erlassenen
Preßgesetzes die Rede. Nach den Mittheilungen russischer Blätter handelt es
sich um eine beträchtliche Verschärfung des Verwarnungssystems, gegen welche
die Presse schon gegenwärtig das Mißtrauen der öffentlichen Meinung wach¬
zurufen bestrebt ist. An eine Aufhebung jener Monstrosität, welche nur den
in Petersburg uno Moskau erscheinenden Büchern und Journalen Befreiung
von der Präventivcensur ermöglichte, die Provinzialpresse dagegen unter strenge
Censur stellte, wird von keiner Seite gedacht, denn man hat allen Grund,
das Schweigen, zu welchem die westlichen Provinzen des Reichs-und deren
deutsche und polnische Bewohner verurtheilt sind, aufrecht zu erhalten. Für
die Ostseeprovinzen stehen neue Russisicationsmaßregeln in Aussicht; die Ge¬
schäftsführung in den staatlichen Provinzialbehörden soll vollständig russisch
in den Gymnasien der Mathematikunterricht künftig in russischer Sprache er¬
theilt werden. Daß das Ende davon vollständige Russisicirung und Gräci-
sirung sein soll, geht aus dem Beispiel der polnischen und lithauischen Län¬
dern unzweideutig hervor. Im Königreich Polen ist die ausschließliche Herr¬
schaft der russischen Sprache in Universitäten, Gymnasien und Verwaltungs¬
behörden bereits angeordnet, im Generalgouvernement Wilna wird nur noch
darüber gestritten, ob die katholischen Gottesdienste künftig russisch oder aber
lithauisch, keltisch und shmudisch gehalten werden sollen, über die Ausrottung
des polnischen ist man längst einig. Von der turkestanischen Grenze liegen
keine neuen Nachrichten über weitere Ausbreitung der russischen Macht
vor, dagegen hat der bereits vor vier Wochen todtgesagte Kirgisenaufstand
neue Lebenszeichen von sich gegeben. Die ungeheuren, schwachbevölkerten
Ebenen, welche das Theater dieser Emeute bilden, machen dieselbe aller-
dings ungefährlich, sie erschweren aber, zugleich eine rasche und vollständige
Beseitigung der Wirren, welche die den Kirgisischer Nomaden zugemuthete
Annahme einer streng bureaukratischen Organisation hervorgerufen hat.
Von der politischen Windstille, welche auf dem größten Theil unseres
Continents herrschte und die in England nach der angreifenden und wichtigen
Parlamentssession besonders gründlich war, sind eigentlich nur die beiden
südlichen Halbinseln ausgenommen gewesen, welche in das mittelländische
Meer ragen. In Italien kann das Cabinet Menabrea-Cambray-Digny nicht
leben und nicht sterben, nehmen die Anzeichen innerer Auflösung und Zer¬
setzung fortwährend zu, ohne daß sich Keime einer neuen Ordnung zeigten,
welche an die Stelle der alten treten könnte. Parteiumtriebe und politische
Intriguen, welche an der Grenze gemeiner Verbrechen stehen, ja diese über¬
schreiten, tragen immer wieder dazu bei, den Credit der Volksvertretung in
den Augen der Nation wie der Regierung herabzubringen. Das Cabinet steht
einer vielgespaltenen, nur in der Negation der Regierungsvorschläge einigen
Opposition gegenüber, die kaum darauf Anspruch macht, auch nur sich selbst
für regierungstüchtig zu gelten, und wird durch die stets zunehmende Finanznoth
an eingreifender Verbesserung der Stoatsmaschine und Hebung der noch
ziemlich primären Anstalten zur Förderung der Volkswohlfahrt gehindert. —
In Rom wird an den Vorbereitungen zum ökumenischen Concil rüstig weiter
gearbeitet, aber mit dem Herannahen des Termins für den Zusammentritt
desselben nehmen die Chancen für einen Ausgang im Sinne der Unternehmer
ab. Die katholischen Regierungen haben ausnahmslos eine zurückhaltende
Stellung eingenommen, die Mißtrauen gegen Uebergriffe der Kirchenfürsten
auf das politische Gebiet, an der Stirn trägt. Bayern hat seine bezüglichen
Befürchtungen ganz direkt ausgesprochen, Frankreich den Entschluß gefaßt,
sich auf dem Concil diplomatisch nicht vertreten zu lassen. Sehr viel wichtiger
noch sind die Kundgebungen innerhalb der Kirche selbst, welche im Voraus
gegen die Prätensionen der Jesuitenpartei Verwahrung einlegen. Dahin
gehören das Gutachten Döllingers, die Adresse der rheinischen Katholiken
und vor Allem die Kundgebung der in Fulda versammelt gewesenen Bischöfe,
welche die verdiente Aufmerksamkeit im Auslande früher gefunden zu haben
scheint, als in Deutschland, und mit welcher sich die liberale französische
Presse besonders eifrig beschäftigt hat. während der Univers bemüht war,
dieser außerordentlich geschickt formulirten Erklärung ihre gegen den Ultra«
montanismus gerichtete Spitze abzubrechen. Innerhalb der katholischen Kirche
ist die Jesuitenpartei so lange die rührigere und vorherrschende gewesen,
daß die Kundgebung abweichender Anschauungen von Seiten der deutschen
Bischöfe Rom ebenso überraschend war wie der protestantischen Welt, und
um so nachhaltigerem Eindruck machte.
In Spanien, wo die durch den karlistischen Einfall beunruhigten Nord¬
provinzen noch immer nicht ganz pacificirt zu sein scheinen, dauert das In¬
terregnum fort, ohne daß der König ausfindig gemacht werden kann, der
die Entscheidung für die Monarchie zur Wahrheit machte. Während die neu
in Vorschlag gebrachte Kandidatur des Herzogs von Genua hier unterstützt,
dort angefochten wird, befestigt sich der Einfluß der republikanischen Partei
unaufhaltsam, werden die Aussichten für die Behauptung Cubas täglich un¬
günstiger und tritt die nordamerikanische Union mit ihren Absichten aus dieses
reiche Eiland immer deutlicher hervor.
In Deutschland ist der September schon seit geraumer Zeit der Monat
der wissenschaftlichen Congresse und diese sind — soweit es sich nicht um
Berichte über die Manoeuver in Pommern und Ostpreußen handelte — die
Hauptgegenstände aller Zeitungsnachrichten der letzten Wochen gewesen.
Allen Nachfragen und Provocationen zum Trotz haben die Berliner Offiziösen
über die Vorlagen zum bevorstehenden preußischen Landtage ein so gründ¬
liches Schweigen beobachtet, daß Presse und Publikum ausschließlich auf ihre
eigenen Gedanken über dieselben angewiesen geblieben sind, und selbst Ge¬
rüchte wie das von der bevorstehenden Einbringung eines Ministerverant-
wortlichkeits-Gesetzes auftauchen konnten. In Sachen des hessischen Kirchen¬
streites, der einen Augenblick die Proportionen einer brennenden Frage an¬
nehmen zu wollen schien, ist es inzwischen wieder ruhig geworden. Das
Organ der Berliner Fortschrittspartei, welches auch in dieser Angelegenheit
gegen die Regierung Front zu machen für Pflicht hielt, hat für seine Thätig¬
keit andere bequemere Spielplätze gefunden: an der Seite des von Parrisius
herausgegebenen „Volksfreundes" hat die „Volkszeitung" den Versuch gemacht/
den volkswirtschaftlichen Congreß um das verdiente Ansehen zu bringen und
im Bunde mit der „Zukunft" agitirt dasselbe Blatt dafür, des würdigen Waldeck
erledigten Platz im Abgeordnetenhause mit einem der Führer der Jacoby'schen
Zukunftspartei, dem Hauptmann a. D. von der Leeden, zu besetzen. Nach¬
dem man sich über die demokratische Rechtgläubigkeit des Candidaten geeinigt
hat, streiten die Herren darüber, ob „Verweigerung des Budgets" der alleinige
Inhalt eines politischen Programms sein könne oder nur die Bedeutung
eines zu Zeiten zweckmäßigen Mittels habe! Was das Organ der Fort-
schrittspartei sich bei einem Compromiß mit Politikern denkt, die im vorigen
Jahre den Friedenscongreß beschickten und an der Proclamation der „Ver¬
einigten Staaten von Europa" Theil nahmen, werden auch viele Freunde
dieses Berliner Journals nicht begreifen können: das Bekenntniß zur „reinen
Doctrin" hat nachgerade auf allen Seiten an Wirkung und Bedeutung ein¬
gebüßt und ist im vorliegenden Fall mit einer Schwenkung gleichbedeutend,
*
die dem Faß, mit welchem die Berliner Fortschrittsmänner bisher schöpften,
leicht den Boden ausschlagen kann. Waldeck, der jeden Zoll und zu allen
Zeiten ein guter Preuße war, soll durch einen Mann ersetzt werden, dessen
Leiborgan mit Vorliebe von Welsen und Welfengenossen citirt wird. Dieses
neueste Capitel in der Entwickelungsgeschichte unserer politischen Gattungen
und Arten wird hoffentlich im Betracht gezogen werden, wenn es zu der längst
nothwendig gewordenen Reorganisation der nationalliberalen Partei kommt.
Die Grenze nach rechts ist bereits mit genügender Deutlichkeit gezogen
worden, der Grenze nach links kann es nicht schaden, wenn sie auf's Neue
möglichst scharf gezogen und damit allen JrrthWnern über politisches Mein
und Dein vorgebeugt wird. Die Erfahrungen der letzten Jahre, namentlich
die im preußischen Abgeordnetenhause gemachten, haben mit einer Gründlich¬
keit, die Nichts zu wünschen übrig läßt, bewiesen, daß es im parlamentari¬
schen Leben auf die numerische Stärke der Parteien sehr viel weniger ankommt,
als auf eine gehörige Disciplin derselben. Wie viel diese Disciplin zu wün¬
schen übrig läßt, hat sich jedesmal gezeigt, wenn (wie bei Gelegenheit des hanno-
veranischen Provinzialfonds) vergeblich der Verzicht auf individuelle Meinungs¬
verschiedenheiten gefordert wurde, oder wenn den Parteirednern zugemuthet
wurde, ihre Beredtsamkeit auf das Maß des Bedürfnisses zu beschränken und an
der gehörigen Stelle aufzuhören, wie es bei Gelegenheit der Debatte über das
das Cultusministerium (December 1868) der Fall war. Soll die beabsichtigte
Reorganisation der liberalen Nationalpartei wirklich zu etwas führen, so muß
mit Herstellung einer wirklichen Disciplin unter den Parteigenossen im Parla¬
mente der Anfang gemacht und damit ein gutes Bespiel gegeben werden.
Weder im Parlament, noch in der Presse, noch in Sachen der Wahlagitation
hat für die Nationalliberalen bis jetzt eine Organisation bestanden, die auf
diesen Namen wirklichen Anspruch machen kann, und das Verdienst derer,
welche dieselbe begründen, wird nicht geringer sein als das Maß der ihnen
entgegenstehenden Schwierigkeiten.
Die berühmte Aristophanesübersetzung von Drovsen, welche von 1835 bis 1838
in drei Bänden erschien, war nachgerade ein Buch geworden, das nicht nur im
eigentlichen, sondern auch im buchhändlerischen Sinne selten genannt werden mußte.
Nur noch schwer war es zu erlangen und es war dringende Nothwendigkeit, eine
neue Auflage davon zu veranstalten, welche in einem dem Werthe des Inhalts ange¬
messenen Gewände dieses Werk bringt, das zu allen Zeiten als eine wahrhaft
geniale Leistung genannt werden wird, trotz mancher Einwände, die ihm bei seinem
ersten Erscheinen begegneten, und die, da sie principieller Natur sind und mit den
Anschauungen über das Wesen und die Aufgabe einer Uebersetzung zusammenhängen,
auch jetzt in dem Leser wicdeMmstauchen werden.
Der berühmte Verfasser mrhchlte sich dies nicht und als er seine sogenannten
„Stiefkinder" (Bd. 1 xaZ. XX der ersten Auflage) zum ersten Male in die Welt
schickte, legte er (ebendas. xaZ. VIII) kurz die" Grundsätze dar, nach denen er seine
Uebersetzung geschrieben oder richtiger nachgedichtet hat. Wir bedauern es, daß er
bei der neuen Auflage dieser Vorrede keine Stelle einräumte, oder, wenn er dies
nicht wollte, daß er nicht ein neues Vorwort geschrieben hat. Ohne Zweifel würde
man von ihm, den wir leicht den Meister deutscher Uebersetzungskunst nennen mögen,
manches interessante und geistvolle Apercu über eine Aufgabe vernommen haben,
deren Wesen zu den anziehendsten literarisch-ästhetischen Problemen gehört. Die
neue Ausgabe trägt im Text wie in den erläuternden Anmerkungen und den Ein¬
leitungen zu den einzelnen Stücken vielfach die Spuren bessernder Hand und ver¬
wendet die Resultate der philologischen und historischen Arbeiten, die dem Aristo-
phanes in den letzten zwanzig Jahren zugewendet waren, in bescheidenen Grenzen,
wie sie uns bei der eigenthümlichen Beschaffenheit des Buches und dem historischen
Recht, welches sich seine ursprüngliche Gestalt erworben hat, ganz angemessen er¬
scheinen. Die Ordnung der Stücke, welche in der ersten Auflage durch äußere
Rücksichten bedingt war, ist verlassen worden, und der vorliegende Band bringt im
Anschluß an die Ausgaben des Urtextes in gewohnter Reihenfolge die Acharner,
Ritter, Wolken, Wespen und den Frieden. — Etwas zur Empfehlung dieser Ueber-
setzung zu sagen, wäre in Wahrheit überflüssig. Die Kunde von der Thatsache,
daß sie wieder zu erlangen ist, wird zu ihrer Verbreitung genügen. Zwar ist der
Leserkreis, den ein solches Buch hat und haben wird, ein verhältnißmäßig kleiner.
Der ungezogne Liebling der Grazien bietet keine Speise für Frauen und Kinder.
Aber Männer, welche einen vollen und kräftigen Dichtergeist kennen lernen wollen,
welche. Verständniß haben für die bezaubernde Fülle poetischer Erfindung und
phantastischer Schöpfung, und welche es lieben, in eine längst begrabene und immer
neu lebendige Welt voll ästhetischer, sittlicher und psychologischer Räthsel sich zu ver¬
senken, werden immer wieder zu Aristophanes zurückkehren und dem Uebersetzer
danken, der die staunenswerthen Schwierigkeiten seiner Aufgabe mit solcher Freiheit
und Sicherheit zu verstehen und zu überwinden wußte. —
Bereits bei einer Anzeige des ersten Bandes (Grenzboten 1868 Nro. 41
xg,A. 79 s.) ist auf die Borzüge dieses Werkes hingewiesen worden, und da der vor¬
liegende Band sich mit der streng historisch-philosophischen Reconstruction der Aristo¬
telischen Kunstlehre beschäftigt, so muß sich eine Anzeige an diesem Orte mit der Be¬
merkung begnügen, daß auch dieser neue Band dem ersten ebenbürtig ist, ja ihn
vielfach in Akribie der Untersuchung und Klarheit der Darstellung übertrifft. Einem
dritten Bande soll die Aristotelische Theorie der eiMelnen Künste vorbehalten blei¬
ben, und von ihm darf wiederum auch ein größerer Leserkreis eine Reihe interes¬
santer Aufschlüsse erwarten, während der vorliegende zweite Band fast ausschließlich den
Fachgenossen zugänglich ist. — Schließlich sei hinzugefügt, daß, wenn der Verfasser
II. XI. unsern früher ausgesprochenen Zweifel betreffs der Aristotelischen Notiz
über Epos und Tragödie zurückzuweisen versucht, Referent seine abweichende Ansicht
unter Berufung auf die Entwickelungsgeschichte der Tragödie durchaus aufrecht er¬
halten muß. An einem anderen Orte wird sich demnächst die Gelegenheit bieten,
auf diese interessante Kontroverse einzugehen.
Mitten inne zwischen den Gebieten der Kunst und der Wissenschaft ist ein
weites Feld von jeher der Tummelplatz einer großen Menge von Talenten gewesen,
deren Begabung und schöpferische Kraft in keinem rechten Verhältniß zu der Liebe
und Begeisterung stand, die sie der Kunst wie der Wissenschaft entgegentrugen. Die
große und ehrenwerthe Reihe der Kunstfreunde, vorzüglich auf musikalischen Ge¬
biete, erzänzte sich in früherer Zeit fast nur aus solchen Naturen, welche, in der
richtigen Erkenntniß, daß ihre Flügel zum künstlerischen Fliegen nicht ausreichten,
ihre Federn genügsam zum Schreiben über und für die Kunst verwendeten. Es
wäre nicht wohlgethan, wenn die fortgeschrittene Kunstwissenschaft von heute auf
jene Männer verächtlich herabsehen wollte, die während der Zeit etwa von Mo¬
zart's erstem Auftreten bis ungefähr zu Beethoven's Tode mit Rath und That, in Rede
und Schrift redlich für die Würdigung unserer großen Musiker und ihrer Werke im
großen Publicum gewirkt haben. Ihre Zeitgenossen verdanken ihrer rastlosen Be¬
geisterung unermüdete Anregung, lehrreichen und zu rechter Zeit auftretenden Unter¬
richt über die Werke und ihre Schöpfer, mannigfache Aufklärung über die Aufgaben,
die Mittel und die Grenzen der Kunst. Aber auch die Nachlebenden sind ihnen
Dank schuldig. Ihre Schriften sind zu einer werthvollen historischen Quelle ge¬
worden, aus der manche wichtige Einzelnotiz und nicht selten die bedeutsamsten
Thatsachen geschöpft werden, welche ohne ihren treuen Fleiß sür immer in Ver¬
gessenheit gerathen sein würden. Freilich sind diese Männer von ungleichem Werth.
Für die Heroen der Musik besitzen wir keinen, der dem für Goethe's Gestalt uner¬
setzlich werthvollen Eckermann verglichen werden könnte. Zumeist schadet ihnen
die eigenthümliche Zwischenstellung, die sie sich zwischen Wissenschaft und Kunst ge¬
wählt haben. Ihre phantastische Begabung ist gerade groß genug, um ihnen ein¬
fache wahrheitsgetreue historische Berichterstattung zu erschweren, während sie zu einer
nennenswerthen selbständigen Thätigkeit in der Kunst, sei es Musik oder Poesie,
nicht ausreicht. > Eine Gestalt, welche so recht als der Typus dieser eigenthüm¬
lichen Gattung in ihren Borzügen und Mängeln erscheint, ist der 1769 zu Leipzig ge¬
borene und ebenda 1842 verstorbene Hofrath Friedrich Rochlitz, bekannt als lang¬
jähriges Borstandsmitglied der Leipziger Gewandhausconzerte, als Begründer
und thätiger Leiter der einflußreichen (Leipziger) Allgemeinen musikalischen Zeitung,
als Redacteur des Leipziger Gesangbuches, sowie als geschickter Berfertiger von
Texten zu geistlichen und weltlichen Kompositionen, endlich als der Verfasser der
gebräuchlichsten Uebersetzung des Don Juan-Textes. Es ist daher ein ganz dankens¬
wertes Unternehmen, die oben angezeigte Sammlung seiner musikalischen Schriften
in neuer Auslage, der im vierten Bande eine kurze von A. Dörffel geschriebene
Biographie des Verfassers beigegeben ist, erscheinen zu lassen. Nur hätte sich eine
strenge Auswahl empfohlen, die Sammlung wäre kleiner und verwendbarer
geworden, und die herzlich schwachen vermischten Aufsätze in schlechter Nach¬
ahmung Jean Paul'schen Humors wären billig weggeblieben, wogegen noch
manches Brauchbare aus Rochlitz' zerstreuten Aufsätzen hätte Aufnahme finden kön-
.nen. Zum Schluß sei noch darauf hingewiesen, daß sich in O. Jahn's Mozart-
^Mgraphie, und zwar besonders in der ersten vierbändigen Ausgabe mehrfache wich¬
tige Beiträge zu einer gerechten Würdigung von Fr. Rochlitz als Aesthetiker und
Historiker der Musik finden; zu Nutz und Frommen von Lesern, welche einen rich¬
tigen Standpunkt seinen Anschauungen und Notizen gegenüber gewinnen wollen,
werde hier auf das genannte Werk III., S. 165, 223, 423, 496, und IV., 4 ver¬
wiesen. Wer ein Auge für dergleichen hat, wird leicht erkennen, daß die dort nach¬
gewiesenen Schwächen des verdienten Mannes weniger ihm selbst als seiner Zeit
und seinem Bildungsgange zur Last fallen. —
Ein tüchtiger Musiker und Theoretiker bietet hier gesammelte Aufsätze, aller¬
dings von sehr ungleichem Werth. Als besonders gelungen heben wir daraus her¬
vor: Sendschreiben über Preisaufgaben S. 215, Briefe von Jenseits S. 17 ff.,
aus Gesprächen mit C. M, v. Weber S. 122 ff., Gespräche mit Felix Mendels¬
sohn S. 360; gut auch ist der Aufsatz über das Judenthum in der Musik S. S ff.
Dagegen kann man nicht übereinstimmen mit Anschauungen, wie sie sich finden in:
für die Oper mit gesprochenen Dialog S. 319, Entreakte im Schauspiel S. 382,
Franz Schuberts Erlkönig S. 390, am wenigsten mit dem Franz Liszt gewidmeten
Abschnitt S. 329, und mit vielen Wunderlichkeiten in Gedanken und Form, die den
Leser nicht von der Lektüre eines Buches abschrecken mögen, aus dem sich Vergnügen
und Belehrung schöpfen läßt. —
Dem auf philologischen Gebiete mit Recht geschätzten Verfasser auf einem Irr¬
wege zu betreffen,, ist uns leid. Aber wir können nur wünschen, daß er sich hüten
'möge, so leichte Waare ins Künftige zu veröffentlichen. Mit unendlicher und er¬
müdender Redseligkeit werden Stoffe behandelt, die an sich Interesse zu erregen
höchst geeignet sind, allerhand Notizenkram, Wichtiges und Unwichtiges wird nach
unerkennbaren Gesichtspunkten aneinandergereiht und aufgezählt; neben manchem
hübschen Einfall findet sich Triviales, Halbrichtiges und Unrichtiges in unerfreulichster
Fülle. Dazu ist die Darstellungsweise sehr ungleich, in manchen Abschnitten aber
salopp und ungefüge über alles Maß hinaus. Es entschuldigt nicht, wenn in der
Vorrede erwähnt wird, die Vorträge seien zum großen Theil gehalten, wie sie vor¬
liegen, frei im Konversationstöne gesprochen. In einer Zeit, wo so viele sogenannte
populäre Schriften gedruckt werden, die das Wort, daß für das Volk das Beste
gerade gut genug sei, bedenklich vernachlässigen, sollte sich ein tüchtiger Gelehrter
zweimal besinnen, ehe er drucken läßt, was ihm geträumt hat, während bonus
Homorus einmal schlief.
Mit Ur. "SO beginnt diese Zeitschrift ein neues Quartal,
welches durch alle Buchhandlungen und Dostämter zu be¬
ziehen ist.
Leipzig, im September 1869.Die Werlagshandlung»