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]]>Zeitschrift für Politik und Literatur.
28. Jahrgang.
I. Semester. II. Sand.
Leipzig,
Verlag von Friedrich Ludwig Herbig.
(Fr. Wilh. Grunow.)
18K9.
Es sind jetzt zwei Jahre, seit die Verfassung des norddeutschen Bundes
Grundlage für einen neuen Staat geworden ist. Wer auf die gehäufte
politische Arbeit dieses Zeitraums zurückblickt, der mag zu der Freude über
einen großen Fortschritt wohl auch Erstaunen über das Gewordene empfin¬
den und eine ernste Sorge darüber, was noch werden soll.
Vor Allem soll sich dankbar des Gewordenen freuen, wer den dreifarbigen
Wimpel des Bundes von den Raaen der Barkschiffe und Kriegsdampfer
wehen sieht, wer einen Brief zur Post sendet, eine Depesche befördert, wer
die kräftige Jugend Norddeutschlands unter Helm und Gewehr ihre große
Turnschule absolviren sieht, wer die Verheißungen und Hoffnungen erwägt,
welche sich an die Paragraphen der neuen Verfassung knüpfen, und wer er¬
kennt, wie im Verkehr der deutschen Staaten und Interessen überall neben
der alten Stagnation und localen Abgeschlossenheit eine neue, frische Strömung
erkennbar wird, welche lang Getrenntes trotz allem Widerstand zur Vereinigung
führen möchte.
Auch vieles Mißbehagen, das durch den Kampf zwischen Altem und Neuem
so häufig erregt wird, darf die patriotische Freude nicht stören. Es ist wahr,
das Ungeheuerliche dreier parlamentarischer Versammlungen: Landtag. Reichs¬
tag. Zollparlament erscheint zuweilen unerträglich, Neid und Intriguen aus¬
wärtiger Mächte und geheime Zweifel an der Dauer des Friedens, endlich
die Unzufriedenheit vieler Einzelnen, welche durch die Neubildungen irgendwie
in Gemüth oder Interessen verletzt wurden, das sind unholde Beigaben zu
unserm Gewinn. Aber wir waren darauf gefaßt. Es war auch vorauszu¬
sehen, daß die Verfassung des Bundes und die Organe, durch welche er in
Deutschland zu regieren hat. sich sehr bald als ungenügend erweisen würden;
gern haben wir auf den Zwang der Thatsachen vertraut, welcher allmälig
ergänzen und aus dem Bundeskanzleramt einen gegliederten Organismus
für Controle über die Theile und für sichere Herrschaft des Bundes schaffen
würde.
Endlich blieb in diesen Jahren auch eine andere Gefahr, welche dem Ge¬
deihen des Bundes drohte, nicht unbeachtet. Die Verfassung des Bundes,
Grundgesetz und Bundesgewalt, waren hervorgegangen aus flüchtigen Com-
promissen mit den persönlichen Neigungen des Bundesoberhauptes, mit dem
regierenden preußischen Beamtentum, mit der Souverainetät der Bundes¬
fürsten; die neue Schöpfung trug von vornherein einen durchaus persön¬
lichen Charakter und sah einem Gewände gleich, welches der Bundeskanzler
sich ganz nach individuellem Ermessen, nach Natur und Geschmack zugeschnitten
hatte. Nur er, wie er eben war in Talent und Charakter, mit allen Be¬
dingungen seiner Stellung, überlegen in den persönlichen Reibungen des Ho¬
fes, getragen durch die preußische Militairpartei und die Conservativen seines
Staates, zugleich preußischer Minister des Auswärtigen, gesteigert durch eine
neue Popularität, gab die Hoffnung, daß er in seiner Weise aus den schnell
zusammengefügten Bausteinen den neuen Staat errichten werde. Die Gesetz¬
gebung des Bundes hatte zunächst die Aufgabe, seine Diplomatie zu stützen,
durch die er, hier nachgebend, dort imponirend, auf Wegen, die er allein
übersehen konnte, Schritt für Schritt die Hindernisse beseitigen, das Unlogische
und Unfertige der Neubildungen zu energischer Consequenz umbilden sollte.
Die Voraussetzungen für seine in Wahrheit unerhörte Arbeit waren erstens,
daß er das vollständige Vertrauen seines Souverains behielt, zweitens, daß
eine immense Popularität und das hingebende und opferwillige Vertrauen
der Opposition ihn nicht verließ, und drittens, daß er selbst ein großer
Staatsmann war, das heißt, daß er genau wußte, was sein Bundesstaat
werden sollte, wie weit die Einheit durchgesetzt werden müsse, damit der
Staat lebensfähig und ein Glück für die Nation werde. — Ob die erste
und dritte dieser Annahmen dem wirklichen Sachverhältniß entsprechen, das
entzieht sich zur Zeit noch unserem Urtheil. Aber wohl dürfen wir behaup¬
ten, daß die nationale Opposition trotz kleiner Stöße im Ganzen durch diese
zwei Jahre dem Grafen Bismarck sich nicht versagt hat, wo er ihre Hülfe in
Anspruch zu nehmen für gut fand. Jetzt aber scheint uns die Sachlage so
geworden zu sein, daß die nationale Partei, ohne ein Mißtrauen gegen Per¬
sonen auszusprechen, doch sich selbst und der Nation durch ihr Verhalten klar
zu machen hat, was sie aus dem Bunde machen will, das heißt wieder, wie
weit bedarf gegenwärtig die Nation die Einheit, wie weit frommt ihr die
Selbstständigkeit der Theile?
Denn es scheint uns bereits etwas Anderes aus dem Bunde zu wer¬
den, als im Jahre 1867 die Meinung war, damals, wo die Verfassung ge¬
geben wurde. Leise und allmälig substituirt sich der Gesetzgebung durch
Bundesoberhaupt, Bundesrath und Reichstag ein diplomatisches Transigiren
zwischen den Bundesregierungen, die Rücksichtnahme auf Souverainetäts-
wünsche und Eigenwillen der Herrschenden erscheint zu groß, die Rücksichten
auf die Regierungen hemmen überall eine Durchführung der Verheißungen,
welche die Verfassung gemacht hat. Ungern und fast nur in militairischen
Sachen wird einmal der particularistische Widerstand gebrochen, die-Organe des
Bundes sind viel zu schwach, um eine Controle über Ausführung der Bundes¬
gesetze in den einzelnen Ländern auszuüben. Wahrscheinlich hat man im
Bundeskanzleramt und ganz sicher hat man bei den einzelnen Bundesregie¬
rungen nicht die Ansicht, daß der Bund zu rücksichtsvoll gegen das souve-
raine Interesse der einzelnen Bundesstaaten sei. eher das Gegentheil. Dennoch
wurde, wie uns scheint, der nationalen Partei gutes Recht, über zu große
Connivenz zu klagen.
Vielleicht ist ein Fehler in der Methode. Große Reformen, welche das
gesammte Staatsleben einer Nation umgestalten sollen, verlangen auch in
der Ausführung einen Schwung, eine unwiderstehliche Energie und eine be¬
geisterte' Mitwirkung der besten Kräfte einer Nation, welche hartnäckigen
Widerstand brechen. Die übermäßige Abnutzung der parlamentarischen Ma¬
schinerie in diesen Jahren, das stückweise wie zufällige Verleihen einzelner
Freiheiten haben uns gelähmt. Es ist eine vergebliche Hoffnung, durch die
schonende Behandlung der kleineren Regierungen die Abneigung ihrer Höfe
gegen den Bund zu besiegen. Im Gegentheil, ihnen erscheint dies Verfahren doch
als ein langsames Hinopfern, weit schmerzhafter und unerträglicher als schneller
Zwang, und sie sind auch für einzelne große Concessionen wenig dankbar.
Diese ziemlich allgemeine Mißstimmung der kleinen Landesherren gegen
die Bundesbehörde wird nicht nur durch die Finanznoth ihrer Territorien
gesteigert, noch mehr dadurch, daß sie ihre ersten Beamten im Bundesrath
bei der hohen Gesetzgebung thätig und einflußreich sehen und argwöhnisch
beobachten, wie diese alten getreuen Mitregenten ihres Landes, trotz stillen
Seufzern doch von dem neuen großartigen Wesen angezogen werden und
einen gewissen Bundeseifer bekommen, während sie selbst thatenlos und passiv
die Decrete des Bundes erwarten. Das ist jetzt freilich nicht zu ändern, es
war vor zwei Jahren dringend geboten die Maschinerie des Bundes so ein¬
fach als möglich zu machen. Aber es bleibt ein Uebelstand, daß unsere Für¬
sten nur mit ihrem schwächeren Theil, mit Egoismus und Furcht an der
Idee des Bundes betheiligt, und daß nicht sie, sondern ihre Beamten die
großen und thätigen Peers des Bundes geworden sind. Wen man con-
serviren will und muß, dem soll man auch Verhältnisse gönnen, welche ihn
stärker machen, aber nicht schwächer.
Wenn wir erst die Uebergangszeit und mit ihr das preußische Herren¬
haus überwunden haben, dann wird auch für die Bundesfürsten, als
Herren im Bundesrath eine persönliche Thätigkeit möglich und wünschens-
werth werden, ohne daß zwei Häuser des Reichstags geschaffen werden und
ohne daß der Hoheit unserer Herren zugemuthet wird in Gegenwart der
Reichstagsmitglieder zu debattiren.
Bis zur Zeit solcher Theilnahme aber wird ihr und ihrer Umgebung
Widerstand immer stärker und hartnäckiger werden, wenn nicht, was doch
geschehen muß, mit größerer Schnelligkeit, Sicherheit und Wucht durch¬
gesetzt wird.
Der Bund soll nur erhalten, aber völlig und ganz, was die Verfassung
des Jahres 1867 der Nation gewährleistete: einheitliches Bundesheer, in
welchem der Bundesfeldherr auch von dem gesammten Officiercorps als oberster
Kriegsherr betrachtet wird, einheitliche diplomatische Vertretung, so daß die
Gesandten der Bundesfürsten nur als Hausgesandte fungiren, Bundesfinanzen,
wirkliche Freizügigkeit, einheitliche Leitung und Gesetzgebung der allgemeinen
Verkehrsinteressen, mit der durch die Verfassung bereits garantirten aber bis
jetzt unausgeführten Controle und obersten Gesetzgebung für Eisenbahnen,
gleiche Civilgesetzgebung mit höchstem Bundesgerichtshof, und verwaltende
Ministerien des Bundes.
Bis soweit drängen die Bedürfnisse des Volkes zur Einheit, alles Uebrige,
Verwaltung und Landeseultur, Schule und Kirche sollen, das darf auch ein
Liberaler von Herzen wünschen, den einzelnen Territorien und der Landes¬
hoheit bewahrt bleiben. Auf diesen großen Gebieten ist für fmchtbarste
Thätigkeit und Wetteifer so viel Raum, daß wir den Fürsten nur den guten
Willen und die Kraft wünschen, um in Wahrheit nach diesen Richtungen
Regenten ihrer Erbländer zu werden. Bis jetzt hatten sie — mit wenig
Ausnahmen — doch nur den leeren Schein der Herrschaft, denn die klein¬
staatliche Beamtenhierarchie regiert ihre Fürsten und Landschaften.
Den kleineren deutschen Landesherren wird leichter sein in dem Bunde
zu dauern. wenn erst der Bund seinen Finanzminister und ein organisirtes
Steuersystem erhalten hat, welches die Härte der gegenwärtigen Contingen-
tirung von ihren Gebieten nimmt. Und bei mehreren von ihnen kann die
Fortdauer der Landeshoheit ihrem Gebiet und dem Bunde zu großem Segen sein.
Sollte aber ein deutsches Territorium je das Unglück haben, sein Fürsten¬
haus zu verlieren, und keine Neigung, sich dem preußischen Staate einzu¬
schließen, so vermag es, wenn unsere, zur Zeit noch großentheils auf dem
Papier stehende Bundesverfassung erst ins Leben getreten ist, allerdings auch
ohne Fürsten zu bestehen. Die Gnadensachen gehen an das Bundesober¬
haupt über, Verfassung und Localgesetzgebung treten unter Garantie des
Bundes. Die Regierung leitet ein von der Volksvertretung des Landes ge¬
wählter Oberpräsident, der die Beamten ernennt, für Aufrechthaltung der
Gesetze dem Lande verantwortlich ist und selbst beim Gerichtshof des Bundes
verklagt werden kann. Es wäre ein — vielleicht schwer wiegender — Ver¬
lust für Herz und Gemüth, in der Maschine der Verwaltung keine große Ver¬
änderung.
Geschichtsbilder aus der lutherischen Kirche Livlands vom I. 1845
an. Von Dr. Adolf v. Harleß (Leipzig bei Dunker und Humblot 1869.) 221 S.
In unserer von Parteigegensätzen zerrissenen Zeit geschieht es nur sehr
selten, daß die europäische Culturwelt sich auf die Gemeinsamkeit der letzten
Grundlagen ihrer Lebensgestaltung besinnt, und daß demgemäß alle sittlich
denkenden Menschen in einem gegebenen Falle dasselbe denken und wollen.
Die Regel ist, daß der eine Schatten sieht, wo der andere goldnes Licht zu
erblicken glaubt,'und daß geschärftes politisches oder religiöses Sonderbewußt¬
sein mit Vorliebe die Allgemeingiltigkeit der Sätze in Frage stellt, welche,
genau genommen, doch längst allgemeines Eigenthum geworden sind.
Zu den Postulaten der Vernunft und Sittlichkeit, die allen Zurechnungs-
sähigen unwandelbar feststehen, gehört die Freiheit des religiösen Bekennt¬
nisses. Grundsätzlich wird dieselbe — wenn wir von gewissen Fanatiker¬
kreisen Spaniens und Tirols absehen — nirgend mehr verneint. Keine Ver¬
letzung dieser geheiligten Errungenschaft des 18. Jahrhunderts wird begangen,
die nicht dem Verdammungsurtheil aller Gebildeten verfällt und die Wider¬
strebenden müssen zu Ausflüchten und Sophistereien ihre Zuflucht nehmen,
wenn sie vor der öffentlichen Meinung Europas möglich bleiben wollen.
In diesem Sinne läßt sich behaupten, daß das vorliegende Buch, obgleich
von einem protestantischen Geistlichen geschrieben, der mit seiner Partei-
farbe nicht zurückhält, überall das gleiche Interesse, die gleiche Beurtheilung
finden, werde, mag es von Katholiken oder Protestanten, Liberalen oder Con-
servativen, Strengkirchlichen oder Freidenkern zur Hand genommen werden.
Harleß' „Geschichtsbilder aus der lutherischen Kirche Livlands" bilden einen
Appell an das sittliche Bewußtsein Deutschlands und fordern die öffentliche
Meinung zu einem Bekenntniß dafür auf. daß Zustände, welche die Freiheit
des religiösen Bekenntnisses in Frage stellen, mit ihr unverträglich, von ihr
gerichtet sind.
Die politischen Zustände der deutschen Ostseeprovinzen Rußlands und
die Kämpfe, welche dieselben mit der nationalen russischen Demokratie zu be¬
stehen haben, sind wie in der gesammten deutschen Presse, so in diesen Blättern
wiederholt zur Sprache gebracht und erörtert worden. Obgleich das Harleß'sche
Buch auch aus sie eingeht und die nationale und politische Bedeutung des
baltischen Protestantismus ausführlich behandelt, sehen wir in unserem Be¬
richt von dieser Seite der Sache ab. Uns ist in erster Linie darum zu thun,
einen sittlichen Nothstand zur Sprache zu bringen, der als solcher Abhilfe
verlangt. Mag über das Herrenrecht des deutschen Elements an der Ostsee
noch so verschieden gedacht und geurtheilt werden, darüber müssen alle Ge¬
bildeten, mögen sie Deutsche oder Russen heißen, einig sein, daß Beeinträch¬
tigung der Glaubensfreiheit unter allen Umständen zu verdammen ist, daß es
kein politisches oder nationales Princip giebt, aus welchem ein auf die Ge¬
wissen geübter Druck gerechtfertigt oder auch nur entschuldigt werden kann.
Die vorliegende Schrift enthält eine ausführliche, getreue und durch eine
lange Reihe officieller Actenstücke beglaubigte Darstellung der Geschichte kirch¬
licher Intoleranz in Livland. Nach einem Eingang, der die baltischen Ver¬
hältnisse im Umriß schildert, geht der Verfasser zu jener Propaganda der
griechischen Geistlichkeit über, welche vor fünfundzwanzig Jahren Tausende
bethörter chemischer und keltischer Protestanten zum Abfall von der Religion
ihrer Väter und zum Uebertritt in die griechisch-orthodoxe Kirche bewegte.
Auf eine Kritik der zu diesem Behuf angewandten Mittel gehen wir ebenso'
wenig ein, wie auf den Nachweis, daß die Beeinträchtigung der lutherischen
Kirche Livlands und der Glaubensfreiheit ihrer Glieder eine directe Ver¬
letzung der zu Recht bestehenden Privilegien und Ordnungen dieses Landes ist.
Jene Conversionen sind eine Thatsache, auf welche auch die gebildeten Glie¬
der der griechischen Kirche und russischen Nation, wenn sie ehrlich sind, mit
Erröthen zurückblicken und die ein kaiserlicher Vertrauensmann, der Graf
Bobrinsky, in seinem an den Kaiser gerichteten Bericht vor wenigen Jahren
einen „officiellen Betrug" genannt hat. Ueber jene Conversionen ist jede
Diskussion ausgeschlossen — orientiren wir uns über die von ihnen herbei¬
geführten Zustände und die bisher zur Besserung derselben angewandten Mittel.
Ohne Rücksicht auf die entgegenstehenden Bestimmungen der 1710
mit Peter dem Großen vereinbarten livländischen Accordpunkte und des Ny-
städter Friedensvertrags vom Jahre 1721 gelten die für das russische Reich
erlassenen Bestimmungen über die griechisch-orthodoxe Kirche auch für die
lettischen und chemischen Konvertiten Livlands. Diese Verordnungen lassen
sich in folgende Punkte zusammenfassen: 1) Kein Glied der griechischen Kirche
darf aus derselben austreten, alle, auch die in gemischter Ehe erzeugten Kin¬
der, deren Väter oder Mütter griechische Christen sind, verfallen dieser Kirche.
2) Jede Verführung zum Abfall von dieser Kirche wird criminaliter und be¬
ziehungsweise mit Verbannung nach Sibirien bestraft, ebenso jede Ver¬
hinderung des Uebertritts zur griechischen Kirche. 3) Jeder pro¬
testantische Geistliche, der griechisch-russische Christen zu seiner Confession
aufnimmt, wird mit Amtsentsetzung gestraft, jede Zulassung zu lutherischen
Sacramenten oder zu Trauungen nach lutherischem Ritus mit Amtssuspension.
4) Nur die griechisch-orthodoxe Geistlichkeit hat das Recht, innerhalb der
Reichsgrenzen Andersgläubige zu ihrer Kirche zu bekehren. 5) Unbekannte
Personen dürfen von lutherischen Geistlichen zum Abendmahl nur zugelassen
werden, wenn sie einen Revers darüber unterzeichnen, daß sie nicht zur grie¬
chischen Kirche gehören.
Die oben erwähnten Conversionen hatten in den I. 184S—1848 statt¬
gefunden, jeder Widerstand war auf Grund der oben angeführten Gesetzes¬
bestimmungen gewaltsam niedergeschlagen worden. Aber schon wenig später
trat unter der Mehrzahl der Convertiten eine entschiedene und constant zu¬
nehmende Reaction gegen die arti-protestantische Bewegung ein. Der gegen¬
wärtig regierende Kaiser, damalige Thronfolger, hatte im I. 1846 den Erlaß
einer Vorschrift erwirkt, welche zur Vorbeugung leichtfertigen Religionswech¬
sels eine sechsmonatliche Frist vorschrieb, die vergehen sollte, bevor die
Uebertnttslustigen förmlich in die griechische Kirche aufgenommen würden. Da
die Converstonsbewegung von Hause aus den Charakter fieberhaften Taumels
und urtheilsloser Gier nach weltlichen Vortheilen getragen hatte, war bereits
diese Vorschrift von nachhaltiger Wirkung gewesen. Wichtiger noch war
es, daß die mit Land und Leuten unbekannte, der Nationalsprachen kaum
mächtige griechische Geistlichkeit nicht verstand, dem relativ gebildeten reli¬
giösen Bedürfniß der Letten und Ehlen zu entsprechen; der Mangel an Schulen
für die Kinder und brauchbarer religiöser Schriften für die Erwachsenen ge¬
nügte allein, Tausende nach kurzer Frist den voreilig gethanen Schritt
bereuen zu lassen. Wahrhaft entscheidend wurde aber erst das Verhalten,
das der griechische Clerus gegen einzelne Personen einschlug, die aus
ihrem abermaligen Gesinnungswechsel kein Hehl machten. Kaum war be¬
kannt geworden, daß griechische Geistliche Kinder, deren Eltern dieselben
der lutherischen Kirche erhalten wollten, zwangsweise getauft, hie und da
lutherisch gebliebene junge Leute als Convertiten reclamirt, in andern Fällen
die Landpolizei requirirt hatten, um säumige Communicanten zwangsweise,
ja unter Androhung von Ruthenstrafe „zur Erfüllung der christlichen Pflicht"
zu nöthigen, so wurde die Lauheit der Convertiten gegen ihre neue Kirche
in förmlichen Haß gegen diese und ihre Diener verwandelt. Die rasch er¬
bauten griechisch-orthodoxen Tempel blieben leer, während Tausende zur
griechischen Kirche gehörige Personen das verlassene lutherische Gotteshaus
eifriger denn je aufsuchten und ihren Abfall von der Kirche der Väter bitter¬
lich bereuten.
Zunächst begann ein förmlicher Kampf zwischen der griechischen Geist¬
lichkeit und dem Haupttheil ihrer ländlichen Gemeinden. Konnte der Kirchen¬
besuch auch nicht erzwungen werden, so bestanden doch Gesetze, welche den jähr¬
lichen Genuß der Sacramente. sowie die Taufe der von griechischen Männern
und Frauen erzeugten Kinder forderten, die Unterlassung mit schweren Strafen
bedrohten. Je strenger der Clerus mit diesen drohte, desto mehr steigerte
sich die Abneigung der Massen, deren passiver Widerstand bald nicht mehr
zu bewältigen war. Besonders böses Blut machte es. daß die griechischen
Priester immer wieder Personen als Convertiten reclamirten. die niemals
übergetreten zu sein behaupteten und daß diese Renitenten, welche unter
keinen Umständen zum griechischen Sacrament des Altars gingen (auch dieses
bedingt Zugehörigkeit zur griech. Kirche), dafür mit Ruthenhieben be¬
straft wurden. Das Schlimmste war die Einwirkung dieses kirchlichen Par-
teikawpfs auf die öffentliche Sittlichkeit. Da die in gemischten Ehen erzeugten
Kinder nach Vorschrift des Gesetzes der griechischen Kirche verfielen, uneheliche
Kinder aus gemischten Verbindungen (gemäß einer im I/ 1862 erlassenen
Bestimmung der livländischen Bauern>Verordnung) aber je nachdem der Vater
oder die Mutter sich ihrer annahmen, die Wahl der Confession frei hatten, so
nahmen die Concubinate gerade unter den ernst gesinnten und gewissenhaften
Leuten massenhaft zu.
So lange das strenge Regiment des Kaisers Nikolaus jede freiere Regung
niederhielt, beschränkte sich diese Bewegung unter dem keltisch-chemischen Land¬
volk auf relativ bescheidene Proportionen. Nach der Thronbesteigung Alexan¬
ders II. wurde sie förmlich organisirt und brach der Unmuth des Volks in
lichten Flammen aus. Die religiöse Knechtschaft, zu der man sich verurtheilt
sah, stand in directem Gegensatz zu dem größeren Maß der dem Bauern¬
stande gewordenen politischen Freiheit und wurde gerade jetzt, ihrer
ganzen Schwere nach empfunden*); überdies wußte man, daß der humane
neue Herrscher die verwerflichen Mittel, welche die Propagandisten von 1845
angewandt, entschieden mißbilligt, die ganze Bewegung ungern gesehen
hatte. Aus dem passiven Widerstände ging man zu energischem Handeln
über: Tausende von lettischen und chemischen Gliedern der griechischen Kirche
(namentlich die jüngeren Leute, welche nicht selbst übergetreten, sondern auf
Wunsch ihrer Eltern gefirmelt oder auch nachgeboren waren) begnügten sich
nicht mehr damit, die griechischen Gottesdienste zu meiden — sie erklärten
feierlich diese ihnen stets fremd gebliebene Kirche und deren Uebungen meiden
und zum Lutherthum zurückkehren zu wollen. Vergeblich waren alle Drohungen
der griechischen Priester, vergeblich die Weigerungen der lutherischen Pastoren,
welche darauf hinwiesen, daß die Zulassung griechischer Glaubensgenossen
zu lutherischen Altären mit Amtsentsetzung belegt sei. — die einmal in Fluß
gekommene Bewegung gehorchte nur noch ihren eigenen Gesetzen und wuchs
allen Theilen über den Kopf. Nicht nur die Prediger, alle Behörden, stän¬
dische und staatliche Autoritäten Livlands wurden von Bittstellern be¬
lagert, welche sie unter heißen Thränen und unter Berufung auf die Mah¬
nungen des eigenen Gewissens anflehten, ihnen die Rückkehr zur lutherischen
Kirche zu gestatten. Thatsächlich gehörten diese Unglücklichen gar keiner kirchli¬
chen Gemeinschaft mehr an: aus der griechischen Kirche waren sie ausgetreten,
zum Theil als Strafe für ihre Renitenz ausgeschlossen, vor der lutherischen
Kirchenthür aber stand das Ungeheuer eines drohenden, unerbittlichen Straf¬
gesetzes.
Am schwersten lastete dieser entsetzliche Zustand der Dinge auf der
lutherischen Geistlichkeit Livlands; namentlich das Verlangen der Convertiten
nach dem lutherischen Abendmahl wurde immer dringender und zahlreiche
Pastoren erklärten, da man Gott mehr gehorchen müsse, als den Menschen, auch
die Landesprivilegien nicht förmlich aufgehoben seien und Glaubensfreiheit zu¬
sicherten, sie selbst endlich nicht Lust hätten, bei ihren Gemeinden als Feiglinge
verachtet zu werden, würden sie ihre amtlichen Stellungen aufs Spiel setzen
und die armen kirchenlosen Letten und Ehlen zur Beichte und zum Abend¬
mahl zulassen; war es doch schon geschehen, daß dieselben sich heimlich an
die Altäre geschlichen und unter der Menge der Communicanten versteckt,
das Abendmahl (wie man es technisch nannte) „arripirt" hatten! Nur die
Hoffnung auf eine längst erwartete Concession der Regierung und ihres
humanen Oberhaupts hielt von diesem äußersten Schritt zurück.
Ganz unbegründet waren diese Hoffnungen nicht. Schon daß die liv-
ländischen Oberbehörden keinerlei höhere Instruction zu directem Vorgehen
gegen die rennenden Glieder der griechisch-orthodoxen Kirche erhalten hatten,
und daß die dem Generalgouvernement unterbreiteten Gesuche um Erlaubniß
zum Rücktritt in die lutherische Kirche ohne alle Beahndung geblieben waren,
ließ darauf schließen, daß man in Petersburg nicht geneigt sei, den Wider¬
stand des Volks durch terroristische Maßregeln zu brechen. Ueberdies boten
die humanen Anschauungen, die der Kaiser schon als Thronfolger bethätigt
hatte, eine Garantie dafür, daß die gesammte Angelegenheit an der ma߬
gebenden Stelle die gehörige Würdigung finden werde; auch der mit der
Oberleitung der kirchlichen Angelegenheiten betraute Minister des Innern,
damals Geheimrath Walujew, hatte für die Schwierigkeiten der kirchlichen
Lage in Livland Verständniß, da erlangein diesem Lande gelebt. Sogeschah
es. daß ein allgemein geachteter, durch seine Humanität und Unparteilichkeit
bekannter Ehrenmann, der oben erwähnte Graf Bobrinsky, beauftragt wurde,
sich an Ort und Stelle von dem Stande der Dinge zu überzeugen und
Sr. Majestät direct darüber zu berichten. Der Eindruck, den die Rundreise
des Grafen bei dem Landvolk machte, war ein ungeheurer und steigerte die
Erregung desselben auf den höchsten Grad; daß ein vornehmer Herr aus
Petersburg, ein Freund des Kaisers, ins Land gekommen war, um die Ge¬
suche in ihren Gewissen beängstigter armer Letten und Ehlen zu prüfen, daß er
ihr Verlangen, zur Kirche der Väter zurückzukehren, nicht mit dem Hinweis
auf die unerbittlichen Paragraphen des Strafgesetzbuchs beantwortet, sondern
in freundlicher Weise aä rskersnäum genommen hatte, erfüllte alle Welt und
namentlich diejenigen, die seit Jahren vergeblich an den Banden des rus¬
sischen Kirchengesetzes gerüttelt hatten, mit den frohesten Hoffnungen. In einen
wahren Taumel verwandelten diese Hoffnungen sich aber, als bekannt wurde,
daß der Graf allen Gegenbemühungen der griechisch-orthodoxen Geistlichkeit
zum Trotz, die Ueberzeugung gewonnen und freimüthig dem Kaiser bekannt
hatte, daß es sich nicht um Intriguen der lutherischen Pastoren, sondern
um einen sittlich-religiösen Nothstand handele, dem zu Gunsten der Ge¬
wissensfreiheit ein Ende gemacht werden müsse, weil der bisher geübte Ge¬
wissenszwang „mit der Ehre Rußlands und der Ehre der griechisch-orthodoxen
Kirche" unverträglich sei.
So groß und nachhaltig auch der Eindruck war, den das freimüthige
Wort des Grafen an entscheidender Stelle machte, zu einer Aufhebung
des Gesetzes, welches den Austritt aus der orthodoxen Kirche bei Strafe
verbot, konnte man sich dennoch nicht entschließen. Nicht nur, daß der Ge¬
danke an Gewissensfreiheit und Gleichberechtigung der Confesstonen in Ruß-
land überhaupt neu und selbst zur Zeit der Allmacht liberaler Ideen blos
schüchtern und vereinzelt ausgesprochen worden war — der Zeitpunkt, in
welchem diese Angelegenheit zum Austrag kam (Frühjahr 1865), erschien
einer Entscheidung im Sinne des Liberalismus besonders ungünstig. Das
durch den kaum beendigten polnisch-lithauischen Aufstand erregte National¬
gefühl des russischen Volks war empfindlicher und eifersüchtiger, denn je
früher, und selbst diejenigen Stimmen der Presse, welche sonst die Toleranz¬
ideen bevorwortet hatten, neigten jetzt zu der Meinung, daß eine so mächtige
Waffe der Rusfifictrung und der Bekämpfung polnischer und deutscher Ele¬
mente, wie es die Herrschaft der griechischen Kirche ist, zur Zeit nicht aus
den Händen gegeben werden dürfe; überdies stand die Feindschaft der ein¬
flußreichen moskauer Nationalpartei gegen die Provinzen an der Ostsee gerade
damals in vollster Blüthe. So entschloß die Regierung sich zu einer blos
theilweisen Concession: die Bestimmungen über die Unauflöslichkeit der Ver¬
bindung mit der griechischen Kirche blieben in Kraft, dafür aber wurde die
Confession der in gemischten Ehen erzeugten Kinder für alle drei Ostseeprovinzen
der Wahl der Eltern anheimgegeben — ein Schritt von immerhin großer
Tragweite, der einen der am schmerzlichsten empfundenen Uebelstände beseitigte.
Schon die Art und Weise, in der diese Maßregel zur Ausführung kam, ließ
aber durchsehen, wie schwer der Regierung der Entschluß gefallen war.
und wie lebhaft sie Unzufriedenheitsäußerungen der griechischen Geistlichkeit
und der russischen Nation besorgte. Es war bisher die Vorschrift in Kraft
gewesen, daß alle Brautleute, welche zum Theil der lutherischen, zum
Theil der griechischen Kirche angehörten, vor der Kopulation durch den russi¬
schen Priester (welche für die Gültigkeit der Eheschließung obligatorisch ist)
einen Revers unterzeichnen mußten, in welchem sie sich verpflichten, ihre etwaige
Nachkommenschaft nach griechisch-orthodoxen Ritus zu erziehen. Diese Re¬
verse wurden aufgehoben, aber nicht durch ein förmlich erlassenes und publi-
eirtes Gesetz, sondern durch eine dem Generalgouvernement und den Kirchen-
behörden der baltischen Provinzen im Namen des Kaisers confidentiell mit¬
getheilte Ordre des Ministers des Innern und mit Umgehung des Synods,
der griechischen Oberkirchenbehörde.
Wie groß der Eindruck war. den diese im April 186S erlassene Vor¬
schrift in Livland machte, kann nur ermessen, wer den jahrelangen Nothstand,
das vergebliche Harren auf die Wiederherstellung des alten Landesrechts, die
Calamitäten, welche jede gemischte Ehe im Gefolge hatte, als Augenzeuge
mit durchgemacht hat. Ein dankbarer Jubelruf tönte durch das ganze Land,
man glaubte sich am Vorabend eines Toleranzgesetzes und einer besseren
Zukunft. Aber diese Freude war von kurzer Dauer. Man wurde nicht
nur gewahr, daß die Regierung bis an die äußerste Grenze der ihr mög¬
lichen Concessionen gegangen zu sein glaubte, und daß die Verzweiflung der
in der griechischen Kirche gebliebenen Letten und Ehlen in dem Maß zunahm,
als die Eheschließungen mit Lutheranern erleichtert waren — es zeigte sich
bald auch, daß die griechische Geistlichkeit der neuen, nicht zum Gesetz er¬
hobenen Maßregel energischen passiven Widerstand entgegensetzte und unter
Ausflüchten aller Art die Copulation solcher gemischter Brautpaare verwei¬
gerte, welche von der ihnen zustehenden neuen Freiheit Gebrauch machen
wollten. Namentlich in den entfernteren, dem Auge der Provinzialobrigkeit
entrückten Gegenden blieb der seu-eng puo ante im Wesentlichen unverändert
fortbestehen, und dauerte es oft Wochen und Monate, ehe die rennenden
Priester zum Gehorsam gebracht werden konnten. Den zur griechischen Kirche
gehörigen Ehecandidaten, welche die Reverse nicht unterzeichneten, ließ sich leicht
nachweisen, daß sie überhaupt die Vorschriften ihrer Confessionen nicht streng
befolgten, und das war Grund genug, sie vom „Sacrament der Ehe" aus¬
zuschließen, oder ihnen dasselbe dauernd vorzuenthalten. Da die lutheri¬
schen Prediger diese Paare nicht trauen durften, dergleichen Trauungen auch
nicht giltig gewesen wären, so blieb das Concubinat nach wie vor das ein¬
zige Auskunftsmittel.
Bezüglich der ein Mal zur griechischen Kirche Uebergetretenen war gleichfalls
Alles beim Alten geblieben. Aber die Länge erschwert die Last —das Drängen
des Volks und der innere Conflict der lutherischen Geistlichen wurden immer
unerträglicher. Namentlich im chemischen Livland gab es Tausende und aber
Tausende zur griechischen Kirche verzeichneter Landleute, welche jede Gemein¬
schaft mit dieser Kirche mieden, blos lutherische Gottesdienste besuchten, das
Abendmahl entweder gar nicht genossen oder heimlich und unter falschen
Namen in der lutherischen Kirche „arripirten", ihre Kinder selbst tauften,
keine gesetzlich giltigen Ehen abschlossen und sich damit begnügten, vor dem
Gemeindegericht Gelöbnisse ehelicher Treue auszutauschen. Die einzelnen Pre¬
diger, welche es wagten, diese Leute als Lutheraner zu behandeln, wurden
bestraft, so daß ein allgemeiner Widerstand der lutherischen Geistlichkeit blos
dazu geführt hätte, alle Pfarren des Landes vacant zu machen.
Dieser entsetzliche Zustand der Dinge dauert noch gegenwärtig zum
Schaden der öffentlichen Sittlichkeit und zur Verzweiflung vieler Tausende
in ihren Gewissen beängstigter Layen und der lutherischen Geistlichen in Liv¬
land fort — ein Ende ist nicht abzusehen, da der Regierung durch das
Nationalvorurtheil wirklich oder scheinbar die Hände gebunden sind. Wohl
ist es unmöglich geworden, daß wie in früherer Zeit säumige Communicanten
Ruthenstrafe erhalten und Eltern, die ihre Kinder nicht zur Taufe bringen,
derselben gewaltsam beraubt werden — aber der herrschende Zustand ist
darum nicht minder unerträglich. Ein ganzes Geschlecht, das von jeder
kirchlichen Gemeinschaft ausgeschlossen und sich selbst überlassen ist, wächst
heran, ohne daß die protestantische Bevölkerung des Landes ihm die Hand
reichen kann. Tausende halbgebildeter Menschen sind lediglich sich selbst und
ihrem sittlichen Jnstinct überlassen.
Das Buch, welches zu dieser Darstellung Veranlassung bot, giebt von
den Einzelheiten des Kampfes, welchen die lutherische Kirche Livlands ge¬
führt hat und noch führt, ausführlichen, treuen und mit Ackerstücken belegten
Bericht. Es schildert im Einzelnen, wie elend das Geschick derer gewesen
und geworden, die unter dem Joch eines unerbittlichen Gesetzes stehend, an
dem ursprünglichsten und ersten aller Menschenrechte verkürzt sind; besonders
ergreifend sind die Berichte und Schilderungen, welche von einfachen Bauern
herrühren und in großer Anzahl vorhanden sind.
Dem deutschen Publicum gegenüber wird es einer weiteren Empfehlung
des Harleß'schen Buchs nicht bedürfen. Das Wort des großen Königs, „daß
Jeder nach seiner Facon selig werden müsse und daß der Fiscal blos darauf
sein Auge zu haben brauche, daß keine Religion der andern Abbruch thue",
ist in Deutschland so vollständig zur Wahrheit geworden, daß wir uns von
diesem Zustande der Gebundenheit menschlicher Gewissen kaum mehr eine
Vorstellung machen können.
Es fehlt auch in Rußland keineswegs an Stimmen, welche Freiheit des
religiösen Bekenntnisses fordern, aber sie sind vereinzelt und durch die Rück¬
sicht auf das herrschende Vorurtheil gebunden. Nicht nur die Regierung hat
von ihrem Bedauern über den in Livland herrschenden Zustand wiederholt
Zeugniß abgelegt, verschiedene Publicisten der nationalen Partei (unter
ihnen namentlich der Führer der Slawophilen, Iwan Aksakow) haben
trotz ihrem eigenen fanatischen Eifer für die griechische Kirche und deren
Propaganda nicht umhin gekonnt, den gegenwärtigen Zustand der Ge¬
bundenheit der griechischen Confessionsgenossen als unerträglich und un¬
würdig zu bezeichnen und im Namen der Würde ihrer Kirche freie Bahn
zu verlangen. In ähnlichem Sinne hat sich schon vor 10 Jahren ein russi¬
scher Jurist Philipow in seiner Kritik des russischen Civilrechts öffentlich aus¬
gesprochen.
Diesen Stimmen und zugleich der Stimme des Zeitgeists Gehör zu
schaffen, ist eine Pflicht der gesammten Culturwelt, ganz besonders aber der
deutsch-protestantischen. Wie wir die Dinge ansehen, ist die kirchlich-religiöse
Frage von der politischen Frage nach der Zukunft des deutschen Elements
an der Ostsee zunächst zu trennen, wenn wirkliche Erfolge erzielt werden
sollen. Wo nicht politische Rücksichten ins Spiel kommen, ist man in Ru߬
land für die öffentliche Meinung Europas sehr viel zugänglicher, ja em¬
pfindlicher, als gewöhnlich geglaubt wird. Kundgebungen, welche die Ge¬
wissensfreiheit im Namen der Cultur und des Zeitgeistes fordern und den
gegenwärtigen Zustand als mit der Bildung unserer Zeit unverträglich ver-
urtheilen, würde eine gewisse Rücksicht sicher nicht versagt bleiben, zumal es
an ihnen bis jetzt vollständig gefehlt hat 'und die in Rede stehenden That¬
sachen einem großen Theil Rußlands ebensowenig genau bekannt sein dürf¬
ten, als dem außerrussischen Europa. — Möchte es an Kundgebungen
dieser Art nicht ganz fehlen. Dem Harleß'schen Buch aber bleibt das große
und unbestreitbare Verdienst in dieser Beziehung die Initiative ergriffen
zu haben. — Es geschieht in unserer Zeit nicht oft, daß ein hochgestell¬
ter Geistlicher im Namen der gesammten Nation reden darf. Für das kräftige
Wort aber, mit welchem Harleß am Schluß seines Werkes jedes Staats-
kirchenthum verurtheilt, das sich zum gefügigen Werkzeug staatlicher Zwecke
macht und dem Wesen des Christenthums zuwiderlaufende Ziele verfolgt —
für dieses Wort glauben wir die Zustimmung Aller in Anspruch nehmen
zu dürfen, welche in dem Vaterlande der geistigen Freiheit ein Bürger¬
recht besitzen.
Die norddeutsche Bundesverfassung war zu sehr auf die Lösung der nächst¬
liegenden Aufgabe gerichtet, die chaotisch zerrütteten politischen Verhältnisse
zu ordnen, als daß ihre Schöpfer darauf hätten bedacht sein können, über
diese hinaus zugleich das Verhältniß von Staat und Kirche zu regeln. Ob
es gelingen wird, die Verfassung auch in dieser Beziehung auszubauen, muß
die Zukunft lehren. Wie nothwendig es wäre, wenigstens in einzelnen Be¬
ziehungen des Staats zur Kirche einheitliche Normen für das Bundesgebiet
zu schaffen, zeigt ein Erlaß des mecklenburgischen Oberkirchenraths vom 7.
December v. I. über die Civilehe, der, zuerst in der Allg. co. tuts. Kirchen-
zettung veröffentlicht, jetzt die Runde durch die politischen Zeitungen macht
und gerechtes Aufsehen in den Kreisen ihrer Leser hervorruft. Wir halten den
Gegenstand für wichtig genug, um ihn in diesen Blättern zu erwähnen
und als ein Denkmal der Verirrung geistlicher Intoleranz zu kennzeichnen,
das seines Gleichen suchen dürfte in deutschen, zumal protestantischen Landen.
Mecklenburg, dessen orthodoxes Kirchenregiment seit den Zeiten der
Baumgarten'schen Affaire zu einer zweifelhaften Berühmtheit weit über die
Grenzen des Großherzogthums hinaus gelangte, kennt die Civilehe nicht.
Es hält fest an dem Erforderniß kirchlicher Eingehung der Ehe und fordert
neben der Consenserklärung das Zusammengehen durch den Geistlichen nach
vorgängigen Aufgebot. Unter dem 21. October 1811 erging in Anlaß der
in den angrenzenden damals französischen Provinzen eingeführten Civilehe aus
dem herzoglichen Cabinet an die Superintendenten eine Resolution des In¬
halts, daß für die im Lande zu schließenden Ehen die kirchliche Form bei¬
zubehalten und von den im Ausland bürgerlich getrauten Paaren, falls sie
sich in Meckenburg als Eheleute niederlassen wollten, die Nachholung der
kirchlichen Trauung zu fordern sei. Nach der Franzosenzeit scheint die Frage
über die Gesetzmäßigkeit civiler Eheschließungen in Mecklenburg lange Zeit
hindurch nicht aufgeworfen zu sein. Mit den Grundrechten wurde die Civil¬
ehe auch in Mecklenburg eingeführt, aber mit diesen und dem Staats¬
grundgesetz alsbald wieder aufgehoben. Von praktischer Wichtigkeit wurde
die Frage erst wieder, seit, wie der Oberkirchenrath sagt, „in Folge der
aus bekannten Veranlassungen eingetretenen größeren Beweglichkeit der deut¬
schen Bevölkerungen" (d. h. auf deutsch: seit Einführung der Freizügigkeit)
„es jetzt öfter vorkommt, daß Leute, die blos eiviliter copultrt sind, sich
dauernd in hiesigen Landen aufhalten und dann in irgend welcher Beziehung
den Dienst des evangelisch-lutherischen Predigtamts begehren." Der Civilehe
die Wirkungen einer giltigen Ehe abzusprechen, wie es 1811 versucht wurde,
wagt der Oberkirchenrath zwar nicht, vielmehr meint er. im Allgemeinen
sei festzuhalten, daß die evangelisch-lutherische Kirche nicht werde anstehen
können, solche durch bloße Civilcopulation geschlossene Ehen, wenn sie in
Landen, in welchen die Civilehe gesetzlich eingeführt ist, in den dort gesetzlich
verordneten Formen geschlossen sind, als wirkliche Ehen und die aus solchen
Ehen geborenen Kinder als ehelich geboren anzuerkennen. Aber er fügt hinzu,
daß die Kirche solche Ehen auch nur als Ehen im bürgerlichen Sinne, als
bürgerliche Ehen werde anerkennen können und dürfen, und nicht als christ¬
liche und kirchliche Ehen, weil sie mindestens unter Verachtung des Segens
Gottes und des denselben darreichenden Dienstes der Kirche, ja vielleicht
unter Verhältnissen eingegangen seien, welche vom kirchlichen Gesichtspunkte aus
als Ehehindernisse würden gegolten haben, und daß die Kirche die in solchen
unchristlichen Ehen lebenden Personen werde als solche ansehen und behandeln
müssen, welche, wenn sie auch ihrer Herkunft nach der evangelisch-lutherischen
Kirche angehören, doch als Verächter des göttlichen Worts und Segens diese
Gemeinschaft gelockert, ihr Verhältniß zur christlichen Gemeinde verrückt und
das dem entsprechende Verfahren provocirt haben. Und welches wird dieses
Verfahren der Kirche gegen solche Sünder sein? Die der evangelisch-luthe¬
rischen Kirche nicht Angehörtgen, als Katholiken, Juden und „Freigemeind-
ler". sollen die Prediger ihrem Verderben überlassen und sich nicht um sie
kümmern. Wenn aber den Pastoren in ihren Parochien in Civilehen lebende
Personen vorkommen, die nach ihren Antecedentien der evangelisch-luthe¬
rischen Kirche angehören, sollen sie von dem Zeitpunkte an. da diese
Personen und ihre Verhältnisse ihnen bekannt werden, denselben den
ganzen Ernst ihrer seelsorgerischen Bemühung zuwenden, so daß sie die-
selben wiederholt und eindringlich belehren, welche gründliche Verachtung
des Wortes und Segens Gottes in solcher Eheschließung liege, wie schwer
sie demnach sich versündigt und ihr Gewissen beladen hätten, wie dadurch
ihr ganzes Eheleben zu einem fortgesetzten sündlichen Verhältnisse geworden
sei, wie sie dadurch ihren Christenstand verletzt, ihr Verhältniß zur christlichen
Gemeinde und Kirche gestört hätten, und wie sie daher würden darauf be¬
dacht sein müssen, ihrem Gewissen und ihrem Christenstande womöglich durch
Nachholung der christlichen Trauung zu helfen. Stehen aber dieser kirch¬
lichen Ehe Hindernisse, wegen deren sie unterbleiben muß, entgegen, oder aber,
wenn blos civiliter copulirte Eheleute durch den seelsorgerischen Zuspruch gleich¬
wohl nicht zur Einsicht gebührt, und nicht des Wunsches werden, die christ¬
liche Einsegnung ihres Verhältnisses nachzuholen, so soll mit solchen hals¬
starrigen Sündern keine christliche Gemeinschaft ferner gehalten, also z. B.
für eine Wöchnerin oder Kirchgänger«, die in Civilehe lebt, sowie für eine
Geburt aus einer Civilehe nicht, wie sonst üblich, im Kirchengebete gebetet
und gedankt werden. Und da derjenige, der sich mit der Civilcopulation be¬
gnügt, damit thatsächlich kundgibt, daß er Gottes Wort und Segen ver¬
achtet, mithin sein Leben in der Civilehe als ein fortgesetztes Leben in sünd¬
lichen Zustande anzusehen ist, sollen die Pastoren solche Leute, so lange sie
in bloßer Civilehe leben, wenn sie sich bei ihnen zum Abendmahl melden,
oder wenn sie ihnen als Taufzeugen gestellt werden sollten, dazu nicht zu¬
lassen. Und sollten solche Leute, während sie in bloßer Civilehe leben, ver¬
sterben, so sollen die Pastoren ihren Leichen — denen der Oberkirchenrath
merkwürdigerweise das Begräbniß am „ehrlichen Platz" der Kirchhöfe aus¬
drücklich verstattet — die kirchliche Bestattung versagen, auch nicht das sonst
übliche Dankgebet für ihr Abscheiden darbringen (—- also doch auch wohl
keine Gebühren erheben? —), es sei denn, daß ein in Civilehe Leben¬
der in sxtrsmis den Pastor rufen ließe und sich dann auch wegen seiner
Civilehe derartig in Buße und Glauben erklärte, daß der Pastor ihn in arti-
oulo mortis absolviren und communiciren müßte. Ueber solche Ausnahme¬
fälle soll aber der Pastor die Gemeinde in geeigneter Weise aufklären, gleich¬
wie ihm zur Pflicht gemacht wird, sobald Civilehepaare in seiner Parochie
sich „eingefunden haben", im Hinblick auf die übrige Gemeinde dieselbe in
der Predigt und sonst über den Unterschied der Civilcopulation von der
christlichen Ehe und Eheschließung zu belehren und den civiliter Copulirten
bei jeder Gelegenheit darzuthun, daß sie sich selbst der Berechtigungen und
Wohlthaten christlicher Gemeindeglieder beraubt haben, und sie seelsorgerlich
und beweglich über die schlimme Lage zu unterrichten, in welche sie sich
gegenüber Gott und seiner Kirche zu ihrem zeitlichen und ewigen Schaden
gebracht haben.
Diese Proben werden den Lesern der Grenzboten genügen, sich mit den
Tendenzen des mecklenburgischen Oberkirchenraths vertraut zu machen. Zur
Kritik derselben haben wir nichts weiter hinzuzufügen, als die Frage, ob es
den Pastoren wohl gelingen wird, ihre Gemeinden, deren Mitglieder jetzt über
die oberkirchenräthliche Bulle die Köpfe schütteln, und die bürgerlich getrauten
Fremden zu überzeugen, daß Jemand dadurch, weil er in der in seiner Hei¬
math gesetzlich erlaubten Weise eine Ehe geschlossen, sein zeitliches und ewiges
Heil verscherzte? Mögen immerhin die Kirchenrechtslehrer behaupten, daß der
Staat, den allgemeinen Principien kirchlicher Gesetzgebung gemäß. die Kirche
nicht zwingen könne, ausschließlich civil eingegangene eheliche Verhältnisse
auch ihrerseits als Ehen gelten zu lassen, so fügt doch z. B. selbst der un¬
bestrittenermaßen orthodoxe Rostocker Professor und Oberconsistorialrath Mejer
in seinen Institutionen des Kirchenrechts hinzu, daß die Kirche sich selbst zu
solcher Anerkennung veranlaßt finden könne. Wenn sie also principiell gegen
diese Anerkennung der Civilehe nichts einzuwenden hat, warum will dann
die Kirche dieselbe gleichwohl versagen in einer Zeit, die wahrlich höhere
Ziele verfolgen sollte, als den Conflict zwischen kirchlicher und staatlicher Ge¬
walt in unerquicklicher Weise zu schärfen? Oder will der Oberkirchenrath sich
darauf berufen, daß die Civilehe in Mecklenburg auch von der Staatsgewalt
nicht anerkannt ist? Dann vergißt er. daß die staatlichen Institutionen
anderer norddeutscher Bundesstaaten auch in Mecklenburg anerkannt und zwar
unbedingt anerkannt werden müssen, seit Mecklenburg diesem Bunde an¬
gehört.
Dem Bund steht keine Gesetzgebungsgewalt über das hier zur Frage
stehende Gebiet zu. Aber wünschenswerth wäre es, wenn seine Competenz
je eher je lieber auf verfassungsmäßigen Wege dahin erweitert würde, daß
er Anomalien, wie der in dem Erlaß des Oberkirchenraths ausgesproche¬
nen, ein Ende zu machen im Stande wäre. Kann ein aus einem andern
Bundesstaat nach Mecklenburg ziehendes Ehepaar sich dort heimisch fühlen,
wie es doch im ganzen Bundesgebiet der Fall sein sollte, wenn es wegen
seiner in der engeren Heimath unter staatlicher Autorität und Anerkennung
eingegangenen Lebensverbindung als Sünderpaar öffentlich gebrandmarkt
werden darf?
Es gibt noch viel Schutt und Moder hinwegzuräumen im norddeutschen
Bundesgebiete. Aber, wer wie der mecklenburgische Oberkirchenrath diesen
Schutt absichtlich aufrüttelt und durch seine Staubwolken das Ideal des
freien deutschen Einheitsstaates zu verdunkeln gedenkt, der wird bald inne
werden, daß er dadurch nur die Augen der Bundesorgane auf solche noch
vorhandene Schutt- und Moderplätze lenkt. Und werden diese von den
Wächtern der Bundesverfassung einmal ernstlich ins Auge gefaßt, so werden
sich auch Mittel und Wege finden sie zu beseitigen. Daß die Civilehe über
kurz oder lang im ganzen Bundesgebiete werde eingeführt werden, sei es
als Nothehe, facultative oder obligatorische Civilehe, daran zweifeln wir
nicht, und vielleicht hat der mecklenburgische Oberkirchenrath sich gerade durch
seinen Erlaß vom 7. December 1868 das unfreiwillige Verdienst erworben,
eine solche Reform zu beschleunigen.
Principien der Politik von Prof. v. Holtzendorff. Berlin 186? bei Charisius.
Das in der Ueberschrift erwähnte neueste Werk Holtzendorff's ist ge¬
wissermaßen ein Ergebniß der politischen Umwälzungen des Jahres 1866 zu
nennen. Weniger als ein ungefähr gleichzeitig erschienenes Werk verwandten
Inhalts übt es eine unmittelbare Kritik unserer jüngsten Vergangenheit und
der in ihr hervorgetretenen Gegensätze, aber gleichwohl ist es mit derselben
innig verknüpft. Nicht in dem Sinn, als ob die theoretischen Schlußfolge¬
rungen des Verfassers aus dem Verlauf der Begebenheiten hervorgewachsen,
unmittelbare Producte derselben darstellten, — die ganze Anlage des Werks
ist von größerem wissenschaftlichen Wurf und unverkennbar die Frucht einer
selbständigen und lange gereiften Gedankenarbeit. Aber den äußeren An¬
stoß zum Abschluß derselben vermuthen wir in der Rückwirkung der That¬
sachen, welche die Geschichte der letzten Jahre zu verzeichnen hatte. Dafür
spricht nicht allein die stete Bezugnahme auf dieselben, sondern die einfache
Erfahrung, daß der Schriftsteller sein privates Interesse an einem Gegenstand
in demselben Maße gesteigert fühlt, als sich die öffentliche Theilnahme dem¬
selben zuwendet.
„Principien der Politik" — wie lange ist es, daß man überhaupt von
einer Politik in Deutschland als von einer bestimmbaren Größe reden kann?
Lassen wir die Kleinstaaten außer Erwägung, sehen wir auf Preußen Als
den Träger der staatlichen Entwickelung Deutschlands, so konnte gerade
von diesem Staat vor noch nicht allzulanger Zeit das Wort eines östreichi¬
schen Staatsmannes als begründet gelten: die preußische Politik leide vor
allen Dingen an dem einen Fehler, daß sie gar keine Politik sei. Seit jener
Zeit, seit den Tagen von Warschau und Olmütz hat sie sich wenigstens mit
einem Inhalt, wenn auch — nach der Sprechweise der Partikularisten —
mit einem „unsittlichen" erfüllt, sie hat sich mit Fleisch und Bein bekleidet
und der Gedankenrichiung der Nation ein Programm entworfen, welches
diese vielleicht ändern und umarbeiten, aber nicht mehr aus ihrer Entwicke¬
lungsgeschichte ausstreichen kann.
Freilich gerade die neueste Wendung der Geschicke des preußischen Staa¬
tes scheint wenigstens in einer Hinsicht nicht ermuthigend für den Versuch
einer Begründung der Politik als Wissenschaft wirken zu können. Ge¬
tragen von der machtvollen Individualität einer einzelnen Persönlichkeit
scheint sie der Meinung derjenigen Recht zu geben, welche, wie z. B. Bluntschli,
die Ansicht aufstellen, die Politik sei „mehr Kunst als Wissenschaft", oder
behaupten, die Politik könne nur als Staatskunst genommen werden, es
gebe gar keine Wissenschaft der Politik. Diese Vorfrage ist natürlich für ein
wissenschaftliches Handbuch der Politik entscheidend. Holtzendorf widmet ihr
eine ziemlich eingehende Erörterung. Er erinnert daran, daß jede Wissen¬
schaft, sobald es der Darstellung ihrer Wahrheiten im Leben gilt, zur Kunst
wird. Andererseits findet jede Kunst, soweit sie diesen Namen verdient,
Grundsätze und innerlich zusammenhängende, wissenschaftlich geordnete Erfah¬
rungen vor, deren sich die künstlerisch schaffenden Personen nicht entschlagen
können. Wenn man behauptet, die Staatshandlungen seien unbedingt nur
auf persönliche Anlage des Politikers zurückzuführen, so sagt man damit
nichts Anderes, als daß Akustik für den Musiker. Optik für den Maler gleich¬
gültige Dinge seien.
Wenn dies zuzugeben ist, so ist andererseits natürlich nicht der An¬
spruch zu erheben, daß die Politik als Wissenschaft die unendliche Mannig¬
faltigkeit der Fälle, die für den Staatsmann von entscheidender Bedeutung
sein können, zu übersehen und zu erschöpfen im Stande sei. Wie man in
der Rechtswissenschaft von dem vergeblichen Streben zurückgekommen ist, alle
Vorkommnisse des Lebens mit gesetzgeberischer Voraussicht erschöpfen zu
wollen, so hat das Gleiche von der politischen Theorie zu gelten.
Nicht ohne Interesse ist das Charakterbild, welches der Verfasser in dem
zweiten Capitel seines Werkes: „Die Politik als Staatskunst" von dem
Staatsmann in „großem Styl" entwirft. Er sagt: „Die Merkmale einer zur
politischen Handlung in größerem Maßstabe angelegten Persönlichkeit treten
in mehreren Punkten hervor; zumeist darin, daß deren Charakter anscheinend
entgegenstehende Eigenschaften mit einander verbinden und gleichzeitig in sich
enthalten muß: die Festigkeit in der Entschließung und die Beweglichkeit
in der Ausführung des Beschlossenen. Vermöge jener ersten Eigenschaft
wird es möglich, das als richtig Erkannte inmitten der Schwankungen An-
derer festzuhalten, den unausbleiblichen Widerspruch der Zweifelnden und
Unentschiedenen zu ertragen, denjenigen zu widerstehen, welche am liebsten
Alles gehen lassen möchten, weil sie eine persönliche Verantwortlichkeit für
mißlungene Unternehmungen scheuen und, weil sie Alles bedenklich finden,
im Streit der Meinungen grundsätzlich die Passivität als das vortheilhafteste
Verhalten zu empfehlen pflegen. Andererseits bedarf es für das Gelingen
tief durchdachter Pläne jener Dehnbarkeit des Willens, welche sich jeder ver¬
änderten Thatsache anpaßt, selbst die nicht vorausgesehenen Umstände, sobald
sie eintreten in den Zusammenhang der Dinge, je nach ihrem störenden oder
förderlichen Einfluß sofort einreiht. Nur so ist denkbar, daß der Wille wäh¬
rend der^ Ausführung einer hinreichend erwogenen Maßregel den Thatsachen
überall adäquat bleibt. Kühnheit und Vorsicht, Schlagfertigkeit und Zau¬
dern, Offenheit und Verschwiegenheit. Zurückhaltung und Entgegenkommen,
zu Allem muß die Anlage und die Festigkeit vorhanden und gebildet sein —
was freilich nur durch die Mannigfaltigkeit des Lebens selbst erreichbar ist.
Der Unerfahrenheit kann das gelegentliche Hervortreten verschiedener
Eigenschaften in dem Verhalten eines Staatsmannes räthselhaft oder unbe¬
greiflich erscheinen. Jener anscheinende Widerspruch ist gleichsam der Wider¬
schein einer höheren Einheit des staatsmännischen Charakters in seinem Ver¬
hältniß zu den Thatsachen, von denen er sich abhängig weiß. Die historische
Kritik hat nicht nur die Erfolge eines Staatsmannes, soweit sie ihm zuge¬
rechnet werden können, sondern ebensosehr die Hindernisse abzuschätzen, die er
zu überwinden hatte.
Fast dürfte man sagen: „Die Größe der persönlichen Kräfte im Staats¬
manne bewähre sich vorzugsweise in der Sprödigkeit des ihnen entgegen¬
stehenden Materials. Männer wie Cavour erscheinen dadurch bewunderns¬
würdig, daß sie bald die legitimistischen und bigotten Scrupel eines Macht¬
habers, bald die revolutionairen Erregungen der Volksmasse zu einem
Ziel zu lenken verstehen. Für solche höchste Thaten der Staatskunst kann
es selbstverständlich keine Theorie geben, weil sie in der Geschichte als gleich¬
sam vereinsamte Ereignisse hervortreten." — Eine Charakteristik staatsmänni¬
scher Begabung, die zu solchem Schluß gelangt, wird die politische Theorie
jedenfalls von dem Verdacht etwaiger anmaßlicher Ueberhebung befreien. Es
ist von vornherein die Annahme auszuschließen, daß eine Untersuchung über
das Wesen der Politik gleichsam einen Leitfaden für Staatsmänner oder
solche, die es werden wollen, abzugeben bezwecke, obgleich es andererseits
das Wesen der Sache verkennen hieße, wenn man die Behauptung aufstellen
wollte, daß die theoretische Politik für den Staatsmann keinen Werth haben
könne. Politik als Staatskunst ist erfolgreiche, dem Staatszweck ent¬
sprechende Staatshandlung. Schon hieraus ergibt sich, daß, wie hoch man
die persönliche staatsmännische Begabung in dem oben entwickelten Sinne
auch anschlagen mag, zur Vollendung derselben die klare Erfassung des
Staatszweckes unbedingt nothwendig ist. Gerade in diesem Punkt ist in dem
ausgesprochensten Maße eine Verbindung der theoretischen mit der prakti¬
schen Politik gegeben, denn auch für den Inhalt der ersteren ist die Dar¬
stellung der Staatszwecke eine unumgänglich zu beantwortende Vorfrage,
Die Anwendbarkeit der politischen Theorie auf specielle Objecte ist erst zu
entscheiden nach Festsetzung der Staatszwecke. Handlung für den Staat und
seine Zwecke ist die oberste Vorstellung, von welcher in der Politik ausge¬
gangen werden muß.
Es ist ein Verdienst des vorliegenden Werkes, daß es diesen Punkt, wie
uns dünkt, schärfer ins Auge gefaßt hat, wie es in früheren Untersuchungen
geschehen ist. Nach Mohl z. B. bedeutet die Politik „die Wissenschaft von
den Mitteln, durch welche die Zwecke der Staaten so vollständig als mög¬
lich in der Wirklichkeit erreicht werden". Nach Bluntschli und einigen ver¬
wandten Forschern bedeutet Politik die Theorie des staatlichen Lebens und
seiner Veränderungen, im Gegensatz zur Rechtswissenschaft als der Theorie
der staatlichen Zustände. H. vindicirt von seinem Standpunkt aus der Po¬
litik zum Object und Inhalt: den richtigen Gebrauch und die Wirkungen
der außerhalb der Rechtspflege zur Erfüllung der Staatszwecke thatsächlich
verfügbaren Mittel. Nicht das Vorhandensein an sich, sondern der Gebrauch
und die Wirkungen der für die Durchführung der Staatszwecke verfügbaren
Mittel soll demnach das Entscheidende sein. — Der reiche, ein weites Gebiet
der Untersuchung umspannende Inhalt des vorliegenden Werkes, den auch
nur im Umriß wiederzugeben der Umfang dieser Besprechung nicht gestattet,
zwingt uns eine einzelne Materie aus dem streng gegliederten Ganzen los¬
zulösen. Wir wollen daher in Nachfolgendem nur versuchen, den Gedanken¬
gang des Verfassers über die Staatszwecke wiederzugeben.
Die Untersuchung über das Verhältniß des positiven Rechts zur Politik
führt zu dem Resultat, daß in dem jeweilig gegebenen positiven Recht nur
das formelle, nicht aber das materielle Princip der Regierungsthätigkeit er-
schöpfend niedergelegt sein kann. Hierdurch entsteht die Frage nach dem sitt-
lichen Princip der Politik, mit anderen Worten: welche Gründe sollen
außerhalb des positiven Gesetzes und über dasselbe hinaus die Thätigkeit der
Staatsgewalt und ihrer Organe bestimmen? Den bisherigen Auffassungen
der praktischen Politik in ihrem Verhältniß zum Sittengesetz liegen meisten-
theils zwei Irrthümer zu Grunde: eine falsche Begriffsbestimmung der Politik
und eine irrige Anwendung der Privatmoral auf die staatlichen Dinge. So
lange dem alten Regierungssystem gemäß Politik nur als die Kunst erschien,
einseitig materielle Machtvortheile der Regierung zu erlangen, so lange mußte
natürlich die gewissenhafte Beobachtung staatlicher Pflichten als unvereinbar
mit dem Princip der Souverainetät erachtet werden. Eine veränderte Begriffs¬
bestimmung der Politik ward erst möglich, als die geschichtliche Erfahrung
unwiderstehlich darthat, daß Corruption das nothwendige Ergebniß einer Po¬
litik sein muß, die ohne Anerkennung sittlicher Grundsätze den Eigennutz der
Regierenden auf ihre Fahne schreibt. Der zweite Irrthum wurzelte in der
Ansicht, daß von einer moralischen Qualität der Politik nur dann gesprochen
werden könne, wenn dieselbe einfach mit den Grundsätzen der Privatmoral,
deren thatsächliche Voraussetzung die Lebenssphäre der einzelnen Personen
bildet, übereinstimme. Mit diesem Maßstab ist nun freilich nicht durchzu¬
kommen, weil im Staat ein besonderes Object der Anwendung für die Mo-
ralidee gegeben ist. Dies lehrt schon ein einfacher Blick auf das Selbster¬
haltungsrecht des Staates. Dem einzelnen Menschen ist die Pflicht der Auf¬
opferung für die höchsten sittlichen Zwecke vorgeschrieben, dem Staate niemals,
weil seine Erhaltung die ideelle Grundlage der rechtlichen Existenz aller Staats¬
bürger ist. Nur der eine Fall ist ausgenommen, wenn ein Staat seine Auf¬
lösung beschließt, um sich in einen rechtlich und national homogenen Orga¬
nismus höheren Ranges aufzulösen. Der Act der Auflösung eines kleineren
Staatswesens zu Gunsten der nationalen Einheit kann in Wahrheit als Act
der Selbsterhaltung im sittlichen Sinn gedacht werden. Sprechen wir aber,
abgesehen hiervon, von der Selbsterhaltung des Staates im gewöhnlichen
Wortsinn, so liegt die sittliche Nothwendigkeit derselben in seiner allgemeinen
menschlichen Culturaufgabe, welche ohne Gliederung der Völker im Staats¬
körper nach unserem Bewußtsein nicht lösbar erscheint. Die letzten Gründe
der staatlichen Moral liegen somit in den Ideen der Menschheit und der
mit ihr innig zusammenhängenden Idee der Nationalität. Der Staat muß
sich erhalten und aus dieser Aufgabe heraus empfangen auch die Mittel der
staatlichen Selbsterhaltung ihren sittlichen Charakter. Dieser Zweck heiligt
alle dazu nothwendigen und unerläßlichen Mittel, auch den Krieg und im
Krieg die Lüge, welche die bürgerliche Moral verwirft. Wo immer wir an
sittliche Vorstellungen in der Politik herantreten, ^finden wir, daß dieselben
mit den Zweckbestimmungen des Staates auf das engste verbunden sind und
nur in diesem Zusammenhang erfaßt werden können. Das Princip des mo¬
dernen Staatsrechts, sein Grundgedanke ist die Verpflichtung, die Staatsge¬
walt im Sinne der Staatszwecke zu bethätigen.
Es ist auffallend genug, daß unter den namhaftesten Staatsrechtslehrern
der Gegenwart über die anscheinend so einfache Frage nach der Bestimmung
des Staates die abweichendsten Auffassungen gang und gäbe sind. Die auf¬
gestellten Definitionen leiden außerdem darunter, daß sie ohne besondere Be¬
ziehung zu dem politischen Entwickelungsgang des gegenwärtigen Zeitalters
entworfen sind. Dadurch erhalten sie eine Unbestimmtheit, die Gerber (Grund¬
züge eines Systems des deutschen Staatsrechts) sogar für unvermeidlich zu
halten scheint, wenn er hervorhebt, daß eine theoretische Bestimmung des
Staatszweckes sich immer nur in sehr allgemeinen Vorstellungen bewegen
könne. Wäre dies zuzugeben, so würde es, wie Holtzendorff mit Recht be¬
merkt, besser sein den Versuch ganz fallen zu lassen. Für die Politik ist Be¬
stimmtheit und Klarheit der Zweckvorstellungen ein unumgänglich nothwen¬
diges Erforderniß.
Vor allen Dingen dürfte die Staatslehre sich vor eigenmächtigen Con-
structionen zu hüten haben. Die realen Zwecke des staatlichen Lebens
können nur aus dem Bewußtsein der Nationen selbst hergeleitet werden. Der
Staatslehre fällt lediglich eine kritische Aufgabe gegenüber dem so gefundenen
Inhalt zu. Bei der Untersuchung der im Bewußtsein staatlich lebender
Völker liegenden Zweckbestimmungen sind zunächst die einander verwandten
Gruppen ins Auge zu fassen. Als eine solche verwandte Gruppe stellen sich
für den vorliegenden Zweck diejenigen Staatenbildungen dar. deren Zusam¬
mengehörigkeit durch das Gültigkeitsgebiet des europäischen Völkerrechts einen
juristischen Ausdruck gefunden hat. Der Staat empfängt seine realen Zweck¬
bestimmungen für das politische Leben durch die Grundbeziehungen, in welche
das Volksbewußtsein zu den wesentlichen Gegenständen seiner Einwirkung
versetzt ist. — Drei Momente lassen sich unterscheiden, welche den Staat zur
Unmöglichkeit machen würden. Diese Momente sind, wenn fremde Nationen
ihren Willen dauernd an die Stelle des einheimischen treten lassen (Eroberung),
wenn der Individualismus sich über die Macht der gemeinsamen Lebensnorm
allgemein hinwegsetzt (Anarchie) und wenn die Jnteressenfeindschaft der ein¬
zelnen Gesellschaftsclassen das Zusammenbestehen derselben unmöglich macht
(Auseinanderfall durch Losreißung oder Revolution). Innerhalb dieser drei
Grundbeziehungen des völkerschaftlichen Bewußtseins ergibt sich dem ent¬
sprechend ein dreifacher Staatszweck: der (nationale) Machtzweck, der (indi¬
viduelle) Rechtzweck und der (gesellschaftliche) Culturzweck des Staats.
Der nationale Machtzweck hat im Lauf der modernen Entwickelung
so sehr seine alte, den Ideen der antiken Welt über nationalstaatliche Existenz
entsprechende Bedeutung eingebüßt, daß man seit Jahrhunderten in den Lehr¬
büchern vergebens den einfachen Satz sucht, daß der Staat vor allen anderen
Dingen die Aufgabe hat, das vorhandene Gemeinbewußtsein des Volkes
gegen äußere Störung und Vernichtung zu schützen.
Theorien vom ewigen Frieden, Abschaffung der Heere, Zertrümmerung
der Großstaaten u. s. w., die im Hintergrund der gegenwärtigen Zeitperiode
auftauchen, verrücken mehr oder minder die eigentliche Fragestellung. Denn
für die praktische Politik ist der Machtzweck solange gebieterische Noth¬
wendigkeit, als ein Volk gegenüber einem anderen unberechtigte Forderungen
erhebt und die Begriffe über dasjenige, was Recht ist, von den nationalen
Vorstellungen soweit beherrscht werden, daß sich wesentliche Verschiedenheiten
der Auffassungen mit Nothwendigkeit ergeben müssen.
Dieser Zustand zeigt sich aber überall in Europa; es schweben eine
Menge Streitfragen, für die es im positiven Völkerrecht keine den interessieren
Staaten annehmbare Lösung gibt. Das Maß des vom Staate zulässiger
Weise zu machenden Machtaufwandes ist natürlich ein sehr verschiedenes,
weil dabei die völkerrechtlichen Garantien des Staatsbestandes, die geogra¬
phische Lage und die Entwickelungsbedingungen des inneren Staatslebens
in Betracht kommen. Sache der praktischen Politik ist vor Allem, die
richtige Begrenzung des Machtaufwandes für jedes einzelne Staatswesen
nach der Natur seiner Kräfte und Interessen und unter Berücksichtigung der
völkerrechtlichen Entwickelungsziele und der allgemeinen menschlichen Cultur
aufzufinden und demgemäß auf das nationale Bewußtsein, wo es übertriebene
Anforderungen stellt, regelnd einzuwirken. Für Deutschland kann man sagen,
daß es im vollen Gegensatz zur nordamerikanischen Union als derjenige
Staatsverband zu erachten ist, in welchem der äußere Machtzweck (auf defen¬
siver Grundlage) am stärksten als gebieterische Nothwendigkeit durch die Natur
der Nachbarstaaten angedeutet ist. — Der Rechtszweck des Staates, der
mit vollkommnem Recht auch der Freiheitszweck genannt werden kann, besteht
in der durch das heutige Bewußtsein der europäischen Nationen geforderten,
in festen Formen zu bewirkenden Sicherstellung der persönlich freien Ent¬
wickelung des Menschen innerhalb der ihm zu überlassenden Thätigkeitsgebiete.
Scheinbar liegt darin eine Abschwächung des Machtzweckes, aber auch nur
scheinbar, denn in Wirklichkeit trägt der Gedanke des sest geordneten Einzel¬
rechts die Voraussetzung der zu seinem Schutz nothwendigen Machtmittel in
sich. Wir können dem Verfasser in die schwierige Untersuchung über die Ab¬
grenzung des der persönlichen Freiheit zu überlassenden Gebiets nicht folgen
und bemerken nur, daß als Resultat derselben das Verlangen gestellt wird:
Anerkennung der Persönlichkeit in ihrer vollen Verfügungsfreiheit innerhalb
des Privatrechts im Allgemeinen, auf dem wirthschaftlichen Gebiet des Er¬
werbs, in der Wahl des Staats durch Auswanderung, in dem Reich des
Gewissens und der Wissenschaft. Nach dieser Bestimmung ist der Rechts¬
zweck wesentlich Ausfluß der in den europäischen Völkern waltenden Idee
der Menschlichkeit und der kosmopolitischen Aufgabe der Staatsentwickelung.
Denn alle die aufgeführten Rechte stehen auch Ausländern und Fremden zu.
Uebrigens genügt keineswegs eine theoretische Anerkennung dieser mensch¬
lichen Freiheitsrechte, es kommt vielmehr auch darauf an. ihren praktischen
Werth zu sichern durch Unterdrückung alles dessen, was als Störung und
Hemmung sich bethätigen könnte. Auf diese Aufgabe sind vorzugsweise Ge¬
richtspflege, Polizei und Wirthschaftspolitik berechnet.
In einer letzten und besonders bemerkenswerthen Form offenbart sich
der Staatszweck endlich als gesellschaftlicher Culturzweck, als derje¬
nige, der es mit bestimmten Gesellschaftsgruppen zu thun hat, die gewisser¬
maßen, die Mitte haltend zwischen der nationalen Einheit nach Außen und
der unendlichen Verschiedenheit des individuellen Lebens, in der Eigenthüm¬
lichkeit ihrer Bestrebungen und Zwecke eine bestimmte Erkennbarkeit darbieten.
Hierhin gehören, abgesehen von der ursprünglichsten Gesellschaftsform, der
Familie, dem Geschlechtsverband u. s. w.. die Berufsgemeinschaften, das Beam-
tenthum in seinen Abstufungen und Geschäftseintheilungen, die Jdeengemein-
schaften in wissenschaftlichen Korporationen und Akademien, die Glaubens¬
gemeinschaften, die materiellen Interessengemeinschaften (Grundbesitz. Capital,
industrielle Arbeit), Die Gesellschaft repräsenttrt gewissermaßen das nega¬
tive Bild eines staatlich organisirten Volks. Die Summe der gesell¬
schaftlichen Interessengemeinschaften, die man unter der Bezeichnung der
Gesellschaft zusammenfaßt, ist nämlich zugleich die Summe der (wirklichen
oder vermeintlichen) Interessengegensätze. In dem positiven Bilde des
Staates ist das Volk zunächst Einheit nach Außen gegen andere Völker,
in dem negativen Bild der Gesellschaft: Nebeneinanderbestehen feindli¬
cher, einander bekämpfender, in bestimmten Formen organisirter Interessen¬
gemeinschaften. Dem Staat fällt dabei eine complicirte Aufgabe zu; er hat
einerseits zu verhindern, daß nicht die Staatsgewalt durch den Eigennutz der
einen Gesellschaftsclasse gegen die andere ausgebeutet werde, aus welchem
Gesichtspunkt insbesondere die Theorie der Volksrepräsentation zu würdigen
ist, sowie ihm andererseits der Schutz des individuellen Freiheitszwecks obliegt,
der durch die den Gesellschaftsgruppen innewohnende Neigung, die einzelnen
Mitglieder für die gesellschaftlichen Sonderzwecke ausschließlich zu beherrschen,
und der allgemeinen staatlichen Lebensaufgabe zu entfremden, gefährdet wird.
Eine nähere Untersuchung führt den Verfasser zu einer Erörterung der kirch¬
lichen Verhältnisse, deren dem Culturzwecke entsprechende, durch den Staat
zu bewirkende Ordnung der Gesetzgebung als eine schwierige Aufgabe noch
vorbehalten ist. Während der Culturzweck auf die Gestaltung der wirth¬
schaftlichen Gesetzgebung den weitgehendsten Einfluß geübt hat, werden die
kirchlichen Gesellschaftsgruppen gegenwärtig nicht nur von denselben Streit¬
fragen bewegt wie vor Jahrhunderten, sondern sie sind auch in neuester Zeit
durch das schwankende Verhalten der Staatsgewalt vielfach in einen ver¬
schärften Gegensatz zu einander gebracht worden. Die Verpflichtung des Staats
zu erfolgreicher Ueberwindung der in der Gesellschaft hervortretenden Spal¬
tungen ist aber keineswegs dadurch erschöpft, daß der Staat seine Neutra¬
lität gegen den Eigennutz der mächtigeren Gesellschaftskörper wahre, durch
Aufrechterhaltung des inneren Friedens die natürliche Entwickelung sicher-
stelle und das Recht der Persönlichkeit gegen corporative Beeinträchtigung
vertheidige, sondern er hat dem Kampf der Interessen vor Allem auch positiv
entgegenzutreten durch Kräftigung des volkstümlichen Gemeinbewußtseins.
Dies geschieht am wirksamsten durch Pflege und Schaffung derjenigen Ein¬
richtungen, welche ohne einer bestimmten Gesellschaftsclasse Vorzugsrechte zu
gewähren, dem Gemeingebrauch Aller offen stehen, wobei vor Allem an eine
im Geist des Culturzwecks gehandhabte Pflege von Kunst, Wissenschaft und
Schule zu denken ist.
Schon die einheitliche Natur des Staats bedingt, daß die hier ent-
wickelten Zweckbestimmungen derselben in der dreifachen Gestalt der natio¬
nalen Macht, der individuellen Freiheit und der gesellschaftlichen Cultur nie¬
mals in einem inneren Widerspruch zu einander stehen können. Sie sind
wesentlich nur verschieden geformte Seiten, die sich um einen und denselben
Körper zusammenschließen. Für die Theorie ergibt sich daraus das Gesetz,
daß die dauernde Förderung des einen Staatszwecks durch Verletzung eines
anderen Staatszwecks undenkbar ist, mit anderen Worten, daß jede Zuwider¬
handlung der Staatsgewalt oder der Gesellschaft gegen einen Staatszweck
dem letzten Erfolge nach auch zu einer Beeinträchtigung der anderen Staats¬
zwecke führen muß. Es ist dies, was der Verfasser „die Harmonie der
Staatszwecke" nennt. Daß dieselben erheblichen Störungen unterliegen, lehrt
jeder Blick in die Geschichte. Die Prüfung der Natur dieser Störungen ist
auch entscheidend für die Beurtheilung der den vorhandenen Regierungs¬
mitteln gegebenen Anwendung. Befindet sich der Staat im Zustande gleich¬
mäßig gesicherter Entwickelung der nationalen, gesellschaftlichen und indivi¬
duellen Lebenskreise, so ist eine vorwiegend erhaltende Politik angedeutet;
ist durch Versäumnisse und Unachtsamkeiten in der Fortbildung der zur Er¬
reichung der Staatszwecke an sich dienlichen Mittel die Gleichmäßigkeit in der
Staatsentwickelung unterbrochen, so ist eine reformatorische Politik an¬
gezeigt, sowie schließlich eine radicale Politik gerechtfertigt sein kann, wenn
ein außerordentlicher, vom Staat zu beseitigender Nothstand vorliegt. An
sich kann weder eine conservative no'es eine liberale, noch eine radicale Po¬
litik jemals von der Theorie völlig verworfen werden, wenn die Rechtferti¬
gung dafür in dem Verhältniß der Staatszwecke zu den Staatsmitteln liegt.
Fragt man im Allgemeinen nach den wichtigsten Garantien gegen die Stö¬
rungen in der Realisation der Staatszwecke, so ist vor allen Dingen auf das
Völkerrecht und das Staatsrecht hinzuweisen — das Völkerrecht, insofern
die Fortbildung desselben, d. h. die Sicherstellung der in Wahrheit den Völ¬
kern gemeinsamen Interessen, als Verstärkung der in jedem einzelnen Staate
thätigen Kräfte wirkt und das Staatsrecht, weil Verfassungsformen und
Verfassungseinrichtungen überhaupt an diejenigen Kräfte anknüpfen, denen
die Fähigkeit innewohnt zur Erfüllung der staatlichen Gesammtausgabe und
zur Abwehr der erfahrungsgemäß gegen den Staat wirkenden Sonderinterefsen.
„Die Principien der Politik sind nach der ihnen durch das Volksbewußtsein
gegebenen besonderen Gestalt auch die Principien der Versassungspolitik. Eine
gute Verfassung ist nur diejenige, welche der auf die Staatszwecke gerichteten
Wirksamkeit des Einzelnen, der Gesellschaft und der Nation freien Spielraum
und geeignete Thätigkeitsformen bietet, in dem die Harmonie der für die
Gesammtheit nothwendigen Macht mit der individuellen Freiheit gewahrt
wird. Die Herstellung solchen Einklanges kann niemals Sache der Avstraction
sein, die von dem Grundgedanken der Theilung und Beschränkung, der feind¬
lichen Gegenüberstellung und Auseinanderhaltung der im Staat wirkenden
Kräfte geleitet, nur auf die äußere Consequenz der Formen Bedacht nimmt.
Der Mißbrauch der Macht durch die Regierungen, die Ausschreitungen der
Parteileidenschaft und der Eigennutz des sich dem Staat entfremdenden In¬
dividualismus haben eine gemeinsame Schranke an den aus den Staats¬
zwecken herzuleitenden Pflichten, deren im Volksgeiste lebendiges Bewußtsein
die stärkste Garantie der Verfassungen ist."
Soweit des Verfassers Darstellung der Staatszwecke. Wir heben her¬
vor und wir würden dem gedankenreichen Werk Unrecht zu thun glauben,
wollten wir nicht ausdrücklich darauf hinweisen, daß die Natur des Gegen¬
standes nicht gestattet, in einem derartigen Grundriß einen Spiegel auf¬
zustellen, der das Ganze andeutend der geistigen Betrachtung des Beschauers
vor Augen stellte. In keiner Weise ist dies in dieser Zusammenfassung der
hauptsächlichsten Gesichtspunkte der Fall und ebenso in Betreff des reichen
historischen Materials, der geschichtsphilosophischen und staatsrechtlichen Ent¬
wickelung wie in Betreff der eingehenden Behandlung der concreten Fragen
können wir lediglich auf die Schrift selbst verweisen. Was das vorliegende
Werk in bemerkenswerther Weise auszeichnet, die Gründlichkeit der Unter¬
suchung, die Schärfe der Begriffsbestimmung, die durchaus selbständige und neue
Behandlung des staatlichen Wesens in seinen Zweckbestimmungen, das schla¬
gen wir hoch an. aber noch höher steht uns eine andere Eigenschaft, nämlich
der durchaus politische Zug der gesammten Betrachtungsweise des Verfassers.
Wenn es eine der höchsten Anforderungen an den Staatsmann von wirklich
politischem Beruf genannt zu werden verdient, in der Welt der umgebenden
Thatsachen die gestaltende Kraft für die höchsten Entwickelungsziele des
Staatslebens zu bethätigen, so bewährt ein ähnliches Verhältniß in ent¬
sprechender Weise den politischen Denker. Für ihn entsteht auf der einen
Seite eine Gefahr, wenn er von dem souverainen Begriff ausgehend eine
aprioristische Construction der Theorie auf die Erscheinungen des realen
Lebens anwendet und auf der anderen Seite die entgegengesetzte, wenn er die
Bestrebungen und Lebenssymptome einer Partei und einer dem Wandel
unterworfenen Erscheinungsform der zeitlichen Entwickelung mit den dauern¬
den Gesetzen des Völkerlebens verwechselt. Gerade die am meisten betretenen
Wege auf dem Gebiete der politischen Theorie laufen, wie unschwer nach¬
zuweisen, meistens in der einen oder anderen Richtung. Zwischen beiden durch
einen Weg gelegt zu haben und von demselben in der ganzen Untersuchung
nicht abgewichen zu sein, scheint uns ein hervorragendes Verdienst des vor¬
liegenden Werks. Aus dieser Thatsache ergibt sich das Verhältniß desselben
zu den herrschenden Parteien. Trotzdem die Anschauung des Verfassers wie
die Gesammtrichtung seiner Arbeit eine entschieden freisinnige ist, läßt sich
eine unmittelbare Uebereinstimmung derselben mit einem der officiellen Pro¬
gramme der großen Parteien weder behaupten noch nachweisen. Die vom
Vers, geübte Kritik steht auf einem Standpunkt, den er selbst in der Vorrede
mit den gerechtfertigten Worten andeutet: „Indem ich die „Principien der
Politik" niederschrieb, habe ich nicht gefragt, ob ich überall in Uebereinstim¬
mung mit denen bliebe, denen ich mich im öffentlichen Leben zumeist ver¬
wandt fühle oder solchen überall widerspreche, die ich sonst als meine Gegner
betrachte. Wie Feuerbach wünschte ich im Statuen der wissenschaftlichen
Untersuchung wohl von mir sagen zu können: nulli me maneiMvi, nullius
llvwöll dero."
Großartig ist der Eindruck der Stadt Palermo nicht; um ein. zwei
Stockwerke niedriger als Neapel, mit breiten Hauptstraßen, aber engen Neben¬
gassen, ohne bemerkenswerthe Handelsbewegung, sieht es noch kleinstädtischer
und ländlicher aus, als jenes. Etwas mehr fühlt man hier die Vergangen¬
heit durch als in Neapel; hie und da eine Renaissaneefacade, ein antikes
oder gothisches Motiv, auch an Privathäusern die geschweiften Formen
der eisernen Gitter, welche die Balkons einfassen, und der Consolen, auf
denen sie ruhen, das Alles führt die Phantasie in die früheren Perioden der
Geschichte zurück, von denen Palermo keine einzige ganz überschlagen hat.
Im Aeußern der Häuser fühlt sich am meisten die Einwirkung der spanischen
Zeit durch. Wie solche Vergangenheit auch oft dem Kleinsten und Alltäg¬
lichsten, dem Geräthe des gewöhnlichen Lebens abzulesen ist! Da begeg¬
neten uns zahlreiche Lastkarren auf zwei Rädern, mit einem Pferde oder
Esel bespannt; die Seitenwände des Wagenkastens sind in grellen Farben,
meist mit sechs Bildern bemalt, die aus der weltlichen Geschichte so gut wie
aus der heiligen ihre Gegenstände entnehmen. Ferdinand Cortez, Christoph
Columbus begegneten uns ziemlich oft, auch Scipio Africanus ist dargestellt;
dazu sind die Pferde mit Geschirren belegt, die in arabischen Mustern bunt
übernäht sind, das Scheuleder eine hübsche kleine Mosaik in verschiedenfar¬
bigen Tuchstückchen, mit Gold umsäumt und durchsetzt.
Das Städtchen Monreale liegt auf der mittleren Höhe der Kalkberge,
welche die kleine Ebene Palermo's nach dem Lande zu einfassen. Berühmt
ist es durch seine Kathedrale Se. Maria nuova. von dem Normannenkönige
Wilhelm II. dem Guten, im Anfange der siebenziger Jahre des zwölften
Jahrhunderts erbaut. Nichts dient so sehr den überlieferten Schulbegriffen eine
heilsame Elasticität zu geben und die Strenge der Classificationen zu mildern,
als der Anblick dieser Kirche, in welcher alle Stilarten in einander spielen,
um schließlich doch ein Ganzes von mächtigster Wirkung hervorzubringen.
Auf dem Rückwege von Monreale besuchten wir — um das Gegenstück
der neapolitanischen kennen zu lernen — die berühmten Katakomben des
Kapuzinerklosters. Der Frate führte uns. ohne nach unserem Begehr zu
fragen, sogleich schweigend in die Todtenleiter hinab: lange gewölbte Gänge,
die von ihren Enden her reichliches Oberlicht erhalten und vollkommen
trocken sind. In welche Versammlung tritt man da ein! Nicht nur daß
Särge über Särge, oft mit Glaswänden versehen, rechts und links aufge¬
schichtet sind, sondern an den Wänden stehen dicht gedrängt in langen Reihen,
durch Stricke an der Wand festgehalten, die bleichen mumificirten Körper der
Verstorbenen, meist in ein braunes kuttenartiges Gewand gehüllt. Bei Vielen
tritt der bloße Knochen heraus, bei Vielen aber hat sich die Haut perga¬
mentartig erhalten und das Auge ist geschlossen geblieben. An ihren Kleidern
ist wohl ein Zettel angeheftet, der Namen und Todestag nennt: Männer,
die vor anderthalb Jahren noch frisch und kräftig das Leben genossen, lachten
und scherzten, hängen nun hier mit grinsendem Gesicht, zu dieser jammervoll
dürftigen Gestalt verkümmert. Durch die Reihen von 8000 Todten wandelt
man dahin, der älteste ist aus dem Jahre 1624, wenn ich nicht irre. Die
Abtheilung der Frauen ist von der der Männer abgesondert; sie liegen alle
in Särgen, aber meist durch Glasscheiben sichtbar; die Jungfrauen tragen
eine Krone auf dem Haupte. Kinder sah ich einbalsamirt mit künstlichen
Augen und dieser Anblick des widerwärtigsten Versuchs der Selbsttäuschung
bewegt am meisten.
Ein besonderer Gang enthält die Geistlichen. Da lagert ein Concilium
aus allen Graden, von jedem Lebensalter und sie predigen einmüthig außer
der Vergänglichkeit alles Irdischen noch über einen Text, der ihnen im Leben
verboten war: daß man die kurze Spanne des Lebens nicht liebeleer soll
verstreichen lassen. Denn am Allerseelentgge stehen sie da in trostloser Ein¬
samkeit; höchstens kommt dann und wann ein altes Mütterchen, den armen
Jungen da oben in seiner Priestermütze zu grüßen. Ein paar muntere Katzen
machten sich um die einsamen Priester zu schaffen; ein behagliches Thierchen
sprang über den Schädel eines Canonikus weg, einem armen Capellan auf
die Schulter, beschnupperte seine Nase und schnurrte ihn freundlich an. Er
hing da noch nicht gar lange. Ob Katzen auch zuweilen solche Empfindungen
von Treue haben wie die Hunde? Im Vorübergehen griff der Frate einem
Priester in den Mund, bewegte die pergamentene Zunge hin und her und
sagte bedeutsam: „Damit hat er gepredigt!"
Nun ging es in den Todtenconvent der Kapuziner, der Brüder unseres
Führers. „Die ganze untere Reihe habe ich gekannt", sagte er, „mit ihnen
gegessen, getrunken und gebetet." Es kann nicht lange dauern, so steht er
auch dabei und hat den ewigen Frieden; denn über das, „wenn's hoch kommt"
war er schon hinaus. Indem wir gingen, erklärte er uns, wie die Leichen
beigesetzt und in benj Zustand gebracht werden, in welchem man sie dann
dem Anblicke der Welt wieder preisgibt.
Der ganze seltsame Ort wirkt nicht so grauenvoll, als man es vorher
fürchtet. Jene dunkle, im tiefsten Innern erschütternde Gewalt, welche der
Anblick kürzlich Verstorbener auf uns zu haben pflegt— weil die Form und
der Schein des Lebens mit der Wahrheit des Todes so unfaßbar contrastiren
— üben diese Mumien und Scelette nicht; hier ist der Zustand für alle unsere
Sinne und für die Phantasie vollständig entschieden, und nur Einzelnes wirkt
durch besondere Umstände gemüthlich ergreifend. Aber die große Masse gleich¬
artiger Zeugnisse allgemeiner Zerstörung verursacht einen mächtigen Druck
andrer Art auf uns, dem wir im Augenblick nur mit einer gewissen An¬
strengung unserer sittlichen Kraft zu begegnen vermögen. Ich zweifle aber,
ob die Menge eine andere Lehre von dieser Massenausstellung des Todes
mit hinwegnimmt, als die: „Essed und trinket, denn morgen seid ihr todt!"
Kommt es nur darauf an, von gedankenlosen Menschen gewisse geistliche
Dienstleistungen einzuziehen, die schließlich der Herrschaft der Kirche nützen,
so ist dies Mittel so gut und besser gewählt als der ganze Knochen- und
Scelettdienst zahlloser unheimlicher Altäre, denen man in katholischen Kirchen
begegnet; denn der Mensch wird um seiner ewigen Zukunft willen gern sein
Essen und Trinken einmal mit einem Avemaria und Paternoster unterbrechen:
aber soll das Leben wahrhaft veredelt und mit würdigem Inhalte erfüllt
werden, dann muß die Kirche den Tod decenter behandeln, als sie thut.
Von dieser Auferstehung des Todes führte uns unser Weg zu einer
Auferstehung des Lebens. Auf dem Platze vor dem Schlosse ist vor 8 Wochen
der Mosaikfußboden eines großen römischen Hauses entdeckt worden; als
während der Anwesenheit des Kronprinzen von Italien ein Feuerwerk ab¬
gebrannt werden sollte, stieß ein Arbeiter mit den Pfählen darauf, die er
einräumte. Dann hat sich ein Principe der Sache angenommen und nun
wird der ganze Grund des Hauses bloßgelegt. Bis jetzt sind außer einigen
gemusterten Fußböden ein singender Orpheus mit den Thieren, ein Faun
mit einer Nymphe, ein mächtiger Apollokopf und ein Neptunkopf zu Tage
gekommen. Alles ist in vortrefflicher Arbeit und in reicher Farbenscala aus¬
geführt; die beiden Köpfe, in ungewöhnlicher Größe gezeichnet, stehen denen
der Alexanderschlacht nicht nach; sie imponiren durch Majestät und edle
Würde. Wie der Anblick so eines ruhigen heiteren Werkes alle Beklemmung
der Seele hinwegzuehmen vermag!
Heute früh erstiegen wir den Monte Pelegrino, der sich westlich von der
Stadt Ins zu 2000 Fuß erhebt und nach dem Meere zu fast senkrecht ab¬
fällt. Auch nach dem Lande zu hat er steile und zerklüftete Schroffen von
mehreren hundert Fuß Höhe; aber hier haben sich durch Geröll und ver¬
witterte Massen an seinem Fuße Böschungen gebildet, die eine Ersteigung er¬
möglichen. Eine breite, gepflasterte Straße, nur für die Wallfahrten der
Pilger gebaut, führt anfänglich über Viaducte. dann durch ein steinernes
Meer hindurch zur Grotte der heiligen Rosalie, die auf der Höhe belegen
ist. Das Gestein ist dolomitischer Kalk mit sehr großen Blasen und Höhlen.
Eine dieser natürlichen Grotten hatte sich die schöne Nichte König Wilhelm's
des Guten, Rosalie, die in der zweiten Hälfte des'zwölften Jahrhunderts
lebte, zur Wohnung ausersehen, um da ein einsiedlerisches, von der Welt
ganz abgezogenes Leben zu führen. Jetzt sind Altäre hineingesetzt und eine
Halle ist davor gebaut; die Wasser, welche fortwährend durch den Fels
herabsickern und Stalaktiten bilden, werden durch Rinnen abgefangen; die
Heilige selbst aber gönnte sich die Rücksicht nicht, die sich ihre Verehrer schul¬
dig zu sein glauben. Ich weiß nicht, wie es kam, daß man eine so ent¬
sagungsreiche Dulderin, die noch dazu einem berühmten Könige verwandt
war, so ganz vergaß; aber erst etwa fünfhundert Jahre nach ihrem Tode
fand man ihre Gebeine in der Höhle und nun legte man im Jahre 1625
eine Marmorstatue an deren Stelle, die Karl III. sogar mit einem ganz gol¬
denen Gewände bekleidete. Das Werk ist von weichen anmuthigen Formen
und unendlich rührendem Ausdruck. Man kann es aber, überbaut wie es ist,
auch ästhetisch nicht anders betrachten, als wenn man sich in die Stellung
eines Anbetenden begibt. Sehr auffällig ist gerade über dem Platze dieser
Statue und des darüber errichteten Altars eine kleine Höhle innerhalb der
großen; das arme, geängstete Geschöpf suchte sie auf, wenn der Teufel sie
aufzusuchen kam, und nun hätte Satan allerdings das Stück Jnwendigkeit
sein müssen, für welches neuere Adiabolisten ihn ausgeben, wenn er auch
darin hätte Platz finden wollen. Man kann selbst nach so vielen Jahr¬
hunderten nicht ohne Rührung an die heiligen Verirrungen der „schönen
Seele" denken. Was mochte ihr verloren gegangen sein?
Ihre späteren Verehrer haben ihr, wie es scheint, die Kraft zugeschrieben,
die Wogen zu beruhigen und die Schiffer zu schirmen; denn sie setzten ihr
eine segnende Kolossalstatue auf einem Felsvorsprung am Meere. Aber hat
sie sich den Stürmen des Lebens nicht gewachsen gefühlt, so hat sie auch da
oben schon zweimal den Kopf verloren, und noch jetzt steht sie hauptlos da.
Vielleicht wollte sie sich auch das Entzücken dieser Aussicht nicht erlauben;
— als palermitanischer Priester würde ich keinen Augenblick anders inter¬
pretiere Ein wundervoller Blick ist es allerdings da oben: rechts und links
die herrlichen Formen der tiesausgebuchteten steilen Küste mit ihren Vor¬
gebirgen, und vor sich hat man das unendliche Meer. Von der Schönheit
dieses Gewässers, das im Sturm wie im Sonnenschein, zu allen Stunden
nur immer neue Reize entwickelt, haben wir im Norden keinen Begriff.
Man fühlt das Meer hier schwerer als bei Neapel. Das will Goethe aus¬
drücken, wenn er es als „ernsthaft und zudringlich" bezeichnet, „anstatt daß es
bei Neapel von der Mittagsstunde an immer heitrer, luftiger und ferner
glänzt." Der Himmel allein bringt diese unendliche Bläue nicht hervor:
das Wasser führt hier nicht jene Massen Sand und Schlamm mit sich, die
es bei uns fortwährend von den Küsten ableckt, einen unzerstörbar harten
Fels bespülend, und über ihn hingelagert erhält es seine natürliche Reinheit.
So grenzen hier zwei ganz ungetrübte Flüssigkeiten. Wasser und Luft, anein¬
ander und bringen zusammen die schönste Farbenwirkung hervor, deren sich
das Auge erfreuen kann.
Der Blick landeinwärts ist auch von großem Reiz. Zwischen dem isolirt
aufsteigenden Monte Pelegrino und dem Stock des Gebirges ist die Corea
d'Oro eingesenkt, eine reich bebaute mit Villen und Häuschen besetzte Ebene,
in welcher Gärten voller Johannisbrodbäume, Oel- und Orangenplantagen
mit Cactusfeldern mannichfaltig abwechseln. Vom Berge herabsteigend ge¬
wahrten wir eine große Zahl von Pferden, Maulthieren, Eseln, Kühen,
Schafen und Ziegen, die sich in die spärlich zwischen dem Geröll verbreitete
Weide theilten. Gute Weideplätze müssen darnach sehr selten sein. Alles hielt
sich hübsch kastenweise getrennt; nur die Maulesel wußten keine sichere
Stellung zu finden: die Anerkennung der Esel unterschätzend suchten sie Dul¬
dung bei ihren vornehmeren Verwandten, fanden aber nur pferdemäßige Be¬
handlung. Die Kühe zeichnen sich durch prachtvolle Hörner aus, die sie,
glaube ich, für den romantischen Gebrauch des deutschen Studenten aus¬
bilden.
Es blieb noch Zeit den Dom zu sehen. Er ist ursprünglich im nor¬
mannischen Stil erbaut. Die Restauration hat zwar nur die alten Formen
wiedergeben wollen, hat aber vielfach das Reelle durch Schein ersetzt und
neue Motive, die ihr der älteren verwandt schienen, geschmacklos eingefügt.
Dies gilt vom Außenbau; das Innere ist ganz nüchtern modernisirt und
vollkommen auf andere Formen gebracht. Nicht ohne Interesse sind die
Thüren. Es mischen sich in der Architektur derselben dem einheimischen
Stile, gewisse englisch-normännische Elemente bei, die durch individuelle Ver¬
mittelung hineingekommen sein müssen; Erzbischof Gualterius nämlich, der
den Dom bauen ließ, war von England herübergekommen. Die etagenweise
mit Säulchen bekleideten Rundungen, welche die Ecken der beiden Thürme
umfassen, dienen offenbar dazu, den Strebepfeiler zu ersetzen und dem ganzen
Ausbau Halt zu geben; aber an ihnen läßt sich gerade deutlich erkennen,
daß wo der Spitzbogen in größeren Verhältnissen angewandt wird, wie bei
diesen Thürmen, der Strebepfeiler und Strebebogen eine Nothwendigkeit der
Construction ist. Denn beide Thürme sind oben weit auseinandergewichen
und werden nur nothdürftig durch starke Klammern noch zusammengehalten.
Das Innere des Domes hat für uns Deutsche durch die Gräber, die es
enthält, ein hohes gemüthliches Interesse. Es ruhen da in alten Porphyr¬
sarkophagen unter einfachen Baldachinen die Kaiser Heinrich VI. und Frie¬
drich II. von Hohenstaufen, die beiden Constanzer und andere erlauchte
Sippe. Im Jahre 1781 sind die Sarkophage geöffnet worden, da fand man
den Kaiser Friedrich mit seinen Waffen und im vollen Ornat, den Mantel
mit arabischer Schrift, bezeichnet. Sicilien dankt seiner Regierung fast seine
besten und glorreichsten Tage; aber hier ist er vergessen. Wir brachten ihm
Grüße aus der Heimath, die von ihm zuerst (später vom ersten Friedrich)
den Glauben hegte, daß er im Bergesgrunde sitzend seiner Zeit harre, um
wiederzukommen und dem zersplitterten Reiche zu seiner alten Größe zu ver¬
helfen. Wir konnten ihm sagen, daß eine andere starke Hand sich erhoben
hat, diesen Glauben zu rechtfertigen.
In der Kirche Olivella sollte eine raphaelische Madonna sein. Aber
Professor Springer aus Bonn, den ich in Palermo kennen lernte, hat den
guten Leuten, welche ihr Heiligthum bisher nur an hohen Festtagen oder
gegen Geld zeigten, ihren Stolz verkümmert, indem er ihnen das Bild, dessen
Christkind schon ziemlich wulstig gerathen ist, als einen Lorenzo ti Credi de-
monstrirte. Eine ähnliche Revolution, diesmal zu Gunsten der Palermitaner,
hat er im Museum hervorgebracht. Dahin hatte vor acht Wochen ein
Principe, dessen Name mir entfallen ist, ein Bild geschenkt, das in un¬
unterbrochenem Besitze seiner Familie gewesen, ihm aber als ein Alberto
Durero von nicht gar großer Bedeutung war. Jetzt erklärte Springer das
wundervoll erhaltene Bild für einen Johann van Eyck, die Deutschen be¬
lagerten es und man fing an zu wallfahrten. Nun hätte der Principe das
über seine Vorstellung werthvolle Bild wahrscheinlich gern zurückgehabt. Es
ist ein kleines Triptychon, in der Mitte die Madonna mit dem Kinde und
musicirenden Engeln, links die heilige Katharina, rechts wahrscheinlich Elisa¬
beth, alle drei vor den zartesten, poetisch gestimmten Landschaften und unter
spät-gothischen Baldachinen sitzend, die von unglaublicher Sorgfalt der Arbeit
sind; das Ganze ist überhaupt so fein ausgeführt und so harmonisch durch¬
gebildet, daß es zu den schönsten Werken des Meisters gezählt werden darf.
Was die Erhaltung betrifft, dürfte es das allerbeste sein; nur die Beinchen
eines Engels sind restaurirt, sonst ist nie ein zweiter Maler darangekommen.
Die äußere Seite der Flügel enthält eine Darstellung von Adam und Eva,
die von außerordentlich wahrer und richtiger Zeichnung sind. Das mit
Leder und Pergament überzogene Originalkistchen, in welchem einst das Bild
geschickt wurde, hängt dabei.
Die gute Stadt Hildburghausen mit mehreren tausend Einwohnern fühlte
es im Jahr 1826 sehr schmerzlich, daß sie durch den — letzten — Theilungs¬
vertrag der sächsischen Herzöge aufhörte, Residenz und Sitz eines souverainen
Hofes zu sein- Der Staat Meiningen, mit welchem Land und Stadt von
Hildburghausen damals vereinigt wurde, suchte durch verschiedene Maßregeln
den Hildburghäuser von altem Schrot und Korn zufrieden zu stellen. Aber
wir konnten den Verlust unseres „theuren" angestammten Regentenhauses
durchaus nicht verschmerzen. Lange und oft war zu Hildburghausen der
Wunsch laut geworden, es möge doch durch eine anständige und ruhige, aber
lustige und kräftig consumirende Garnison wieder einiges Leben in unser ent¬
throntes Residenzstädtchen gebracht werden. Jedoch nur die dauerhaftesten der
alten Hildburghäuser sollten die Erfüllung dieses Lieblingswunsches erleben.
Erst brachte das Kriegsjahr 1866 dem Städtchen durch die bekannte bairische
„Invasion" und durch mehrfache preußische Einquartierung einen gewissen Vor¬
geschmack militärischen Lebens, der neue Bund endlich verhalf ihm auch zu
der festen Garnison. Der Residenzstadt Meiningen wurde das 32. Infan¬
terieregiment zugewiesen, .in Hildburghausen rückte das 2. Bataillon des neu-
gebildeten thüringischen Infanterieregiments Ur. 95, zum größten Theil aus Lan¬
deskindern von Meiningen, zum kleineren aus Coburgern gebildet, am 31. Oe-
tober 1867 ein. Das Bataillon fand eine vortreffliche Caserne vor, das zu
diesem Zweck umgebaute geräumige und wirklich recht gesund und freundlich
gelegene ehemalige Residenzschloß. Dank dem unter Officieren und Mann¬
schaft herrschenden vortrefflichen Geiste sind die Wünsche der das Bataillon
mit Freude begrüßenden Bevölkerung vollständig erfüllt worden: der Ver¬
kehr zwischen Civil und Militair läßt nichts zu wünschen übrig. Ein vor uns
liegendes interessantes Schriftchen neueren Datums von Dr. Kius „Zur Ge¬
schichte des vormaligen Herzogtums Hildburghausen, Programm der Real¬
schule zu Weimar" sowie die alte hildburghauser Chronik von Werner Krauß
laden uns, die wir uns an dem strammen Wesen unserer norddeutschen
Bundestruppen erfreuen, unwillkürlich zu einem Vergleich mit den militairi-
schen Zuständen in dem Hildburghausen des vorigen Jahrhunderts ein.
Das Herzogthum Hildburghausen wurde durch den gothaer Theilungs¬
vertrag von 1680 neugeschaffen, als Erbe eines der sieben Söhne Ernst des
Frommen, der ebenfalls Ernst hieß; es umfaßte nur 10 Quadrat-Meilen und
25,000 Einwohner. Im schreiendsten Mißverhältnisse zu diesen Zahlen schuf
die französisch gezogene Prachtliebe und Großherrensucht der Herzoge Ernst
Friedrich I. und II. nicht weniger als 30 Hofämter, worunter 2 Hofmar-
schälle, 20 Kammerjunker, 14 Hofräthe, 4 Oberlandjägermeister. 3 Forstmei¬
ster, 7 Leibmedici und 1 Reisemedicus; ferner gab es Geheime Räthe, Kriegs¬
räthe, Oberlandbaumeister und Oberbaudirectoren, Handelskammer-, Hof- und
Kammerconsulenten. Salzdirectoren :c. Die Militärmacht bestand nur aus
einigen hundert Mann, war aber eingetheilt in 1 Comp. Garde du Corps,
1 Gardegrenadierbataillon, 1 Landregiment und 1 Artilleriecorps in schöner
himmelblau und rosenrother Montur und wurde befehligt von 6 Obersten,
5 Obristlieutenants, 7 Obristwachtmeistern und Majors, 1 Rittmeister, 13
Hauptleuten, 6 Lieutenants und 1 Fähndrich. Noch toller wurde diese
Chargenwirthschaft unter Ernst Friedrich III. (1748—80). Seine Gutmüthig¬
keit wurde von einer Art vacirenden und heruntergekommenen Adel, der sich
am hildburghauser Hof wieder emporschmarotzte, gröblich gemißbraucht; un¬
sere Stadt wurde ein Sammelplatz für alle Krippenreuter und Aventuriers
in Thüringen und Franken. Diese und eine thörichte Prachtliebe des Her¬
zogs führten zum vollständigen Bankerott.
Dem von Kius citirten Tagebuche eines alten Soldaten, der sich in
aller Herren Ländern herumgetrieben, entnehmen wir Folgendes: Im Jahre
1750 sollten, nachdem mit Ausnahme des Landregiments die alten Truppen¬
theile ausgelöst worden waren, durch einen „vacirenden" General Namens
Werber neue Regimenter errichtet werden, dazu wurden Officiere verschrieben
und Chargen für Geld ausgetheilt. Nach vielen Unkosten brachte man end¬
lich ein Bataillon Garde zusammen von 40—50 Mann (!) und doch
war dies halbe Hundert in 4 Compagnien getheilt, und hatte 4 Capitains,
^Lieutenants, einen Obristlieutenant, 1 Major, 1 Auditeur, 1 Regiments-
feldscheer, 8 Hautboisten, 6 Tambours, 1 Regimentstambour, 2 Pfeifer und
1 Profos, kurz Alles, nur keine Soldaten! Als der siebenjährige Krieg be¬
gann, mußte zu dem Bataillon geworben werden, um eine Compagnie
daraus zu machen, welche der Herzog, 140 Mann stark, zur Reichsarmee
stellen sollte. Dieselbe stand von 17S8 -1763 im Feld, litt aber durch De¬
sertion derartig, daß, obwohl alljährlich im Lande ausgehoben und geworben
wurde, sie bisweilen 40, höchstens 80 Mann zählte. Gleichwohl wurde sie
als complet bezahlt. Zuletzt kam sie mit 63 Mann aus dem Felde unter
1 Oberstlieutenant. 1 Major und 1 Capitain und löste das Landregi¬
ment ab, welches den berühmten Wasunger Krieg mitgemacht hatte. —
Nach Beendigung dieser Campagnen wurden neue Anstrengungen sür ein
Regiment zu 3 Bataillonen gemacht. Das 1. Bataillon, die Leibgarde, war
gelb und blau montirt und hatte folgende Officiere: Obrist, Obristlieutenant,
2 Majors, 4 Capitains, 4 Lieutenants und 1 Auditeur. Obwohl 400 Stück
Montirungen angefertigt worden, so fanden sich doch nie mehr als 40 Mann
dazu, welche vom März 1762 bis October 1766, ohne Dienste zu thun, aber
mit fortlaufender Gage und Löhnung herumlungerten, auch die 400 Mon-
turen redlich auftrugen oder sonst zu ihrem Nutzen verwendeten. Zu dem
zweiten Bataillon, dem der Herzogin, waren ebensoviel Monturen, blau und
rosenroth, gemacht worden. Dabei war 1 Oberstlieutenant. 1 Major, auch
etliche Capitains und Lieutenants, welche aber, da es mit dem Regiment
höchst mißlich aussah, alle abgingen, bis auf einen beharrlichen Lieute¬
nant. Die Officiere hatten keinen Mann zu befehligen gehabt. Die Mon¬
turen wurden von Lohnwächtern und dergl. Leuten „vertragen". Das dritte
Bataillon sollte das Landregiment vorstellen oder werden, und es wurden bei
einem Schleusinger Juden wieder 400 blau und hellrothe Montirungen accor-
dirt, auch zu einem ganzen Regiment Hosen, Kittel und Schuhe geliefert,
und diese wurden ebenfalls „vertragen". Obgleich alle Kammern voll Mon¬
tirungen hingen, so kam doch vom Landregiment Mancher mit einem, Mancher
auch ohne Aermel, ja etliche gar in ihren eigenen Röcken auf Wache, ein
Verfahren, welches unser Gewährsmann als „curios" bezeichnet. Dieses Ba¬
taillon oder Landregiment befehligten ein General, 1 Obrist, 1 Obristlieu¬
tenant, 1 Major. Ueberdies waren auch für ein Artilleriecorps von 80 Mann
schöne Montirungen, mit Gold und Sammet ausgeschlagen, gemacht worden,
auch Hosen, Schuhe und wollene Kittel dazu, „und dies Alles haben, weil
nichts daraus geworden, obwohl 1 Major. 1 Hauptmann. 1 Lieutenant, ein
Oberfeuerwerker, 1 Unterconstabler und 1 Corpora! dagewesen, — die Mäuse
und Motten ganz und gar gefressen." Und was ward aus den 30 wohl
montirten Kanonen? Ein Theil wurde verschmolzen und von den übrig ge¬
bliebenen wieder Lafetten und Räder zerschlagen und das Holz von dem
Major verbrannt, das Eisen bei Hof in der Schmiede verarbeitet; die
Kanonenrohre aber wurden auf Rädlein, auch nur auf Holzscheite gesetzt und
damit gefeuert.
Doch war es nicht das Heer allein, welches die Einnahmen ruintrte
Eine andere kostspielige Liebhaberei des Herzogs war die Schauspieler¬
kunst. Nachdem sein Bemühen, das 1714 im großen Styl eingerich¬
tete, aber bereits 1729 eingegangene (^mnasium aeaiZemiouui wieder¬
herzustellen gescheitert war. verschrieb er eine Truppe Komödianten und
Hofsänger, worunter auch Italiener, welche trotz ihrer starken Gagen
ihre Privatschulden nicht bezahlten und dadurch viele Bürger ruinirten. Von
Edelleuten hielt sich eine große Menge hier auf, welche auf des Herzogs Un¬
kosten großen Staat machten und bei Hof freien Tisch :c. hatten, darunter
oft Fremde, welche jahrelang dalagen und denen der Herzog bei ihrem Weg¬
gang Schulden und Reisegeld bezahlte. In Folge dieses verschwenderischen
Haushalts trat endlich eine solche Geldnoth ein, daß man seine Zuflucht zu
Verpfändung und Verkauf von Gütern, Zehenden :c. nahm; nachdem auch
diese Mittel erschöpft waren und der Herzog selbst gegen sehr hohe Zinsen
kein Geld mehr erhalten konnte, wurden Leute mit eartes blauedss ausge¬
sandt, um baare Summen gegen unmäßige Verschreibungen aufzutreiben.
Wer 1000 Gulden gab. durfte wohl 5000 und noch mehr als geliehenes Ca¬
pital zurückfordern. Man sank noch tiefer, als man sich nicht mehr scheute
Aemter und Stellen zu verkaufen. Nachdem dies „Sünden- und Schulden¬
leben" bis 1769 fortgedauert und der Herzog mehrmals am kaiserlichen Hof
der übermäßigen Schulden halber an- und ausgeklagt worden war, wurde
endlich eine kaiserl. Debitcommission eingesetzt, zunächst bestehend aus den
Principalcommissaren, dem Prinzen Joseph, Großoheim und Prinzen Eugen,
Bruder des Herzogs, ferner aus den Subdelegirten, dem k. k. General v. Friese,
dem Geh. Rath v. Lindeboom und dem Regierungsrath Hieronymus. Gegen
beide Letztere protestirten der Herzog und Prinz Eugen, weil sie ihre Vasallen
seien, im Grunde aber deswegen, weil sie nicht zu ihren Gunsten sprachen.
Da nun Prinz Eugen aus der Commission auftrat und statt ihm die ver-
wittwete Herzogin v. Sachsen-Meiningen hinein berufen wurde, ward die
Uneinigkeit größer und es drohte ein zweiter Wasunger Krieg auszubrechen.
Als sich nämlich die Hofpartei durchaus der kaiserl. Commission nicht fügen
wollte, wurden von Coburg, Meiningen, Gotha und Weimar die Manute-
nenz-Truppen zu deren Schutz beordert; da es nun hieß, sie könnten alle
Tage kommen, traf der Herzog folgende kriegerische Maßregeln: Zunächst
wurde den 3. Pfingstfeiertag 1770 das Landregtment vorgeblich zum Erer-
ciren in die Stadt commandirt; dann wurde das Eisfelder und Schleusinger
Thor, sowie sonstige Ausgänge und Pforten mit Holz und Mist stark ver¬
rammelt und mit Mannschaften und Kanonen besetzt. Nur das Römhilder
Thor, welches 1 Major, 1 Capitain. 2 Lieutenants und 180 Mann vom
Garde- und Landregiment besetzt hielten, blieb zur Passage offen. Auf der
Hauptwache war 1 Major. 1 Capitain, 2 Lieutenants und ebenfalls 160
Mann, an beiden Orten drei mit Kartätschen geladene Kanonen. Auch das
Gartenhaus auf dem Vorsprung über der Herrschaftsmühle, die Reitbahn
(jetzt der freie Platz zwischen der Herrschaftsmühle und den Stallgebäuden)
und die Stadtmauer waren allenthalben besetzt. Die übrige Mannschaft mit
den Kanonen stand als Reservecorps aus dem Markt und bei dem Rathhaus.
Weil aber den Officieren von der kaiserlichen Commission durch Deno-
tatoria die Betheiligung an dem kriegerischen Unternehmen untersagt wurde,
so mußte der Herzog in höchsteigner Person das Commando übernehmen,
denn Jene fürchten die Commission mehr, als ihren Kriegsherrn. Nach sieben¬
tägigen Belagerungszustand wurde plötzlich wieder Friede verkündet. Das
Landregiment wurde entlassen und die Thore frei gemacht. Darüber ging
vielfaches Gerede. Namentlich meinte man, Prinz Joseph habe das Blut¬
vergießen verhindert, welches gewiß erfolgt wäre, da sich die herzoglichen
Truppen für ihren Landesvater sicherlich aufgeopfert hätten, wenn nur ein
Feind erschienen wäre. Das Wahre an der Sache war, daß, wie Kius auf
Grund zweier Schreiben der Herzogin-Regentin Amalie v. Weimar darstellt,
der Herzog guten Grund hatte, die Drohung mit den Manutenenztruppen
für einen bloßen Schreckschuß zu halten. Er aber fand dennoch für gut, zur
Erhöhung seiner Autorität jene kriegerischen Maßregeln anzuordnen. Aehn-
liche leere Drohungen mit Executionstruppen erfolgten übrigens noch mehrere
Male, bis sich endlich der Herzog fügte und auf 12.000 Fi. Competenzgelder
setzen ließ. Das Land aber wurde sequestrirt. die Wirksamkeit der Debit¬
commission dauerte noch unter dem Sohn Ernst Friedrich III., Friedrich, dem
letzten Herzog von Hildburghausen. Nach dem 1787 erfolgten Tode des Prinzen
Joseph wurde die Commission von Herzog Georg von Sachsen - Meiningen und
dem Prinzen Karl von .Mecklenburg-Strelitz gemeinschaftlich geleitet und erließ
ihr letztes Rescript am 7. Febr. 1806. Durch die Wirksamkeit dieser Com¬
mission und ferner durch die neue landständische Grundverfassung des Jahres
1818, eine der ersten in Deutschland wurde, der Staatscredit wieder erhöht und
schon stand eine völlige Bewältigung der Staatsschuld in Aussicht, als das
Ländchen durch die Erbvertheilung von 1826 an Meiningen kam und mit
seinem Herzog auch seine Garnison verlor.
Der Verf. des vorliegenden Buchs hat sich als Militairschriftsteller schon durch
andere Arbeiten einen geachteten Namen erworben. Als Kenner nordamerikanischer
Zustände haben wir ihn zuerst durch die Aufsätze kennen gelernt, welche er in dem
Journal „Unsere Zeit" über die Kämpfe der politischen Parteien in der Union
veröffentlichte. Das vorliegende neue Werk gliedert sich in drei Theile: Der erste
hat es mit den Ursachen des inneren Conflicts zwischen Süden und Norden zu
thun und orientirt den Leser zugleich über die nationalen, confessionellen, politischen
und wirthschaftlichen Verhältnisse, welche diesen Gegensatz bedingten und schließlich
zu der Katastrophe von 1861 führten. Der zweite Abschnitt enthält eine ausführ¬
liche Darstellung der einzelnen Phasen, welche der große Bürgerkrieg vom Fall des
Fort Sünder (13. April 1861) bis zur Räumung Petersburgs und Richmonds
(März 1861) durchzumachen hatte und gliedert sich demgemäß in andr Unter¬
abtheilungen. Das Schlußcapitel hat die politischen Parteikämpfe von der Beendi¬
gung des Secessionskrieges und der Ermordung Abraham Lincoln's bis zum Herbst
1868 zum Gegenstande.
Auf die Vorzüge der einfachen, klaren und geschmackvollen Darstellungsweise
des Verf., welche sich den Bedürfnissen deutscher Leser überall anpaßt und auf
unsere relative Unbekanntschaft mit den amerikanischen Dingen die nöthige Rücksicht
nimmt, gehen wir nicht näher ein, da sie sich jedem Leser einprägen müssen. Wich¬
tiger wird es sein, des Herrn Verf. Stellung zu den jenseit des Oceans kämpfenden
Parteien anzudeuten, denn diese weicht erheblich von dem Standpunkte ab. der in
Deutschland und deutschen Zeitungen Nord-Amerika gegenüber der herkömmliche ist.
Herr Blankenburg ist Gegner der Sclaverei und der südstaatlichen Secession, aber
von dem amerikanischen Radicalismus will er nichts wissen. Er vertritt den con-
stitutionellen Standpunkt Lincoln's und hebt ausdrücklich hervor, daß die deutsche
Begeisterung für die entschiedenen Republikaner auf Voreingenommenheit und Un¬
kenntnis? der localen Verhältnisse beruht. Seiner auf die Geschichte gestützten
Meinung nach ist die politische Intelligenz, der die Union ihr rasches Emporblühen
zu danken hat, vorwiegend in der demokratischen Partei vertreten gewesen, ja in
dieser mehr politische Integrität heimisch als im republikanischen Norden, wo die
eigentlich pöbelhafter Elemente von jeher eine bedeutende Rolle gespielt haben und
in den Südländern ebenso die Sclavenhalter wie die durch Bildung überlegenen
Gentlemen haßten. Nach der Niederwerfung des wesentlich durch Spaltung der
Demokratie verschuldeten Aufstandes und der Ermordung Lincoln's, der stets ge¬
mäßigte Anschauungen vertrat und ebenso die Einheit der Union wie das Selbst¬
bestimmungsrecht der Einzelstaaten gewahrt wissen wollte, gewann im Norden recht
eigentlich „diese Pöbelpartei" die Oberhand, um ihrem Rachedurst den materiellen
Wohlstand des Südens zu opfern und das einheitsstaatliche Princip in revolutio-
mairen Wege an die Stelle des verfassungsmäßigen Föderalismus zu setzen. In der
Wahl Grant's sieht der Verf. eine heilsame Reaction im Sinne der Mäßigung,
die Niederlage der Partei, welche im Süden alle Bildungselemente ausrotten, den¬
selben „afrikcmisiren" und unter die Herrschaft einer urtheilslosen Masse Frei¬
gelassener bringen wollte, die politisch und wirthschaftlich gleich rathlos sind. Blan-
kenburg's Meinung nach gehört die Zukunft der Union den neuen Staaten des
amerikanischen Westens, der von den radicalen Tendenzen Neuenglands, die den
Untergang der Republik im Schooße trugen, frei geblieben sei, während der Nord¬
osten aus dem großen Kampfe so ungebildet und ungeläutert hervorgegangen, als
er in denselben getreten, und die alte Kraft des Südens für lange gebrochen sei.
Die Grenzb. theilen nicht die Ansichten des Verfassers von dem Werth der
beiden feindlichen Parteien. Aber der Gegensatz seiner, Anschauung zu der Partei¬
nahme unseres Volkes mög dem interessanten Buch einen Reiz mehr in den Augen
solcher Leser geben, denen an mehr als der Bestätigung ihrer Meinungen ge¬
legen ist.
Unserem im vorigen Jahre veröffentlichten Bericht über dieses verdienstvolle und
fleißige Unternehmen haben wir nachzutragen, daß der erste Jahrgang desselben mit
dem Heft 8 geschlossen ist. Die drei letzten Hefte enthalten u. A. eine Statistik der
Zölle und Verbrauchssteuern des norddeutschen Bundes, die Gesetze über Aufhebung
der Schuldhaft und Schließung und Beschränkung der Spielbanken, die privatrechtliche
Stellung der Erwerbs- und Wirthschnftsgcnossenschaften, das Nothgewerbegesetz vom
6. Juli v. I. sammt dazu gehörigen Erläuterungen, ausführliche Angaben über das
Consulatwesen des Bundes, den Vertrag mit den Vereinigten Staaten über Staats¬
angehörigkeit, die Beschlüsse des berliner Handelstages vom October v. I., die Maaß-
und Gewichtsordnung für den norddeutschen Bund (17. Aug. 1868), die Verfassung
des Bundes mit Anmerkungen des Bureauchefs Dr. Metzel, die königl. Thronreden
der I. 1867 und 1868, endlich ausführliche Angaben über den territorialen Abschluß
des Zollvereins im I. 1868 mit einer erläuternden Karte.
Das den zweiten Jahrg. eröffnende erste Heft des neuen Bandes enthält zwei Ab¬
handlung (Währung und Münze von Prince Smith, die Justizgesetzgebung des nord.
Bundes VM einem Mitgliede des Reichstags). Die Sinnens'sche Denkschrift über
Reform der Patentgesetzgebung, die Denkschriften des bleibenden Ausschusses des deutschen
Handelstages über Transportwesen und Wechselstempel u. s. w. Die günstige Auf¬
nahme, welche das Unternehmen bisher gefunden und die Betheiligung beamteter und
unbeamteter Fachmänner, die dasselbe während der kurzen Zeit seines Bestehens zu er¬
werben gewußt, lassen mit Sicherheit auf einen entsprechenden Fortgang desselben schließen.
„Die ganze Christenheit, Juden und Sarazenen, Kaiser, Könige, Herzoge,
Grafen und Mcegrafen, Komthure, Vasallen und alle anderen Ritter, Priester,
Bürger und Bauern, Groß und Klein richten täglich ihren Sinn auf Singen
und Dichten, indem sie entweder selbst singen oder zuhören wollen. Kein
Ort ist so öde und entlegen, daß man, wenn nur Menschen ihn bewohnen,
nicht in ihm von Einzelnen, oder von Vielen gemeinsam singen hörte, und
selbst der Berghirten größte Freude ist Gesang. Alle guten und bösen
Dinge der Welt werden durch die Trobadors bekannt gemacht, und es gibt
keine üble Nachrede, welche ein Trobador einmal in Reim und Vers ge¬
bracht hätte, die nicht täglich wiederholt würde". Mit diesen Worten empfiehlt
der provenzalische Dichter Raimon Vidal sein gelehrtes Werk über die ra-los
as ti-vor, die Regeln der Dichtkunst und führt uns damit selbst in die
Sangesfluthen seiner liederbewegten Zeit. Wie er die unschuldige Freude
schildert, welche die heiteren Gesänge der Liebe Allen vom Herrn der Christen¬
heit bis hinab zum armen Hirten des fernen Gebirges erweckten, so weist
er in dem Schlüsse der angeführten Zeilen schon auf einen ernsten Beruf und
Einfluß der Liedcrkunst jener Tage hin. Wir besitzen Zeugnisse aus dem
Munde der hervorragendsten Trobadors. daß sie es als heilige Pflicht an¬
sahen, neben der Feier lieblicher Frauen ihre Kunst auch der Belehrung. An¬
spornung und der zürnenden Rüge zu weihen. Diesem ernsteren Berufe war
die eine Hauptgattung der provenzalischen Liedbildung das Sirventes*) ge-
widmet, während den sanfteren Weisen der Canzone die ritterliche Huldigung
der Schönheit anheimfiel. Das Liebeslied konnte trotz aller Kunst und
Farbenpracht der Behandlung eine gewisse Einförmigkeit nicht vermeiden;
dagegen bot die Auswahl der verschiedenartigsten Stoffe auf religiösem,
politischem und literarischem Gebiete den kecken Sängern Gelegenheit zur
reichsten Entfaltung ihres Witzes dar.
An dem nöthigen Freimuthe ließen es die Trobadors dabei nicht fehlen.
Mit einer für uns kaum begreiflichen Verwegenheit richten sie ihre Waffen
gegen die mächtigsten Gewalthaber in Staat und Kirche und verstehen es
dabei, ihre sachlichen Gründe durch besonders empfindliche persönliche Angriffe
zu unterstützen. Allerdings mußte der Dichter sich auf Repressalien der
schlimmsten Art gefaßt halten, denn, wo die Waffen des Geistes nicht aus-
reichten, scheute der Beleidigte vor wirksameren Bestrafungsmitteln, ja vor
der rohesten Gewaltthat nicht zurück.. So entzog Karl von Anjou dem Tro-
bador Bertram von Alamon wegen eines Rügeliedes die Erhebung eines
ihm zukommenden Zolles und der berühmte Marcabrun mußte seine Spott¬
sucht durch den Tod von der Hand beleidigter Barone büßen. Man hat die
Sirventesdichtung des 12. und 13. Jahrhunderts nicht unpassend mit dem
modernen Journalismus in Parallele gesetzt; in der That könnte man darüber
in Zweifel sein, welchem von beiden der mächtigere Einfluß auf die Herzen
der Zeitgenossen zuzuschreiben sei. Für eine rasche durch mündlichen Vortrag
noch gehobene Verbreitung eines Nügeliedes war durch umherziehende Sänger
wenigstens in dem Kreise der Betheiligten gesorgt, und eine gleiche Kühn¬
heit in der Verurtheilung öffentlicher und persönlicher Gegner, wie sie in der
Sirventesdichtung herrscht, würde heute der Presse kaum in den freiesten
Ländern gestattet sein. Für die gefährliche Macht, die dem Trobador zu
Gebote stand, spricht schon der Umstand, daß sangesgewandte Fürsten und
Herren sich oft der Sirventeses als Angriffs- und Vertheidigungswaffe.be¬
dienten. So beschuldigt Richard Löwenherz in einem heftigen Rügeliede den
Delphin Robert von Auvergne des Bundesbruchs und durch Geld erkaufter
Treulosigkeit; dieser weist alsdann seine Vorwürfe in derselben künstlichen
Strophenart zurück. Daß aber auch Angriffe niedriger gestellter Dichter der
Erwiederung nicht unwerth geachtet wurden, beweist ein Liederstreit des¬
selben Delphins von Auvergne mit einem Bürger Peire Pelissier. Dieser
hatte die Muse in den Dienst Mercurs gestellt und den vornehmen Herrn
in einem Liede ziemlich unsanft an alte rückständige Schulden gemahnt.
Der Delphin antwortet voller Entrüstung und nennt den Pelissier einen
bäurischen Höfling.
Bei der großen Mannichfaltigkeit der Gegenstände, welche die Trobadors
ihrer Kritik unterwerfen, so wie der rücksichtslosen Offenheit ihres Verfahrens
ist die Entstehung einer reichen historisch und psychologisch anziehenden Sir-
venteslitteratur leicht erklärt. Eine nur einigermaßen vollständige Uebersicht
des gesammten Materials würde die Grenzen dieser Zeitschrift weit über¬
schreiten; es mußte daher mein Bestreben sein, aus bestimmte charakteristische
Gruppen von Dichtern und Dichtungsstoffen ein helleres Licht fallen zu lassen.
Vielleicht am Interessantesten tritt die Volks- und Einzelindividualität
hervor, wo der Trobador für sein eigenes Interesse oder für die Wahrung
vaterländischer Eigenthümlichkeiten gegen eindringende geistliche und fremd¬
ländische Gewalten zu Felde zieht. Dann bricht oft die leicht zu entfachende
Glut des südfranzösischen Geistes in ursprünglicher Kraft hervor und die
Wirkung ist um so gewaltiger, da weder Furcht noch die Rücksichten feinerer
Bildung und Humanität dem ritterlichen Sänger eine Schranke setzten. Mit
gleicher Lebhaftigkeit behandeln die Trobadors auch poetische, moralische oder
psychologische Streitfragen, und der Vertreter einer der ihrigen entgegen¬
gesetzten Ansicht gilt ihnen oft als der gefährlichste persönliche Feind. Aber
gerade dieses Einsetzen des ganzen Menschen, so sehr es die Ruhe und Klar¬
heit der Discussion beeinträchtigen mochte, erhöht den Reiz des Gedichtes.
Es wird hierbei besonders darauf ankommen in dem Geiste einzelner hervor¬
ragender Männer „den Geist der Zeiten" selbst sich bespiegeln zu lassen. Die
bedeutendsten dahingehörigen Trobadors lebten in dem 12. und dem ersten
Viertel des 13. Jahrhunderts, also in der Blüthezeit provenzalischer Poesie,
und eine seltene Sangeslust und Sangeskraft, wie sie nur aus allgemeiner
Theilnahme der besten Zeitgenossen hervorgehen konnte, weht uns aus ihren
Strophen entgegen.
Doch diese Theilnahme an den dichterischen Gebilden mußte bald den
mit Macht andringenden Wogen religiöser und politischer Kämpfe weichen.
Der Geschmack des Adels für die feineren Weisen höfischer Kunstdichtung
erkaltete allmälig, durch die Kargheit der Großen sank auch die bürgerliche
Stellung der Trobadors, und das immer weiter vordringende nordfranzösische
Element übte auch auf die Sprache den zerstörendsten Einfluß. Gegen das
Einreiben roher Geschmacklosigkeit hielten die besseren Trobadors noch lange
das Banner der Kunst hoch, und diesen Bestrebungen verdanken wir eine
Reihe der trefflichsten Mahn- und Rügelieder. Der gefährlichste Feind jedoch,
welcher sich der frischen keine Beschränkung duldenden Art südfranzösischen
Geistes entgegenstellte, war Rom und die Hierarchie. Der Bekämpfung dieses
Feindes weihten die späteren Trobadors die vollsten Töne ihrer Leier, die
mächtigsten Schläge ihres Schwertes. Daß diese Klänge erfolglos verhallten,
daß die edlen Dichter ihr Blut vergeblich verspritzten, daß Simon von Mont-
fort an der Spitze des fanatischen Kreuzheeres den lauten Ruf nach Freiheit
erstickte, kann den Werth ihres Strebens nicht mindern.
Unter den zahlreichen Vertretern der persönlichen Sirventeses gibt es
vorzüglich zwei Sänger, welche durch dichterische Begabung und Originalität,
in Leben und Meinungen die Mitstrebenden so bedeutsam übertreffen, daß
der Blick beim Ueberschauen des ganzen Gebietes unwillkürlich an ihnen
haften bleibt. Es sind dies der berühmte Marcabrun und der von den Zeit¬
genossen ebenso gefürchtete wie geehrte Mönch von Montaudon. Schon die
Laufbahn des letzteren vom rauhen Ordenskleide bis zum heiteren Gewände
und zur ungezügelten Lebenslust eines freien Dichters gewährt ihm Anspruch
auf den Namen eines Originals. Den Namen des Mönches haben uns die
alten Handschriften nicht überliefert, doch erfahren wir, daß er aus einer
vornehmen Familie stammte, welche ihren Sitz auf dem Schlosse Vic in
Auvergne hatte. Er wurde, wie sich die Lebensnachricht naiv genug aus¬
drückt, „zum Mönch gemacht", trat in die seinem Stammschloß benachbarte
Abtei Orlae ein und bald sandte ihn sein Abt als Prior nach Montaudon.
Bald zeigte es sich, daß er eben nur ein „gemachter Mönch" war, denn er
fing an im Kloster Strophen zu dichten und Sirventese über die Tages¬
ereignisse der benachbarten Gegenden. Die Cavaliere aber und die Grafen
der umliegenden Schlösser fanden Gefallen an seinem kecken Wesen, zogen
ihn zu ihren Festen und Gelagen und beschenkten ihn reichlich. All seinen
Gewinn wandte er der ihm untergebenen Priorei zu, und der Aufschwung,
den diese nahm, mochte ihm die Verzeihung seiner Obern für die mannich-
fachen Übertretungen der Ordensregeln sichern. Endlich wandte sich der
Mönch mit der inhaltvollen Bitte an den Abt von Orkan, es möge ihm er¬
laubt sein, sich in seinem Thun und Lassen nach den Befehlen des Königs
Alfons von Aragon zu richten. Der fromme Vater Abt gewährte die Bitte
dem um das zeitliche Gedeihen der Mitbrüder so wohl verdienten Prior,
und König Alfons. ein eifriger Förderer der freien Muse, hatte nichts
Eiligeres zuthun, als dem Mönch zu befehlen, daß er Fleisch essen, heiteren
Gesang Pflegen und sich um die Gunst einer Dame bewerben solle. „Und
so that er", setzt die Handschrift hinzu.
Um diese Zeit befanden in Puy Sainte Marie Zusammenkünfte der vor¬
nehmsten Edlen und Grafen, der berühmtesten Sänger und der schönsten
Frauen statt, welche den ritterlichen Uebungen auf dem Turnierplatze und dem
edleren Wettstreit geschickter Trobadors geweiht waren. Zum Vorsteher dieser
Feste, zum „Herrn des Hofes von Puy" wurde jetzt der Mönch von Mon¬
taudon ernannt und mußte in dieser ehrenvollen Eigenschaft den berühmten
Sperber halten. Mit dem Sperber aber hatte es folgende Bewandtniß. Bei
einem jeden der in bestimmter Zeitfolge wiederkehrenden Feste trat der Herr
des Hofes von Puy in die Mitte der Versammelten, nahm einen Sperber
auf die Faust und wartete, bis ihm einer der reichen freigebigen Barone
denselben abnahm. Diese Uebernahme des Sperbers verpflichtete den Be¬
treffenden die oft nicht unbeträchtlichen Kosten des Festes zu tragen. Daß
man unsern Mönch zu einem solchen Ehrenamte erwählte, zeugt deutlich von
seinem Ruhm als Dichter, und von der Unbefangenheit, mit welcher seine
Zeit die bindende Kraft klösterlicher Gelübde ansah. —
Nachdem sich der Hof von Puy aufgelöst hatte, begab sich der Mönch
nach Spanien, wo ihm sein Abt die Priorei Villafranca übertragen hatte.
Auch diese bereicherte er durch seinen Sängerlohn und starb dort in hohem
Ansehen. Die Zeit seiner Blüthe fällt in die Wende des 12. und 13. Jahr¬
hunderts. — Wenn wir aus dieser kurzen Lebensskizze schon einen Schluß
auf den frischen ungezügelten Frohsinn des Dichters machen konnten, so wird
derselbe durch seine Lieder in vollem Maße bestätigt. Um über seine Nei¬
gungen gar keinen Zweifel aufkommen zu lassen, setzt der Mönch in zwei
umfangreichen Liedern mit seltener Offenheit auseinander, was in der Welt
sein gerechtes Mißfallen erregen muß. Ein drittes Lied schildert die ange¬
nehme Kehrseite der menschlichen Dinge.
Als verabscheuenswürdig gelten ihm in erster Reihe raufsüchtige und
prahlerische Menschen, ein lähmendes Pferd, ein junger Ritter mit unver-
hauenem Schilde, ein bärtiger Mönch, eine stolze, obwohl arme Dame, und
endlich ein Gemahl, der seine bessere Hälfte mit zu großer Zärtlichkeit im
Herzen trägt. Besonders dieser letztere Punkt ist für die Auffassung ehelicher
Verhältnisse unter den Trobadors charakteristisch. Ferner mißfällt ihm ein
kleines Stück Fleisch in einer großen Schüssel; daß ihn zu viel Wasser mit
wenig Wein gemischt vollends zur Verzweiflung bringen kann, würden wir
auch ohne das angerufene Zeugniß des heiligen Martin glauben. Nachdem
wir über die culinarischer Grundsätze des Mönches unterrichtet sind, läßt er
uns in gleicher Weise in die Geheimnisse seines Herzens Einblick thun. Be-
sonders üble Erfahrungen scheint er an schon gereifteren aber doch noch liebe-
bedürftigen Mitgliedern des schönen Geschlechts gemacht zu haben. Drei¬
viermal kommt er auf diesen verhaßten Punkt zurück und immer werden seine
Ausdrücke bitterer und gereizter. So:
Ich sag' euch, daß mir schrecklich widersteht
Ein altes Weib, das noch verliebt sich dreht.
Einmal versteigt er sich sogar zu dem ungalanter Ausdruck visllut e^an-RA,
altes Haus. — So fährt er fort mit Klagen über bösen Wind bei beab¬
sichtigter Seefahrt, schlecht gefütterte Pelzkappen, falsche Freunde, ungeschickte
Geigenspieler und Sänger und andere Uebelstände dieser bösen Welt. Die
ganze Litanei der Heiligen wird zu Zeugniß und Hülfe angerufen, oft bei
Veranlassungen so bedenklicher Art. daß man geradezu an einen italienischen
Banditen erinnert wird, welcher vor dem beabsichtigten Raubzug noch erst
einmal sein Madonnenbild um Schutz ansieht. Als Gegenstück zu diesen
beiden Liedern theilt uns der Mönch in einem dritten mit, welche Dinge ihm
gut und erfreulich dünken. Hierher gehören zunächst Lust und Fröhlichkeit,
Gastereien, freigebiges ritterliches Wesen und edle Frauen. An einem vor¬
nehmen Mann, liebt er vor Allem gegen die Freunde treues redliches Be¬
zeigen, den Feinden gegenüber aber bitteren Haß. Dieselbe unchristliche Ge¬
sinnung wiederholt er noch einmal im Verlauf des Gedichtes, wo es heißt:
Es freut mich, wenn mein Feind muß sterben,
Noch mehr, stürz' ich ihn ins Verderben.
Aber der Dichter ist auch sanfteren Regungen nicht verschlossen. In zwei
reizenden melodischen Strophen schildert er die Lust, mit der Geliebten im
Arm, am Bach unter blühenden Büschen die schönen Sommertage zu ver¬
träumen. Dabei sind aber die Freuden der Tafel nicht vergessen und kommen
in diesem Gedichte durch den materiellen Wunsch nach einem recht großen
Salm zur Römerzeit zum berechtigten Ausdruck. , >
Man wird es begreiflich finden, daß ein so entschieden zu derber Reali¬
stik neigender Dichter, wie der Mönch von Montaudon, in den überschwäng-
lichen Anschauungen des ritterlichen Minneliedes sich nicht heimisch fühlen
konnte. So sind denn auch die Canzonen unseres Trobadors, welche er dem
Gebrauche der Zeit gemäß zum Preise einer Dame zu singen fast verpflichtet
war, mehr durch anziehende oft schlagende Vergleiche als durch Wärme der
Empfindung ausgezeichnet. Sein Feld war die satirische Bekämpfung ihm
entgegenstrebender Zeitströmungen und gerade gegen die höchsten Ideale ritter¬
lichen Fühlens, gegen die Frauen richtete er mit Vorliebe die Pfeile seines
Witzes. Es gehören hierher zwei Sirventese unseres Trobadors, welche durch
Originalität der Einkleidung und beißende Schärfe der Satire Berücksich¬
tigung verdienen. Beide Gedichte behandeln die schon damals übliche Sitte
oder Unsitte des schönen Geschlechts die Jugenddlüche der Wangen durch
Mittel der Kunst noch zu erhöhen, oder ihr frühzeitiges Welken zu verhüllen.
Der Dichter führt uns in die Debatte eines Nechtshandels ein. Der Schau¬
platz ist der Himmel, der Richter niemand geringeres als Gott Vater in
eigener Person, Kläger sind die Mönche, welche behaupten, daß die Damen
durch ihre gemalten Wangen den Glanz der Votivbilder noch überstrahlen;
die Malerei sei ihre, der Mönche Erfindung und die Damen hätten gar kein
Recht, dieselbe zu ihren profanen Zwecken zu mißbrauchen.
Aber die Damen weisen die Anklage mit Entrüstung zurück und ver¬
sichern ihrerseits, die Kunst des Malens sei von den Frauen schon geübt
worden, noch ehe man überhaupt an Votivgemälde gedacht habe. Zum Aus-
gleich thut Gott den Vorschlag, die Mönche sollten den Damen, welche die
verhängnißvolle Grenze der Fünfundzwanzig noch nicht überschritten, den Ge¬
brauch der Schminke noch fernere 20 Jahre, also etwa bis zum 45sten
Lebensjahre gestatten. Aber die ungalanter Mönche wollen höchstens zehn
Jahre bewilligen, und nur der diplomatischen Feinheit der hh. Petrus und
Laurentius gelingt es, einen Frieden zu Stande zu bringen, wonach den
Damen Is Jahre freigegeben werden. Aber, fügt der Dichter hinzu, ich
sehe den Eid gebrochen von den Frauen, die ihn doch halten sollten; das
ist nicht schön. Wenige nur giebt es. die ihrem Versprechen treu blei¬
ben. Und jetzt folgt eine detaillirte Aufzählung aller derjenigen nütz¬
licher zu verwendenden Ingredienzien, aus welchen die Schminke be¬
reitet wird. „Den alten Mönchen nehmen sie die Bohnen, die einzige
Speise, welche diese verlangen können, so daß ihnen nun nichts mehr übrig
bleibt. Auch den Safran, welchen man besser zu seinen Saucen an Ragout
benutzen könnte, haben die Frauen so vertheuert, daß man sich, wie uns
Pilger berichten, jenseit des Meeres darüber beklagt. Mögen sie doch die
Fahnen und Waffen der Kreuzfahrer ergreifen und sich aus Palästina den
Safran selbst holen, dessen sie so sehr bedürfen." — In dem zweiten
Gedicht sind die Damen auf Verletzung des Vertrages angeklagt worden.
Der Herrgott scheint in seiner Verlegenheit, wie er sich seinen schönen Töch¬
tern gegenüber benehmen soll, den Mönch von Montaudon zu einer Vor-
berathung beschicken zu haben. „Mönch — beginnt der Herr — ich höre,
die Damen haben ihren Vertrag gebrochen, gehe hinunter aus Liebe zu mir,
und sage ihnen, wenn sie sich wieder mit Farben bemalen, so werde ich die¬
selben wieder abwischen. Jetzt aber nimmt der Dichter, der vielleicht seit
der letzten Scene zarten Einflüsterungen nicht unzugänglich geblieben, ent¬
schieden die Partei der Damen und spricht zu dem zürnenden Richter:
„Sachte, sachte, lieber Herr, Ihr müßt mit den Frauen Geduld haben, denn
es liegt in ihrer Natur, daß sie ihr Antlitz lieblich schmücken." Gott erwi¬
dert, die Damen würden in seine Machtvollkommenheit eingreifen, wenn sie
den Gesetzen der Natur entgegen sich durch künstliche Farben die ewige
Jugend erhalten wollten, aber der Mönch erklärt, es werde nur übrig
bleiben, den Frauen nie alternde Schönheit zu gewähren oder die Malerei
überhaupt dem Menschengeschlecht zu nehmen. Der weitere Verlauf des Ge¬
spräches wird unmittheilbar, doch scheint der Herr aus der Rolle des „guten
Mannes" trotz einiger böser Drohungen nicht heraustreten zu sollen. — Die
kecke Persifflage auf die Schwächen der Frauen muß bei einem ritterlich ge-
bildeten Trobador Wunder nehmen, noch auffallender aber ist die unziem¬
liche Weise, in welcher die Gottheit selbst in die Handlung gezogen wird.
Mag man der Naivetät des Zeitalters noch so viel hingehen lassen, dem
höchsten Wesen frivole, ja geradezu unanständige Reden in den Mund zu
legen, wie das in den unterdrückten Steljen des Gedichts geschieht, muß bei
einem Geistlichen befremden. Aehnliche Erscheinungen in volksthümlichen
Schelmenliedern oder Bühnenaufführungen sind damit gar nicht auf eine Stufe
zu stellen. — Uebrigens war diese Art, sich in persönlichem Verkehr mit Gott
und den Heiligen darzustellen, bei unserem Dichter besonders beliebt. Ein
Lied, welches nach einer längeren Unterbrechung seiner Wanderungen im
Kloster Montaudon entstanden zu sein scheint, beginnt in folgender Art:
Jüngst kam ich im Himmel an.
Traun mit Lust erfüllt mich dies,
Denn mich mild willkommen hieß
Gott, dem Alles Unterthan,
Meer und Land und Bergeskronen.
„Weshalb nahst du meinem Thron
Und wie geht's in Montaudon,
Wo dir viel Gefährten wohnen?"
Im weiteren Verlause legt der Dichter geschickt Gott selbst die Ausfor¬
derung in den Mund, das Kloster wieder zu verlassen und singend durch die
Welt zu ziehen, „denn", spricht der Herr, „mir ist lieber, wenn du lachst und
singst, die Welt wird fröhlicher und Montaudon zieht Nutzen davon." —
Wenn unser Dichter, wie wir gesehen, gegen alle Regeln der Courtoisie die
Frauen mit seinem Spotte traf, so ist es begreiflich, daß er gegen sein eige¬
nes Geschlecht und insbesondere gegen seine Kunstgenossen nicht mehr Rück¬
sicht übte. Ein von ihm erhaltenes Sirventes ergeht sich über eine große
Anzahl der beliebtesten gleichzeitigen Trobadors in den schonungslosesten
Ausdrücken. Als Vorbild zu seinem Sirventes diente dem Mönch von Mon¬
taudon ein ähnliches Gedicht des Trobadors Peire von Auvergne, worin die¬
ser beliebte Dichter den collegialischen Gesinnungen gegen zwölf seiner Kunst¬
genossen Luft macht. Mehrere der von Peire Gemißhandelten sind uns gänz¬
lich unbekannt, doch scheinen alle zu ihrer Zeit bedeutenden Ruhmes genossen
zu haben.
Die Art der Polemik zu kennzeichnen, möge der Inhalt einiger Strophen
Peire's hier folgen: „Guiraut de Börnen gleicht einem trockenen Tuche in der
Sonne mit seinem dünnen erbärmlichen Singen, welches wie das einer alten
Eimerträgerin klingt. Wenn er sich selbst im Spiegel sähe, würde er sich
keiner Hagebutte werthschätzen." Bernard von Ventadour, dem süßen Sänger
der Liebe, wird seine niedere Herkunft vorgeworfen. Er ist — heißt es —
noch um ein Stück kleiner wie Guiraut de Börnen. In seinem Vater
hat er einen wackeren Knecht beim Bogenschießen, und seine Mutter heizte
den Ofen und sammelte Reisig. In dieser Weise geifert und schimpft
Peire durch zwölf Strophen hindurch, um endlich in der letzten aus den
Trümmern zerbrochener Ehrensäulen den Bau des eigenen Ruhmes desto
stolzer emporsteigen zu lassen.
„Peire von Auvergne an Stimme reich
Weiß hoch und tief zu singen gleich
Und süß sein Lied der Brust entweht.
Des höchsten Ruhmes Preis ist sein,
Nur könnt' er etwas klarer sein,
Da jetzt kaum einer ihn versteht."
Unter dem scheinbaren Vorwurfe der Unklarheit liegt nur noch größeres
Selbstlob verborgen, denn die schwerverständliche Dichtart galt für ein Zeichen
höchster Begabung und nur dieser verdankte z. B. auch Arnaud Daniel den
ihm auch von Dante zuerkannten Ehrenplatz unter allen Trobadors. Die
letzte selbstgefällige Strophe Peire's ist übrigens einem eigenthümlichen Ver-
hängniß anheimgefallen, indem von einem witzigen Abschreiber die ersten
Zeilen der Strophen in nichts weniger als schmeichelhafter Weise umgestaltet
sind. „Peire von Auvergne — heißt es nun — hat eine Stimme, daß er
singt wie ein Frosch im Sumpfe, und er erhebt sich selbst vor aller Welt."
Uebrigens galt Peire für einen bedeutenden Dichter und sein überhoch
geschraubtes Selbstbewußtsein mochte verzeihlich erscheinen. Die alten Lebens¬
nachrichten nennen ihn „den besten Trobador der Welt, bis Guiraut von
Barren kam", und Nostradamus erzählt, er habe bei den Damen so sehr in
Gunst gestanden, daß ihm das süße Vorrecht geworden, nach jedem Gesänge
die schönste aus ihrem Kreise küssen zu dürfen. — Dem mitgetheilten satiri¬
schen Rügelied Peire's schloß sich der Mönch von Montaudon in würdigster
Weise an. „Peire der Auvergnate — heißt es in einem seiner Gedichte —
trägt sein Gewand schon 30 Jahre. Er ist dürrer wie Brennholz und sein
Gesang wird immer schlechter. Seit er sich zu Clermont mit einer Dirne
einließ, hat er kein gutes Lied mehr gedichtet." „Arnaud Daniel hat sein
Leben lang nichts Gutes zu Stande gebracht, sondern nur verwirrtes Zeug,
welches kein Mensch versteht." Folquet von Marseille, den heiteren Tro-
bador, späteren Bischof von Toulouse und grausamen Ketzerverfolger nennt
der Mönch nach dem Gewerbe seines Vaters einen Krämer und sagt, er
habe einen tollen Eid geschworen, keine Lieder mehr zu dichten, werde ihn
aber gewiß nicht halten. Den bittersten Spott jedoch gießt unser Dichter
über einen Trobador aus. dessen fast an Wahnsinn grenzende Selbstüber-
Hebung der Satire allerdings den günstigsten Spielraum gewährte. Peire
Vidal. Dieser war der Sohn eines Kürschners, doch durch seinen Gesang
weit berühmt. Er glaubte den Frauen gegenüber unwiderstehlich zu sein,
mußte aber seine Prahlereien theuer genug bezahlen, indem ein eifersüchtiger
Ehemann, von dessen Gattin er sich heimlicher Liebesbeweise rühmte, ihm
die Zunge durchstechen ließ. Auf einem Kreuzzuge heirathete er in Cypern
eine Griechin und kehrte mit ihr in seine Heimath zurück. Jetzt bildete er
sich ein, seine Gattin sei eine Tochter des griechischen Kaisers und er selbst
habe somit ein Recht auf den Thron seines Schwiegervaters. In Folge
dessen nahm er das griechische Wappen an, ließ sich Kaiser nennen und ge¬
dachte sogar durch Ausrüstung einer Flotte seinen Ansprüchen Geltung zu
verschaffen. Diese Thorheiten machten ihn zur Zielscheibe allgemeinen Spot-
tes und auch der Mönch von Montaudon läßt sie nicht ungerügt. „Peire
Vidal — sagt er — ist der allerletzten einer. Er hat nicht alle seine Glieder
und eine Zunge von Silber thäte ihm Noth. Der Elende, einst war er
ein Kürschner. Aber seit er sich selbst zum Ritter geschlagen hat. hat er allen
Verstand verloren." So geht der Mönch von Montaudon über Is berühmte
Sänger zu Gericht, und wenn der Witz mit dem Behagen nicht immer glei¬
chen Schritt hält, so kann man ihm wenigstens nicht abstreiten, daß Haß und
Verachtung ehrlich gemeint sind. Uebrigens ist auch seiner Satire eine Strophe
hinzugefügt, worin an ihm, ganz nach seiner eigenen Weise. Vergeltung
geübt wird. „Mit dem sechszehnten dieser Verse — heißt es hier — wird
sich der falsche Mönch von Montaudon genügen lassen, der mit Allen Streit
und Zank sucht. Er hat Gott um einen Schinken verlassen, und weil er
jemals Verse und Canzonen gemacht hat. sollte man ihn in den Wind hängen."
Mit diesem literarischen Pamphlet wollen wir den Mönch von Mon¬
taudon verlassen, dessen burleske Figur jedenfalls den eigenthümlichsten Er¬
scheinungen des schaffenden Naturhumors beizuzählen ist. Aber fast noch
wunderbarer möchte uns die Zeit erscheinen, worin ein Mönch, der ohne
Rücksicht auf heilige Gelübde im wildesten Treiben der Höfe sich tummelt,
die Freuden der Liebe kostet und wenigstens in seinen Liedern vor dem
ärgsten Cynismus nicht zurücksehend, mit voller Billigung der geistlichen und
weltlichen Autoritäten hohe Achtung bis zum Tode genießt.
Wir wenden uns zu einem zweiten hervorragenden Dichter dieses Krei-
ses, Marcabrun. Wir besitzen über seine Schicksale in den alten Handschriften
zwei kurze, jedoch nicht in allen Punkten übereinstimmende Nachrichten.
Marcabrun, erzählt die eine, wurde an die Pforte eines reichen Mannes ge¬
legt und Niemand wußte, wer er sei, noch woher. Herr Aldrie von Vikar
ließ ihn aufziehen und später blieb er so lange bei einem Trobador mit
Namen Cercamon, bis er anfing, selbständig zu dichten. Und bis dahin hatte
er den Namen Panperdut (Brodlos) geführt, aber von nun an nannte er
sich Marcabrun. Und er wurde sehr gefürchtet und gerühmt rings in der
Welt wegen seiner Zunge. Denn er liebte so die böse Nachrede, daß die
Castellane von Gujan, von denen er Uebles gesagt hatte, ihn umbrachten.
Die andere Version giebt an, er sei aus Gascogne und der Sohn einer
armen Frau, Maria Bruna, gewesen. Auch nach der zweiten Handschrift
machte er „böse Gedichte und schlimme Sirventese und sprach übel von
den Frauen und von der Liebe." In dieser letzten Eigenschaft, so zu
sagen als Antierotiker, werden wir ihn näher zu betrachten haben; doch
mögen zuvor noch einige bedeutsame Züge aus seinen übrigen Sirventesen
folgen. Auch von ihm besitzen wir ganz nach Art des erwähnten Liedes des
Mönchs von Montaudon ein Glaubensbekenntniß, worin er mit großer
Naivetät über die leitenden Gesichtspunkte seines Denkens und Handelns
Rechenschaft ablegt. „Dafür — spricht er — lob ich Gott und Se. Andreas,
daß Niemand von feinerem Verstände ist wie ich, aber ich mache nicht viel
Redens davon. Ich bin so reich an listigen Sinne, daß es sehr schwer hal¬
ten möchte, mich zu betrügen. Das Brod der Thoren esse ich, wenn es noch
warm und weich ist, und lasse meines unterdessen erkalten. So lange des
Narren Vorrath aushält, schwöre ich ihm, daß ich mich von ihm nicht
trennen könne, aber wenn er kein Brod mehr hat, dann mag er vergeblich
nach dem meinigen jammern. In dem Gehege eines Anderen lasse ich lustig
und frei meine Hunde bellen, aber mein Besitzthum habe ich so geschützt, daß
ich ganz allein es genieße. Jeder nehme sich vor mir in Acht, denn mit
solchen Künsten gedenke ich zu leben und zu sterben." In seinen moralischen
Sirventesen wendet sich Marcabrun zunächst gegen die allgemeinen Gebrechen
der Zeit und klagt besonders über den Verfall der wahren Liebe und Höf¬
lichkeit. Der Ton. welcher in diesen Gedichten herrscht, ist bei manchen ge¬
haltloser, oft cynischen Ausfällen im Ganzen von warmer Empfindung durch¬
weht und wird eines bedeutenden Eindrucks auf den Leser kaum verfehlen.
Wahrhaft gewaltig ist z. B. jenes Bild von dem ungeheuren Baume, der
seine Wurzeln tief in die Erde senkt, während seine Wipfel bis in die Wolken
ragen. An ihn sind unzählige Menschen gefesselt, alte und junge, Könige,
Grafen, Fürsten und Admiräle. Denn der mächtige Baum ist die Schlechtig¬
keit der Welt und Geiz und Habsucht sind die Fesseln. welche die Herzen
der Menschen umschlingen, so daß kaum einer sich losreißt. Ein anderes
vortreffliches Gedicht besingt den Werth der guten Sitte oder, um den ent¬
sprechenden mittelhochdeutschen Ausdruck zu gebrauchen, die an^e. Der
würdige Ernst dieses Liedes ist kaum mit den losen Scherzreden des an¬
geführten Glaubensbekenntnisses in Einklang zu bringen, und fast könnte
man auf den Gedanken kommen, Marcabrun habe in jenem Schelmenliede
nur das egoistische Treiben seiner Zeitgenossen persistiren wollen. Bei der
durchweg praktischen Richtung unseres Trobadors kann es übrigens nicht
Wunder nehmen, daß er mit mancher der überschwä»glich schwärmerischen Stro-
nungen seiner Zeit in Widerspruch gerathen mußte. So scheint er in einem
Gedichten der übertriebenen Wanderlust nach Palästina, wenn nicht in offe¬
ner, so doch in kaum zu verkennender Weise entgegentreten zu wollen. Er
hat es dabei verstanden, diese Opposition, welche ihm leicht als Gottlosigkeit
ausgelegt werden konnte, in das Gewand lieblich idyllischer Dichtung zu
hüllen. Die Romanze, in welcher dies geschieht, ist eine Perle der Trobador
Poesie, und ich kann mir nicht versagen, hier den Versuch einer metrischen
Uebertragung folgen zu lassen, welche allerdings den melodischen Fall pro»
venzalischer Verse nicht erreichen wird.
^ Is, kontan», ack verzier — Im Garten an der Quelle klar,
Die dicht mit Grün umschattet war,
Am Baume, den das junge Jahr
Mit Weißen Blüthen überstreut
Und mit der Vöglein muntrer Schaar,
Da nahm ich ohne Freund gewahr
Sie. die verschmäht mein scherzend Wort. Ein Fräulein lieblich anzusehn,
Des Burgherrn Tochter jung und schön.
Ihr, dacht ich, wird die Lust erhob'n
Das Grün, die Vöglein sangerfreut
Der jungen Knospen Neuerstehn,
Und freundlich wird sie Rede stehn.
Den Irrthum doch sah ich sofort. Die Thränen flössen in den Bach,
Ein tiefer Seufzer hallte nach.
„O Jesus. Herr der Welt — sie sprach —
..Durch Euch erwächst mir großer Schmerz
„Mit Leid erfüllt mich Eure Schmach,
„Der besten Männer Zierde, ach!
„Hat Eurem Dienste sich geweiht." „Für Euch verließ mein Liebster mich
„Vor Allen schön und tugendlich
„In bittrem Jammer klage ich,
In banger Sehnsucht schlägt mein Herz.
„Leid treffe König Ludewig,
„Daß er im Kreuzesheer auch Dich
„Entführte in die Ferne weit.- Da ich so klagen sie gehört
Hab ich mich schnell ihr zugekehrt.
„O Schöne — sprach ich — Such versehrt
„Das Weinen Farb und Angesicht,
„Auch sei das Klagen Euch verwehrt.
„Er, der dem Bäumen Grün bescheert
„Kann schenken Euch genug der Lust."„Herr — sagte sie — wohl glaub ich Euch
„Daß Gott so vielen Sündern gleich
„Auch mir im schönen Himmelreich
„Der Gnade Heil versaget nicht.
„Nur raubt' er, was im Erdbereich
„Mich freute.. Alles gilt mir gleich,
„Da er sich schied von meiner Brust."
Wie man sieht, hat der Dichter seine eigene Stellung zu der behandelten
Frage geschickt verdeckt. Fromme Gemüther mochten sich immerhin an seine
salbungsvollen Trostesworte halten und dem Schmerze eines liebenden Mäd¬
chens mußte auch der ärgste Eiferer seine Klagen verzeihen. Eine Analogie
zu diesem Gedichte möchte man in einem Liede des wackern nordfranzösischen
Trouveres Ruteboeuf erblicken. Auch er schildert einen Disput zwischen einem
Gegner und einem begeisterten Anhänger der Kreuzfahrten. Der böse Zweifler
erklärt sich zwar am Schlüsse für bekehrt, aber der Dichter läßt gerade ihn
mit schlagenden Gründen, den Frommen dagegen mit ziemlich leeren Redens¬
arten ins Gefecht gehen. Bei Marcabrun gingen übrigens die Bedenken
gegen die Fahrten ins gelobte Land keineswegs aus unkriegerischer oder un¬
christlicher Gesinnung hervor. Als die maurische Dynastie der Almoraviden
in Spanien die christliche Cultur des südlichen Europa mit Gefahr bedrohte,
da forderte Marcabrun selbst in feurigem Gesänge zum Kampfe gegen die Un¬
gläubigen auf. — Wenn, wie wir gesehen. auch der kühnste Satiriker im
Kampfe gegen religiösen Uebereifer nur sehr bedächtig vorgehen durfte, so
war dagegen die Verehrung der Frauen im Mittelalter zwar ein ebenso zarter
aber doch nicht so gefährlich zu berührender Punkt. Gegen diese richtet denn
auch Marcabrun die ganze Schärfe seiner Strophen. Um so zügelloser konnte
er in seinem Zorne vorgehen, da ihm selbst, wie er sich dessen ausdrücklich
rühmt, die holde Göttin der Minne nie das Herz gerührt hatte. „Marca-
*drum", sagt er — der Sohn der Bruna. war unter solchem Gestirne ge¬
boren, daß er wußte wie die Liebe zerstört. Er selbst liebte nie und wurde
nie geliebt." Einige Gedichte, welche sich auf ein sinnliches Verhältniß zu
einer Frau von sehr zweifelhafter Tugend beziehen, widerlegen diesen Aus.
Spruch in keiner Weise. Liebe war den Trobadors nur jenes schwärmerische
Gefühl zu einer edlen Frau, wie sie es in süßen Canzonen und ritterlichen
Thaten zu beweisen trachteten. In mehreren Liedern beschränkt sich Marca-
drum darauf, den Verfall der wahren Liebe zu beklagen, in einer Sirventes
aber setzt er alle Rücksicht bei Seite und gibt der Liebe selbst Schuld an
allem Unheil.
„Hunger, Sterblichkeit und Krieg bringen nicht so viel Unheil in die
Welt wie die Liebe, die mit List die Herzen umschlingt. Wenn sie Jemanden
bis aus die Bahre gebracht hat, so wird ihr Auge nicht naß." „Früher war
die Liebe gerade, aber jetzt ist sie schief und lahm, und ist so rauh geworden,
daß sie unsanfter leckt, wie eine Katze." — „Wer sich mit der Liebe in einen
Handel einläßt, der verschreibt sich dem Teufel. Ihr Stich ist zwar milder
wie der einer Mücke, aber dafür um so schwerer zu heilen. Sie ist wie ein
Funken unter der Asche, und wer von ihrem Feuer verletzt wird, der weiß
nicht mehr, wohin er fliehen soll". — Ein solch prinzipielles Auftreten gegen
die Liebe mag unter den Trobadors einzig dastehen und mußte deshalb
bittere Entrüstung und lebhaften Widerspruch hervorrufen. Zwar waren
unglückliche Ehen, geprellte Gatten und ähnliche Dinge ein mir Vorliebe be-
handelter Gegenstand, auch hatte Folquet von Marseille, als er von der
treu geliebten Aoalasia sich trennte, die Liebe ein Licht genannt, welches
den armen Schmetterling anfasse, um ihn zu versengen, aber das konnte man
der Verzweiflung des Leidenschaftlichen verzeihen. Bei Marcabrun dagegen
mußte der kaltblütige Hohn doppelt verletzen. Unter den Trobadors, welche
für den Werth der hohen Minne in die Schranken ireten. nennen wir Peire
von Auvergne, den Dichter der erwähnten Sirventes gegen seine Dichter-
genossen. „Wer die Freuden der Welt zerstört — singt er — setzt seinen
eigenen, Werth herab. Marcabrun ist der Sohn eines niedrigen Geschöpfs
und hat sich selbst niedrig erwiesen. Wer seine Natur nicht kennte und nicht
wüßte, wer ihn geboren, müßte ihn für toll halten". Ein anderer Trobador
vertheidigt die Minne mit dem schlagenden Grunde, daß ohne ihre holde
Macht die Welt aussterben müßte. —-
Wenn wir nun zum Schlüsse einen Blick auf den zurückgelegten Weg
werfen, so mag der Gesammteindruck nicht durchweg erfreulich erscheinen.
Der rein poetische Gehalt ist in den meisten Liedern, wie das allerdings
durch die Natur der Aufgabe fast bedingt wurde, nicht sehr ergiebig; sachliche
Gründe werden bei der gereizten Stimmung der Dichter kaum vorgebracht.
Alles läuft auf persönliche Beleidigungen des Gegners hinaus und in dieser
Beziehung tragen besonders die literarischen Kämpfe deutlich den Stempel
des poetischen Faustrechts.
Aber dieser Vorwurf trifft vor Allem das Zeitalter, weniger die Dichter,
welche gerade durch die Schärfe ihres Witzes zur Anbahnung glücklicherer
Zustände den Weg frei zu machen suchten.
Um nach so mannichfach dissonirenden Weisen mit einem vollktingenden
Accorde zu schließen, sei hier noch einer Sirventesgattung gedacht, welche
durch den Hauch warmen Gefühls für manche abstoßende verwandte Dich,
tungsart entschädigt, das Klagelied. Die Klagelieder wurden von den
Trovadors auf den Tod hervorragender Gönner und Schützer gedichtet und
gaben dem Verluste, welchen die Freunde, die Kunst und das Land erlitten,
beredten Ausdruck. Unter der reichen Auswahl dieser Trauergesänge mögen
hier als von hohem poetischen Werthe hervorgehoben werden das Gedicht
Folquet's auf den Tod des Grafen Blüiatz. Gaucelm Faltet's aus das
frühe Hinscheiden des tapfern Richard Löwenherz, sowie endlich das Klage¬
lied Bertram's de Born, welches der edle Sänger seinem treuesten Freunde,
dem jungen Heinrich, dem Sohne Heinrichs des Zweiten von England ge¬
weiht. Von dem letzteren sei hier die vortreffliche Uebersetzung von Frie¬
drich Diez mitgetheilt, welcher ich die vierte, von ihm nicht übertragene
Strophe hinzugefügt habe,
81 tut 11 äol s'I xlor e'1 eng-rrimsn — Wenn alle Qualen, Thränen, alles Leid,
Der Kummer, der Verlust, die herbste Pein,
Die man gefühlt in dieser Zeitlichkeit
Versammelt wären, schienen sie noch klein
Beim Tod des jungen Herrn von Engelland,
Worüber Ehr' und Hochsinn sich beklagt,
Die Welt verdüstert, schwarz und finster zagt
Ganz freudenleer, voll Traurigkeit und Jammer. Betrübt und schmerzvoll und in tiefem Leid
Sind nun die wackern Söldner, da er todt,
Die art'gen Dichter, Sänger weit und breit:
Kein Feind ist doch so tödtlich wie der Tod!
Er nahm den jungen Herrn von Engelland,
Vor dem der Mildeste noch karg erschien.
Fürwahr nicht hatte diese Welt um ihn
Und wird nicht haben Thränen gnug und Jammer. Gewalt'ger Tod, grausam und voller Leid
Du kannst dich rühmen, daß des Besten, ach!
Den diese Welt gesehn in aller Zeit,
Du sie beraubt. Denn höchster Tugend pflag
Von je der junge Herr von Engelland.
Und besser wär es, wenn es Gott gefiel,
Er lebte noch, als böse Menschen viel,
Die nur den Guten sind zu Leid und Jammer.
Er. dem eZ einst gefiel für unser Leid
Zu wandeln hier, der Rettung uns erwarb,
Der Herr der Demuth und Gerechtigkeit
Der unsrem Heil zu Lieb' des Todes starb,
Woll' auch den jungen Herrn von Engelland
Begnadigen, wie er selber gnadenreich:
Er laß ihn, würdigen Genossen gleich
Dort wohnen, wo nicht Schmerzen sind noch Jammer.
K
päische Nationalität hat sich in Deutschland und namentlich in Norddeutsch¬
land so lebhafter und rückhaltsloser Sympathien zu erfreuen gehabt wie die
ungarische. Schon die Bedeutung, welche die Sache des magyarischen Volks
für die Gestaltung der deutschen Dinge gehabthat, brachte mit sich, daß die
ungarischen Bestrebungen der letzten Jahre in Norddeutschland kräftige mora¬
lische Unterstützung fanden. Ungarn hatte das Verdienst gehabt, ein Pfahl
in dem trägen Fleisch des östreichischen Absolutismus gewesen zu sein. Ungarn
hatte die deutschen Aspirationen des Hauses Habsburg-Lothringen in Schach ge¬
halten und immer wieder daran erinnert, daß die ^U8tria tslix ihren Schwer¬
punkt im Osten zu suchen habe und mit ihrem Anspruch, die deutsche Gro߬
macht zu spielen, den eigenen Lebensgesetzen ebenso ins Gesicht schlage, wie
den deutschen.
Dieses traditionelle Wohlwollen Deutschlands und namentlich Nord-
deutschlands hat sich auch in schwierigen Proben bewährt. Als der Schmer-
ling'sche Constitutionalismus an dem „Nov possumus" Ungarns scheiterte
und dem feudalen entschieden arti-deutschen Dreigrafen - Ministerium Platz
machte, hat die nationale Presse Deutschlands kein Wort darüber verloren,
daß die neue, den Deutsch-Oestreichern bereitete Enttäuschung ihren Haupt¬
grund in der ablehnenden Haltung der Magyaren gehabt — der Deal'sche
Standpunkt wurde vielmehr bis in seine letzten Consequenzen und ohne jede
Rücksicht auf seine Jnconvenienzen für das deutsche Element im Kaiserstaat
verfochten. Dasselbe geschah, als Ungarn im Sommer 18L7 seinen Frieden
mit dem Reichskanzler schloß und die Unkosten desselben wesentlich von den
Deutsch-Oestreichern mit Uebernahme des größten Theils der Steuer- und
Schuldenlast bezahlen ließ; selbst vor den die siebenbürgischen Deutschen hart
bedrückenden Consequenzen des ungarischen Staatsprincips ist man diesseit
des Main und der Donau nicht zurückgewichen und die Freundschaft Nord¬
deutschlands für Ungarn ist nicht der letzte Grund, aus welchem wir in Wien
für Todfeinde des östreichischen Staats gelten.
Wir wissen nicht ob und in wie weit diese Umstände dazu geführt haben,
der deutsch-nationalen Beurtheilung ungarischer Dinge bei den Magyaren
selbst Einfluß zu verschaffen; wohl aber dürfen wir den Anspruch erheben,
Norddeutschland als den unbefangensten und wohlwollendsten aller Richter
angesehen zu wissen, welche über Erscheinungen des magyarischen Staats¬
lebens ihre Meinung sagen.
Diese Meinung ist durch den Ausfall der letzten ungarischen Landtags¬
wahlen weder bei Deutschen, noch bei urtheilsfähigem Franzosen und Eng¬
ländern gebessert worden. Der Sieg, den die Pester Linke und der mit ihr
verbündete Radikalismus über die bisher herrschende Partei in einer großen
Anzahl der wichtigsten Wahlbezirke erfochten haben, stellt der vielgerühmten
Mäßigung und dem staatsmännischen Sinn, der diesem Volke bisher im
Gegensatz zu Polen. Rumänen, Serben und anderen Bewohnern des öst¬
lichen Europa nachgerühmt worden, vielmehr ein ziemlich bedenkliches Zeugniß
aus und läßt uns fürchten, daß bei den deutschen Sympathien für Ungarn
ein gutes Stück Ueberschätzung mituntergelaufen ist, oder doch, daß nach einem
beschränkten Kreise von Staatsmännern voreilig auf den Bildungszustand
der gesammten Nation geschlossen worden.
Von den 329 Wahlen, deren Resultate bis jetzt bekannt geworden, sind
nicht weniger als 146 im Sinne der Opposition ausgefallen und ob der Rest
aus wirklich zuverlässigen Deakisten besteht, wird die Zukunft noch aus¬
weisen müssen.
Die Partei, welche bisher fast unumschränkt über das Pester Parlament
herrschte, hatte nicht nur einen beträchtlich Theil ihrer alten Sitze eingebüßt und
eine relativ schwache Majorität übrig behalten, — sie ist, was sehr viel mehr
sagen will, gerade an den entscheidendsten Punkten empfindlich geschlagen worden.
In einer der Vorstädte der Landeshauptstadt ist der Finanzminister Gorove
durchgefallen, in den übrigen Pester Wahlbezirken haben zum Theil ziemlich
obscure Candidaten der Opposition über erprobte Männer der ministeriellen
Majorität gesiegt. Während die Linke all' ihre alten Führer durchgebracht
hat. fehlt in den Reihen des Dcakschen Generalstabs manch' theures Haupt.
Ja es sind nicht ein Mal immer Männer der gemäßigten und zurechnungs¬
fähigen Opposition gewesen, welche als Sieger aus dem Kampfe hervor-
gingen, sondern nicht weniger als 40 Radikale, zum Theil Männer, deren
bloße Namen für eine Kriegserklärung gegen die jm Jahr 1867 begründete
Ordnung der Dinge gelten müssen.
Kossuth ist in zwei Wahlbezirken gewählt worden und wenn er sich zur
Annahme eines Maubads herbeiläßt, so werden sein Sohn und eine nicht
ganz unbedeutende Zahl von alten und neuen Freunden dem gefährlichen
republikanischen Agitator bei dem Eintritt in das Pester Ständehaus als
Escorte dienen.
Daß das Ministerium Andrassy selbst die ihm übrig gebliebene Majorität
nicht für ausreichend und zuverlässig genug hält, um mit Hilfe derselben
die stritte Fortführung des bisherigen Systems zu versuchen, hat es bereits
deutlich gesagt. Noch bevor die Wahlresultate der letzten besonders un¬
günstigen Tage vorlagen, war der ungarische Premier mit Herrn v. Ticza
und andern Führern der Linken in Beziehungen, getreten, um sein Cabinet
im Sinne der veränderten Verhältnisse umzugestalten; daß diese Unterhand¬
lungen bis jetzt keine Früchte getragen haben, soll seinen Hauptgrund darin
haben, daß die Partei, welche sie für die Trägerin der Zukunft hält, mit
einem Portefeuille nicht zufrieden war und durch ein Hinausschieben
des Compromisses mit den Ministern günstigere Bedingungen für sich er¬
reichen zu können glaubte. Die Richtigkeit dieser Rechnung scheint sich schon
jetzt bestätigt zu haben, denn der Wahlkampf hat nicht nur die Zahl der
vorgeschrittenen Deputirten vermehrt, sondern Muth, Einfluß und Leiden¬
schaft ihrer Wähler gehoben. Eine etwaige Auflösung des neugewählten
Hauses würde die Sache der Deakisten auf eine noch schmalere Basis stellen.
Vom specifisch preußischen Standpunkte haben wir gegen diesen bedeut¬
samen Umschwung in der öffentlichen Meinung Ungarns kaum etwas ein¬
zuwenden. Der Leiter der diplomatischen Geschicke des, ungarW-östreichi¬
schen Staats hat von der Unversöhnlichkeit seines Hasses gegen Preußen und
seiner petulanten Jntriguensucht gerade in der letzten Zeit zu häufige und
zu deutliche Beweise geliefert, als daß wir irgend ein Interesse daran haben
könnten, ihm das Leben leicht gemacht zu sehen. Wir wissen im Gegentheil,
daß der zunehmende Einfluß der linken Seite des ungarischen Ständehauseö
auf des Grafen Beust bewegliche und unternehmungslustige Politik bändi¬
gend wirken, ihm die weitere Verfolgung seiner Pläne beträchtlich erschweren
wird. Wenn schon Graf Andrassy nicht im Stande war, dem Reichskanzler
auf das Feld alt-östreichischer Großmachtspolitik zu folgen, so werden die
Anhänger Ticza's, die kein anderes als das specifisch ungarische Interesse
kennen, von derselben vollends nichts wissen wollen und sicherere Garantien
dafür verlangen, nicht in Conflicte verwickelt zu werden, bei denen Ungarn
nur verlieren und nicht gewinnen kann.
Das Alles gilt aber nur unter der Voraussetzung, daß das dualistische
System trotz der erhöhten magyarischen Ansprüche erhalten bleibt, welche die
unausbleibliche Folge der jüngsten Wahlschlächt sein werden. Gegen diese
Voraussetzung sprechen aber Gründe so entscheidender Art, daß schlechter¬
dings nicht abzusehen ist, was sich diejenigen ungarischen Wähler eigentlich
gedacht haben, die das Ministerium Andrassy schon gegenwärtig als einen
überwundenen oder zu überwindenden Standpunkt ansehen. In Ungarn
muß man gemaust als sonst irgendwo wissen, daß das De'aksche Programm
die äußerste Grenze der Zugeständnisse war, bis zu denen die Hofburg gehen
konnte, wenn sie die moralische Wiedereroberung der östlichen Reichshälfte
nicht mit dem Verlust der" westlichen bezahlen wollte. Von den Slaven gar
nicht zu reden — selbst die Deutsch-Oestreicher sind dem Grafen Beust bis
heute noch nicht auf den Standpunkt gefolgt, den er im Sommer 1867 er¬
stieg, und wenn nach den bisherigen Erfahrungen geschlossen werden darf,
so werden sie es kaum jemals bis zu dieser Höhe' bringen. Jeder der wäh¬
rend der Jahre 1867 und 1868 zusammengetretenen Delegationsversämm-
lungen ist von den eisleithanischen Vertretern des' herrschenden Systems mit
Angst und Bangen entgegengesehen worden, und wenn diese Berathungen
geschlossen waren, so trennten die Betheiligten sich mit der Empfindung, die¬
ses Mal noch mit heiler Haut davongekommen zu sein. Die Forderungen
der Pester Linken hatten in Wien schon die äußerste Erbitterung hervor¬
gerufen, als sie bloße Parteimanöver waren, an deren Durchführbarkeit die
Urheber selbst nicht glaubten. Was wird jetzt geschehen, wo dieselben Fleisch
und Bein gewonnen haben? Selbst wenn die ministerielle Partei wahrend
der bevorstehenden Legislaturperiode' die Oberhand behält, wird und muß
ihre Stellung zu der Wiener Regierung eine von der! bisherigen erheblich ver¬
schiedene sein. Sie fühlt den Boden, als dessen Herrin sie sich bisher be¬
trachtete, unter den Füßen schwinden und hat die Empfindung, weiter nach
links gehen zu müssen., um überhaupt Möglich zu bleiben, sie muß natur¬
gemäß auf die Stimmung der Gegner im eigenen Lande sehr viel größeres
Gewicht legen, als auf die Antipathien jenseit der Leitha. Wenn die hei¬
mischen Gegner im nächsten Herbst mit ihren Wünschen für Herstellung einer
rein nationalen Armee und einer ausschließlich ungarischen auswärtigen Po¬
litik hervortreten, so lären von einer Abweisung yuimä in^me, von einer Be¬
rufung auf die Grundsätze, welche bei dem Ausgleich maßgebettd gewesen,
nicht mehr die Rede sein. Diese Dinge lassen sich nicht mehr als Partei¬
manöver bekämpfen, sie sind zu Consequenzen des ungarischen Parlamenta¬
rismus geworden, „mit denen gerechnet werde'« muß" und „die einmal nicht
aus der Welt zu schaffen sind"'. Man braucht sich nur oberflächlich mit den
publicistischen Orgä'n'en bekannt gemacht zü haben, welche die Weltanschauung'
der ungarischen Progressisten wiederspiegeln, um zu wissen, was es allein mit
der „specifisch-ungarischen" auswärtigen Politik auf sich hat. welche diese
Männer fordern. Die Landkarten der Zukunft, welche hier entworfen wer¬
den, geben den bekannten Traumbildern polnischer Geographen an Kühnheit
und Abenteuerlichkeit wenig nach und haben überdies den Vorzug, allmonat¬
lich zu wechseln. Heute werden die grün-weiß-rothen Grenzpfähle über die
Karpathen und bis an die russische Grenze getragen , morgen sollen sie bis
in das Herz Rumäniens, ein anderes Mal nach Süden hin bis an die Ab¬
fälle des Balkan reichen; Zuziehung Galiziens zu den Ländern der Stefans-
krone, Bildung eines südslavtschen Bundes unter ungarischer Führung sind
hier Fragen, die allen Ernstes und mit Aufwand von Patriotismus und
Scharfsinn discutirt und gerade so behandelt werden, als hänge ihre Lösung
lediglich davon ab, was die Majorität des Pester Landtags zu ihnen sage. —
Nicht minder waghalsig und dvctrinair sind die Anschauungen dieser Poli¬
tiker über die wichtigsten inneren Fragen; dieselben Leute, welche mit specifisch
ungarischen Mitteln die östreichische und die orientalische Welt aus den
Angeln heben zu können vermeinen, sind zugleich höchst bedenklich, wenn es
sich um Zugeständnisse der alt-magyarischen Freiheit und des traditionellen
Raeenhochmuths an den Staatsgedanken und an die Zufriedenheit ihrer
rumänischen und slavischen Mitbürger handelt. Man erinnere sich daran, daß
die Linke allen Ernstes das jeder geordneten Verwaltung ins Gesicht schlagende
Selbstbestimmungsrecht der Comitate wiederherstellen wollte, und daß gerade sie
sich in der Sprachenfrage stets am schwierigsten und anmaßendsten gezeigt hat.
Vergegenwärtigt man sich auf der anderen Seite, daß selbst diejenige
cisleithanische Partei, welche die Mitträgerin des Ausgleichs war. nur noth¬
dürftig mit dem Ministerium Andrassy zurechtkam, daß einer der genauesten
Kenner östreichischer Zustände in diesen Blättern schon vor Jahresfrist be¬
haupten konnte, ein Wanken des auf die De'akpartei gestützten Ausgleichs
werde im übrigen Oestreich mit einer gewissen Schadenfreude betrachtet, so
wird man für eine Politik, die nichtsdestoweniger schon nach zwei Jahren
auf Erschwerung des mühsam geschaffenen Verhältnisses hinarbeitet, um den
Namen verlegen sein. Man halte uns nicht entgegen, daß das Vorwärts¬
stürmen der noch über Diät hinausgehenden Partei in der Natur der Sache
begründet, das Resultat des bisherigen Entwickelungsganges der ungari¬
schen Dinge, eine Consequenz des 1867 begründeten Systems sei. Ist dem
wirklich so. so ist damit nur bewiesen, daß das Vertrauen, welches in das
strenge Rechtsgefühl und die staatsmännische Nüchternheit und Mäßigung
der Magyaren gesetzt wurde, unbegründet war. daß es sich hier im Grunde
um dieselbe sprudelköpfige Ueberstürzung und Ueberschätzung der eigenen Kräfte
handelt, durch welche die polnischen, serbischen, rumänischen u. s. w. Politiker
sich bei den großen Culturvölkern verrufen gemacht haben. Weder ist Un¬
garn dem übrigen Oestreich militairisch gewachsen, noch kann es unter einer
Welt von slavischen Feinden des Rückhalts an den Deutsch-Oestreichern ent¬
behren; zur Zeit ist das Land weder reich, noch gebildet oder fleißig genug,
um auch nur auf wirthschaftlichem Gebiet die Unterstützung deutschen Fleißes. '
deutschen Capitals und deutscher Intelligenz entmissen zu können. Wenn es
dennoch den Anspruch erhebt, ein selbständiges nationales Staatswesen zu
besitzen, so kann dieser Anspruch nur durch ein ungewöhnliches Maß politischer
Bildung, Selbsterkenntniß und Mäßigung gerechtfertigt werden. Diese Eigen¬
schaften sind aber weder mit Großmachtsträumen, noch mit Zumuthungen
vereinbar, welche unter gänzlicher Verkennung der gegebenen Verhältnisse die
unentgeltliche Aufopferung der westlichen Reichshälfte für ungarische Interessen,
Traditionen und Phantasien verlangen.
Der Ausgleich von 1867 beruht nicht nur darauf, daß Ungarn sich mit
den ihm von der Regierung gemachten Bedingungen zufrieden erklärt hat.
sondern zur Hälfte darauf, daß das deutsche Element in der Lage blieb, in
der westlichen Reichshälfte den Ausschlag zu geben und durch gegenseitige Unter-
stützung an der Erhaltung der neuen Ordnung interessirt zu werden. Mit der
ungarischen Zufriedenheit und Genüge an den Errungenschaften von 1867 ist
es bereits zu Ende und die deutsche hat nicht einmal angefangen. Nicht genug,
daß das Verhältniß der Deutsch-Oestreicher zu den Magyaren trotz des gemein¬
samen Gegensatzes gegen die Slaven ein höchst unerquickliches gewesen und
geblieben ist — es liegen bereits Anzeichen dafür vor. daß man mit den
Slaven Frieden schließen will, um nicht vollständig den Ungarn preisgegeben
zu werden. Ein neu gegründetes höhnisches Nationalorgan, die zu Berlin er¬
scheinende „Lorrespouäanoö Isonequö", feiert die Erfolge der Pester Oppo¬
sitionspartei bereits als hochwillkommenes Ereigniß und ruft den sieges¬
trunkenen Wählern Kossuths und den übrigen radicalen Größen ein wenig
schmeichelhaftes Bravo zu. „Eine gegenseitige Verständigung (so. der Czechen
mit den Deutschen)", heißt es a. a. O.. „wird täglich wahrscheinlicher. , . .
Mindestens steht Eines fest: das gegenwärtige System ist durch dieses Er¬
eigniß (eben die ungarischen Wahlen) bis in seinen Grundfesten erschüttert.
Die Unzufriedenheit nimmt gerade bei der deutschen Bevölkerung zu und zwar
von der empfindlichsten Seite — der der materiellen Interessen".
Sie V08 voll vobis! Just der Zeitpunkt, in welchem die eisleithanischen
Anhänger des dualistischen Systems ins Schwanken kommen und an der
Durchführbarkeit dieses Systems irre zu werden beginnen — diesen wählt
man in Ungarn dazu aus. der Welt zu beweisen, daß der vor zwei Jahren
geschlossene Compromiß auch nach ungarischer Meinung unhaltbar ist. Die
wenigen Freunde, die man in Wien besessen, werden durch Erweiterung der
bereits vorhandenen Kluft vollends entfernt, die halben Gegner ins feind¬
liche Lager gedrängt, den erklärten Feinden die schärfsten Waffen in die
Hände gegeben — und das Alles ohne jeden inneren Grund und lediglich,
weil man des Besitzes der Freiheit zu wenig gewohnt ist, um von ihr
richtigen Gebrauch machen zu können. Die materiellen Verhältnisse des
Landes sind noch nicht aus dem Rohesten herausgearbeitet, Handel und
Credit entbehren des Schutzes einer geordneten, auf soliden Grundlagen
beruhenden Rechtspflege, der Zustand der öffentlichen Sicherheit erinnert an
die Zeiten Rob-Roys und der royalistischen Gentlemen von der Hochstraße,
ein paar schlechte Ernten sind noch immer im Stande, die ländliche Bevöl¬
kerung an den Rand des Verderbens zu bringen — das öffentliche Vertrauen
aber wendet sich nichtsdestoweniger von den Männern der ernsthaften und
soliden Arbeit ab und heißblütigen Phantastin zu, welche eingebildete Be¬
dürfnisse den realen vorsetzen, neue Stockwerke aufführen wollen, ehe das
Fundament ihres Gebäudes auch nur trocken geworden ist.
Noch lassen sich die Folgen dieses überstürzten Verfahrens, das kaum den
Namen einer Politik verdient, nicht deutlich absehen. So viel nur steht fest,
daß dem Dualismus ein neuer Stoß versetzt worden ist und daß schon die
nächste Zukunft das System in Frage stellen kann, welches nicht nur Un¬
garn die schätzbarsten Garantien gedeihlicher Entwickelung, sondern zugleich
eine Bürgschaft für Erzwingung des Friedens bot. Fällt das System von
1867 zusammen, so-wild die Politik der Hofburg nach östreichischer Logik zu
einer Diversion nach Außen gedrängt. Gleichviel wie dieselbe ausfällt —
Ungarn hat von derselben nichts zu gewinnen. Siege Oestreich, so wird
man mit den Ungarn eine Sprache reden, welche das ziemlich directe Gegen¬
theil der vielgescholtenen De'ak'schen „Halbheit" ist —, fällt der Kaiserstaat
in Trümmer, so werfen die slavischen Stämme das Loos um den Purpur¬
mantel des heiligen Stephan. Denjenigen aber, welche sich an den Er¬
rungenschaften des großen ungarischen Rechtsbodenmannes nicht genügen
ließen, wird man dann auch aus Norddeutschland zurufen: Vous I'aVox voulu,
(George vanäin, vous I'aVö2 voulu!
Neben den Sorgen des Augenblicks, finanziellen Nöthen und politischen
Befürchtungen, welche die Kreise unserer Hauptstadt seit dem Carnevalsschluß
ungewöhnlich aufregen, nimmt vor Allem der Personenwechsel an der preußi-
schen Gesandtschaft die allgemeine Aufmerksamkeit in Anspruch. Ein Monat
ist seit dem Rücktritt des Grasen Usedom vergangen, und noch immer wird
derselbe im Publicum lebhaft dtscutirt und muß sich die seltsamsten und wider¬
sprechendsten Commentare und Kritiken gefallen lassen.
Der Eindruck dieses plötzlichen, schwer erklärlichen Schrittes kann den
nicht befremden, der die Stellung des bisherigen preußischen Gesandten in
Florenz gekannt hat. Usedom war -ohne Zweifel der populärste und ange¬
sehenste Diplomat am italienischen Hofe. War schon sein offenes bestimmtes
und zugleich gewinnendes Wesen ganz geeignet, ihm die Sympathie des Jta¬
lieners zu erwecken, so brachte seine reiche Bildung, sein durch lange Jahre
hin erwärmtes Interesse für dieses Land und seine Bewohner, für die Schätze
seiner Vergangenheit ihn in ständige Berührung mit den hervorragenden
Leuten aus allen Classen der Gesellschaft. Die gastfreie Villa vor der Stadt
auf der Höhe des Wegs nach Fiesole, war für Einheimische und Fremde ein
gern gesuchter Mittelpunkt geselligen und geistigen Austausches. Man kannte
Usedom als aufrichtigen Freund Italiens und der italienischen Einheitssache,
und die Rolle, welche er selbst zur Förderung dieses Einheitswerks im Jahre
1866 zu spielen berufen war, hat ihm das italienische Volk nicht vergessen.
Der wesentliche Antheil, den Usedom an dem Zustandekommen der Alltanz
Preußens und Italiens in jenem Kriegsjahr hatte, ist wiederholt anerkannt
worden. Wurden auch die Tractatverhandlungen selbst in Berlin geführt, so
war ihm die weit schwierigere Aufgabe zugefallen, das Bündniß mit dem
räumlich so weit entrückten Preußen hier bei Regierung und Volk vorzu¬
bereiten, zu Pflegen und zur Kooperation wirksam zu machen. Die neueren
Enthüllungen haben erwiesen, bis zu welchem Grade ihm diese Aufgabe durch
das Mißtrauen und die Lahmheit des Generals La Marmora. so wie durch
die Winkelzüge der französischen Politik auf Schritt und Tritt erschwert
wurde und welch harte Probe die Geduld und Festigkeit des Gesandten zu
bestehen hatte. Die Note vom 17. Juni, ein letzter vernehmlicher Appell
unmittelbar vor Ausbruch des Krieges, drückt diese Situation bezeichnend
aus. Ricasoli's und Visconti-Venosta's Eintritt ins Ministerium brachte die
Wendung zum Bessern: diese Minister begehrten und fanden in Graf Usedom
eine willkommene Stütze, die sich besonders in den kritischen Momenten zu
bewähren hatte, als Napoleon nach der Cesston Venetiens an Frankreich mit
allen Mitteln der Insinuation und Drohung Italien zum Stillstand zu
zwingen versuchte.
Diese Stellung hat Graf Usedom auch nach dem Friedensschluß be¬
hauptet. Sein Bestreben ist seitdem darauf gerichtet geblieben, den französi¬
schen Einflüssen entgegen, die Episode von 1866 zu einem dauernden frucht¬
baren Freundschaftsverhältniß der verbündeten Mächte weiterzubilden, und
das Bewußtsein von der Gemeinsamkeit ihrer Interessen in den Völkern zu
befestigen. In den römischen Wirren vom Herbst 1867 und dem daraus
folgenden Schwächezustand hat sein Auftreten der italienischen Regierung
wiederholt kräftigen Rückhalt geboten. Größer ist das allgemeine Resultat,
das diese Politik durch die Gunst der Umstände erreicht hat: in dem Maße,
als seit Mendana die französische Allianz hier das Terrain verloren hat,
haben in der Masse der Nation die Sympathien für Preußen und Deutsch¬
land feste Wurzeln geschlagen. Dies hat sich letzthin wieder bei Gelegenheit
der umschwirrenden Allianzgerüchte fühlbar gemacht.
Das Verdienst Usedom's ist hier, wo die Stellung des Landes zu Frank¬
reich nach wie vor die Tagesfrage bleibt, von Freund und Gegner gewür¬
digt. Um so natürlicher und allgemeiner jetzt die Bestürzung, die sein plötz¬
licher Rücktritt hervorrief. Man sucht nach den tieferen Ursachen dieses
Schrittes, und in den wunderbaren, sich gegenseitig aufhebenden Conjecturen,
die noch immer zu Tage kommen, spiegelt sich die Verwirrung deutlich wie¬
der. In der That haben unsere politischen Zeichendeuter so ziemlich alle
Möglichkeiten erschöpft. Die Einen meinen, Angesichts der drohenden Tripel¬
allianz habe Graf Bismarck eine Concession an Frankreich für an der Zeit
gehalten; nach den Andern hat vielmehr, daß Usedom diese Tripelallianz
nicht gehindert habe, des Ministers Zorn erregt. Dieser behauptet. Preu¬
ßen habe den Verfasser der Note vom 17. Juni 1866 an Oestreich geopfert,
und Jener, es sei nicht die Note, sondern die Veröffentlichung einer an¬
geblichen auf dieselbe bezüglichen Depesche in einem Blatte östreichischer
Farbe, für welche der Gesandte, an den sie gerichtet, büßen müsse. Hier
macht man geltend, die preußische Regierung habe zeitig mit der Eventuali¬
tät eines Zukunftsministeriums La Marmora abrechnen wollen. Dort gar,
Usedom habe sich mit der Opposition in ein Komplott gegen das Ministerium
Menabrea eingelassen und sei auf dessen Wunsch entfernt. Ein schweizer
Blatt läßt sich endlich schreiben, der Gesandte sei in letzter Zeit sichtlich ge¬
altert und der Posten erfordere eine frischere Kraft; im erbaulichen Gegensatz
dazu tadelt eine französische Stimme die fieberhafte Activität des Grafen, die
der Regierung unbequem geworden sei.
Alle diese auf gerngläubige Gemüther berechneten Märchen beweisen nur,
daß man über die wahre Ursache noch im Finstern, tappt. Was zumal die
in der auswärtigen Presse vielfach gehörte Angabe betrifft, als hätte Usedom
„mit Ratazzi und den Radicalen" gegen das Ministerium Menabrea gewühlt
und sich bei „den Gemäßigten" unmöglich gemacht, so hat dieselbe durch das
Ministerium selbst ein energisches Dementi erfahren. Im Gegentheil darf
man sagen, daß Usedom sein günstiges Verhältniß zu alle den successiven
italienischen Cabinetten — von LaMarmora abgesehen, mit dem einmal kein
Bund zu flechten war — wesentlich jenem loyalen Sinn verdankte, welcher
ihn fernhielt von den kleinen Intriguen und Coups, die noch immer das
Privilegium der heutigen französischen Diplomatie zu sein scheinen und die
für einen momentanen Triumph häusig genug, die Person des Gesandten und
das Interesse des durch ihn vertretenen Staats compromittiren.
Die Ursachen der Abberufung Usedoms sind, wie wir den Berliner Offi¬
ziösen glauben dürfen, lediglich in Differenzen zu suchen, die seit längerer
Zeit zwischen dem Gesandten und Graf Bismarck bestanden; und zwar Diffe¬
renzen von rein persönlichem Charakter. Denn die politischen Ansichten
der beiden Staatsmänner divergirten keineswegs, waren vielmehr durch ihre
gleichen Erfahrungen am Bundestage seit lange auf die gleichen Ziele geführt
worden. Schon 1869 begegneten sich Beide, und damals ziemlich isolirt, in
der Verurtheilung der Rolle, die Preußen im italienischen Kriege zu spielen
begann, anstatt aus demselben zur Eroberung seiner deutschen Stellung Nutzen
zu ziehen; und die Tendenzen, welche Bismarck als Leiter der preußischen
auswärtigen Politik verfolgte, konnten keinen bereiteren und entschiedeneren
Anhänger finden als Usedom.
Ueber die Entstehung und Motive jener persönlichen Spannung wird
sich kaum sobald Genaueres erfahren lassen. Sicher scheint, daß die Gereizt¬
heit in der letzten Zeit mit dem Minister einen Grad erreicht hatte, unter
dem die Geschäfte unausbleiblich leiden mußten. Graf Usedom entsagte einer
Amtsführung, die unter solchen Umständen unmöglich eine gedeihliche geblie¬
ben wäre. Wäre es wahr, was unterrichtete Stimmen behaupten, daß Graf,
Bismarck mit seinem eigenen Abgang gedroht habe, wenn Usedom in seiner
Stellung bliebe, so würde dies bestätigen, daß eben nur durch das äußerste
Mittel der Widerstand des Königs gebrochen werden konnte. Usedom hätte
dann durch seinen freiwilligen Rücktritt, indem er dem Könige einen pein¬
lichen Schritt ersparte, zugleich dem Ansehen der preußischen Krone einen
nicht unwesentlichen Dienst geleistet.
Wir enthalten uns weiterer Bemerkungen über eine Situation, deren
wenig erfreuliche und beruhigende Symptome hier nicht zum ersten Male
vorliegen. Das Schlimmste ist, daß durch diese persönliche Lösung persön¬
licher Mißverhältnisse ein wichtiges Staatsinteresse, wie es der preußische Ein¬
fluß in Italien ist, empfindlich gefährdet wird. In der That, ein ungünsti-
gerer Moment für den Gesandtenwechsel ließ sich nicht denken. Während die
Allianzprojecte Oestreichs und Frankreichs näher rücken und dem Publicum
Stoff zur Unruhe geben, während Diplomaten und Generale reisen, der
König Victor Emanuel mit dem Kaiser Franz Joseph Btlletdoux wechselt,
hinter denen sich weniger harmlose Dinge verbergen, und das Angstmini¬
sterium Menabrea's Miene macht, sich selbst die Hände für die Zukunft zu
binden, entfernt die preußische Regierung, gegen die zunächst jene Versuche
gerichtet sind, von Florenz gerade den Vertreter, dessen Stimme warnend
und rathend hier von Gewicht gewesen wäre, jedenfalls hätte gehört werden
müssen. Kein Wunder, daß Preußens Gegner frohlocken und die Freunde
zweifelnd oder mißtrauisch den Kopf schütteln und daß Gerüchte, wie die oben
erwähnten, Credit finden. Wie will man von unseren nationalen verlangen,
daß sie sich bei den „persönlichen und privaten Motiven" beruhigen? Die
Leute erinnern sich jetzt, daß La Marmora und seine Kämpen wiederholt in
Paris die Nothwendigkeit von Usedoms Abberufung betont haben, um dem
französischen Element wieder Raum zu schaffen. „Die preußische Regierung",
so raisonniren sie, „erzeugt sich dem Kaiser Napoleon gefällig und überläßt
ihm das Terrain; sie opfert mit dem Gesandten auch ihre Freunde und An¬
hänger in Italien, und gegen den französischen Druck wird kein Schutz mehr
von ihr zu erwarten sein".
Dieser Zweifel greift seit den letzten Wochen unleugbar um sich; auch
von entschiedenen Franzosenfeinden wie von Männern und Organen der ge¬
mäßigten Partei kann man jetzt öfter hören, daß Italien, zwischen Frank¬
reich und Oestreich eingekeilt und von Preußen nicht gehalten, am Ende keine
andere Wahl haben werde, als mit jenen Mächten seinen Bund zu machen.
Es ist möglich, ja sogar wahrscheinlich, daß solche Stimmungen vorüber¬
gehend sind. Jene sogenannten Tripelallianzverhandlungen sind über das
Stadium des Cajolirens noch nicht herausgekommen; die wahren Interessen
Italiens stehen in zu offenem Widerstreit mit den Projecten, besonders mit
Oestreichs Tendenzen nach Osten, als daß an einem Erfolg zu glauben wäre.
Andererseits kann und wird Preußen Italien gegenüber nur eine Politik
haben: ?ein Gesandter wird die Linie verlassen dürfen, die Usedom inne¬
gehalten hat. Die preußische Regierung hat dem italienischen Cabinet wieder¬
holt ihren Schutz gegen unberechtigte Eingriffe Frankreichs zugesagt und
wird diese Zusage nicht brechen. Dennoch bleibt wahr, daß die Abberufung
des Grafen Usedom in diesem Zeitpunkte ein schwerer politischer Fehler ge¬
wesen, die Lücke des Gesandtenpostens eine Gefahr ist. Kostbare Zeit ist verloren
gegangen; der Nachfolger Usedoms, Graf Brassier, wird eine veränderte Si¬
tuation vorfinden, und das gestörte Vertrauen läßt sich so schnell nicht zurück¬
rufen. Was Preußen bisher von seinem Einfluß erwarten konnte, wird es
dann vielleicht nur der factischen Ohnmacht des Landes zu danken haben,
dessen wenig tröstliche innere Zustände allerdings jeden Antheil an kriegeri¬
schen Combinationen völlig zu verbieten scheinen. Für Preußen würde frei¬
lich die Gegnerschaft Italiens materiell keine sonderliche Gefahr bedeuten;
schwerer würde das junge Königreich sich selbst verwunden, wenn es seiner
Tradition, dem Ringen nach innerer und äußerer Einheit untreu werden
könnte. Noch ist ein solcher Abfall bei dem gesunden Sinn des Volkes
nicht zu befürchten, und Graf Usedom mag die Zuversicht ins Privat¬
leben hinübernehmen, daß das Werk, für welches er mit Hingebung und
Erfolg gearbeitet hat, in sich selbst Widerstandskraft genug gegen Versucher
und Feinde besitzt.
Die Frage nach ver Leitung der Schulen bildet hier noch immer den
Zankapfel zwischen der Regierung und den Bischöfen des Landes. Letztere
behaupten, es sei durch die im Reichsgesetze vom 25. Mai 1868 ausge¬
sprochene Übertragung der obersten Leitung und Aufsicht über das gesammte
Unterrichts- und Erziehungswesen an den Staat die Volksschule grundsätzlich
eine confessionslose geworden; der Staat — so sagen sie weiter, habe sich
durch die Jedermann gewährte volle Glaubens- und Gewissensfreiheit von
jeder festen religiösen Ueberzeugung losgesagt und sei darum unfähig ge¬
worden, den Unterricht, der auf der Grundlage eines bestimmten Bekennt¬
nisses ruhe, zu überwachen. Confessionell bleibt den Bischöfen die Schule nur
dann, wenn ihnen deren volle Leitung und Aufsicht eingeräumt wird; andern
Falls kann ihrer Meinung nach die Kirche nicht einmal wünschen, daß einzelne
Geistliche an den Orts-, Bezirks- oder Landesschulräthen theilnehmen. Die
Kirche sei vielmehr genöthigt, den vom Staate unterhaltenen Schulen mög¬
lichst viele konfessionelle Unterrichtsanstalten entgegenzustellen. So ungefähr
sprach sich der Bischof von Brixen auf dem letzten tiroler Landtage aus. Diesem
Kirchenfürsten und seinen von ihm beeinflußten Collegen von Trient und
Salzburg genügt es nicht, daß die Besorgung. Leitung und unmittelbare
Beaufsichtigung des Religionsunterrichtes und der Religionsübungen in ihre
Hand gegeben ist, daß die im Lande herrschende katholische Religion, gesetz¬
lich durch Geistliche im Landes- und folgerecht auch im Bezirks- und Orts¬
schulrathe vertreten ist, und daß diese Geistlichen auch zu Bezirks- und Orts¬
schulaufsehern ernannt werden können; die Landesbischöfe verlangen die Lehr¬
pläne. Bücher und Mittel für die Volks- und Mittelschulen zu bestimmen,
die Directoren und Lehrer ein- und absetzen zu können, über Beschwerden
entscheiden und ein unbedingtes Veto einlegen zu dürfen, sobald ihnen dasselbe
aus Rücksichten der Religion und Sittlichkeit nothwendig erscheint. Mit
anderen Worten, die Bischöfe sollen über die Volks- und Mittelschulen nach
dem Wortlaute und Sinne des Concordats unbedingt verfügen dürfen.
Wer eine andere Einrichtung der Schule beabsichtigt, gehört, wie sich
der Innsbruck» Professor Moriggl auf der Versammlung des katholischen
Vereins zu Jnzing am 16 August v. I. vernehmen ließ, den „verständigen
Lumpen" an, „bei denen das Wissen von der Religion himmelweit getrennt
ist." In diesem Geiste wurde auf allen Zusammenkünften der katholischen
Filialvereine gepredigt, zu diesem Zwecke umschlang man im vorigen
Herbste ganz Deutschtirol mit einer Propaganda, welche die Bevölkerung
in eine Armee zur Bekämpfung des Schul- und Ehegesetzes verwandeln
sollte. Als zur Ausführung des Reichsgesetzes vom 25. Mai v. I. gegen¬
über dem Sträuben des tiroler und anderer Provinzicillandtage jene provi¬
sorische Verordnung des Ministers für Cultus und Unterricht vom 10. Febr.
d. I. erlassen wurde, welche die bisher von den kirchlichen Oberbehörden und
geistlichen Schuldistrictsaussehern geübte Competenz den politischen Behörden
übertrug und die Landeschefs ermächtigte, zur berathenden Theilnahme an
allen wichtigeren Verhandlungen in Schulangelegenheiten, Mitglieder des
Landesausschusses und Geistliche zu berufen, entbrannte der Kampf von
neuem. Zunächst interpellirten die clericalen Tiroler im Vereine mit den
polnischen und krainischen Separatisten den Unterrichtsminister am 19. Febr.
im Abgeordnetenhause über diese „verfassungswidrige" Verletzung der Landes¬
gesetze; der Abgeordnete Giovanelli verstieg sich sogar zu der kecken Be¬
hauptung, der tiroler Landtag habe dem Reichsgesetze vom 25. Mai v. I.
Mit Rücksicht auf die Verhältnisse des Landes nur die richtige Auslegung
gegeben. Wolle man sie nicht gelten lassen, so möge man doch den Landtag
auflösen; gegen den Willen der Landtage die ministerielle Meinung zur
Geltung bringen, heiße gegen den Geist der Verfassung verstoßen. Und doch
lag die Sache gerade umgekehrt: der Fehler bestand — was auch der Unter¬
richtsminister Ritter von Hafner theilweise selbst eingestand, — in dem langen
Zaudern mit der Ausführung des Reichsgesetzes, dessen man sich schuldig
gemacht. Sobald die Landtage dem Gesetz offen sich widersetzten, hätte ein
Provisorium Platz greifen sollen. Jndirect ist diese Nothwendigkeit durch die
Anordnungen der Landesbischöfe bewiesen worden. Der Seelenhirt von Brixen
ging am 22. Februar mit einem Erlasse voran, in welchem vorgeschrieben
wurde, daß es „keinem Geistlichen seiner Diöcese" erlaubt sei, bei den neu
zu organisirenden Aufsichtsbehörden über die Volksschulen eine Stelle anzu¬
nehmen. Zugleich verordnete er, daß die geistlichen Schulinspectoren den
amtlichen Geschäftsgang in Schulangelegenheiten wie bisher fortführen sollten.
Der Bischof von Trient verbot seinem Clerus die Aushändigung der Acten
über die bisher geführte Schulaufsicht und verschob die Religionsprüfungen
für das laufende Schuljahr. Der Salzburger Erzbischof schien anfangs milder
gestimmt zu sein, da sich sein Bruder Wilhelm v. Tarnoczy. Decan in
Se. Johann, am 1. März zur Annahme einer Schulinspectorstelle im untern
Jnnthal selbst erbot; gleich nachher am 3. erfolgte aber eine Vorschrift an
die Diöcesangeistlichen, welche sie anwies, zu solchen Ernennungen die Zustim¬
mung des Erzbischofs einzuholen. Trotz alledem hoffte man im Ministerium
auf einen gütlichen Ausgleich, zumal der Brunner Bischof erklärt hatte, sich
auch nach der neuesten Wendung der Dinge der Schule nicht feindlich er¬
zeigen zu wollen, und der Herr Cardinalbischof Rauscher gleichfalls der
Mäßigung zuneigte. Auf der letzthin zu Wien gehaltenen Bischofsconserenz
aber, zu welcher der eifrige Seelenhirt von Brixen geeilt war, behielten gerade
die verbissensten Römlinge die Oberhand. Aus den von der Regierung beliebten
moclus vivenüi könne (so lautete der Beschluß), nirgend eingegangen werden;
übrigens sei ein gleichmäßiges Verfahren in allen Ländern und Diöcesen
durchaus nicht nothwendig, und dürfe der betreffende Ordinarius den Um¬
ständen gemäß nach seinem Ermessen vorgehen.
In diesen Ton stimmten auch die clerical Gesinnten unter unsern Layen ein.
Der Landesausschuß, an dessen Spitze der geistliche Coadjutor Dr. Haßlwanter
steht, lehnte es gegen das Votum des Grafen Melchiors, seines einzigen
liberalen Mitgliedes, ab. der Einladung des Statthalters Folge zu leisten
und zwei Mitglieder zur Landescvmmission in Schulangelegenheiten abzu¬
ordnen; der ultramontane Bürgermeister von Innsbruck Dr. Rapp erklärte
im Bürgerausschuß, es verstoße gegen seine Ueberzeugung, an der Aus¬
führung der Hafner'schen Schulverordnung mitzuwirken, und trat dann nicht
nur aus dem Amte, sondern auch aus der Gemeindevertretung; der Bürger¬
meister Ostheimer von Brixen, war so gewissenhaft, die ihm angesonnene
Enthebung der bisherigen geistlichen Schuldistrictsaufseher von ihren Functio-
nen zu verweigern und erntete dafür den reichlichen Beifall des zum dritten
Theil aus Geistlichen bestehenden Ausschusses ein; die Gemeindeausschüsse von
Kältern und Terlan eröffneten der Regierung ihr Bedauern darüber, „daß
dieselbe die Trennung der Schule von der Kirche vollziehe, und sich dadurch
in einen schmerzlichen Widerspruch mit der religiösen Ueberzeugung des Landes
setze;" fast gleichzeitig erließen zwölf Gemeindevorsteher im Oberinnthale einen
Collectivprotest gegen das „gesetzwidrige" Vorgehen des Ministeriums. Aehn-
liche Kundgebungen von Gemeindeausschüssen auf dem Lande sind noch im
Zuge. Vielleicht hegt man gerechte Zweifel an der Bereitwilligkeit der großen
Masse noch einmal, wie im vorigen Jahre, Statistendienste zu thun; viel
bequemer ist es, sich der am clericalen Gängelbande gehaltenen Gemeinde¬
vertretungen zu bedienen.
Der Widerstand der Bischöfe stützt sich zunächst auf die Hoffnung, es
werde dem gegenwärtigen Ministerium unmöglich gemacht sein, das Reichs¬
gesetz über die Schulaufsicht ohne ihre Beihülfe durchzuführen. Sie erblickten
in den vom Ministerium an den Landtag gebrachten Anträgen, und in der
ministeriellen Geneigtheit, den Landesschulrath unter eine clericale Majorität
zu stellen, eine Schwäche der Staatsverwaltung, und glaubten der Regierung
den Boden unter den Füßen wegziehen zu können, indem sie die Anstellung
geistlicher Jnspectoren unmöglich machen, und das Volk durch Warnungen vor
Entchristlichung der Schule ängstigen. In dieser Richtung wird gegenwärtig
mit rührenden Scenen vorgegangen. Die Pfarrer und Katecheten nehmen
von den Kindern thränenreichen Abschied. „Man wird uns trennen und
andere, keine geistlichen Lehrer anstellen," klagen sie, um den Eltern das
Herz schwer zu machen. Daß die Geistlichen nicht entfernt daran denken,
den Religionsunterricht aus Händen zu lassen, versteht sich von selbst. Des
kräftigsten Hinterhaltes sind sich aber die Inhaber der Hirtenstühle an der
reactionären Partei bewußt, die am Hofe einen mächtigen Einfluß übt. Es
ist nach einer allgemein verbreiteten Meinung der Clericalen und Feudalen
nur eine Frage der Zeit, wann die Thun und Genossen wieder ans Ruder
kommen, und dann tritt das Concoroat, das ja überhaupt nur theilweise auf¬
gehoben ist, von neuem in volle Kraft; die Ehe- und Schulgesetze werden dann
ststirt. und mit Beihülfe der Landtage wird so lange an dem neuen constitu-
tionellen Bau gerüttelt, bis kein Stein mehr auf dem andern bleibt. Mittler¬
weile läßt der noch schwebende Ausgleich mit den Polen und Czechen die
Frage über die Verstärkung des Abgeordnetenhauses und die Einführung
directer Wahlen nicht zum Austrag kommen, und eine dunkle Hand schreibt
ihr Mene Mene Tekel an die Wand des Ministersaales.
„Und Unternehmungen voll Mark und Nachdruck,
Durch diese Rücksicht aus der Bahn gelenkt, ->
Verlieren so der Handlung Namen." —
Darum dieser Mangel an Thatkraft auf der einen, Trotz und Hoch¬
muth auf der anderen Seite. Erst ließ man den richtigen Moment ver¬
streichen, den rennenden Landtag, der offen dem Reichsgesetze Hohn sprach,
aufzuheben; als dann der Bischof von Brixen die Herausgabe von Ehe¬
gerichtsacten verweigerte, blieb es bei der Androhung der Execution; gegen¬
wärtig wird der Trotz, mit welchem auch die-Aushändigung der Schulauf-
sichtsschriften abgelehnt, die Fortsetzung der Functionen der bisherigen geist¬
lichen Schuldistrictsaufseher aufrechterhalten, und von den Gemeindevorstehern
gegen die Durchführung der Ministerialverordnung protestirt wird, ruhig
hingenommen; schließlich zögert man noch mit der Einsetzung der proviso-
lischen Schulaufstchtsbehörde und der Bezirksschulinspecroren. Und dann
wundert man sich noch, daß die Beschlüsse des Reichstags, allen kaiserlichen
Bestätigungen zum Trotz, auf dem Papier bleiben!
Seit zwei Jahren ungefähr haben wir Deutsche uns durch zwei hansea-
tische Gesellschaften und einige andere kleinere Unternehmungen die Mittel
angeeignet, vermöge welcher in England der Fang und Genuß frischer See¬
fische so außerordentliche Dimensionen angenommen hat. Seefeste Kutter
oder Smacks. nicht mehr bloße Schaluppen der ostfriesischen Inseln, welche
bei jeder frischen Brise den Hafen suchen mußten, oder Ewer von Blankenese
und Finkenwerder, als deren Hauptzweck schon oft die Bergung von Waa>
ren aus gestrandeten Schiffen betrachtet worden ist, — gehen jetzt auf die
Fischerei aus. Dadurch kommt in den Betrieb erst die gehörige Fülle und
Regelmäßigkeit, welche zur Hervorrufung eines Massenabsatzes erheischt wird.
Ferner wird mit der Trawe oder Kurve gefischt, dem über den Meeresgrund
hinstreifenden kolossalen Netze, nicht mit der köderbesteckten Angel von Nor-
derney. Es wird also nicht stückweise, sondern gleich centnerweise gefangen.
Der Fisch aber, welcher an Bord gezogen wird, kommt nicht in die
Bunge, d. h. in den gegen den übrigen Schiffskörper hin abgeschlossenen,
vom Fahrwasser durchflutheten Theil des unteren Raumes, um da langsam
abzusterben und als sogenannter lebendiger Fisch halbfaulend verkauft zu wer¬
den; sondern er wird auf der Stelle geschlachtet, ausgeweidet und in Eis
gelegt, folglich im überhaupt denkbar gesundesten Zustande der bewährte¬
sten aller Conservationsmethoden überliefert. Möglichst rasch ans Land be¬
fördert, wird er dann hinter die nächste beste Locomotive gespannt, um über
weite Flächen hin den Liebhabern zu unerhört billigen Preisen dargeboten
zu werden.
Diejenigen, welche den Grundnetzfang in Deutschland eingebürgert haben,
sahen es dabei vornehmlich auf die Herstellung einer Erziehungsanstalt für
die Kriegsmarine ab. Es war im August 1866, — noch unter dem vollen
Eindruck der militairisch-diplomatischen Großthaten Preußens, daß in Bremen
die ersten dahinseienden Besprechungen stattfanden. Die Betriebsweise der
Schönwetterfischer von den Elbinseln und den ostfriesischen Eilanden, das
leuchtet ohne Weiteres ein, bildet nicht aus, sondern verdirbt höchstens, was
an guten und tapferen Eigenschaften in der Küstenbevölkerung steckt. Um
uns das Stadtende eines fortdauernden, von keinem Metter unterbrochenen
Schifffahrtsbetriebes zu sichern, mußte man zu dem eben charakterisirten mo¬
dernen englischen Verfahren übergehen.
Zugleich aber sahen die Gründer in dem Fange frischer Seefische auch
die einzig wahrhaft zuverlässige Basis, um den abhanden gekommenen See¬
fischfang im Großen an den deutschen Nordseeküsten wieder heimisch zu
machen. Der ostfriesische Heringsfang des vorigen Jahrhunderts war frei¬
lich nur eine Treibhausblüthe. Friedrichs des Großen Staatsmaßregeln,
zumal das Verbot der Einfuhr holländischer Heringe brachte ihn zu einer
erkünstelten Entwickelung, mit deren Stützen er selbst alsbald wieder zusam¬
menfiel. Aber die Erinnerung spukt doch einmal in den Köpfen nach, und
so gut wie die Holländer immer noch einen kleinen Theil des continentalen
Heringsverbrauchs von der schottischen Küste wegholen, wiewohl die Schotten
ihnen das Handelsgeheimniß des „Brandes", der officiellen Garantiemarke
auf den Tonnen, längst abgesehen haben, so gut könnten am Ende auch
deutsche Schiffe sich an dem Fange längs der schottischen und norwegischen
Küste betheiligen. Aber der Hering geht nicht alle Jahre gleich reichlich ins
Netz. Man muß ungünstige Jahre überstehen können, wenn man ihm nach¬
stellen will, und dazu mag eben die immer lohnende Frischfischerei dienen.
In noch höherem Grade gilt dies von der Jagd auf Thranthiere, Walfische
und Robben, deren Betrieb von Hamburg und Bremen aus um die letzte
Jahrhundert-Wende herum schwunghaft ging. Ganz neuerdings haben ein¬
zelne Unternehmer in Bremen und Bremerhafen den seit einem Menschen¬
alter abgerissenen Faden wieder anzuknüpfen gesucht, — man muß abwarten,
mit welchem schließlichen Erfolg. Die dänische Fischereigesellschaft in Kopen¬
hagen, deren Admiral der aus dem Kriege von 1864 her bekannte thatkräftige
Capitain Hammer ist, macht bis jetzt trübe Erfahrungen mit einem Betriebe,
der lediglich auf diese Eismeerfahrten gerichtet ist. Das ursprüngliche Actien-
capital ist consumirt, und schon zum zweiten Mal binnen vier Jahren hat
die Frühjahrsausrüstung durch einen Nachschuß der Actionaire beschafft wer¬
den müssen. Indessen verliert man bis jetzt den Muth nicht; man hat aller¬
dings auch einen halbpolitischen Nebenzweck bei der Sache, nämlich den, den
gedrückten Erwerbsverhältnissen Islands vom Mutterlande her zu Hülfe zu
kommen.
Die Solidität der ökonomischen Basis, welche man in Bremen und
Hamburg gewählt hat, darf nun allerdings nicht nach den finanziellen Er¬
gebnissen der Lehrjahre bemessen werden. Beide Gesellschaften finden bestätigt
daß sie etwas ebenso Schwieriges, als Verdienstvolles unternommen haben.
Genau da, wo die Schwierigkeit,' liegt auch das ihnen winkende öffentliche
Verdienst: in der Heranbildung der Mannschaft zu ordentlichem Fischfang.
Wäre dies eine Kleinigkeit, wie könnte darin ein so wichtiger Vorschub für
die Entwickelung unserer nationalen Seemacht gefunden werden?
Die Seeleute von der Elbe und Weser mußten, als der neue Fischerei¬
betrieb sie in seinen Dienst zog, zweierlei auf einmal lernen: eine neue
Technik, die Handhabung des Grundnetzes und eine neue Löhnungsart, die
durch Antheile am Erlös des Fanges. Das Grundnetz erfolgreich zu hand¬
haben, ist kein Kinderspiel; es erheischt mehr beständige Geistesanspannung
als aller Dienst auf einem Kauffahrteischiff. Denn außerdem, daß das Schiff
gelenkt uyd der Cours gefunden sein will in jeglichem Wetter, erfordert eine
zweite große Sorge, die Füllung des Fischraums, stete und eifrige Aufmerk¬
samkeit. Durch das Loth muß ein Grund aufgesucht werden, der weder zu
flach noch zu tief, auch seiner Beschaffenheit nach Fische in Menge zu tragen
geeignet ist; dann geht das Netz hinab, um ein halb Dutzend Stunden in
richtiger Stellung zum Schiff erhalten, und sobald es voll, an Bord herauf¬
gewunden zu werden. Je rascher man es hiernach aber leert und wieder
auswirft, desto besser, denn desto eher ist der Raum gefüllt und desto frischer
können alle Fische zum Hafen gebracht werden.
Zu den hiermit bezeichneten Ansprüchen an das technische Geschick der
Mannschaft kam die im Matrosenleben gänzlich neue Löhnungsart, welche dazu
dienen soll, ihr die nöthige Hingebung an ihre Aufgabe einzuflößen. Auf
der Stelle durchführen ließ der Antheillohn sich nicht, weil der Mangel tech¬
nischen Geschicks ven darin liegenden Reiz zunächst noch seiner Wirksamkeit
beraubte. Und wiederum, weil dieser Reiz nicht sofort in Wirksamkeit ge¬
setzt werden konnte, eignete die Mannschaft sich das wünschenswerthe Maß
technischen Geschicks langsamer an, als sonst wohl der Fall gewesen sein würde.
So hält der eine Fortschritt ursprünglich den anderen geradezu auf, anstatt
ihm in die Hände zu arbeiten. Erst mit der Zeit, mit viel Geduld und nach
Ueberwindung mehrerer Uebergangsstufen ließ sich diese Doppelschwierigkeit
überwinden. In der Zwischenzeit arbeiteten die beiden Gesellschaften natür¬
lich mit bedeutendem Verlust: ihr ganzer Apparat war da und verlangte,
unterhalten zu werden, während der erwerbende Bestandtheil nur erst sehr
nothdürftig im Gange war.
Aus diesen Gründen erklärt es sich, daß sowohl die Hamburger wie die
Bremer Gesellschaft im Jahre 1868 15—20,000 Thaler zugesetzt, und jede
derselben wol schon mehr als ein Viertel ihres Gründungscapitals — 130.000
Thaler in Bremen, 160.000 Thaler in Hamburg — eingebüßt hat. Allein
der Gipfel des Berges scheint nun erklommen: die Antheilfischerei ist durch¬
geführt auf den 16 Bremer Kuttern, wie auf den 13 Smacks, welche der
Hamburger Gesellschaft nach zwei kürzlich, erlittenen Verlusten übriggeblieben
sind. An dem endlichen durchschlagenden Erfolg läßt einerseits das Beispiel
der nach Hunderten zählenden Trawler-Flotte Englands, andererseits die
bisher bewiesene Ausdauer der deutschen Träger der Sache nicht zweifeln,
Angesichts dieser Lage der Dinge erscheint es auffallend, wie man dem
norddeutschen Bunde zumuthen mag, durch Anlage eines Hafens bei Nor-
derney „eine neue Aera für die vaterländische Seefischerei zu begründen".
Entweder ist diese neue Aera — wenn man einmal so prunkvoll voraus¬
nehmend sprechen will — bereits begründet, oder aber sie wird es sicher
auch nicht dadurch werden, daß man den vom Seebadeverdienst verwöhnten
wetterscheuen Insulanern Norderney's Staatshülfe entgegenträgt. Alle
Staatshülfe der Welt hat niemals einen Seefischereibetrieb zu nachhaltigem
Gedeihen gebracht, weder in den Niederlanden und in England, die dies nach
langen, fruchtlosen Mühen endlich begriffen und offen ausgesprochen haben,
noch in Frankreich, wo man dem Aberglauben an die Kraft der Prämien
und anderer Staatshülfe noch fröhnt. Soll das neue Deutschland nun in
diesen gemeinschädlichem Weg einlenken, um Frankreich von dem Banne sei¬
ner Einsamkeit zu erlösen?
Blätter aus der preußischen Geschichte von K. A. Varnhagen von Ense.
Band 4 und 5. (1826—1830.) Leipzig bei F. A. Brockhaus.
Der Charakter der Varnhagenschen Aufzeichnungen ist in diesen Blättern
zu wiederholt bezeichnet worden, als daß wir nöthig hätten, von demselben
auch in diesem Bericht zu handeln. Klatsch. Medisance und wirklich inter¬
essante Neuigkeiten laufen in den „Blättern aus der preußischen Geschichte"
so bunt durcheinander, daß sich absolut nicht bestimmen läßt, wo das Eine
aufhört und das Andere anfängt.
Von den beiden zuletzt erschienenen Bänden aus Varnhagen's Nachlaß
sind die beiden vorliegenden Theile dadurch unterschieden, daß sich ein Mittel¬
punkt für ihren Inhalt nachweisen läßt, um welchen sich die übrigen Auf¬
zeichnungen gruppiren. Der Hauptgegenstand des vierten Bandes ist der
griechische Befreiungskrieg, mit dem Preußens schwankende Mittelstellung
zwischen Rußland und Oestreich aufs Engste zusammenhängt; aus dem fünf¬
ten Bande sind hervorzuheben: die Aufzeichnung über Varnhagen's Sendung
nach Kassel (1829) und die Schilderung des Eindrucks, den die Nachricht von
der Julirevolution in Berlin gemacht hat; diese Schilderung hat den Vorzug,
eine zusammenhängende zu sein und aus mehr als den sonst üblichen aufge¬
lesenen Brocken zu bestehen.
Bei Allem, was von Preußens auswärtiger Politik aus den Jah¬
ren 1826 bis 1830 erzählt wird, stehen die Klagen über die Abhängigkeit
von Rußland im Vordergrunde. Während nach Alexander von Humboldt's
Mittheilung (V. 284) weder am russischen Hofe noch bei den Behörden
eine günstige Stimmung für Preußen zu finden ist, überbietet man sich in
Berlin an Bezeugungen der Ergebenheit. „Graf Nesselrode (sagteHumboldt
zu Varnhagen) scherzt über unsere Politik, an eine Begünstigung in Handels¬
sachen ist nicht zu denken, Graf Cancnn hat Abneigung gegen uns. der Kai¬
ser kennt unser hiesiges Wesen zu genau, um es sehr in Rechnung zu stellen."
Daß das russische Cabinet mit Frankreich Verbindungen angeknüpft habe,
wollte auch der Gesandte v. Schöler wissen. Davon etwas in den Depeschen
zu sagen, hatte dieser Diplomat übrigens nicht gewagt, „denn es sei kein Ge¬
heimniß in Berlin, um das der russische Hof nicht sogleich durch den preußi¬
schen selbst wüßte". Nichtsdestoweniger bleibt Preußens Ergebenheit unver¬
änderlich dieselbe. Bei Hofe ahmt man mit Ostentation das Petersburger Cere-
moniell nach, von den Prinzen heißt es, sie zeigten mit Vorliebe russische
Manieren und der Kronprinz gilt für den Hauptvertreter von Rußlands
orientalischer Politik. Preußens diplomatische Vertreter werden förmlich an¬
gewiesen, sich in wichtigen Fällen stets mit den russischen College» ins Ver¬
nehmen zu setzen. Noch größer ist die Gefälligkeit der Polizei und dessen
was mit ihr zusammenhängt. „Unsere Censur hat eine besondere Vorschrift
für Alles, was Rußland betrifft. Ein Buchhändler wollte die Ankündigung
einer Schrift über russische Dampfbäder in die Zeitung rücken; der Censor
Geh. Regierungsrath Grano wies die Anzeige zurück, bis erst das Buch vor¬
gelegt sei, damit man wisse, was drin stehe. Blos des Worts „russisch"
wegen." — In der Berliner Bevölkerung ist der Haß gegen Oestreich und
den Fürsten Metternich aber so groß, daß Alles, was gegen die Wiener Politik
geschieht, dankbaren Boden findet. Varnhagen selbst nimmt in Sachen des
türkisch-griechischen Krieges für die Griechen und für Rußland Partei. Die
Collecten zu Gunsten der Griechen, welche nach manmchfachen Hemmnissen
zu Stande kommen und sich von Berlin aus rasch über die preußischen Pro¬
vinzen verbreiten, sind Gegenstand seiner lebhaftesten Freude, sowol wegen
der Griechen, als wegen des Aergers. den sie in Wien hervorrufen werden.
„Heute (29. Mai 1826) steht in der Zeitung unter den bei Hufeland ein¬
gegangenen Beiträgen für die Griechen einer von 1200 Friedrichsd'or von
einem Ungenannten; das kann nur der König sein! Unmittelbar daraufsteht
die Fürstin Liegnitz mit 10 Friedrichsd'or. Jenes wird den Fürsten Metter-
nich wieder schwer ärgern; aller Gewinn von dem Artikel des Staatsanzei¬
gers ist damit wieder aufgegeben.....Der König von Baiern hat für
die Griechen 20,000 Gulden gegeben..... 10. Juni. Die Griechen¬
sammlungen greifen immer kräftiger durch ganz Deutschland, überall bilden
sich Vereine, überall sprechen sich Gesinnungen aus und die öffentliche Mei¬
nung, nachdem ihr ein Ausbruch gegeben worden, wächst unaufhaltsam und
breitet sich gewaltsam aus. Diese Fluth ist nicht mehr zu beschränken. Ver¬
gebens strebt die östreichische Regierung noch entgegen, ihre Anhänger können
nur noch seufzen. Denn was will es sagen, wenn Herr v. Kamptz von dem
Cultusministerium ein Cireular an die sämmtlichen Professoren der hiesigen
Universität ausgehen läßt, worin diesen namentlich eingeschärft wird, daß die
Griechensammlungen nur allein für die Nothleidenden, aber ja nicht für die
Kämpfenden zu verstehen seien".
Ein Jahr später ist der Eifer für die griechische Sache bei Varn-
hagen beträchtlich abgeschwächt. Die Theilnahme an den Erfolgen der frau>
zösischen Kammeropposition und an Cannings liberaler Politik steht im Vor-
dergrunde auch seiner Interessen und er ist mit Gentz ziemlich einverstanden,
wenn dieser beim Tode Cannings klagt, daß der Einzige gestorben, der
Rußland noch im Zaume zu halten vermocht. — Ziemlich breit ist der Raum,
den neben diesen politischen Betrachtungen, Bemerkungen und Anekdoten aus
dem socialen Leben Berlins einnehmen. Wir hören von einer Rellstab'schen
Brochüre über Henriette Sonntag und deren Verehrer, die in Berlin förm¬
liches Furore macht und selbst in den Hofkreisen und in der diplomatischen
Welt für ein Ereigniß gilt. Jeder neue Triumph der gefeierten Sängerin,
jede Gunstbezeugung des Hoff wird sorgfältig registrirt und abgewogen —
selbst, daß der König Mademoiselle Sonntag den weggeflogenen Papagei
durch einen neuen ersetzt hat. erfährt die Welt aus den Tagebüchern des
Geheimen Legationsraths.
Interessanter, wenn auch nach ihren Gegenständen kleinlich genug, sind die
Bemerkungen über Standes- und Parteikämpfe aus dem socialen Leben jener
Zeit. Die Streitfrage, ob die seit der Franzosenzeit üblich gewordene
Sitte, auch bürgerliche Mädchen „Fräulein" zu nennen, geduldet oder das
historische „Demoiselle" wiederhergestellt werden soll, wird bei Hof wie in
der Stadt mit leidenschaftlichem Eifer discutirt. „Alle Ministerien müssen
ihr Gutachten darüber abgeben" und Kamptz macht die wichtige Controverse
zum Gegenstand einer besondern Denkschrift. Ein ähnlicher Kampf entbrennt
wenig später über das Prädicat „Hochwohlgeboren". Jede Kleinigkeit ge¬
winnt bei der allgemeinen Gereiztheit den Charakter einer Principienfrage.
Die Reactionäre haben es dahin zu bringen gewußt, daß der König der
Enthüllung des Blüchermonuments nicht beiwohnt; als das vielbesprochene
Reimersche Haus in der Wilhelmsstraße an das Departement der auswär¬
tigen Angelegenheiten vermiethet wird, redet die ganze Stadt davon und
„Manchen erscheint es im Ernst bedenklich und gefahrvoll, daß die Staats¬
verhandlungen gegen die Demagogen nun einem Erzdemagogen ins Haus
gelegt werden und zwar zu dessen Nutzen und Vortheil. Und was soll die
Polizei jetzt anfangen, wenn sie wieder, wie schon geschehen, die Besuche
beobachten will, die zu Reimer und Schleiermacher gehen?" Schleiermacher's
„Gefährlichkeit" scheint um jene Zeit in ihrer vollsten Blüthe gestanden zu haben.
Der Widerstand des muthigen Mannes gegen die Octroyirung der neuen
Liturgie verwickelt ihn in ernstliche Gefahren, immer wieder ist von seiner
Absetzung die Rede. So groß ist die Furcht davor, mir dem mißliebigen
Prediger in irgend welche Berührung zu kommen, daß der Minister v. Alten¬
stein von der Trauung einer nahen Verwandten wegbleibt, weil dieselbe von
Schleiermacher vollzogen wird! — ?ersona> sratissima ist dagegen Hegel und
Varnhagen macht schon im Jahre 1826 die Bemerkung, dieser Philosoph
scheine es nicht auf eine Schule, sondern auf eine politische Partei abgesehen
zu haben. — Ziemlich ausführlich verweilen die „Blätter" bei der Schilderung
von Stein's letztem Besuch in Berlin. „Er ist sehr alt geworden, hat das
rechte Auge verloren, sieht aber noch sehr stattlich und ehrwürdig aus. Er
war ungemein freundlich gegen mich, mild und heiter in jeder Aeußerung.
Er lobt die Provinzialstände, will aber mehr Oeffentlichkeit und regeren
Volksgeist. Der Aristokrat kam nicht zum Vorschein, eher etwas Demokrati¬
sches; er pries Amerika, die dortige Freiheit, es sei dort besser, als hier.
Er tadelte mich, daß ich eine Sendung nach Washington ausgeschlagen.
„Und wenn Sie auch Ihr ganzes Leben dort hätten zubringen müssen —
desto besser." Trotz der freundlichen Aufnahme, die ihm allenthalben wurde,
war der alte Staatsmann sich seines Gegensatzes gegen die herrschende Rich¬
tung in vollem Maße bewußt. Als man ihn aufforderte, noch länger in
Berlin zu bleiben, erwiderte er mit launiger Schärfe: „I Gott bewahre, ich
muß machen, daß ich wegkomme, sonst riskire ich noch gar, wegen meiner
demokratischen Gesinnungen eingesteckt zu werden."
Was wir aus dem übrigen Deutschland zu hören bekommen. beschränkt
sich im Wesentlichen auf die Höfe und ist schon darum wenig erbaulich; hie
und da erfährt man höchstens noch etwas von den Kämpfen der Rheinpro¬
vinz um Erhaltung des französischen Rechts, von der bösen Stimmung in
den deutsch-östreichischen Ländern (namentlich Böhmen) und von dem Ein¬
druck, den hervorragendere literarische Neuigkeiten bei ihrem ersten Er¬
scheinen gemacht haben: Goethes Werke erscheinen in der Gesammtausgabe,
Heine läßt die späteren Bände seiner Reisebilder erscheinen, Börne sammelt
seine kleinen Schriften. Für die großen Massen ist übrigens Saphir noch
immer der Publicist des Tages - seine „Schnellpost" wird von aller Welt,
selbst vom Könige eifrig gelesen und wenn der gallige Recensent sich un-
fläthiger Ausfälle auf Henriette Sonntag schuldig macht, so läßt der König
demselben durch Herrn v. Schuckmann eine wohlmeinende Warnung zukommen.
— Nichtsdestoweniger steht das literarische Leben Berlins von 1826 und 1827
noch hoch über dem Wiens. Grillparzer. der Varnhagen aufsucht, sagt u. A.
„Man will gar nicht, daß bei uns jemand Literatur treibt und etwaige
Successe gereichen zum Vorwurf. Alles ist erstarrt und erlahmt, es gibt dort
keine Anregung, im Gegentheil Unterdrückung."
Von deutschen Fürsten kommen verschiedene vor, aber die Meisten in
ziemlich traurigen Rollen. Der Herzog von Dessau ist zum Katholicismus
übergetreten und führt nebenher seine alberne Fehde gegen den Zollverein.
König Ludwig von Baiern hat eine liberale Periode, sein Mäeenenthum
schafft ihm in der Künstlerwelt und unter den Gelehrten Anhänger, poli¬
tische Dilettanten bewirthet er mit liberalen Redensarten. „Ich lerne ein¬
sehen, daß die Zersplitterung Deutschlands in viele Staaten der Nation
denn doch nothwendig und vortheilhaft ist; unter den vielen Fürsten ist denn
doch einer immer liberal, und eine heilsame Opposition gegen die anderen." —
Ein anderes Mal erklärt er. sich vor dem Wort „Turnen" nicht zu fürchten und
befiehlt dieses statt „gymnastische Uebungen" zu brauchen." Zur Geschichte
des Welfengeschlechts wird aus dem I. 1827, also aus den Tagen vor der
Thronbesteigung Ernst Augusts und vor der Verbitterung dieses Fürsten
durch den Verfassungsstreit, eine lehrreiche Anekdote mitgetheilt: „In Hannover
hat der Herzog von Cumberland den Leuten bei Tafel gesagt, er wisse wohl,
daß er selbst wohl nur kurze Zeit in Hannover an der Regierung sein würde,
aber desto besser habe er seinen Sohn, den Prinzen Georg darauf eingelernt,
und werde es ihm noch recht einbläuen, daß er als König die Hannoveraner
recht zwiebele: „Wartet nur, der wird Euch schon kuranzen, da sollt Ihr
was erleben!" Ohne Anlaß zum Bösesein, aus bloßer Jungenhaftigkeit,
sagt er dergleichen."
Alles, was wir von fürstlicher UnWürdigkeit und cynischen Despotis¬
mus aus dieser verkommenen Zeit erfahren, wird aber durch die Mitthei¬
lungen in Schatten gestellt, die Varnhagen über das Treiben des Kurfürsten
von Hessen und dessen Sohn macht. Im Januar 1829 wurde Varnhagen be¬
kanntlich der Auftrag, die scandalösen Zwistigkeiten zwischen Vater und Sohn,
der dem preußischen Königshause verwandten Kurfürstin und ihrem Gemahl
beizulegen und^. so hatte er die reichlichste Gelegenheit, den Abgrund von
Niedertracht zu studiren. in welchen diese Familie gerathen war. Die Un-
erträglichkeit der Mißregierung Wilhelms II. hatte schon 1828 einen so hohen
Grad erreicht, daß Varnhagen durch Friedrich Wilhelm III. den Auftrag er¬
halten, auf Begründung einer Verfassung des Kurstaats zu wirken — eine
Thatsache, die unseres Wissens bisher nicht bekannt gewesen ist. Der per¬
sönliche Credit des Kurfürsten war zufolge der Reichenbach'schen Wirthschaft
und der Brutalität dieses Wütherichs so tief gesunken, daß der Kronprinz
(Friedrich Wilhelm IV.) dem sächsischen Gesandten von Lüderitz bet Gelegen¬
heit der Hochzeitsfeier in Weimar zurief: „Nun, wie steht es in Kassel? Ich
höre, mein Herr Onkel ist jetzt sehr gnädig. — sonst prügelte er seine Mi¬
nister alle acht Tage, jetzt nur alle 14 Tage, sagt man." Die Veranlassung
zu Varnhagen's Mission war die Flucht des Kurprinzen auf preußisches Ge¬
biet, zu welcher derselbe durch seinen Vater gezwungen worden war. Was
die Blätter über die in Kassel verlebten Tage berichten, klingt geradezu un¬
glaublich und versetzt den Leser aus dem 19. in die schlimmsten Zeiten des
18. Jahrhunderts. Die Gräfin Reichenbach empfängt den preußischen Ge¬
schäftsträger officiell. geruht „kalt und zurückhaltend" gegen denselben zu
sein und präsidire bei den Hoffestlichkeiten, als ob sich das von selbst ver¬
stände. Der versammelte hohe Adel des Kurfürstenthums entblödet sich nicht,
der frechen Buhlerin den Hof zu machen; die Gräfin v. Hessenstein ist „fast
den ganzen Abend" um die kurfürstliche Maitresse bemüht, der Prinz von
Solms-Lied ..beugt sich über die Maßen" vor ihr und nennt sie unterwürfig
Excellenz, „was hier nur ganz gemeine Leute thun." Die Frau des östreichi¬
schen Gesandten ist die einzige Dame, die der Gräfin nicht „den Rang läßt".
Da es mit den Aussöbnungsversuchen in Kassel nicht vorwärts gehen will,
reist Varnhagen nach Bonn, um bei der Kurfürstin und dem Kurprinzen,
der bis dahin die Rolle der gekränkten Tugend gespielt, sein Heil zu ver¬
suchen. An diesem lernt er einen Menschen kennen, der noch tief unter seinem
Vater steht, die Frau des Lieutenant Lehmann öffentlich zur Geliebten hat,
die Bauerdirnen auf offenem Felde anfällt, weder Adjutanten noch Cavaliere
hält, sondern blos mit der „niedern Dienerschaft verkehrt", bei jüdischen
Wucherern Geld aufnimmt und sich „verlegen, aber trotzig, dünkelhaft und
ungeschickt" benimmt. Das Schlimmste bei der Sache ist. daß Preußen die¬
sem unwürdigen Geschlecht gegenüber so langmüthig und charakterlos auf¬
tritt, daß es an der eigenen Würde Schaden leidet und schließlich alle Theile
zu Feinde hat, — zum schlimmsten Feinde den Kurprinzen, dessen der König
sich in großmüthigster Weise angenommen und den er, der strenge, gewissen¬
hafte Haushalter, aufs Reichlichste unterstützt hatte. „Der König hatte ihm
den Major von Trützschler als Begleiter beigegeben, der Kurprinz hat den¬
selben fast beleidigend fortgeschickt und gemeint, er brauche keinen Spion. . .
Er ist eigentlich schon ein Feind Preußens und glaubt über unsere Schwäche
und Inkonsequenz spotten zu dürfen". — „Dem König", schreibt Varnhagen
nach seiner Rückkehr, „hat es einen angenehmen Eindruck gemacht, daß ich,
sein Abgesandter, vom Kurfürsten durch einen Orden ausgezeichnet worden,
nachdem Herr Generallieutenant v. Natzmer in Kassel eine fast beleidigend
schnöde Zurücksetzung erfahren hatte." — Wie oft ist dieselbe Geschichte seitdem
noch erlebt worden, bevor Preußens Geduld zu Ende war und bevor es die¬
sen an seinem Busen genährten Schlangen endlich das verdiente Garaus
machte, um hinterher von „deutschen" Demokraten des Verraths an der kur¬
hessischen Freiheit bezüchtigt zu werden!
Wie erwähnt, schließt der fünfte und letzte Band der „Blätter aus der
preußischen Geschichte" mit einer Schilderung des Eindrucks, den die Or¬
donnanzen Karls X. und die diesen folgenden verhängnißvollen Julitage mach¬
ten. Als die erste Nachricht von dem wahnwitzigen'Unternehmen Polignacs
in der preußischen Hauptstadt anlangt, weiß die reactionaire Partei sich kaum
vor Jubel zu lassen. Während (wie wir aus dem Gentz-Pilatschen Brief¬
wechsel wissen) Metternich und dessen Getreue klug genug waren, diese Nachricht
mit Besorgniß vor dem Ausgang und mit bedenklichem Kopfschütteln aufzu¬
nehmen, erklärte Herr v. Kamptz feierlich, „das allein habe dem politischen
Zustande von Europa gefehlt, nun sei Alles vortrefflich, nun werde man gol¬
dene Zeiten der Ruhe und Ordnung erleben. Ancillon triumphirt mit gra¬
vitätischer Miene, eine weise Kraft habe sich endlich gezeigt, Schmalz und
Jarcke nehmen Theil am Siege, der katholisch gewordene Professor Valentin
Schmidt fiel dem gleichgesinnten Regierungsrath Witte entzückt in die Arme."
Als wenige Tage später die ersten Nachrichten von dem Widerstande des
Pariser Volks eintreffen, erklären dieselben Weisen, das könne und dürfe nicht
wahr sein. Die Staatszeitung hatte die Phrase gebraucht, „man hofft jeden
Augenblick die Zurücknahme der beiden Ordonnanzen" .... „Kaum war
die Sache gedruckt, so erschien Ancillon athemlos, wüthend gegen die Staats¬
zeitung, beschwerte sich, daß man ihn nicht gefragt, es würde hier noch so
weit kommen wie in Paris, wenn man der verdammten Preßfreiheit nicht
Einhalt thäte u. s. w,"
Der einzige Mann, der inmitten des allgemeinen Tumults der wider¬
streitenden Meinungen und des Legitimitätsfanatismus seiner Hofleute den
Kopf auf dem rechten Fleck behalten hatte, war der alte König. Während seiner
Abwesenheit in Teplitz hatte der Kronprinz von der Nothwendigkeit geredet,
der Sache der Legitimität zu Hülfe zu kommen, und geäußert, er wünsche an
der Spitze von 50,000 Preußen in Frankreich einzurücken. Des Königs
erste Aeußerung war die des Zorns darüber, „daß Karl X. nicht sein Wort
gehalten"; in vertrauterem Kreise sprach er dann sein Bedauern darüber
aus, daß die letzten vierzig Jahre als verlorene zu betrachten seien und daß
Alles wieder von vorne anfange. Darüber aber, daß Alles, zur Erhaltung
des Friedens aufzubieten sei, war der erfahrene Monarch keinen Augenblick
im Zweifel. Obgleich er sich eine Zeit lang durch russischen Einfluß „hem¬
men" läßt, erkennt er die Regierung Louis Philipp's schon im September
an und Rußland sucht vergebens „uns zu feindlichem Verhältniß gegen das
neue Frankreich zu reizen."
Mit dem Jahre 1831 beginnen bekanntlich die unter dem Titel „Tage¬
bücher" veröffentlichten sieben Bände Varnhagenscher Denkwürdigkeiten, welche
schon vor Jahren erschienen und besprochen worden sind. Es scheint mithin,
daß der unerschöpfliche Papierkorb des Frondeurs in der Mauerstraße wenig'
seems in Bezug auf die Erlebnisse desselben ausgeleert ist. Das letzte Wort
über diese Aufzeichnungen ließ sich schon bei Veröffentlichung des ersten der
gegenwärtig vorliegenden zwölf Bände sprechen und es ist gesprochen worden.
Varnhagen's Verbissenheit, Einseitigkeit und Klatschsucht ist in diesen Selbst¬
bekenntnissen so deutlich zu Tage getreten, daß dieselben zur Vergrößerung
seines literarischen Ruhms nicht beitragen konnten. Dabei darf aber nicht
vergessen werden, wie Vieles auf Rechnung der Zeitumstände zu setzen ist. die den
denkenden Beobachter der deutschen Zustände alten Datums nur allzuleicht auf
den Isolirschemel setzten und zur Verwechselung des Zufälligen mit dem Blei¬
benden, der Anekdote mit dem geschichtlichen Vorgang verleiteten. Obgleich
der Werth dieser Publicationen unter ihrer endlosen Länge und Eintönigkeit
von Band zu Band gelitten hat, dürfen wir doch nicht übersehen, daß
dieselben für den Historiker der Zukunft ihren Werth haben werden, freilich
unter der Voraussetzung, daß dieser Historiker selbst kein Varnhagen ist und daß
er sich mit einer bescheidenen Ausbeute aus diesen compendiösen Sammlungen
begnügt. Namentlich für die Sitten- und Bildungsgeschichte des deutschen
Liberalismus wird dieses Buch die Bedeutung einer Quelle behalten, denn
bei gewissenhafter Selbstkritik werden wir uns sagen müssen, daß die Krank¬
heit des Verfassers keine isolirte Erscheinung, sondern in gewissem Sinn die
Zeitkrankheit des vormärzlichen Liberalismus war. Daß sie sich bei Varn¬
hagen bis ins Widerwärtige steigerte, ändert nichts an dieser Thatsache, —
receptive Naturen sind mit den Fehlern ihrer Partei und Periode immer am
reichlichsten behaftet.
Geschichte der italienischen Malerei von I. A. Crowe und G. B. Cavalcaselle.
Deutsche Originalausgabe besorgt von Dr. Max Jordan. Erster Band mit 13 Tafeln.
Leipzig. S. Hirzel. 1869.
Als die, „Ac>v iiistor^ok xaintmZ in ItAlz^ von Crowe und Cavalcaselle
vor fünf Jahren in London veröffentlicht wurde, hatten wir Alle, die wir
der kunsthistorischen Forschung zugethan sind, eine gemeinsame Empfindung
und einen gleichen Wunsch. Wir empfanden Neid darüber, daß ein so tüch¬
tiges, wir hätten beinahe gesagt, mit so deutscher Gründlichkeit gearbeitetes
Werk zuerst den Briten zugänglich wurde, wir hegten dann den Wunsch,
daß wir bald durch eine Uebertragung des Buches in unsere Sprache erfreut
würden. Seit Rumohr's Forschungen, ist keine Schrift erschienen, welche unser
Wissen von der italienischen Kunst in so hohem Maße bereichert hätte, wie
die vorliegende, ja diese überragt an Bedeutung jenes ältere Buch. Sie
ist umfassender angelegt und beruht auf genaueren technischen Studien,
als sie Rumohr anzustellen vermochte. Damit soll Rumohr's Ruhm nicht
geschmälert werden, ebensowenig wie es als Unterschätzung des alten Vasari
aufzufassen ist. wenn ihm das Buch Crowe's und Cavalcaselle's als „neuer
Vasari" gegenüber gestellt wird. Die Nothwendigkeit einer durchgreifenden
Revision des Aretiners steigert sich in dem Maße, als man seinen Ver¬
diensten als Schriftsteller gerecht wird, ihn nicht als einen bloßen Sammler
von Nachrichten betrachtet. Man kann Vasari nur äußerst selten Parteilich¬
keit, niemals wissentliche Entstellung der ihm bekannten Wahrheit vorwerfen.
Er spricht von seinen Landsleuten und von seiner Vaterstadt Arezzo mit
größerer Wärme, als wir es heutzutage thun würden und stellt Florenz
gegen Siena und Pisa ausschließlich in den Vordergrund. Dieses werden
wir ihm leichter verzeihen, wenn wir uns erinnern, wie schwer es uns noch
jetzt, bei allem Fortschritt der Urkundenforschung und des streng sachlichen
historischen Urtheiles wird, den Antheil der verschiedenen toscanischen Städte
an der italienischen Kunstentwickelung zu bestimmen. Einem Sohne des
16. Jahrhunderts war dieses vollends unmöglich; sowohl weil seine Kunde
beschränkter war. wie auch weil seine Bildung eine Entäußerung alles Per¬
sönlichen, wie sie der moderne Historiker sich aneignet/ ausschloß. Bekannt¬
lich hat Vasari sein Werk auf einen zufälligen Anlaß hin begonnen. Eifriger
Sammeltrieb, vielfältige Reisen, zahlreiche persönliche Verbindungen hatten
ihn für seine Aufgabe gut vorbereitet. Doch genügte diese Vorbereitung nur
nach einer Seite. Während der Arbeit wird er sich auch seiner Pflichten als
Schriftsteller bewußt, und vergißt nicht die Forderungen, die an diesen ge¬
stellt werden, zu erfüllen. Man erkennt leicht, daß er sich gewisse Compo-
sitionsregeln gebildet, daß er einen bestimmten Pragmalicismus anstrebt.
Wie er die Künstler aufeinander folgen läßt, wie er sie gruppirt, bald trennt,
bald auch unter einem Haupt zusammenstellt, ist ein Product literarischer Be¬
sonnenheit; er folgt darin den Anschauungen seiner Zeit, wie in der Vor¬
liebe für moralisirende Wendungen — gar mancher Künstler dient ihm zum
allegorischen Bilde einer allgemeinen Vorstellung — und theoretische Spitzen.
Die literarische Leistung Vasari's erhöht den Reiz seines Werks, viele
Theile desselben lesen sich leicht und angenehm wie ein Volksbuch, sie zieht
aber einen Schleier über Vasari als kunsthistorische Quelle. Ueber viele Dinge
denkt und schreibt er, nicht wie sie sind, sondern wie sie sich einem gebildeten
Manne des 16. Jahrhunderts darstellen. Bis zu einem gewissen Grade ist
allerdings jeder Historiker dem Einflüsse seiner Zeit unterworfen, keinem aber
in so hohem Grade wie ein Italiener am Ausgange der Renaissaneeperiode.
Er kennt und versteht schlecht das Mittelalter, das ihm stets nur als eine
Lücke in der nationalen Entwickelung erscheint. Er weiß sich nicht klar mit
den» Humanismus auseinanderzusetzen, mit dem er sich wohl verwandt fühlt,
dessen reiner Formencultus sich aber mit der inzwischen gesteigerten Ktrchlich-
keit wenig verträgt, er hält endlich seine eigene Zeit für aufsteigend im
Können und Schaffen, während sie den Verfall bereits einleitet. Nach diesen
Richtungen hin bedarf der alte Vasari einer Revision. Auch der Urkunden¬
schatz, über welchen wir gebieten, muß zur Controle sowohl, wie zur Be¬
richtigung des Aretiners herangezogen werden. Eine kritische Sichtung der
überlieferten Nachrichten lag Vasari natürlich fern, auch waren seine Quellen
vielfach secundärer Art. Ueber die Zeit Giotto's und vollends die noch ältere
Periode waren auch Ghiberti und Albertini auf die Tradition angewiesen.
In dieser Beziehung ist der Vortheil ganz und gar auf Seiten des modernen
Forschers, welchem Geburtsscheine, Vermögensangaben, Bestellbriefe, Kaus-
contracte u. s. w., Urkunden aller Art zu Gebote stehen. Bekennen wir nun
gleich, daß Crowe und Cavalcaselle sich dieses Vortheiles in ausgedehnter
Weise bemächtigt haben, daß sie ferner die oben angedeutete Revision Vasari's,
wenn nicht zu Ende gebracht, doch wie kein anderes zeitgenössisches Werk
weiter geführt haben.
Mit bewunderungswürdiger Selbstlosigkeit verzichten die Verfasser auf
alle Reize, welche den Eindruck des streng sachlichen Urtheiles stören könnten.
Niemals tritt persönliche Vorliebe oder Abneigung in den Vordergrund, bei
gleich warmem Interesse für alle Künstler niemals eine leidenschaftliche Em¬
pfindung. Als Ausgangspunkt gilt ihnen stets die genaue technische Be¬
schreibung der vorhandenen Werke. Mit anatomischer Schärfe wird.die Zeich¬
nung, die Form der Einzelgestalt, die Weise der Gruppirung, die Farben¬
gebung untersucht, auf dieser Grundlage das Bild und der Meister sorg¬
fältig charakterisirt. Diese Methode, in der classischen Archäologie bekannt¬
lich schon eingebürgert, in der Kunstgeschichte des Mittelalters noch häufig
vermißt, gestattet allein eine vollkommene Sicherheit des Urtheils, gibt
namentlich einen sicheren Anhalt, die Herkunft der einzelnen Werke zu be¬
stimmen. Sie hat sich auch bei Crowe und Cavalcaselle bewährt. Die bessere
Gliederung der Schule Giotto's und die Schilderung dieses Meisters selbst
— die Glanzseite des vorliegenden Bandes — bleibt denselben zu verdanken,
ebenso wäre es auf einem anderen Wege kaum möglich gewesen, in die
Wandgemälde des Pisaner of.mxo Santo Klarheit und Ordnung zu bringen.
Der unmittelbare Gegenstand des „neuen Vasari" ist zunächst die italieni¬
sche Malerei, doch haben die Verfasser, wie bei ihrer Umsicht und Gründlich¬
keit nicht anders zu erwarten war, auch die Plastik in Betracht genommen.
Nach einem kurzen Ueberblick der altchristlichen Malerei, die für den gegebe¬
nen Zweck ausführlich genug erscheint, da die altchristliche Malerei ungleich
näher mit dem classischen Alterthum als mit dem späteren Mittelalter zu¬
sammenhängt, und nach einer kritischen Erörterung der Reste frühmittelalter¬
licher Kunst behandeln die Verfasser die vielfach räthselhafte Sippe der römi¬
schen Cosmaten und die scheinbar plötzliche Erneuerung der italienischen
Kunst durch Niccola Pisano. „Woher kam diese erstaunliche Erscheinung?"
fragen die Verfasser. „Man fühlt sich an Michel Angelo gemahnt und könnte
glauben, daß auch Niccola, einzig in seiner Art und Zeit, wie er war, als ein
schöpferischer Genius anzusehen sei, der mit einem Male die Kunst in Pisa
umgestaltete. Aber selbst Michel Angelo's Werke in all ihrer Hoheit athmen
doch die gleiche Lebensluft mit denen des Ghirlandajo und Donatello. Sind
alle früheren Leistungen, die seine künstlerische Abkunft verdeutlichen könnten,
verschwunden?" Mit Recht verwerfen Crowe und Cavalcaselle die Ableitung
des neuen Stils von dem Studium eines vereinzelten antiken Kunstwerkes,
von welchem Vasari erzählt. Es ist nicht die Imitation der Antike in dem
Einen oder Anderen, die wir bei Niccola bewundern, sondern die veränderte
Totalrichtung, die uns in Staunen setzt. Eine solche läßt sich ohne Vor-
bereitung. ohne Vorstufen nicht denken. Der alte Vasari zeigt uns bereits die
Spuren derselben, denen natürlich auch die Verfasser folgen. Aus den ver-
worrenen Nachrichten bei Vasari entnimmt man das Eine mit Bestimmtheit,
daß Niecola rege Beziehungen mit Unteritalien unterhielt, daß zu seiner Zeit
noch der Süden an der italienischen Kunstentwickelung eifrig theilnahm.
Nach Vasari freilich so, daß die activen Einwirkungen von Pisa und Florenz
kamen. Erwägt man, daß nach einer Leseart Niccola's Vate'' aus Apulien
stammt, daß der „aredittettv e seultore övrentmo ?ueeio" bei Vasari. der
dann mit Kaiser Friedrich nach dem Süden zieht, einen Namen trägt, der
unwillkürlich an Foggia anklingt, wo wir auf eine berühmte Künstlerfamilie
treffen, so neigt die Entscheidung zu Gunsten Süditaliens. Der Monumen¬
tenbefund stärkt diesen Glauben. Wer in Ravello gewesen, hat hier Sculp-
turen gesehen, welche im gleichen Stil gearbeitet sind, wie die Pisaner des
Niccola. Die Marmorbüste von Sigalgaita Rufolo (ein guter Gypsabguß
im Museum zu Neapel) z. B. mit den breiten Wangen, dem breitgeöffneten
Munde, den regelmäßigen, kräftigen Zügen würde, in Pisa aufgestellt, un¬
bedingt für ein Werk Niccola's gelten. Nehmen wir an, daß in Ravello
ein Pisaner Meister gearbeitet, so bliebe das Phänomen des plötzlichen Auf¬
schwunges der Plastik im 13. Jahrhundert nach wie vor unerklärlich; gehen
wir dagegen auf einen einheimischen Meister zurück — und als solcher zeigt
sich Nicolaus, Sohn des Bartholomäus aus Foggia — so gewinnen wir
alsbald eine ziemlich geschlossene Kette künstlerischer Entwickelung. Schon im
12. Jahrhundert war Unteritalien, Sicilien mit eingeschlossen, dem übrigen
Lande an künstlerischer Thätigkeit und Tüchtigkeit weit voraus. Der stetige
Zusammenhang mit Byzanz, dessen Kunstleben gewöhnlich viel zu gering
angeschlagen wird, wo sich, wenn auch keine lebendigen doch zahlreiche Kunst¬
fertigkeiten erhalten haben, gibt einen ausreichenden Grund dafür ab. Die
Mosaikgemälde in Cefalu, Monreale und Palermo (hier wären die großen
Bilder aus dem Leben Jesu im rechten Seitenchor (Querwand) zu erwähnen
gewesen) stehen weit über den gleichzeitigen Leistungen des italienischen Con-
tinents. In der Bronzetechnik gehen die Süditaliener, Schüler der Byzan¬
tiner, gleichfalls den Zeltgenossen voran. Wenn man aus dem Zunamen des
Bonannus, welcher die Hauptthüre in Monreale goß: „Liois I>isg,ruf", das
Gegentheil schließen wollte, so wäre zu entgegnen, daß die Seitenthüren des
Doms von Monreale, von Barisanus aus Trani gearbeitet, die mit jener
von Ravello und Trani übereinstimmen, also auf heimische Uebung hindeuten,
von ungleich höherem Kunstwerth sind. Neben den Mosaizisten und Erz-
gießern verdienen aber auch die Marmorarbeiter rühmlichste Erwähnung, ins¬
besondere in allen Werken der Decoration. Die mit Blattgewinden über¬
zogenen Ecksäulen im Klosterhof zu Monreale, die Blattcapitaler dort und in
Palermitaner Kirchen, sämmtlich aus dem 12. Jahrhundert, verrathen Kennt¬
niß der Antike und eine große technische Gewandtheit. Die figürlichen Dar-
ste»lungen, in der Cowpofition oft mit den Mosaikbildern identisch, lassen
gleichfalls einen feineren Formensinn, als man ihn sonst findet, und eine
bessere Zeichnung durchblicken. Darf man vollends die Elfenbeinschnitzereien
im Dome zu Salerno (Scenen aus dem alten und neuen Testament am
Sacristeialtare) aus dem Anfange des 13. Jahrhunderts einem heimischen
Meister zuschreiben, so gewinnt man eine natürliche Entwickelungsreihe, in
welche sich Niccola Pisano zwanglos einordnet. Wir übergehen dabei die
glänzenden Culturverhältnisse, die politische Macht, den Aufschwung und
Reichthum^ süditalischer Fürsten und Städte, welche zu Gunsten unserer An¬
nahme sprechen; das Studium der Denkmäler reicht hin, uns von der Wahr¬
scheinlichkeit, daß Niccola Pisano seine artistische Erziehung in Apulien ge¬
noß, zu überzeugen.
Die Schönheit, welche Niccola seinen Arbeiten einhauchte, war und blieb
nicht das Ziel der italienischen Kunst. Der Erörterung dieses Gedankens wid¬
men unsere Verfasser das nächste Capitel, das Giotto's Herkunft und Be¬
deutung uns verständlich machen soll. Wenn es heißt, daß die Künstler
Mittelitaliens bis zur Mitte des 13. Jahrhunderts „fast auf einen einzigen
Gegenstand sich concentriren: auf die Darstellung des Gekreuzigten", so
könnte man vielleicht zu Gunsten der Madonnenmalerei eine Ausnahme machen.
Doch genügt die vergleichende Kritik einer Gattung von Darstellungen, um
den Zustand der italienischen Malerei deutlich zu erkennen, und darauf kommt
es wesentlich an. Die Verfasser haben die Tugend der Entsagung in sel¬
tenem Grade geübt, daß sie diesen Schauerbildern mit beharrlichem Fleiß
nachforschten und sie der genauesten Prüfung unterwarfen. Wer an den
Schönheitssinn der Italiener als eine Naturgabe, die nicht erworben zu wer¬
den braucht, allen künstlerischen Unternehmungen von selbst sich aufprägt,
glaubt, findet sich gegenüber den Crucifixen des 13. Jahrhunderts gründlich
enttäuscht. Die finstere Phantasie des Nordens ist hier nahezu erreicht, wenn
nicht übertroffen. Aber als erste Spuren einer selbständigen Auffassung der
Ereignisse, als die frühesten Versuche, tiefere Empfindung und Wahrhaftigkeit
den Bildern einzuweben, haben sie eine gewisse Bedeutung trotz der häßlichen
Formen und der rohen Technik. Wie bei jeder Umwälzung ging man zu¬
nächst der alten Vortheile verlustig, ohne neue zu erwerben. Erst allmälig
wird für die ersteren vollständiger Ersatz geboten, erst bei Cimabue und noch
mehr bei Giotto erkennt man die Nothwendigkeit des vorangegangenen Ab¬
falls von der ruhigen classischen Weise, welche sich noch in den früheren
Jahrhunderten des Mittelalters erhalten hatte, aber der lebendigen Wiedergabe
des Ideals, wie es sich besonders unter dem Einfluß des Franciskcmerordens
in Italien ausbildete, hinderlich war. Bot das Capitel über die Crucifixe
den Verfassern die Gelegenheit, mit den Pisaner, Luccheser und Sienenser
Malern, den Giunta. Guido u. A. abzurechnen, wobei das schließliche Ueber¬
gewicht von Florenz zu Tage tritt, so gab die Schilderung der Franeiskaner-
kirche von Assisi ihnen den Anlaß, Cimabue's Thätigkeit zu erörtern.
„Assisi. das Heiligthum des ältesten Bettelordens, erhielt schon unter
lombardischem Regiment malerischen Schmuck, gewann aber <rst weltgeschicht¬
liche Bedeutung als letzte Ruhestätte des wunderthätigen Mannes, den man
kühnlich mit Christus verglich, der recht eigentlich der Heilige der armen
Leute war, die offenes Auge hatten für die Laster der Geistlichen und Laien.
Tüchtige Männer hielten es ebenso für zeitlichen wie für ewigen Gewinn.
Einfluß und Gnadenspender der Bettelmönche zu theilen und traten schlie߬
lich in die Zahl der Laienbrüder. Enthusiasmus und Steine wurden dem
Orden allenthalben reichlich entgegengebracht und so erhob sich die Kirche
S. Francesco zu Assisi als Denkmal umbrischen und toscanischen Glaubens¬
eifers; über der ersten entstand eine zweite Kirche zu Ehren des Heiligen
und die monumentale Kunst schärfte den Pilgern die hohe Bedeutsamkeit seiner
Wunderthaten dadurch ein, daß sie dieselben mit denen des Heilands in
Parallele stellte. Darstellungen, die zuerst schlechten Künstlern aus Francis-
cus eigenen Tagen anvertraut gewesen waren, wurden durch Giunta's rohere
Hand wiederholt, der selbst wieder dem Cimabue wich. Seitdem bildete sich
hier eine ganze Malerschule; aus ihr erwuchsen Giotto und Andere, welche
die florentinische Kunst über Italien ausbreiteten, und mit ihnen wetteiferten
die Sienesen durch die Talente ihres Simone und Lorenzetti."
Die Verfasser, sonst sparsam mit culturhistorischen Notizen, kommen noch
einmal auf den Einfluß des Franziskanerordens zurück, bei Gelegenheit der
Schilderung von Giotto's Kunstanfängen. Man kann daraus ersehen, welche
Größe sie jenem beimessen. Und mit Recht. Im Angesichts der Schmutz¬
finken, welche heutzutage in brauner Kutte in Rom herumwandern, in Neapel
betteln, könnte man zwar ungläubig werden und die Behauptung, daß die
Kunst wie das sociale Leben von den Brüdern des heiligen Franziscus be¬
herrscht würden, als Ausfluß clericalen Fanatismus zurückweisen. Man wird
aber hier wie in allen anderen Fällen dem Mittelalter nur dann gerecht,
wenn man von allen modernen Erscheinungen, die sich als legitimer Erbe
desselben darstellen, absieht. Den Bettelmönchen und den mit ihnen con¬
currirenden Dominikanern, mit dem demokratischen Element in der italieni¬
schen Commune engverschwistert, hat in der That die Poesie ihre Richtung
auf das Visionäre, die eifrig gepflegte Vorliebe für die Allegorie zu verdanken,
beide Orden sind Träger der gothischen Architektur in Italien, man kann nicht
Dante in der Poesie, nicht Giotto in der Malerei nennen, ohne an die
Ordensheiligen Franziscus und Thomas erinnert zu werden, welche den Jdeen-
kreis begründeten, dessen Verherrlichung der Dichter und der Maler dienten.
Die Schilderung des Bilderkreises in AM. theilweise dem seraphischen
Helden gewidmet, regt die angedeuteten historischen Gesichtspunkte in an¬
ziehender Weise an; sie hat das weitere Verdienst, die Meister der Fresken
in der Oberkirche schärfer bestimmt zu haben. wenn auch natürlich die zwischen
Cimabue und Giotto eingeschobenen Rusutti und Gaddo Gaddi vorläufig auf
einer bloßen Vermuthung beruhen. Bei Giotto schließlich angelangt geben die
Verfasser entsprechend seiner Bedeutung — er steht für seine Zeit auf gleicher
Höhe wie Domenic. Ghirlandajo und Rafael für die späteren Perioden des
15. und, 16. Jahrhunderts — die genaueste Analyse seiner Werke, wie die
eingehendste Kritik der überlieferten Lebensverhältnisse. — Es kann nicht aus¬
bleiben, daß in manchen Punkten die Tradition umgestoßen, an den her¬
gebrachten Zeitangaben und Künstlernamen gerüttelt wird. Ueber das Eine
und das Andere ist die Controverse noch nicht geschlossen, die Schwierigkeit
z. B. daß Giotto gleichzeitig in Rom (Lateran) und Florenz (Capelle im
Bargello) malte, nicht ganz beseitigt. Stets wird aber die durchgehends be¬
gründete, wohlerwogene Ansicht der Verfasser die größte Beachtung verdienen,
selten nur eine Widerlegung derselben gelingen. Wir wiederholen gern, daß
wir in der gemeinsamen Arbeit des genialen italienischen Kunstforschers und
des fein und umfassend gebildeten englischen Kunstkenners ein mustergültiges
Werk besitzen, das sich einen hervorragenden Platz in der kunsthistorischen Literatur
bereits gesichert hat. Ueber dem Preise der englischen Verfasser wollen wir
aber das Lob des deutschen Herausgebers nicht vergessen. Liebe zum Werke
und Kenntniß der Sache gehen bei ihm Hand in Hand. Alle guten Eigen¬
schaften des Originals hat er treu bewahrt, durch einzelne redactionelle
Aenderungen der deutschen Ausgabe noch neue Vorzüge verliehen. Und so
hoffen wir denn zuversichtlich, daß sich Crowe und Cavalcaselle's Geschichte
der italienischen Malerei, überdies reich und gut illustrirt, auch bei uns rasch
einbürgern werde.
Geschichte des Zollvereins mit besonderer Berücksichtigung der staatlichen Entwickelung
Deutschlands von E. v. Festenberg-Packisch. Leipzig, Brockhaus. 1869.
Ausgangspunkt des Zollvereins ist bekanntlich der Vertrag zwischen
Preußen und Hessen-Darmstadt von 1828. Grundlage des preußischen Zoll-
systems, welches 1828 zuerst auf einen anderen deutschen Staat ausgedehnt
ward, ist das Gesetz vom 26. Mai 1818. Mit diesem hat also eine Ge¬
schichte des Zollvereins zu beginnen. Es läßt sich freilich nichts dagegen
einwenden, wenn kurz der frühere Zustand geschildert wird, namentlich die
Verhandlungen und Versuche von 1807 das Merkantilsystem zu beseitigen,
aber es hat keinen rechten Zweck, wenn der Verfasser, der sich vorgesetzt, die
Geschichte des Zollvereins zu schreiben, auf 125 Seiten einen Auszug der
Geschichte Deutschlands seit Mitte des 18. Jahrhunderts giebt, welcher nichts
Neues bietet und lediglich auf den bekannten Werken von Perthes. Bieder¬
mann, Hausier, Aegidi u. A. beruht. Von dem Beginn der Continentalsperre
bis auf die neueste Zeit dagegen ist die Darstellung eine durchaus tüchtige
und lobenswerthe, nicht blos in deutsch vaterländischen Sinne gehalten, son¬
dern auch auf richtigen nationalökonomischen Grundsätzen ruhend.
Nach einer beredten Schilderung der Verwüstung, welche unser Volks¬
wohlstand durch die napoleonische Herrschaft zu leiden hatte, legt der Ver¬
fasser die Anfänge der Neugestaltung in Preußen dar. Er betont mit Recht,
von welchem Gewicht es war, daß Friedrich Wilhelm III., der auf dem po¬
litischen Gebiet Stein's Reformen nur ängstlich widerstrebend folgte, von sehr
richtigen Gesichtspunkten in volkswirthschaftlicher Beziehung geleitet ward
und deshalb längst dem Merkantilsystem abgeneigt war, das in seinen Augen
den besonderen Nachtheil hatte, durch den Schmuggel die Sittlichkeit zu
untergraben. ,
„Wenn ich erwäge", schreibt der König, „wie es immer die Erfahrung be.
wiesen hat, daß die großen, den Staatsbedürfnissen angemessenen Einkünfte
nur von den ersten Lebensbedürfnissen und den gangbarsten Artikeln des
Handels aufgebracht werden können und daß die Anzahl dieser Artikel sehr
mäßige Schranken hat, so muß ich bei dem Anblick der bändereichen Accise-
und Zolltarife erschrecken."
Die Noth der Zeit half auch hier zur Reform; da die vom Feinde be¬
setzten Binnenprovinzen thatsächlich die Fabrikate nicht liefern konnten, deren
Monopol sie bisher durch die Prohibitivzölle besessen hatten, so ward die
Einfuhr fremder Waaren gegen einen Zoll von 8^/z "/<» gestattet und damit
kam ein unheilbarer Riß in das Merkantilsystem Friedrichs des Großen; die
Regierungsinstruction vom 26. Decbr. 1808 bezeichnete es bereits als un¬
haltbar. Bis zu den Freiheitskriegen blieb Alles freilich provisorisch, aber
man blieb auf richtigem Wege und die damaligen Leiter des Staates. Stein,
Hardenberg, Humboldt. Schön. Rhediger u. A. waren entschiedene Anhänger
des tüchtigen Nationalökonomen Kraus in Königsberg, welcher Adam Smith's
epochemachende Lehren zuerst auf deutschen Boden verpflanzt und auf deutsche
Verhältnisse angewandt hatte. Nach Herstellung des Friedens war nun die
große Aufgabe zu lösen, für das vergrößerte, aber in zwei Theile zerschnittene
Staatsgebiet ein einheitliches Zollsystem herzustellen; es geschah durch das
Gesetz vom 26. Mai 1818, Die bei jeder Veranlassung divergirenden In¬
teressen der Producenten und Consumenten bekämpften sich auch hier heftig,
die ersten versicherten, die überlegene fremde Concurrenz nicht ertragen zu
können, prophezeiten namentlich von der Zulassung englischer Fabrikate die
Vernichtung der heimischen Industrie und beriefen sich für die Nothwendig¬
keit ergiebiger Schutzzölle auf das Beispiel Englands. Frankreichs. Oestreichs
und Rußlands, welche geradezu alle fremde Producte ausschlossen. Ein
zwischeninneliegender Staat, welcher das System des freien Handels einführe,
würde der Abnehmer allerübrigen Länder werden, ohne eine Reciprocität zu
genießen, die gegenwärtigen Fabriken seien hinreichend, um für die Bedürf¬
nisse des Landes zu sorgen und die innere Concurrenz durch die neuerworbe¬
nen Provinzen sei hinreichend, um die Consumenten vor aller Uebertheuerung
zu sichern. Die Fabrikanten verlangten demgemäß Wiederherstellung des
Prohibitivsystems und die Majorität der Commission, welche zur Begut¬
achtung der Frage niedergesetzt war, erklärte sich hiermit einverstanden. Die
Minorität aber widerlegte die Sophismen des Schutzzollsystems durch ein
trefflich motivirtes Separatvotum, welches Kunth und Maassen ausgearbei¬
tet hatten, und im Staatsrath trat Hoffmann auf ihre Seite. Er zeigte,
daß das augenblickliche Darniederliegen der Industrie weit weniger durch die
auswärtige Concurrenz entstanden als Folge der großen politischen Erschütte¬
rungen und Veränderungen in dem Betriebe der Manufacturen sei. Die
beiden wichtigsten Fabrikzweige Preußens, Tuch und Leinwand, seien wesent¬
lich auf auswärtigen Absatz berechnet, derselbe Stocke jetzt durch die Prohibi¬
tivzölle anderer Staaten, aber dem lasse sich nicht durch ein einheimisches
Verbotsystem abhelfen, vielmehr würden dadurch nur die Rohstoffe vertheuert
werden, welche für jene Fabrikate bisher eingeführt wurden. Außerdem sei
die jetzt fabrikreichste Gegend des Staates, die Rheinprovinz, längst fremde
Concurrenz gewohnt und werde dieselbe auch künftig bestehen; ihre Waaren
seien früher in den alten Provinzen so gut wie verboten gewesen, jetzt müsse
man sich in letzteren diese Concurrenz als binnenländische gefallen lassen, eben
so gut würden sie auch die auswärtige ertragen. Dazu komme das finan¬
zielle und sittliche Interesse des Staates, welches bei hohen Zöllen durch den
unausbleiblichen Schmuggel leide, während die Erfahrung gezeigt habe, daß
nur mäßige Eingangsabgaben einen ergiebigen Ertrag liefern könnten. Der
Verkehr müsse so wenig als möglich behindert werden und das Interesse des
Handels dürfe nicht dem der Fabriken nachgesetzt werden, welche nicht in
sich selbst die Bedingungen des Gedeihens trügen. Der König trat dieser
Ansicht bei und bestimmte durch Cabinetsordre, daß das Princip freier Ein¬
fuhr fremder Fabrikate gegen Erlegung einer verhältnißmäßigen Abgabe als
Grundsatz der preußischen Gesetzgebung für die Zukunft gelten solle. Bei
der Entwerfung des Tarifs ging man sodann von dem durchaus richtigen
Gesichtspunkte aus, ausländische Gegenstände der unmittelbaren Verzehrung,
in welchen die Concurrenz des Inlandes ausgeschlossen war, wie Zucker.
Kaffee, Tabake, Gewürze (Rübenzucker kannte man damals noch nicht) so
hoch zu belasten, als es ohne Gefahr erheblichen Schmuggels geschehen könne,
die Zölle auf fremde Fabrikate aber möglichst niedrig zu setzen; man nahm
als Durchschnitt 10»/o an. Am 26. Mai 1818 erschien das Gesetz, welches
den Zolltarif feststellte und die Grundlage des Zollvereinstarifs geworden
ist; es ruhte auf durchaus gesunden Principien und darf als ein Resultat
der besten Zeit der altpreußischen Beamtenschule gelten. Unter ihm hob sich
das materielle Wohl des so tief erschöpften Landes rasch in einer Weise,
welche die Aufmerksamkeit der anderen deutschen Staaten und des Auslandes
erregte, aber nur darauf sich begründete, daß jedem Einzelnen gestattet war,
freien Gebrauch von seinen Kräften zu machen. An diesem Princip und an
der Autonomie in materiellen Beziehungen hielt die preußische Regierung
auch in der traurigen Epoche fest, in der sie sich auf dem Gebiet der Politik
ganz von Oestreich ins Schlepptau nehmen ließ; sie blieb fest gegen die hef¬
tigen Anfeindungen der Mittel- und Kleinstaaten, welche sich durch die Her¬
stellung der preußischen Zollgrenze behindert fanden; daneben begann jetzt
Friedrich List seine schutzzöllnerische Agitation als Vertreter des deutschen
Handelsvereins, welcher die Sache der Fabrikanten mit ebenso viel Wärme
als Unklarheit verfocht. Graf Bernstorff erklärte auf den Wiener Ministerial-
conferenzen. daß Preußen von seinem System in keinem Punkte abgehen
könne, nur durch Verträge der einzelnen Staaten unter einander könne ge¬
holfen werden. Alle Versuche, etwas Gemeinsames für Deutschland zu gründen,
mußten übrigens schon daran scheitern, daß Oestreich ebenso entschlossen war,
bei seinem absoluten Prohibitivsystem zu beharren; nicht einmal der freie
Verkehr mit Getreide und anderen nothwendigen Lebensmitteln war durch»
zusetzen; als es zum Beschluß kommen sollte, war Kaiser Franz nach Prag
gereist und Metternich wartete auf Instruction, bis die Conferenzen aus
waren. Inzwischen betrat Preußen in aller Stille den bezeichneten Weg der
Verträge. 1813 schloß sich Schwarzburg-Sondershausen dem Zollsystem an,
1822 Rudolstadt, sodann andere kleinere Staaten für ihre Enclaven. Inzwischen
versuchten die Südstaaten sich zu einem gemeinsamen Gebiet zu organisiren,
um Retorsionsmaßregeln gegen das preußische System zu ergreifen, aber die
Schwierigkeiten traten auf allen Seiten entgegen. Eine klare Politik ver¬
folgte bei den Verhandlungen nur Baden, das durch den trefflichen Nebenius
vertreten war, welchem schon die Gründung des künftigen großen Zollvereins
vorschwebte, und der deshalb entschieden Allem entgegentrat, was diesen hin-
dern konnte, so namentlich dem von Bayern vorgeschlagenen hohen Zolltarif,
welchem schließlich nur Württemberg zustimmte. Auf der anderen Seite kam
zwar ein Handelsverein, der sogenannte mitteldeutsche, zu Stande zwischen
Sachsen, den thüringischen Fürstentümern, Hannover, Kurhessen. Oldenburg.
Braunschweig, Nassau und einigen anderen Kleinstaaten; aber der freie
Verkehr innerhalb desselben beschränkte sich auf Getreide. Heu, Stroh, Brenn¬
holz. Steinkohlen und Kartoffeln. Die eigentliche Bedeutung des Vertrages
lag in der Clausel, daß diese Staaten sich verpflichteten, ohne ausdrückliche
Einwilligung des ganzen Vereins mit keinem Staate, der nicht zu ihm ge¬
hörte, in einen Zollverband zu treten.
Die Bildungsunfähigkeit eines auf solche Principien gegründeten Ver¬
eines zeigte sich sofort schon darin, daß sich innerhalb desselben Sonderver¬
eine bildeten; der ganze, lose gefügte Bau zerfiel rasch wieder. Inzwischen
hatte im Jahr zuvor, 1828, zuerst ein größerer deutscher Staat, Hessen-
Darmstadt. Preußen die Hand gereicht und war seinem Zollsystem beige¬
treten; ihm folgten Reuß, Weimar und Kurhessen. Der Beitritt des letztern
war von entscheidender Wichtigkeit, denn er verband die beiden getrennten
Theile Preußens und vollendete so ihre materielle Verschmelzung; von nun
ab war ein mitteldeutscher Verein nicht mehr möglich. Und während einer¬
seits die Zolleinnahmen der beigetretenen Staaten nach dem Princip der
Kopfzahl-Vertheilung sich rasch mehrten, ergab sich als Resultat der bayerisch-
württembergischen Zolleinigung, daß die Verwaltungskosten nicht weniger als
44Vo der Bruttoeinnahme betrugen. So mußten sie sich, da Baden im Hin¬
blick auf die Einigung mit Preußen den Beitritt stetig abgelehnt, wohl ent¬
schließen, dem großen Vereine die Hand zu reichen. 1833 folgte auch Sachsen,
1835 Baden, so daß nun Deutschlands (von Oestreich abgesehen) ein Zoll¬
gebiet bildeten und das Project, welches Metternich vornehm ungläubig be¬
lächelt hatte, Thatsache geworden war.
Merkwürdig und lehrreich bleibt es. daß dies Resultat rein den Re¬
gierungen zu verdanken ist, während die öffentliche Meinung in der richtigen
Einsicht zurückblieb; nirgend hat eine Ständekammer zum Beitritt gedrängt,
wohl aber haben die Volksvertretungen ebenso wie der Handelsstand große
Schwierigkeiten gemacht. Einen starken Antheil an dieser Opposition hatte
die Abneigung des Südens, welcher sich viel auf seine konstitutionellen Ver¬
fassungen einbildete, gegen das absolutistische Preußen; gerade die süddeut¬
schen Liberalen, welche die nationale Einigung auf ihre Fahne schrieben,
widersetzten sich derselben, als sie auf materiellem Gebiete verwirklicht werden
sollte. Noch entschiedener machte sich die Abneigung durch die Divergenz
ökonomischer Interessen geltend. Damals gab es im Süden verhältnißmäßig
wenig Großindustrie, und gar keine Fabrikdistricte wie in Schlesien, West-
phalen und der Rheinprovinz; vielmehr war die Rohproduction in Ackerbau,
Viehzucht und Weincultur ganz überwiegend, man fürchtete nun durch die
überlegenen Fabriken des Nordens ausgebeutet zu werden. In Sachsen da¬
gegen, welches eine blühende Industrie hatte, machte sich die schutzzöllnerische
Angst vor der preußischen Concurrenz in heftigen Klagen über den bevor¬
stehenden Verfall Leipzigs Luft; man beschuldigte die Unterhändler des Ver¬
trages, von Preußen bestochen zu sein. Aber schon als Ende 1841 sämmt¬
liche Zollvereinsverträge abliefen, hatte sich die Einsicht in die überwiegenden
Vortheile so geklärt, daß keine Regierung von ihrem Kündigungsrecht Ge¬
brauch machte, und ebenso bei der Bevölkerung aller Widerspruch verstummt
war. Es ist eine eigenthümliche Verkettung der nationalen Geschicke: die
Regierungen faßten allmälig den Gedanken der materiellen Einigung, weil
sie durch die hohen Kosten, welche die Ueberwachung getrennter Gebiete for»
derte, empfindliche Einbuße erlitten und weil die Verkehrsinterefsen die
einzigen waren, auf denen eine Einigung möglich war, ohne der Souve-
rainetät der Einzelstaaten wesentlich nahe zu treten, jeder Regierung blieb
bei jeder Veränderung das libsrum veto, Preußen unterwarf sich gleichem
Gesetz mit Bückeburg. So wurde die unentbehrliche Unterlage geschaffen, die
im Laufe der Zeit so rasch erstarkte, daß dann die Bewegung für die poli¬
tische Einigung von den Bevölkerungen ausging, im Gegensatz zu den Re¬
gierungen, welche sie zu hindern suchten.
Nachdem nun durch Erneuerung der Verträge auf zwölf Jahre (bis 1863)
die erreichte Einigung gesichert war, sollte das Errungene befestigt und aus¬
gebaut werden. Aber hier trat die Schwierigkeit entgegen, daß dem Zoll¬
verein jede Organisation fehlte, daß er nichts Anderes war als ein Bund im
Bunde, um gemeinsam eine Reihe indirecter Steuern zu erheben und zu ver¬
theilen; innerhalb dieser Grenzen verfolgte jeder Staat seine Sonderinteressen
und hinderte so das gemeinsame Fortschreiten, eine Centralbehörde gab es
nicht, die periodischen Generalconferenzen gaben hierfür keinen Ersatz, meistens
mußte jede Frage auf dem diplomatischen Correspondenzwege erledigt werden,
jede Veränderung, wenn sie bei den Regierungen durchgesetzt war, mußte
dann den sämmtlichen Ständeversammlungen zur Begutachtung vorgelegt
werden. So wurde zwar viel berathen, aber jedes gemeinsame Handeln fast
unmöglich dadurch, daß 26 verschiedene Finanzministerien unabhängig von
einander und ohne Rücksicht auf einander zu nehmen wirthschafteten. Opfer
brachte freiwillig nur Preußen, welches, um den Verein zu erhalten, sich
den Maßstab der Kopfzahlvertheilung gefallen ließ, obwohl bei seiner größeren
Consumtionsfähigkeit die jährliche Einbuße auf ein Minimum von l'I, Mill.
Thlr. berechnet ward.
Nur in einer Hinsicht ward eine Veränderung erzielt und zwar eine
höchst unglückliche. Der Satz von 10°/o. welcher dem Tarif von 1818 zu
Grunde gelegt war, hatte sich mit dem Sinken der Preise so geändert, daß
er bei vielen Gegenständen jetzt auf 30—S0«/<, und mehr gestiegen war*),
man hatte die entsprechende Reduction unterlassen, weil sie schwierig war
und die Unternehmer auf den einmal bestehenden Satz ihre Arbeit gegründet
hatten. Mit dem Regierungsantritt Friedrich Wilhelm IV. aber, mit dem
die Regeln der bisherigen engen aber realistisch nüchternen Politik in ökono¬
mischen Dingen erschüttert wurden, während nur unklare Bestrebungen an
ihre Stelle traten, gab man im mißverstandenen nationalen Interesse dem
Verlangen der Fabrikanten Gehör, jene Zölle noch erhöht zu sehen. Vor-
nehmlich im südwestlichen Deutschland ward die alte Irrlehre der Schutzzöllner
mächtig, daß der Zweck der Zölle nicht sei, der Staatscasse bedeutende Ein-
künfte zu sichern, sondern der inländischen Gewerbsamkeit Schutz zu gewähren
durch Erschwerung der ausländischen Concurrenz. Es ward hier das Schreck-
bild heraufbeschworen, daß England danach strebe sich ein Weltfabrikmonopol
zu sichern und damit die andern Länder auszubeuten. Als Sir Robert Peel
dann seinerseits mit dem bisherigen System brach und Cobdens Schule den
englischen Tarif immer mehr reducirte, rief man, das sei britische Hinterlist;
erst habe England sich durch das Verbot ausländischer Waaren zum über¬
mächtigen Fabrikstaat emporgeschwungen, jetzt, wo niemand mehr mit ihm
concurriren könne, proclamire es das Freihandelsprincip, um die andern
Staaten zu gleichem Vorgehen zu verlocken und dann ihren Markt zu über¬
schwemmen. Und diese Sophismen wurden nicht blos von den Jnteressirten
gepredigt, sondern auch gerade von den liberalen Politikern adoptirt, Dahl-
mann lehrte in diesem Sinne. Gervinus öffnete den Schutzzöllnern seine
Deutsche Zeitung. Nur wenige besonnene Männer, wie Mathy und Nebenius
in Karlsruhe. Kühne in Berlin hielten an den alten Traditionen fest und
wiesen darauf hin, daß Erhöhung des Tarifs gerade die wichtigen Küsten¬
länder, welche noch nicht zum Zollverein gehörten. Hannover. Oldenburg
und die Hansestädte doppelt zurückstoßen müsse; wurde doch noch 1844 der
hannoverschen Regierung von den Ständen für die umsichtige Wahrung der
Landesinteressen gedankt, d. h. für die Ablehnung der preußischen Vorschläge,
in den Zollverein zu treten. Aber ihre Stimme drang nicht durch, die Be¬
sonnenheit in Berlin war verschwunden, man gab dem süddeutschen Drängen
nach, welches die Freihändler für Kosmopoliten und Vaterlandsverräther
erklärte und willigte in die Erhöhung der Zölle für Zucker, Eisen"). Toise,
Garne, Leinwand und Manufacturen.
Es gereicht dem Verf. sehr zur Ehre, daß er in dieser Frage vollkommen
scharf und unbefangen urtheilt und jenen falschen Patriotismus, der einfach
auf nackten Standesegoismus hinauslief, verurtheilt. Es ist wahr, daß
gerade in jener Zeit Frankreich und Belgien ihre schon unerschwinglich hohen
Zölle noch mehr steigerten, aber wie Festenberg richtig bemerkt, glichen die
Retorfionsmaßregeln des Zollvereins dem Unternehmen, einen trennenden
Gebirgskamm noch höher und unzugänglicher zu machen, statt in ihm Durch¬
gangspässe zu suchen. „Bevorzugungen", sagt er, „haben das Eigenthümliche,
daß immer die eine die andere hervorruft. Gerade weil dem Einen ein Pri¬
vilegium entgegensteht, das ihn verdrießt, ihn verletzt, verlangt er zuletzt
gleichfalls ein Privilegium, um sich zu vertheidigen und an einem Dritten zu
erholen, der dann auch wieder eins für sich fordert, und aus allen diesen
Forderungen, Behauptungen. Zurückweisungen und Anschuldigungen ent¬
steht denn eben der Kampf Aller gegen Alle, welcher der Gegensatz der
Einigkeit und der Einheit ist."
So ging es auch hier, neben dem Schutzzoll wucherten die Differential¬
zölle und Ausfuhrprämien auf; man suchte durch eine Reihe von Verträgen
den Schutzzoll in ein internationales System zu bringen. Auch hier drängte
der Süden, welcher glaubte die Fragen des Welthandels besser zu verstehen
als die Seestaaten, und Preußen gab nach. Wesentlich dem Widerstande
Hamburgs, dem sich die Handelskammern der Ostseeplätze anschlössen, ist es
zuzuschreiben, daß nicht eine allgemeine differentielle deutsche Schifffahrtsacte
zu Stande kam. Das Resultat dieser verkehrten Richtung war ein Zoll¬
krieg mit den Nachbarstaaten und fortwährendes Markten und Feilschen um
Concessionen, keiner der abgeschlossenen Verträge befriedigte, der einzige Fort¬
schritt, den der Zollverein in dieser Zeit machte, war der Beitritt Braun-
schweigs. So fand das Jahr 1848 Deutschlands handelspolitischen Zustand;
von der Nationalversammlung erwartete man materielle wie politische Eini¬
gung. Es wurden auch wirklich auf diesem Gebiet weit realere Fortschritte
gemacht, als auf irgend einem andern; während man sich in der Paulskirche
in unfruchtbaren Discussionen über die Grundrechte erschöpfte, vereinbarten
die berufenen Sachverständigen nach angestrengter Arbeit in vier Monaten
den Zolltarif für das vereinte Deutschland, welcher den Weg zum richtigen
System der Finanzzölle wieder betrat, auf den man später wesentlich bei dem
französischen Vertrage zurückgriff und dessen Erörterung der erste Schritt zu
einer richtigen Auffassung geworden ist. Nachdem das Scheitern des ganzen
Frankfurter Werks die Aussicht auf die Annahme jenes Tarifes vereitelt hatte,
ließ sich von der Cabinetspolitik der Dresdner Conferenzen und des restau-
rirten Bundestags um so weniger etwas erwarten, als Oestreich jetzt wie
auf dem politischen so auch auf dem handelspolitischen Gebiete hervortrat
und Preußen zurückwich. Seit den Wiener Ministerialeonferenzen hatte Oest¬
reich sich neutral und passiv in den ökonomischen Fragen gehalten, es suchte
wohl den Beitritt einzelner Staaten zum Zollverein zu hintertreiben, schloß
sich selbst aber in seinem Prohibitivsystem vollständig ab. Nach Olmütz fühlte
es, daß es zur Befestigung seines Sieges gehöre, auch auf dem Gebiet der
materiellen Interessen Preußen die Führerschaft zu entreißen und machte unter
der Leitung Brucks große Anstrengungen, um dazu zu gelangen. Aber hier
rächte sich die jahrhundertlange Absperrung des Kaiserstaats von Deutsch¬
land, kraft derer es weit hinter demselben auch im Gewerbfleiß zurück¬
geblieben war. Brück erbot sich vom Verbotsystem zum Schutzzollsystem über¬
zugehen und eröffnete gleichzeitig die Phantasmagorie des Marktes eines
Siebzig-Millionenreiches. welche eine so große Rolle in den Verhandlungen
spielen, sollte. Es fand dabei der politischen Constellation gemäß die Unter¬
stützung von Bayern. Württemberg. Sachsen und beiden Hessen, während sich
die kleineren Staaten und die Hansestädte entschieden dagegen aussprachen
und Preußen aufforderten seine Stellung zu wahren. Und glücklicherweise
waren die Traditionen doch stark genug, um in Berlin nicht auch hier das
Vasallengefühl siegen zu lassen; die Negierung fühlte, daß sie ihre Führer¬
schaft wahren und sich zu dem Zweck nach Bundesgenossen umsehen müßte,
sie fand dieselben in Hannover und Oldenburg; am 7. Sept. 1851 ward der
sehr geheim verhandelte Septembervertrag abgeschlossen. Der Anstoß dazu
ist vielleicht ebenso sehr von Hannover als von Preußen ausgegangen, Fürst
Schwarzenberg hatte auf den Dresdner Conferenzen den hannoverschen Ver¬
treter Freiherrn v. Scheele wegen seiner liberaleren Tendenzen schroff be¬
handelt, Scheele suchte nach einem Anhalt gegen die schon hervortretenden
Bestrebungen seiner Ritterschaft, die Verfassung umzustürzen; außerdem war
es weiterblickenden hannoverschen Sachverständigen wie dem Generalsteuer-
director Klenze klar, daß auf die Länge der Steuerverein in seiner Jsolirung
nicht beharren könne und daß sich schwerlich ein Zeitpunkt finden lasse, in dem
Hannover auf günstigere Bedingungen mit dem Zollverein werde unter¬
handeln können. Für Preußen dagegen bot der Vertrag die große Wichtig¬
keit der freien Verbindung mit der Nordsee und brach der Drohung des
Südens, den Zollverein nur fortsetzen zu wollen, wenn Oestreich mit eintrete,
die Spitze ab. Mit Hannover vereint beherrschte es alle Straßen zum Meere,
und bildete ein so eompactes Gebiet für die materiellen Interessen, wie es
jetzt nach 1866 politisch thut. Der getrennt constituirte Süden aber hätte den
Zugang zum Weltmarkte verloren.
Der Septembervertrag, neben der Erwerbung des Jahdebusens der ein¬
zige Erfolg des Ministeriums Manteuffel, war auch insofern Ausgangs¬
punkt einer neuen Richtung, als auf Hannovers Verlangen eine Reihe
von Zöllen herabgesetzt ward; der Norden trat damit in um so ernsteren
Widerspruch zu dem Süden, welcher noch Erhöhung der schon bestehenden
verlangte; demgemäß kündigte Preußen die Verträge mit der Maßgabe, daß
es den Zollverein nur mit den Regierungen fortzusetzen beabsichtige, welche
den Septembervertrag annehmen würden, erklärte sich aber bereit zu einem
Handelsvertrage mit Oestreich auf breiter Grundlage. Oestreich und seine
Verbündeten sahen ihre Politik durch diesen Schachzug empfindlich durchkreuzt,
aber gaben das Spiel noch nicht verloren. Indeß konnte ihr factischer Wider¬
stand, der bei Staaten wie Sachsen, welches ganz auf die Verbindung mit
Preußen angewiesen war, geradezu unbegreiflich erschien, der Macht der Ver¬
hältnisse doch nicht die Spitze bieten; auch wurde ihnen selbst etwas bange
vor den Consequenzen der Zolleinigung mit Oestreich im Hinblick auf dessen
Tabaksmonopol und Papiergeld; sie verlangten also vom Wiener Cabinet
eine Garantie ihrer bisherigen Zolleinkünste. In Geldsachen aber hört be¬
kanntlich die Gemüthlichkeit auf und so wich Oestreich dieser Forderung aus,
obwohl es die Hoffnung auf die Gewährung der Garantie nicht direct ab¬
schnitt; dos chronische Deficit aber und die zerrütteten Geldverhältnisse mußten
von der Uebernahme einer dauernden und nicht zu übersehenden Verbindlich¬
keit zurückschrecken. Man sah in Wien schließlich ein, daß man nicht die
Mittel in der Hand habe, die Zolleinigung durchzuführen, zumal dieselbe bei
den östreichischen Industriellen, welche die Concurrenz der zollvereinsländischen
College« fürchteten, lebhaften Widerspruch fand. So entschloß man sich rasch,
die eigenen Verbündeten fallen zu lassen, und knüpfte über deren Kopf noch
directe Unterhandlungen mit Berlin an, um zu einem Ausgleich zu kommen;
unter dem Einfluß eines Besuchs des Kaisers kam der Vertrag vom 19. Fe-
bruar 1853 zwischen Oestreich und Preußen zu Stande, und nun hatten die
Darmstädter Coalirten einfach ihr ?atsr xsoeavi zu sagen und den Sey.
tembervertrag zu acceptiren; am 4. April 18S3 wurde der Zollverein auf
12 Jahre erneuert.
In dem vorliegenden Buche hätte dieser wichtige Vertrag, der nament¬
lich später bei den Verhandlungen mit Frankreich eine so bedeutsame Rolle
spielte, wohl eingehender besprochen werden können. Allerdings wurde
durch denselben der Hauptangriff Oestreichs vereitelt, Brück, welcher Alles
aufgeboten, um das Siebzig-Millionenreich, welches auf politischem Gebiet
durch die Einsprache Englands und Frankreichs gescheitert war, wenigstens
für die materiellen Interessen herzustellen, mußte sich mit einem Handels¬
vertrage zufrieden geben; aber unheilvolle persönliche Einflüsse vermochten
Friedrich Wilhelm IV.. gegen den Rath der Fachmänner zwei bedeutungs¬
schwere Concessionen zu machen, nämlich, die künftige Zolleinigung im Ver¬
trage zu stipuliren und zu Gunsten Oestreichs eine Reihe von Differential¬
zöllen zuzugestehen. Herr von Manteuffel suchte zwar in den Kammern den
ersten Punkt abzuschwächen, indem er sagte, dies sei ein paetum as paeiseelläo,
aber bei dem französischen Vertrage ward gerade dieser Vorbehalt der Vor¬
wand des Widerstandes im Süden.
Bis zu dem Anstoß, welchen der Sturz des Prohibitivsystems in Frank¬
reich der ganzen Politik gab, ist nach Außen hin von einem weiteren Wachsen
des Zollvereins so wenig zu melden, als von einer inneren Reform des Ta¬
rifs oder der Verfassung. Aber auf der gewonnenen Grundlage entwickelte
sich inzwischen seine Industrie in jenen Friedensjahren mächtig weiter. Das
deutsche Eisenbahnnetz ward in seinen wesentlichsten Linien ausgebaut, das
Meer war gewonnen worden, die beiden großen deutschen Dampfschifffahrts¬
linien nach Amerika wurden gegründet; nach einander fielen der Sund¬
zoll, der Staber Zoll; die Durchgangsabgaben, die Elbzölle wurden neu regu-
lirt, die Rheinschifffahrtsabgaben aufgehoben, die hemmenden Fesseln der Ge¬
werbe, die Zunftschranken wurden in einem Lande nach dem anderen un¬
haltbar, die deutsche Industrie gewann an Sicherheit, Erfahrung, vor Allem aber
an Capital und bestand ehrenvoll den Wettstreit mit den vorgeschrittensten Neben¬
buhlern auf den Ausstellungen von London und Paris. Gleichzeitig hob sich auch
die wirthschaftliche Einsicht, das Prinzip der Finanzzölle gewann immer mehr
Anhänger, die volkswirthschaftlichen Versammlungen drängten aus Reform
des Tarifs und volle Entfaltung der materiellen Kräfte, vor Allem aber auf
eine bessere Organisation des Vereins und ein Zollparlament, das wirklich
die Nation in diesen Fragen vertrete, während bisher die einzelnen deutschen
Kammern bei jedem Anlaß nur die Wahl hatten, anzunehmen, oder die
mühsam erreichte Einigung der Regierungen unnütz zu machen.
Die Verhältnisse waren also für eine Reform reif, als der Abschluß des
englisch-französischen Handelsvertrages dieselbe zu einer Nothwendigkeit
machte. Bald nachher gab das Pariser Cabinet seine Bereitwilligkeit zu
einem ähnlichen Vertrage mit dem Zollverein zu erkennen, und nach langen
Verhandlungen kam es im März 1862 zu der Paraphirung eines umfassen¬
den Vertragswerkes, welches die gesammten handelspolitischen Beziehungen
zwischen beiden Ländern neu regelte. Es würde hier zu weit sichren, aus die
einzelnen Gesichtspunkte und Schwierigkeiten der Verhandlung einzugehen.
Der Verfasser hal sie zweckmäßig und übersichtlich resumirt, die Hauptanstoß-
punkte waren die Oestreich gewährten Begünstigungen. Im Ganzen aber war
in Anbetracht der Verhältnisse, auf welche Preußen den anderen Staaten des
Vereins gegenüber Rücksicht zu nehmen hatte, das Mögliche erreicht und nament¬
lich eine erhebliche Tarifherabsetzung erzielt. Aber eben dies war Oestreich und
der süddeutschen Schutzzollpartei ein Dorn im Auge und sie boten Alles aus,
den Vertrag zu Fall zu bringen. Bayern, Württemberg. Nassau, Darmstadt
und Hannover lehnten denn auch wirklich den Vertrag ab. offenbar nur aus
politischen Motiven, während bei Sachsen das Gewicht der Landesinteressen
doch stark genug war, um die Regierung zum sofortigen Beitritt zu bewe¬
gen. Ihm folgten Thüringen, Oldenburg, Baden und Braunschweig. Aus
den ablehnenden Erklärungen der Mittelstaaten nahm Oestreich Veranlassung,
auf Eröffnung von Verhandlungen zum Zweck der Zolleinigung, welche 1852
in Aussicht gestellt war, zu dringen und protestirte dagegen, daß Frankreich
eine gleich begünstigte Stellung eingeräumt werde. Die Ermäßigung der
vereinsländischen Außenzölle würde Oestreich nöthigen, seine Zwischenzölle für
die Erzeugnisse des Zollvereins zu erhöhen und dadurch die Kluft zwischen
sich und dem Zollverein zu erweitern; denn das Schutzbedürfniß der östrei¬
chischen Industrie erlaube eine Ermäßigung der eigenen Außenzölle nicht.
Preußen aber blieb fest, es erklärte sich zu neuen Unterhandlungen bereit,
aber mit der Maßgabe, daß es die Zolleinigung bestimmt ablehne, und
unterzeichnete seinerseits den französischen Vertrag definitiv und erklärte in
einer Depesche nach München, daß es die Ablehnung des französischen Ver-
. trags als den Ausdruck des Willens auffassen müsse, den Zollverein mit
Preußen nicht fortzusetzen. Die Mittelstaaten blieben vorläufig bei ihrer
Opposition, obwohl die Mehrzahl ihrer Landesvertretungen sich entschieden
gegen diese factiöse Politik aussprach; sie erreichten dadurch allerdings, daß
der Zollverein ein Jahr länger von den Vortheilen des französischen Marktes
ausgeschlossen blieb, aber sie hatten noch weniger Macht als 1852, ihre dy¬
nastische Opposition durchzuführen; schon auf dem im October 1862 berufe-
nen deutschen Handelstage siegte trotz der Agitation des Herrn v. Karstorff.
welche durch Hansemann in höchst tadelnswerther Weise heimlich begünstigt
wurde, die Sache des Fortschritts. Preußen lehnte jede Verhandlung mit
Oestreich ab. ehe nicht die Annahme des neuen Tarifs gesichert sei, und
schloß am 28. Juni 1864 einen neuen Zollvereinsvertrag mit Sachsen,
Baden, Kurhessen, Braunschweig, Thüringen und Frankfurt ab, stellte den
rennenden Staaten eine Präclusivfrist zum Beitritt bis 1. Oetober, wonach
denselben nur übrig blieb, sich zu unterwerfen. So ward der Zollverein auf
weitere 12 Jahre gesichert. Am 11. April 1865 ward denn auch ein neuer
Vertrag mit Oestreich geschlossen, welcher die Autonomie des Zollvereins her¬
stellte und die differentiellen Begünstigungen abschaffte. Oestreich war von
jetzt ab wie bis 1852 einfach wieder Ausland, das wie England, Belgien
u. s. w, auf dem Fuß der meistbegünstigten Nation, d, h. der Gleichheit be-
handelt wurde. Der Zollverein umfaßte jetzt das ganze außeröstreichische
Deutschland mit Ausnahme Holstein-Lauenburgs, der Hansestädte und,
Mecklenburgs. Der Beitritt des ersteren wurde nach dem Wiener Frieden
von 1864 auch von Oestreich nicht mehr bestritten, die Ausnahmestellung der
Städte aber von Preußen selbst dahin anerkannt, daß die spätere norddeutsche
Bundesverfassung sie aufs neue sanctionirte. weil es im eigenen Vortheil
Deutschlands war, sich diese Weltmärkte an seinen Grenzen zu erhalten,
welche nur bei ungehinderter Freiheit der Bewegung bestehen konnten. Da¬
gegen rechtfertigte nichts die Fortdauer der Sonderstellung Mecklenburgs,
welche vielmehr allein in der Selbstsucht seiner privilegirten Classen begrün¬
det war; die Frage des Eintritts oder Nichteintritts in den Zollverein war
dort, wie Graf Bismarck sich einmal humoristisch ausdrückte, die Rothwein¬
frage. Mecklenburg umgab sich mit einem Grenzzoll und schloß mit Frank¬
reich jenen berüchtigten Vertrag ab, welcher durch die Begünstigung der fran¬
zösischen Weine später die Neugestaltung des Zollvereins so lang hemmte.
Wir haben hier dem Verfasser in seiner Darstellung der Ereignisse des
Jahres 1868 nicht zu folgen, können aber nicht in das unbedingte Lob ein¬
stimmen, welches er der preußischen Politik hinsichtlich der Reconstituirugn
des Zollvereins spendet. Gewiß verkennen wir nicht den großen und segens¬
reichen Fortschritt, der mit der Beseitigung des liberum vew der Vereins¬
staaten, der Herstellung eines Zollvereinsbundesraths und des Zollparlaments
gethan ist. Aber wir glauben, daß die preußische Regierung eine folgen¬
schwere Versäumniß begangen, indem sie nicht die Annahme eines reformirten
Tarifs zur Bedingung des Friedens und der Herstellung des Zollvereins ge¬
macht hat. Die Reform, welche der französische Vertrag brachte, war dan-
kenswerth. aber zu knapp bemessen, weil Preußen bei den Verhandlungen auf
die Forderungen jedes Einzelstaates Rücksicht nehmen mußte, um triftige
Gründe der Verwerfung zu vermeiden; 1866 aber waren die Staaten, von
denen bisher stets die Opposition ausgegangen war, nicht in der Lage, sich
zu sträuben, wenn Preußen die Annahme eines auf dem Princip einfacher
Finanzzölle basirten Tarifs zur Friedensbedingung gemacht hätte. Jetzt wird
ein solcher im Zollbundesrath ebenso schwer durchzusetzen sein, wie im Zoll¬
parlament, weil in beiden die Schutzzollinteressen stark vertreten sind. Und
doch wird die Forderung, mit dem Schutzzoll zu brechen, um so unabweis-
licher, als die finanziellen Anforderungen an den Bund steigen; eine Reihe
von Zöllen, z. B. die auf Baumwollenwaaren, wirken noch vollkommen
prohibitiv, also unproductiv für die Staatscasse, eine erhebliche Steigerung
der Einnahmen aus den indirecten Abgaben ist nothwendig, schon weil di-
recte Steuern für den Zollverein unthunlich, selbst für den Bund schwierig
sind und das Princip der Matricularbeiträge für die kleineren Binnenstaaten
auf die Länge nicht erträglich ist. Diese Steigerung ist nur möglich durch
Vereinfachung des Tarifs und höhere Belastung der Artikel, welche stark
consumirt werden und doch nicht zu den unabweislichen Lebensbedürfnissen
namentlich der unteren Classen gehören. Nach dieser Methode erhebt England
von 12 Artikeln eine Zollrevenue von 25 Mill. Pfd. Se.; in diese Richtung
muß auch der deutsche Zollverein steuern.
Wir schließen mit einer warmen Empfehlung des Buchs, welches zu
dieser Besprechung Anlaß gab; es hätte ihm, wie schon erwähnt, zum Vor¬
theil gereicht, wenn die politische Seite der Frage knapper behandelt wäre;
auch von den Ereignissen von 1866 gilt dies, denn eine Berücksichtigung der¬
selben schließt noch nicht die Nothwendigkeit einer Erzählung derselben ein, die
doch unvollständig bleiben muß. Im Ganzen aber ist das Merk eine tüchtige
Arbeit, durchdrungen von besonnenen Patriotismus und ausgeführt nach
den Gesichtspunkten geläuterter volkswirtschaftlicher Einsicht.
Denkwürdigkeiten aus der württembergischen Kriegsgeschichte des 18. und 19. Jahr¬
hunderts, im Anschluß an die Geschichte des 8. Infanterieregiments von A. Pfister,
k. württemb. Oberlieutenant. Stuttgart, C. Grüninger 1868.
Die Kriegsthaten der Armee eines deutschen Kleinstaats nehmen in der
Weltgeschichte eine bescheidene Stelle ein. Was sie für sich allein leisten konnte,
verliert sich in kleine Verhältnisse, und sofern sie an großen Weltbegeben¬
heiten sich betheiligte, that sie es nur eingereiht in ein größeres Ganzes und
in der Regel fehlt ihr selbst die Befriedigung, daß dieses größere Ganze die
Macht des Reichs war. Gleichgültig für die Sache des Vaterlands, öfters
ihr geradezu feindselig sind die Kriegszüge, für welche sie der Landesherr ver¬
wendet. Nicht einmal ein Staatszweck, viel weniger ein nationaler Zweck
steht im Hintergrund dieser Unternehmungen der Willkür, von welchen aus
immer das grellste Licht auf die Zeit der blühenden Territorialsouveraine-
täten fallen wird. Es sind deswegen mehr die inneren Verhältnisse dieser
kleinen Territorien, für welche auch deren auswärtige Actionen ihr besonderes
Interesse haben. Wie sich Fürst und Volk über diese Dinge zanken und
verständigen, wie die Actionen auf den Geist der Bevölkerung zurückwirken, wie
das Heerwesen sich innerhalb so enger Grenzen gestalten muß. auf welche Weise
man immer erhöhten Anforderungen gerecht zu werden versucht , solche Fragen
reizen stärker als die äußeren Schicksale einer abenteuernden Kriegstruppe. Es
ist mit einem Wort mehr ein culturgeschichtliches als ein historisches Interesse,
das sich an eine solche territoriale Kriegsgeschichte knüpft, und es ist das
Verdienst der Schrift, welche wir anzeigen, diesen culturgeschichtlichen Zu¬
sammenhang mit Absicht festzuhalten, während sie im Uebrigen eine treue
und ausführliche, aus den Acten geschöpfte Erzählung gibt, welche sich zu¬
nächst an die Geschichte eines einzelnen besonders schicksalsreichen Regiments
anlehnt.
Mit dem dreißigjährigen Krieg vollendete sich die Souverainetät der
Territorialfürsten und damit vollzog sich auch im Heerwesen eine durch¬
greifende Veränderung. Sofern noch Pflichten gegen das Reich bestanden,
konnte man diese durch ein jeweiliges Aufgebot erfüllen, das ein letzter
Rest, in seiner Ausführung jedoch vielmehr die Carricatur der früheren allge¬
meinen Heerespflicht war. Aber daneben brauchte jetzt der Fürst seine eigene
stehende Truppe. Als Inbegriff des Staats hatte er auch allein für dessen
Vertheidigung zu sorgen. Bürger und Bauern hatten nur das Material zu
liefern, über das er nach Gutdünken verfügte; die Heere, theils geworben,
theils ausgehoben, waren sein Eigenthum.
Da war es nun die Hauptschwierigkeit für den Fürsten, die Mittel für
diese stehenden Heere aufzubringen. Die Steuerkraft des Volks war nach
den erschöpfenden Kriegen und bei den damaligen Verhältnissen des Erwerbs
und des Verkehrs aufs Aeußerste beschränkt. Zunächst empfahl es sich, nach
französischem Beispiel zu indirecten Steuern zu greifen: Sporteln, Dispen-
sationen. Verkauf von Aemtern eröffneten neue, beliebig steigerungsfähige
Hülfsquellen. Allein es waren noch Stände vorhanden, die sich aus allen
Kräften gegen die Errichtung von stehenden Heeren wehrten. Zwar büßten
sie in dieser Zeit mehr und mehr von ihrer alten Bedeutung ein. sie waren
schließlich nur noch eine Vertretung der privilegirten Classen, der land¬
ständische Ausschuß ein oligarchisches Institut. Aber gerade die Wehrfrage
bildete fortwährend einen Hauptzankapfel zwischen Fürst und Ständen. Diese
beriefen sich auf ihre alten Freiheiten: es sei hergebrachtes Recht, daß nur
im Fall eines Krieges ein Aufgebot erfolgen dürfe, geworbene Truppen „seien
im Frieden weder nöthig, noch nützlich, noch herkömmlich, noch möglich."
Allein die, württembergischen Herzoge ließen sich durch die Hartnäckigkeit der
Stände in ihren „gloriosen Intentionen" nicht beirren. Eberhard Ludwig
erklärte, daß er lieber an seinen sonstigen Plaisirs sich etwas versagen, als
seinen Militairstaat vermindern wolle. Das Ende war immer, daß unter,
Protest einmalige Verwilligungen zugestanden wurden „ohne Konsequenz und
Präjudiz". Durch geschickte Bearbeitung des ständischen Ausschusses, von
dem immer einzelne Mitglieder zu gewinnen waren, brachte es derselbe Fürst
dahin , daß ein regelmäßiges Militärbudget aufgestellt wurde, zunächst natur'
lich nur auf eine Anzahl von Jahren. Allein es blieb, und es wollte später
nie mehr ausreichen, so daß — namentlich unter Herzog Karl — die ge¬
waltsamsten Finanzkünste aufgeboten werden mußten, um das doppelte und
dreifache des ordentlichen Budgets zu decken.
Das sinnreichste Mittel aber, einen Militairstaat zu halten, wie er dem
Splendeur des Fürsten ziemte, ohne doch das eigene Land zu sehr zu be¬
schweren, bestand darin, geworbene Schaaren an fremde kriegführende Mächte
zu vermiethen. Der Krieg wurde als ein Geschäft, als eine gewinnbringende
Unternehmung betrieben. Der Zweck, für welchen die Truppen verwandt wurden,
der Welttheil, in dem sie ihre Heldenthaten verrichten sollten, war völlig gleich¬
gültig. Und das Geschäft muß lohnend gewesen sein, denn bekanntlich finden
wir die meisten deutschen Landesväter unter diesen Truppenlieferanten, die
freilich insofern den alten Condottieri nicht glichen, als sie inzwischen ge¬
mächlich in Friedenspassionen ihrem großen Vorbild zu Versailles nacheiferten.
Solche Liesecungstractate pflegten mit Frankreich, mit Oestreich, mit Venedig,
mit den Niederlanden, mit England abgeschlossen zu werden. Ihren Höhe¬
punkt erreichten sie in den Lieferungen für England zur Bekämpfung der
nordamerikanischen Freiheit. In Württemberg ist noch heute am bekann¬
testen und haftet am tiefsten im Gedächtniß ein für das Cap abgeschlossener
Vertrag, schon weil er Schubart's Caplied veranlaßte, das eines der ver-
breitetsten Volkslieder geworden ist, und weil sich ein Riesenproceß von
jenem Subsidientractat fortgesponnen hat bis in eine nicht zu ferne Ver-
gangenheit.
Der erste derartige Vertrag von Seiten Württembergs wurde 1687 mit
der Republik Venedig abgeschlossen, in deren Diensten zuerst 1000 Mann,
und nach Ablauf ihrer Zeit „aus besonderer Anhänglichkeit an die Republik"
weitere 3000 Mann abgelassen wurden, die ruhmvoll gegen die Türken
kämpften und die Felder des Peloponnes und Euboeas mit schwäbischen Blut
düngten. Während des spanischen Erbfolgekriegs standen, außer dem ver¬
tragsmäßigen Kreiscontingent, von 1704—1714 vier Regimenter im Dienst
der Niederlande und schlugen die Schlachten mit, theils an der Donau, theils
am Rhein. Aus den Resten dieser Truppen sollten im Sommer 1715 zwei
Regimenter wieder für venetianische Dienste gebildet werden. Aber die Feld¬
züge auf classischer Erde scheinen nicht die angenehmsten Erinnerungen zurück¬
gelassen zu haben. Es ist allgemeine Abneigung unter den Officieren vor¬
handen, „einen so weiten und bedenklichen Marsch" anzutreten. Alter, Krank-
heit, Mangel an Ausrüstung, vor Allem aber die rückständigen holländischen
Gelder werden von den Einzelnen als Gründe gegen die Expedition auf¬
geführt, die denn auch verlassen wird. Dagegen kommt Ende desselben Jahres
noch ein Vertrag mit Oestreich zu Stande, wonach diesem ein vollständig
ausgerüstetes Regiment zu 2300 Mann gestellt werden soll. Der Kaiser be¬
dingt sich dabei hauptsächlich und expresse aus, „daß keine bei Unseren kaiserl.
Regimentern verbotene Nationalisten, als Franzosen. Italiener, Polaken,
Hungarn. Croaten, auch alle anderen, so nicht pure Teutsche sind, und w
speeiö keine, so von anderen Unsern kaiserl. Regimentern desertirt, bei der
Musterung werden gestellt und angenommen werden können."
Das Regiment wird durch Werbung im Frühjahr 1716 zusammengebracht
und in Ulm auf der Donau eingeschifft. Es sollte bis Baja im Ungarland
fahren und hier der kaiserlichen Armee unter dem Befehl des Prinzen Eugen
von Savoyen. dessen freundvetterlicher Gefälligkeit der Herzog sein Regiment
besonders recommandirt, einverleibt werden. Die Desertionen, die Plage
aller damaligen Heere, fingen freilich bereits in der Heimath an. Schon in
Ulm schreibt der Oberst: „Die Explication des Ayds. desgleichen die vor.
gehaltene schwere Strafe des Meinayds hat nicht sonderlich gefruchtet, indem
den Marsch über von Göppingen bis diser 24 Mann desertirt seynd." Bis
Wien gingen wieder 46 Mann verloren, wozu die auf dem Lande gehaltenen
Nachtstationen Gelegenheit gaben. Doch erhalten die Württemberger später
das Zeugniß, daß die Desertionen bei ihnen geringer seien, als bei den
übrigen Truppen. Die Klagen über Mangel in den Regimentscassen be¬
ginnen gleichfalls schon unterwegs.
Die kaiserliche Armee wurde bei Peterwardein concentrirt. Die Türken
schickten sich an. die Festung zu belagern, aber noch ehe sie ihre Arbeiten
vollendet hatten, lieferte ihnen Prinz Eugen die Schlacht vom 6. August,
welche die Türken mit Zurücklassung ihres Lagers zur Flucht nöthigte. Das
Regiment hatte an der Schlacht, die im Grunde ein großer Ausfall war.
rühmlichen Antheil genommen, und ein Schreiben des Kaisers an den Oberst
belobte es wegen der „sonderbaren Tapferkeit und Standhaftigkeit, die es in
der vorgefallenen Feldschlacht und dabei erfochtenen herrlichen Sieg erwiesen."
Von da ging es in beschwerlichen Märschen — das Lager mußte zuweilen
„gar verdrießlich" in Morästen gehalten werden — nach Temesvar, und mit
der Einnahme dieser Festung im Oktober war der Feldzug dieses Jahres zu
Ende. Die Armee bezog Winterquartiere und dem württembergischen Regi-
ment war hiezu ein Comitat in Oberungarn angewiesen, in das es einen
dreiwöchentlicher Marsch anzutreten hatte. War schon dieser Marsch sehr
anstrengend und mühsam — es fehlte oft an Brod, an Wasser und immer
an Geld — so waren auch die Quartiere in den kleinen ungarischen Dörfern
gar nicht nach Würfel. Das Stabsquartier befand sich zu Kemenze. „ein
kleines Dorf und so elend in die Erde, gleichwie auch die übrigen alle, ge¬
baut, daß hier das beste Haus der allergeringsten Bauernhütte in dero hoch¬
fürstlichen Landen bei weitem nicht gleichkommt; überdieß hat man noch das
Jnkommodum, daß Niemand mit denen Leuten reden, noch dieselben ver¬
stehen kann." Desgleichen schreibt der Oberstlieutenant: „ich muß bekennen,
so lang als ich Soldat, niemalen kein fataler Teufelsland für mich gefunden
hab, als dieses ist." Und ein andermal: „hiesiger Orten weiß ich nichts
Neues zu berichten, indem wir auch platterdings von der ehrlichen Welt hin¬
weg sind, und kann kein Teufel mit dieser Nation zurechtkommen."
Im folgenden Jahr wurde der Feldzug frühzeitig begonnen. Die Armee
sammelte sich wieder bei Peterwardein und marschirte dann nach Belgrad,
in dessen Besitz die Türken waren. Mit Vorpostengefechten, zum Theil auf
dem Wasser, mit unfruchtbaren Kanonaden und Belagerungsarbeiten ging
die Zeit vom Juni bis August hin. Am 16. August griff Eugen das türki¬
sche Lager an, erstürmte es und zwang damit auch die Festung zur Ueber¬
gabe. Damit war auch die Aufgabe dieses Jahres erledigt, der größere Theil
des Regiments nahm wieder Winterquartiere in Oberungarn, während ein
Bataillon in Belgrad blieb und eine Expedition in die serbischen Berge
mitmachte.
Der Verlust theils durch die Kriegsereignisse, theils durch Krankheiten
war natürlich bedeutend. Um die vertragsmäßige Anzahl aufrecht zu halten,
waren deshalb fortwährende Nachwerbungen erforderlich. Mit diesen ging
es aber sehr langsam. Wenn der Oberst immer wieder dringend Nachschub
verlangte, und der hohe Kriegsrath in Wien Vorstellungen wegen der Saum¬
seligkeit erhob, so beklagte sich andererseits der Herzog über die Kargheit,
mit welcher von der kaiserlichen Casse die Nekrutirungsgelder ausgefolgt
wurden. Nach Ungarland hatten die jungen Leute ganz und gar keine
Lust. Namentlich im Sommer wurde das Material immer seltener und
theurer, der Winter, die erwerblose Zeit für die niederen Stände, war ins¬
besondere die den Werbern günstigere Saison. Um die angesetzte Quote von
Rekruten zu liefern, gaben die Vögte zum Theil sehr hohes Handgeld, und
den scharfen Monitorien gegenüber waren sie voll Entschuldigungen, die zu¬
gleich charakteristisch sind für die Art und Weise, wie die Werbungen betrie¬
ben wurden. So schreibt z. B, der Vogt von Leonberg unter dem
1. August 1717: „Zu Anwerbung von Rekruten habe ich 1) im Amt alle
Bestellung gethan; 2) hier w loco Leute dazu aufgestellt; 3) die Stadt Weil
ersucht, mir die Werbung zu gestatten, welche mir es in der Stille zu thun
erlaubt; 4) wo Kirchweihtänze gehalten werden, habe ich Leute dahin ge¬
schickt; 6) habe ich gesammte junge Leute. Söhne und Knechte, hierher be-
schieden, deren gegen 300 hier gewesen; denen habe ich zur Annehmung von
Handgeld von 16—20 Fi. zugeredet; es hat sich aber von diesen Allen kei¬
ner dazu persuadiren lassen wollen und obwohl ich diese Zusammenkunft auf
einen Nachmittag angestellt, in der Meinung, daß sie hernach in die Wirths¬
häuser gehen werden, so sind sie doch Alle ohngezecht wieder heimgegangen.
6) Ist kein Handwerksbursch, der fechtend herumgezogen, unangeredet geblieben ;
da aber Solches einigemal geschehen, hat sich seither keiner mehr sehen lassen;
also daß ich diesfalls gethan, was immer möglich gewesen, und noch thue;
allein weil keine gezwungenen Leute angenommen werden, so habe ich auf
diese Art nicht handeln können. Ich kann wohl sagen, daß sich die Leute
vor Ungarn wie vor dem Feuer scheuen: es hat erst vor fünf bis sechs
Tagen meiner bestallter Männer Einer eine Anzahl Schnitter zu Annehmung
von Kriegsdiensten angeredet, allein es hat sich Keiner dazu resolviren
wollen." Aus dem Bericht eines anderen Bogts geht hervor, daß die amt¬
lichen Ausschreiben insbesondere befahlen, „die unnüzen Haushalter. bei wel¬
chen alle 6raäus LorreetioniL Nichts verfangen wollen, und die wegen ihres
ärgerlichen Wandels dem gemeinen Wesen mehr schädlich als nüzlich, specifice
einzusenden, damit solche zu Kriegsdiensten employirt werden könnten." Allein
nirgend trugen diese „unnüzen Haushalter" Verlangen, die Lücken des Re¬
giments in Ungarn auszufüllen. Daher es denn kam. daß. als im folgenden
Frühjahr die Musterungen begannen, der Oberst zu berichten hatte: „Es
haben Prinz Eugeni. hochfstl. Durch!., wie auch noch Viele von der hohen
Generalität sich nicht sowohl über die späte Ankunft als vornehmlich über
die geringe Zahl der Rekruten verwundert und dabei gefragt, wann dann
der andere Transport eintreffen werde, worauf denenselben in unterthänig-
ster Zuversicht, daß Ew. hochfstl. Durchl. den zur Decadence dero löblichen
Regiments gereichenden großen Abgang beherzigen, zur Antwort gegeben,
daß selbiger innerhalb Monatsfrist in größerer Anzahl anlangen dürfte, wobei
auch zugleich die Excüse eingewandt, daß die Werbegelder von dem hochlöb¬
lichen Hofkriegsrath noch nicht bezahlt wäreru"
Noch ehe der Friede an der Donau gesichert war, rüstete Oestreich zum
Knege in Italien. Die Spanier hatten nämlich eben die Türkenkriege benutzt,
um ihre Herrschaft eins Sicilien wiederherzustellen, das in den Friedensschlüssen
nach dem spanischen Erbfolgekrieg an Savoyen gefallen war. Unser württem-
bergisches Regiment befand sich gleichfalls unter dem kaiserlichen Heere, das
während des Jahres 1718 durch Italien geführt und in Neapel nach Si¬
cilien eingeschifft wurde, um hier einen äußerst blutigen und aufreibenden
Krieg gegen die Spanier zu bestehen. Die Berichte aus diesem Feldzuge,
der übrigens mit dem Sieg der kaiserlichen Waffen endigte, sind zum Er¬
barmen. Als der Friede geschlossen war, im Mai 1720, schreibt der Ober-
lieutenant an den Herzog: „Ich kann in Wahrheit wohl sagen, daß ich nicht
geglaubt, auf dieser Welt mehr eine Feder anzusetzen und im Himmel oder
sonst, wo wir hinkommen, wird es auch nicht nöthig sein..... Vor mein
Theil wünschte gerne, aus diesem infamen Land herauszukommen, denn hier
gehet es wohl nach dem alten Sprichwort, Ehr und Redlichkeit hat hier ein
Ende; sonsten sagt man hier allerwärts wieder von einem neuen Krieg, der
sich in Polen wiederum ereignen soll. Der Teufel weiß, wo die Kriege alle
herkommen; jetzt hätte ich schon auf ein paar Jahre genug und überließe es
einem Anderen, den die Haut jucken that." Der Herzog hatte übrigens be¬
schlossen, die Capitulationszeit. die in diesem Jahre ablief, nicht wieder zu
erneuern, und der Abschied aus östreichischen Diensten wurde dem Regiment
sehr erleichtert durch die empörenden Manieren der östreichischen Bureau¬
kraten, die sich der jetzt überflüssig gewordenen Waare so rasch als möglich
und mit den unbilligsten Abzügen an den längst rückständigen Forderungen
zu entledigen suchten. Mehr als 2000 Todte hatte das Regiment theils aus
den Schlachtfeldern an der Donau und auf Sicilien, theils in den Fried¬
höfen der Spitäler zurückgelassen. Es war für ein so kleines und wenig be¬
völkertes Land, wie das Herzogthum Württemberg damals war. kein geringes
Opfer, vier Jahre hindurch zu einem einzigen Regiment — während die
übrigen gleichfalls jährlich ergänzt werden mußten — je ungefähr 800 Re¬
kruten zu stellen, die für die Arbeit im Lande weitaus zum größten Theil
verloren waren.
Der nächste große Krieg, an welchem württembergische Truppen, in frem¬
den Diensten Antheil nahmen, war der siebenjährige. Schon im Jahr 1752
hatte der Herzog Karl einen Subsidienvertrag mit Frankreich abgeschlossen,
welcher zur Auflage machte, daß für den Bedarfsfall 6000 Mann württem¬
bergischer Truppen der Krone Frankreichs zur Verfügung stehen sollten.
Vier Jahre lang bezog der Herzog die Gelder, um sie auf seine Privat¬
vergnügungen zu verwenden; erst im Anfang des Jahres 1757 trat an ihn
die Anforderung heran, seinen Verpflichtungen nachzukommen. Da der Her¬
zog gleichzeitig sein Reichscontingent zu stellen hatte, war dem Lande die
furchtbarste Last auferlegt und nur durch Zwang und Gewaltthätigkeiten aller
Art war es möglich, die Regimenter zu füllen. Und zu diesen Bedrückungen,
welche durch die „triftigsten, beweglichsten und unterthänigsten Remonstrationes
der Landschaft" nicht abgewendet werden konnten, kam noch ein anderes.
Zwar nicht das nationale, aber das protestantische Bewußtsein regte sich leb¬
haft gegen den Subsidienvertrag mit Frankreich. Von der Stunde an, da
das protestantische Württemberg bestimmt war, an der Seite von Frankreich
und Oestreich gegen den Fürsten zu kämpfen, den man als den Vertreter
der evangelischen Interessen in Deutschland anzusehen gewohnt war. traten
Herzog und Volk immer mehr auseinander. Der Geheimerath freilich war
über den Vertrag der Meinung, er sei den Reichsgesetzen nicht zuwider, für
das Ansehen des Fürsten und eventuell für Zuwachs an Land könne er er¬
sprießlich sein, außerdem komme eine considerable Summe Geldes dadurch in
das Land. Bei einem Krieg stelle sich die Nützlichkeit noch um so mehr
heraus, als man doch nicht isolirt sei und von vornherein wisse, an wessen
Freundschaft man sich zu halten habe. Doch wurde in einer Zuschrift an
den Herzog auch nicht verschwiegen, daß das Zusammengehen mit Frankreich
von Vielen übel angesehen sei. Die Mannschaft selbst, von welcher zwei
Drittel gewaltsam ausgehoben waren, zeigte den schlimmsten Geist. Als sie
zu Stuttgart dem französischen Commissär zur Uebernahme vorgestellt werden
sollte, brach offene Meuterei aus. Die Leute liefen auseinander und durch¬
zogen truppweise die Straßen der Stadt und die Umgegend unter Unfug
aller Art. Es war von vielen Seiten her an ihnen geschürt worden. Gegen
alles Recht, hieß es, seien sie ihren Familien entrissen worden, und man
habe ihnen zugemuthet, gegen den Beschützer ihres Glaubens zu kämpfen.
Im Lande selbst waren Flugblätter der „Patrioten Württembergs" verbreitet,
welche die Erinnerung an die katholisirenden Projecte Karl Alexanders wie¬
der heraufbeschworen und in bitterster Weise Klage führten über die „gegen¬
wärtigen betrübten Umstände, darinnen sich das liebe Vaterland befindet, da
der Landes- und Gewissensfreiheit, der theuern evangelischen Religion, das
Messer schon an die Kehle gesetzt ist", über die „Wienerischen Kunstgriffe, die
Puls- und Triebfeder an dem Werke sind", über die „Gefahr und den nahen
Umsturz unserer Verfassungen, Gesetze, Verträge, Religion, Freiheiten und
Gerechtsame".
Diese Klagen, die zunächst an die Landschaft gerichtet waren, verhallten
freilich ohne Erfolg, wie auch jene Meutereien mit blutiger Strenge unter-
drückt wurden und nicht verhinderten, daß württembergische Truppen im Solde
Frankreichs .gegen den Staat Friedrichs des Großen auf böhmischen und
schleichen Schlachtfeldern, allerdings ruhen- und erfolglos, kämpften. Noch
in demselben Jahr nahmen die Württemberger Theil an der Belagerung von
Schweidnitz und im December an der Schlacht bei Leuthen, welche dem Kriege
wieder eine für Friedrich günstige Wendung gab. Es ist von Interesse, den
Bericht zu lesen, den der württembergische Generalfeldmarschalllieutenant von
Spiznas an den Herzog über diese verlorene Schlacht erstattete. Herr v. Spiz-
nas schreibt u. A.: „Ew. hochfstl. Durchl. muß hierdurch in dem allerblutig-
sten Chagrin berichten, daß abgewichenen Dienstag den 5. Dezbr. auf kais.
kön. Seite die Bataille verloren gegangen. Es mußte sich just ereignen, daß
des Königs von Preußen Majestät auf Ew. hochfstl. durchl. Truppen, welche
auf der Seite postirt standen, die allererste und rigoureuseste Attaque mach-
ten. Die Offiziere, vom ersten bis auf den niedersten, bezeugten durchgehends
eine ausnehmende Bravour und Tapferkeit und würde gewiß von Ew.
hochfstl. durchl. Auxiliarcorps ein Großes gethan worden sein, wenn nur der
gemeine Mann seine Schuldigkeit hätte thun wollen, allein hatte derselbe
einen so schlechten Muth, daß dessen Conduite auf gewisse Weise der vor¬
maligen Stuttgarter Historie vollkommen gleichkam, indem derselbe größten-
theils seine Schuldigkeit außer Augen gesetzt hatte. Der Verlust bei dem
hochfstl. Corps ist groß und besonders in Ansehung der Verlaufenen be-
trächtlich. , . . Ew. hochfstl. Durchl. kann in Unterthänigkeit nicht bergen,
daß durch diese fascheuseste Begebenheit in den blutigsten Schmerzen gesetzt
worden und untröstlich bin, mich Z, 1» tete solcher Leute sehen zu müssen,
weshalben mich allerdings gemüßigt sehen muß, fürohin das Commando über
derlei Leute mir abzubitten." Das Herzog!. Corps hatte 134 Todte, 160
Verwundete, 124 Gefangene und 1832 Vermißte. Von diesen stellten sich
zwar einige Hunderte wieder ein, aber die allermeisten hatten die Verwirrung
benutzt, unverweilt nach der Heimath zurückzukehren. Des militairischen Geistes
und der Disciplin gänzlich entbehrend, konnten diese Leute nicht vergessen, daß
sie durch willkürliche Gewalt, nicht durch Gesetz, ihrer Heimath entrissen und
bestimmt seien, für eine Sache zu kämpfen, die ihnen, den Lutheranern, in
der Seele zuwider war.
Als im Jahr 1758 neue Aushebungen veranstaltet wurden, war der
Widerstand auch von Seite der Landschaft so erheblich, daß der Herzog
durch den Kaiser selbst auf die Landschaft drücken lassen mußte. Es erfolgte
dann auch ein Verweis des Kaisers an die in ihrem guten Recht befind¬
lichen Stände des Herzogthums, der in der That, nicht blos in Ansehung
der k. k. Sprache, zu den charakteristischen Documenten des Jahrhunderts
gehört. Der Kaiser schreibt, er könne „nicht änderst als mißfälligst ansehen,
daß Ihr anstatt Jhme, Herzog, für die zu eurem und des Landes eigenem
Schutz angeordnete Landesdefenston zu danken und den darzu ergehenden
Aufwand der Schuldigkeit nach bereitwillig darzureichen, das diesfällsige von
demselben an euch gebrachte Ansinnen, mit leeren, ohngegründeten, aufzöger¬
lichen, die Sache nur in das Weite hinausspielen wollenden Ausflüchten auf¬
zuhalten gesucht und dabei euere Vorstellungen in den unanständigsten Aue¬
drücken verfasset, ohne daß die zu wiederholten Malen an euch schriftlich und
mündlich beschehene so gut als ernstliche Vermahnungen bei euch was ge¬
wirket haben, sondern ihr auf eurem abneigigen Willen und wesentlicher
Widersetzlichkeit allenthalben bestanden seid und damit auch jenen Beistand
Jhme, Herzog, versaget habt, dessen er über das Ordinarium benöthigt zu
sein erachtet, um den für die jetztrnaligen Reichs- und Kreisprästanda zu
machen habenden manchfachen Aufwand bestreiten zu können". Das lang-
athmige Schreiben schließt „mit der angefügten ernstlichen Verwarnung, daß
in Entstehung dessen Wir alle diejenige Schärfe gegen euch und einen Jeden
aus euch werden vorkehren lassen, welche die Gesetze des Reichs hierunter
denen Landesherren zum nöthigen Vorstand und sonsten zum Guten geschrie-
ben haben, ohne daß Wir hiebei die Ausrede des Einen auf den Anderen
und der Wenigeren auf die Mehreren mögen oder werden gelten lassen,
sondern einen Jeden aus euch und also auch die Commune, an deren Statt
ihr oder Einige aus euch gesetzet sind, zur Gebühr stracklichen anweisen und
solche von euch erfordern, dannenhero Wir auch des Herzogs Liebden unter-
einstem der dießsallfigen Gebühr erinnern."
Ende des Jahres 1768 wurde der Subsidienvertrag mit Frankreich auf
ein weiteres Jahr erneuert und auf die Stellung eines Hülfscorps von
8620 Mann ausgedehnt. Der bekannte Major Rieger. der später in asce-
tischer Frömmigkeit seine Vergangenheit büßte, leistete fast Unglaubliches in
Aufbringung von Menschen und Geld. Für jedes Amt wurde einfach die
Rekrutenquvte angesetzt, die zu liefern war, und die Vögte setzten Verzeichnisse
auf über die zu Soldaten vorgeschlagenen Leute, meistens solche mit schiech- °
tem Prädicat und als entbehrlich bezeichnet. Von Stuttgart z. B. werden
vorgeschlagen: Michel Asinus, Weingärtner, ist ein schlechter Mann. Säufer
und Schuldenmacher; und ein anderer: hat bekanntlich ein schlechtes Prädicat,
aber ist groß. Oder: hat eine gute Länge, ist ein Uebelhauser und erst letzt¬
hin entloffen gewesen, puncto turti verdächtig. Als Säufer sind ziemlich Alle
bezeichnet.
Der Herzog selbst zog an der Spitze seiner Truppen aus, er hatte vom
Marschall Broglie die Aufgabe erhalten, die hessischen Lande in Contribution
zu setzen, damit ein hier einbrechender Feind keine Subsistenzmittel mehr
vorfinde. Von Kriegsthaten ist denn auch aus diesem Feldzug nichts zu
melden, mit Ausnahme eines Gefechts bei Fulda, in welchem die Württem¬
berger von dem Erbprinzen von Braunschweig geschlagen wurden. Damals
machte der Herzog auch die unliebsame Bekanntschaft des Vogelsbergs, er
nennt die Wege desselben les euemins an mouäö Iss plus allreux, ein Urtheil,
dessen unveraltete Wahrheit bekanntlich die Württemberger im Jahr 1866
zu bestätigen Gelegenheit hatten.
Die Franzosen scheinen von den Leistungen des herzoglichen Hülfscorps
nicht übermäßig entzückt gewesen zu sein. Als der Subsidienvertrag mit
Frankreich zum zweitenmal zu Ende war. bot der Herzog vergebens eine Er¬
neuerung desselben an. und ebenso wurde er mit seinen wiederholten Aner¬
bietungen in London und Madrid abgewiesen. Da er aber in keiner Weise
sich auf eine Reduction der Truppen einlassen wollte, entschloß er sich endlich,
als Bundesgenosse Oestreichs sich des Weiteren am Kriege zu betheiligen.
Er sollte mit der Reichsarmee zusammenwirken, um in Sachsen einzufallen,
bedang sich aber dabei eine unabhängige Stellung nach allen Seiten aus.
Die letztere benutzte er denn auch dazu, um sich vorsichtig zurückzuziehen. sobald
es Friedrich möglich war, den Kriegsschauplatz wieder an die Elbe zu ver¬
legen. Um so tapferer war bis dahin die Truppe in Eintreibung von Con-
tributionen an Geld, Lebensmitteln und Fourage gewesen, und wo sie durch¬
gezogen, hatte sie den allerschlimmsten Ruf hinterlassen. Im Uebrigen ist
noch der charakteristische Zug herauszuheben, daß das preußische Corps,
welches die Württemberger unvermuthet bei Köthen überfiel, um sie vollends
aus den sächsischen Winterquartieren zu vertreiben, von einem Bruder des Her«
zogs. dem General Prinzen Friedrich Eugen von Württemberg, der später
selbst Herzog und der Stammvater der jetzt regierenden Linie wurde, be¬
fehligt war. Im December kehrte der Herzog mit seiner Truppe nach der
Heimath zurück und der Kaiser verbat sich höflich deren fernere Dienste.
Es war auf längere Zeit der letzte Feldzug für die württembergischen
Truppen.
Und damit sei denn auch unsererseits diese Erzählung württembergischer
Kriegsthaten beschlossen. Wer dieselben weiter verfolgen möchte, den ver¬
weisen wir auf das genannte Buch, das die Wandlungen des württembergi¬
schen Heerwesens und den Antheil, den die herzoglichen und später könig¬
lichen Truppen an der allgemeinen Kriegsgeschichte haben, auch noch über die
Zeit der französischen Revolutionskriege, der napoleonischen Feldzüge, der
Befreiungskriege, und endlich über das Jahr 1848 bis zum Mainfeldzug des
Jahres 1866 und dem Treffen bei Tauberbischofsheim fortsetzt. Es bleibt
uns nur noch eine Pflicht zu erfüllen, nämlich das warme Nationalgefühl
zu rühmen, mit dem dieses Buch des k. württembergischen Oberlieutenants
geschrieben ist. Er scheut sich nicht vor der freimüthigster Kritik der ver¬
gangenen Ereignisse und Zustände, überall geht er bis zu den letzten Gründen
der Uebel zurück, ohne Versuch der Beschönigung und für den jammervollen
Inhalt seiner Erzählung muß die warme Ueberzeugung entschädigen, die
überall durchbricht, daß erst in Folge der jüngsten Ereignisse auch den Heeres¬
körpern der kleineren Staaten eine würdige Existenz und ein würdiges Ziel
geschaffen ist. In diesem Betracht ist das Buch an sich selbst ein erfreu¬
liches Anzeichen, und gerne setzen wir noch die Betrachtung her, mit welcher
dasselbe abschließt. „Was die Denker und Helden vom Anfang dieses Jahr¬
hunderts als den Beruf Preußens in Deutschland erkannten, es ist im großen
Ganzen erfüllt. Für die weitere Fortführung und den Ausbau bürgen die
Leistungen der deutschen Armee, die Einsicht der tonangebenden Staats¬
männer und der gesunde Sinn des deutschen Volks. Diesen gesunden Sinn
des Volks zu erhalten, auszubilden und immer mehr zu kräftigen, ist ins-
besondere Aufgabe des mit neuer Kraft lebendigen Nationalgefühls und der
größten militairischen Errungenschaft aus den jüngsten Tagen — der all¬
gemeinen Wehrpflicht."
Bei der jetzt erreichten Abrundung des von der deutschen Zolllinie
umgebenen Gebiets tritt an die Bundesbehörden aufs Neue die Anforde¬
rung heran, für die Herstellung einer vollständigeren Handels se all se ik
zu sorgen. Deutschland steht in dieser Beziehung hinter fast allen civilisirten
Ländern zurück. Es giebt zwar Ein- und Ausfuhrlisten des Zollvereins,
aber in ihnen fehlen die Angaben über die beiden hanseatischen Freihafen.
Da Hamburg und Bremen der Gesetzgebung sowohl wie der Verwaltung
des neuen deutschen Zollbundes nicht minder unterworfen sind, als die inner¬
halb der Zolllinie liegenden Städte, so wäre der Zollbundesrath durchaus
befugt, zum Behuf einer vollständig deutschen Handelsstatistik auch in jenen
Städten Erhebungen anstellen zu lassen. Es bedürfte nur seines Wirth und
Hamburg würde die Aufzeichnung seiner Ausfuhr wieder herstellen, die es seit
wenigen Jahren hat eingehen lassen.
Sodann wäre noch für Uebereinstimmung der Waarenkategorien das
Nöthige anzuordnen, damit die einzelnen Erhebungen ohne Schwierigkeit
zusammengestellt werden könnten.
In Frankreich und England enthalten die monatlichen Ein- und Aus¬
fuhrlisten stets die Zahlen für den abgelaufenen Monat, für den gleichen
Monat in den beiden Vorjahren, für sämmtliche abgelaufenen Monate des
gegenwärtigen Jahres und der beiden Vorjahre, und alle diese Zahlen dop¬
pelt; nämlich für die Ein- und Ausfuhr im Allgemeinen, so wie sür die ver¬
zollte Ein- und Ausfuhr. Dadurch erst sind diese Berichte sür den größe¬
ren Geschäftsmann von wirklich praktischem Werth geworden. Er erkennt
daraus, in wie weit der regelmäßige Bedarf des Auslandes bereits gedeckt ist,
ob die Preise der Waaren durch Steigen oder Fallen des Bedarfs der Zufuhr
oder der Ausfuhr sich verändert haben; er ist nicht ausschließlich von den
Gerüchten abhängig, welche der Speculant in tendenziöser Weise verbreitet.
um auf die Preise einzuwirken. Des Kaufmanns Kenntniß der wahren
Sachlage vermindert die Gefahr des Mangels wie der Ueberfüllung auf den
Märkten und das für Consumenten und Händler verderbliche schwanken der
Preise, welches durch betrügerische oder irrthümliche Nachrichten herbei¬
geführt wird.
Einen anderen Nutzen bietet die französische und für die Ausfuhr auch
die englische Statistik durch die Werthberechnung des Verkehrs. Die Werth¬
berechnung, wenn sie auf die wirklichen Preise begründet ist, hat den Vorzug,
die Größe des Verkehrs nach dem richtigen Maßstab darzustellen. Es kann
möglicherweise die Menge aller eingeführten Waaren abgenommen haben,
aber dennoch der Wohlstand und die Consumtionskraft des Volkes ge¬
stiegen sein.
Wenn 1.000.000 Ctr. Kaffee zu 20 Thlr. pr. Ctr. anstatt 1,500,000 Ctr.
zu 10 Thlr. eingeführt wurden, so muß offenbar der Erwerb des Volkes
im ersten Jahre größer als im zweiten gewesen sein, denn es mußten in
jenem 20 Mill. Thaler für den Genuß des Kaffees ausgegeben werden können,
während es zu diesem Zweck im zweiten Falle nur 15 Millionen Thaler be.
durfte. Ebenso können andere Einfuhrquantitäten sich vermindert haben,
während dennoch die Werthsamme der Totaleinfuhr zunahm.
Würde diese Werthberechnung den Monatsberichten beigefügt, so könnte
hierin für den Verkehr in auswärtigen Wechseln, für den Geldmarkt im All¬
gemeinen ein wichtiger Anhaltspunkt geschaffen werden; es ließe sich der
Geldbedarf für den auswärtigen Handel übersehen. ja theilweise der Cours
der Devisen im voraus bestimmen.
Besondere Schwierigkeiten, welche der Verwandlung der Zollvereins¬
statistik in eine brauchbare Handelsstatistik entgegenstünden, walten bei uns
nicht ob. Wir verweisen in dieser Beziehung auf England, dessen Zoll-
ämter durch Mee>e getrennt sind, auf Frankreich, dessen Ausdehnung
hinter der des Zollvereinsgebiets wenig zurücksteht und dessen Zolltarif viel
zahlreichere Posten enthält, als der unsere. Die Zollverwaltungen beider
Staaten leisten in vollem Maße, was wir von der Zollverwaltung des Zoll«
Vereins in Anspruch nehmen. Wir verweisen aber auch auf Rußland, das
trotz seiner ungeheueren Ausdehnung nicht so weit in der Handelsstatistik
zurück ist, wie bis jetzt der Zollverein.
Von nicht minderer Bedeutung wäre es, wenn seitens der Bundesregie¬
rung auch die Organisation einer das Bundesgebiet umfassenden landwirth.
schaftlichen Statistik ins Auge gefaßt würde. Auch in dieser Beziehung sind
andere Staaten uns voraus, wenn das Maß des Wünschenswerthen und
Erreichbaren auch bei ihnen noch lange nicht erzielt ist. Allerdings sind die
bezüglichen Bestrebungen noch überall ziemlich neu und selbst Frankreich, das
besonderen Eifer entwickelt hat, ist kaum über die Anfänge herausgekommen.
Als ältesten Versuch einer Bodenstatistik, aus den Zeiten des Mittel¬
alters, darf man die Arbeiten der Rishi äominiei betrachten, die unter
Karl dem Großen den Zustand des Ackerbaues constatirten. Das vomssä^
book. auf Befehl Wilhelm des Eroberers im 11. Jahrhundert verfaßt,
enthält ähnliche Angaben über die englische Feldwirthschaft. Dann folgten
Jahrhunderte, in denen so gut wie nichts geschah. Gegen Ende des 17.
Jahrhunderts ließ Ludwig XIV. eine Agriculturstatistik in jeder Provinz auf¬
nehmen, die jedoch ihrem Gesammtinhalt nach nie im Druck erschienen ist.
In dem nachfolgenden hundertjährigen Zeitraume veranstaltete die französi¬
sche Regierung jährliche Aufstellungen über die Ernten. Aehnliche, nur
minder constante Bestrebungen bezeichneten die Periode des ersten Kaiser¬
reiches. Die erste Enqußte, die alle Elemente der agricolen Production
Frankreichs in sich fassen sollte, wurde nicht eher als im Jahr 1840 unter¬
nommen. Ein Decret vom 1. Juli 1852 schrieb die Bildung von beständigen
Commissionen in jedem der 2846 Cantone des Kaiserreiches vor, mit der
Weisung die auf die Landwirthschaft bezüglichen Zahlen zu sammeln. Die
durch dieselben zu veranstaltenden Erhebungen sollten die eine jährlich, die
andere alle zehn Jahre geschehen. Die französischen Commissionen haben
seitdem ihr Werk begonnen und zwar mit der für alle zehn Jahre angeord¬
neten Erhebung. Die Schwierigkeiten, gegen welche sie anzukämpfen haben,
sind vielfältig. Die Eigenthümer hielt von einer genauen Angabe des Er¬
trages der Wahn zurück, als sollten die erhaltenen Zahlen dem Fiscus zu¬
gestellt werden und eine Vermehrung der Steuer nach sich ziehen; die Zer¬
splitterung des Bodens bietet ein ferneres Hinderniß dar. Während in Eng¬
land der Boden sich in den Händen von 40- bis 50.000 Eigenthümer befindet
und die Zahl der Pächter 286,000 ausmacht, deren jeder im-Durchschnitt
50 Hektares inne hat, so sind in Frankreich die 42 Mill. Hektare cultivirten
Landes in nahe 130 Millionen Parzellen zertheilt, die 5 Mill. Eigenthümern
gehören und von mindestens 7 Millionen Pächtern und Hciusvätern bebaut
werden.
Wenn die französische Regierung nichtsdestoweniger auf dem beschritte-
nen Wege beharrt, so wird sie dabei von der richtigen Ansicht geleitet, daß
die zunehmende Bildung und die Einsicht in den Werth statistischer Er¬
hebungen sich ihr Recht verschaffen werden, und daß die eminente Wichtig-
keit der Sache außer Verhältniß steht zu den Hemmnissen, deren Bekämpfung
es gilt. — In England ist die landwirtschaftliche Statistik nur von Pri¬
vaten, aber von diesen mit entschiedenem Erfolg betrieben worden.
Da es uns an dieser Stelle nur darum zu thun ist, den Gedanken an
einer auf die wichtigsten Productionsgebiete bezüglichen amtlichen Statistik an¬
zuregen, versagen wir es uns für dieses Mal, auf diesen interessanten Gegen¬
stand näher einzugehen. Die Einsicht in den Werth statistischer Arbeit ist
in Deutschland schon gegenwärtig weit genug verbreitet, als daß bezügliche
Unternehmungen der Bundesverwaltung nicht auf bereitwilliges Entgegen¬
kommen, wenigstens eines großen Theils der Bevölkerung zu rechnen hätten.
In erster Reihe wird allerdings die Handelsstatistik des Zollvereins als ein
dringendes Bedürfniß der Gegenwart in Angriff zu nehmen sein, denn hier
handelt es sich ein Mal nicht um eine Neubegründung, sondern nur um eine
Reorganisation und richtigere Benutzung der vorhandenen Mittel und zwei¬
tens darum, daß Deutschland mit den übrigen großen Culturstaaten unseres
Welttheils Schritt halte. Der norddeutsche Bund hat während der kurzen
Zeit seines Bestehens für die Pflege unserer materiellen Interessen so viel
Eifer und Einsicht bewiesen, daß sich hoffen läßt, er werde auch dem Bedürf¬
niß nach zeitgemäßer Umgestaltung unserer handelsstatistischen Arbeit über
kurz oder lang Rechnung tragen.
Von dem Secretaire des Hamburger Vereins für Rettung Schiffbrüchiger,
Herrn Horgreaves. ist uns nachstehende Erklärung zugegangen:
„In dem in den Grenzboten Ur. 12 vom 19- März d. I. aufgenomme¬
nen Artikel: „Die Gesellschaft zur Rettung Schiffbrüchiger" werden am
Schlüsse bei Erwähnung, daß Hamburg sich der Gesellschaft noch nicht an¬
geschlossen habe, einige Bemerkungen gemacht, die mit den Thatsachen nicht
übereinstimmen. So heißt es, daß Hamburg niemals auch nur die Elb-
mündung mit Rettungsanstalten hinlänglich hat ausrüsten können, während
bereits seit Jahren vier Stationen bestehen; Neuwerk, Duhnen, Elbleucht-
schiff II. und Cuxhaven. Der Vorwurf, daß Hamburg verabsäumt haben
soll, die gefährlichen Schleswig'schen Inseln mit Booten und Geschützen zu ver¬
sehen, ist um so weniger zutreffend, als der Hamburger Verein lediglich für
Rettungsstationen an der Elbmündung gegründet ist und selbst wenn er seine
Thätigkeit auf die Schleswig'schen Inseln hätte ausdehnen wollen, so liegt es
auf der Hand. daß seine desfallsigen Bemühungen bis 1866 fruchtlos ge-
blieben sein würden; in 1866 war aber bereits die deutsche Gesellschaft in voller
Wirksamkeit und der Hamburger Verein würde in der That sich der Feind¬
seligkeit schuldig gemacht haben, die ihm ganz ungerechtfertiger Weise vor-
geworfen wird, wenn er der deutschen Gesellschaft dieses ihr recht eigentlich
zugehörige Feld hätte streitig machen wollen.
Was nun endlich die Bemerkung betrifft, daß die Eifersucht Ham-
burgs auf Bremen und der Wunsch, die Führerschaft an sich zu ziehen, den
Hamburger Verein bisher veranlaßt haben sollen, außerhalb der natio¬
nalen Organisation zu bleiben, so legt der Herr Verfasser damit seine
Unkenntniß der thatsächlichen Lage an den Tag. Der einzige Grund,
welcher den hamburgischen Verein bisher abgehalten' hat. als stimmberechtig¬
tes Mitglied der deutschen Gesellschaft beizutreten, ist lediglich finanzieller
Natur. Es schien dem hamburgischen Verein nicht zweckmäßig, daß er bei
der Verausgabung der von ihm aufgebrachten Geldmittel von dem Beschluß
der Generalversammlung abhängen soll. In allem Uebrigen hat er sich längst
vollständig der nationalen Organisation angeschlossen und der Leitung der
deutschen Gesellschaft untergeordnet, und wie sehr er diese Leitung und die
Bemühungen der Bremer Geschäftsführung zur gedeihlichen Entwickelung
des Rettungswesens an den deutschen Küsten anerkennt, ist in einem Schrei¬
ben vom vorigen Jahre niedergelegt, welches der Bremer Vorstand veröffent¬
licht hat, und welches der Herr Verfasser unmöglich gekannt haben kann, als
er diese Angriffe gegen Hamburg, welche mit der Sache ersichtlich nichts zu
thun haben, niederschrieb.
Schließlich ist noch zu erwähnen, daß durch einen Beschluß der General¬
versammlung der Deutschen Gesellschaft im Mai v, I. der finanzielle Grund
welcher den Hamburgischen Verein bisher abhielt, seinen Eintritt als Mit¬
glied auszusprechen, theilweisej beseitigt ist, und wenn gewisse Vorbehalte,
auf welche der Verein in Rücksicht auf verschiedene, ihm unter bestimmten
Bedingungen zugekommene Vermächtnisse bestehen muß. ihm von der Deut¬
schen Gesellschaft zugestanden werden, so dürfte er in der nächsten General¬
versammlung seinen Sitz als stimmberechtigtes Mitglied einnehmend dessen
Pflichten im Uebrigen. wie bereits erwähnt, er seit Jahren schon in vollem
Maße erfüllt und nicht angestanden hat, seine Ueberschüsse der Gesellschaft zur
Förderung der nationalen Organisation zur Verfügung zu stellen."
Als die „Ricordi" des berühmten italienischen Staatsmannes vor zwei Jahren
zu Florenz erschienen, gehörten die Grenzboten zu den ersten, welche dem deutschen
Publicum von diesem interessanten Beitrag zur Geschichte des neuen Italien' aus¬
führliche Kunde gaben (Jahrg. 1867, H. 35 und 36). Es bleibt uns darum nur
übrig, der gegenwärtigen vorliegenden deutschen Ausgabe dieses Werkes einige kurze
Bemerkungen zu widmen. °
Der ungenannte Uebersetzer hat es für geeignet gehalten, das aus zwei ziem¬
lich umfangreichen Bänden bestehende d'Azegliosche Buch in einen 308 S. umfassen¬
den Band zusammen zu drängen und zu diesem Behuf verschiedene Kürzungen vor¬
zunehmen. Wenn sich gleich nicht leugnen läßt, daß die Ansprüche, mit denen der
Deutsche an die Lebensgeschichte eines italienischen Patrioten tritt, von denen der
Volks- und Zeitgenossen des Memoirenschreibens verschieden sind, so erscheint es
doch als Wagniß, eine Darstellung, deren eigenthümlicher Reiz wenigstens zum
großen Theil im Detail liegt und welche an den Leser den Anspruch liebevoller
Versenkung in eine bestimmte Individualität stellt, in einzelnen Partien auszugs¬
weise zu behandeln und dadurch um ihr natürliches Ebenmaß zu bringen. Wenn
auch das Charakterbild, das d'Azeglio von sich selbst entwirft, aus dieser verkürzten
deutschen Ausgabe deutlich genug hervortritt und die Theilnahme des Lesers fesselt,
so ist damit das von dem Uebersetzer geübte Verfahren doch noch nicht allseitig ge¬
rechtfertigt. Das Buch soll uns zugleich ein culturgeschichtliches Bild von italienischem
Leben-und Treiben im 19. Jahrhundert entwerfen. Dieses Bild aber hat an Voll¬
ständigkeit eingebüßt; es ist nicht gut möglich, im Einzelnen nachzuweisen, welche
Lücken durchaus giebigere Benutzung des Originals hätten ausgefüllt werden können —
das Ganze macht eben nicht den Eindruck der Abrundung, welche der italienischen
Ausgabe nachgerühmt worden.
Sehr viel deutlicher aber tritt ein anderer Mangel hervor; der Uebersetzer ist
der Sprache, in welche er übersetzt hat, nicht Herr, er drückt sich in ihr dilettantisch
und unsicher, nicht selten incorrect aus, an einzelnen Stellen leidet der
Sinn des Erzählten. Die Uebersetzung sucht sich möglichst eng an das Original
anzuschließen, verletzt über diesem Bestreben aber die Gesetze des deutschen Geschmacks
ebenso häufig wie die der Stylistik und Grammatik. Den Hauptvorzug einer
Uebertragung von einer Sprache in die andere wird es immer ausmachen, wenn
der Leser vollständig vergißt, daß er es mit einer Uebersetzung zu thun hat. Davon
kann im vorliegenden Fall durchaus nicht die Rede sein. Möge der Leser nach
besonders ergötzlichen Beispielen selbst darüber urtheilen.
S. 24 heißt es: „Wir Piemontesen sind hart für uns selbst, fürchten kein
Unglück, fürchten kein hartes Leben, noch die Gefahr, wenn beides für unser Land,
das Haus Savoyen und für die Ehre ist." S. 28: „ihnen fiel das schöne Loos
zu, sich als Gründer der Befreiung unserer Halbinsel hinzustellen." S. 30! „Er
erbot sich als Geißel (sie) für den König." S. 37- „Was den Styl angeht, so bleibt
er darin seinem verachteten Vorgänger nach." S. 46: „mein Vater sing an. eine
Canzontine zu singen, und so nach und nach die Stimme erhebend, wurde ich lang¬
sam geweckt." S. 50 heißt es: „Napoleon hielt nicht viel von Wahlfreiheit";
das soll heißen, er ließ seinen Unterthanen nicht die Freiheit, für ihre Kinder die
Unterrichtssnstalten zu wählen. S. 52: „Das Unterwerfen unter die Herrschaft
eines Fremden hatte meiner Mutter die Reise zur Qual gemacht." S. 62: „bei
solchen Ausflügen, die aus meinem Vater, uns vier Brüdern, dem Priester und
einem Diener bestanden." S. 77: „ich muß eine Begebenheit berichten, die unsere
Trennung beeilte." S. 265: „....., seit Polen in der französischen Kammer
hören mußte, daß in Warschau Ruhe herrsche, da überließ sich die lombardische Be¬
völkerung ihren gewohnten Freuden". S. 230 ist wiederholt Von einem „Thörich¬
ten" ,die Rede, der sich in des Verfassers Gesellschaft befunden; aus dem Zusammen¬
hang geht hervor, daß ein Geisteskranker gemeint ist. — Aehnliche Schnitzer, Jn-
correctheiten und Verstöße gegen die hergebrachten Ansprüche des Geschmacks und der
Logik begegnen uns fast auf jeder Seite. Daß sie den .Genuß eines Buches
empfindlich beeinträchtigen, das nicht nur eine interessante geschichtliche Quelle, son¬
dern zugleich ein Kunstwerk sein soll, versteht sich leider von selbst.
Mit, welchem Recht nennt sich diese Uebersetzung eme autorisirte? Hat der Ver¬
fasser, oder hat der italienische Verleger dem deutschen Uebersetzer oder Verleger eine
Autorisation ertheilt? Diese Autorisation hat bei einer Übertragung italienischer
Werke allerdings keine andere Bedeutung, als die einer artigen Empfehlung der
Uebersetzung durch den Verfasser des Originals. Eine solche Empfehlung aber ver¬
dient das vorliegende deutsche Buch nicht.
Und wir benützen diese Gelegenheit zu einer allgemeinen Bemerkung. Die Verträge
mit Frankreich und England zum Schutz der Uebersetzungen und das seitdem begehrte
Prädicat: „autorisirte Uebersetzung" haben unsere Uebersetzungsliteratur wenig ge¬
fördert. Wir Deutsche rühmen uns gern unserer Kenntniß fremder Cultursprachen,
aber die Roheit und klägliche Fehlerhaftigkeit zahlreicher neuer Ueberiragungen macht
uns wenig Ehre. Solche Uebersetzer, welche weder deutsch schreiben, noch die fremde
Sprache lesen können, gehören bei uns nicht zu den Ausnahmen, und gute Ueber¬
setzer sind sogar dann nicht leicht zu finden, wenn die Verleger Bildung und Ge¬
wissenhaftigkeit genug haben, sie zu suchen.
Erwähnt sei noch, daß biographische Notizen von der Hand Matteo Ricci's, welche die
Haupterlebnisse aus d'Azeglios zweiter Lebenshälfte angeben, das Werk schließen. Dieser
Abschnitt ist vom Uebersetzer „Biographische Anmerkungen zur Erinnerung an M.
d'A." überschrieben.
Dieses schon im vorigen Jahre erschienene werthvolle kleine Büchlein kann
denen, für welche der Verfasser, Herr Lorck, es auf dem Titel bestimmt hat, bestens
empfohlen werden, weil es in präciser Zusammenfassung eine Fülle wichtiger Kennt¬
nisse enthält, die praktisch nur mühsam und allmälig und gewöhnlich erst nach Zab-
lung einigen Lehrgeldes erworben werden. Der Verfasser hätte neben den Au¬
toren und Verlegern noch eine dritte Kategorie von Lesern namhaft machen können,
und zwar diejenige, welche vielleicht am meisten bei ihm zu lernen hat: die
der Journalisten, denen die correcte „Herstellung von Druckwerken" die meiste Noth
macht und die mit den Schwierigkeiten derselben täglich zu kämpfen haben.
Das 154 S. umfassende Buch zerfällt in drei Theile. 1) Zur Orientirung
in der Technik der Buchdruckerei. 2) Die Herstellung von Druckwerken. 3) Typen¬
schau nebst Proben aus der Praxis. Ist es für Buchhändler und Autoren schon
von Wichtigkeit, eine genaue Darstellung von der Technik der Kunst Gutenberg's
zu gewinnen und nach den vorhandenen Mitteln das Maß ihrer Ansprüche ein¬
zurichten, so führt der umfangreichere zweite Abschnitt uns direct in die Praxis, in
alle die Stadien ein, welche ein Druckwerk durchzumachen hat, ehe es aus dem
Manuscript zum fertigen Verlagsartikel geworden. „Das Manuscript", „Format
und Schrift", „die Correctur nebst Anleitung zum Correcturlesen" lauten die bedeu¬
tungsvollen Ueberschriften der drei ersten Abschnitte, auf welche wir ein besonderes
Gewicht legen möchten, zumal auf das verhängnißvolle, mit anerkennenswerther
Gründlichkeit behandelte Capitel von der Correctur, jener Kunst, die nur selten ganz
ausgelernt wird. Als Gutenberg die Buchdruckerkunst erfand, verdroß das bekannt¬
lich den Teufel und er erfand die Druckfehler, „die Kleinen unter den Seinen, die
dem Arglosen, der die Straße der Logik wandelt, zwischen die Beine schlüpfen und
ihn zu Fall bringen." Diese Plagegeister zu beschwören, hat der Verfasser eine
lange Reihe kräftiger Bannsprüche und Recepte angegeben, die von einer ausführ¬
lichen Liste der üblichen Correcturzeichen begleitet sind. Faßlichkeit der Darstellung,
Gründlichkeit und Fachkenntniß bei Behandlung der einzelnen Materien geben dem
Büchlein einen Werth, der ihm sicher in die Kreise aller Betheiligten Eingang ver¬
schaffen wird, weil dasselbe in der That einem praktischen Bedürfniß entgegenkommt.
Wenn diese Schrift etwas zu wünschen übrig läßt, so ist es, daß neben der
Technik bei Herstellung von Büchern nicht auch die Zeitungs- und Journaltechnik
besonders behandelt worden ist. Angaben über diese wären, unserer Meinung nach,
noch mehr am Platz gewesen, wie die an und für sich schätzbaren, aber mit der
Hauptmaterie nur indirect zusammenhängenden Aufschlüsse über den buchhändleri¬
schen Betrieb.
Mit der uns gegenwärtig vorliegenden achten Lieferung schließt sich der erste
Band dieses verdienstvollen Werks, dessen erste Hefte wir bereits besprochen haben,
so vollständig ab, daß wir die Möglichkeit einer vollständigen Orientirung über den
Inhalt desselben haben.
Die erste Abtheilung giebt eine Uebersicht über sämmtliche legislative Leistungen
des norddeutschen Bundes aus der Legislaturperiode des Jahres 1867, sowie der
auf dieselbe bezüglichen Thronreden vom 10. September und 26. October, der
Reichstagsadresse und dem stenographischen Bericht über die Adreßdebatte. Ange¬
hängt sind den fünfzehn mit dem Reichstage vereinbarten Gesetzen, die Anhangs-
artikel zum Kriegsdienstgesetz und Strafgesetzbuch, die Verordnung über Einführung
des preußischen Militairgesetzes, der Zollvereinsvertrag vom 8. Juli und die Schiff¬
fahrtsconvention mit Italien. — Die zweite Abtheilung enthält eine Sammlung
innerhalb des gleichen Zeitraums erlassener Gesetze der süddeutschen Staaten. Frank¬
reichs, Englands und Oestreichs, das besonders reichlich vertreten ist. (Gesetze über
Reichsvertretung, Grundrechte, Reichsgericht, richterliche Gewalt, Regierungsvollzugs¬
gewalt, gemeinschaftliche Angelegenheiten beider Reichshälften, Ehegesetz, Schulgesetz,
interconfesfionelles Gesetz.) — Die dritte Abtheilung umfaßt sämmtliche auf Angelegen¬
heiten Preußens und des norddeutschen Bundes bezügliche diplomatische Actenstücke
aus dem Jahre 1867, die Friedensverhandlungen mit Oestreich und Frankreich, die
Schutz- und Trutzbündnisse mit den süddeutschen Staaten, die Depeschen über diese
Bündnisse sowie über die Salzburger Kaiserzusammenkunft und die Tauffkirchensche
Mission, endlich die Verhandlungen über Nordschleswig und Luxemburg. Ein aus¬
führliches Wort- und Sachregister, das nicht weniger als vierzig Seiten umfaßt,
trägt wesentlich dazu bei, den praktischen Werth und die Handlichkeit dieser reich¬
haltigen Sammlung zu erhöhen, die ihre beste Empfehlung in sich selbst trägt. Wie
wir einer angehängten Buchhändlernotiz entnehmen, ist der zweite auf das I. 1868
bezügliche Band bereits in Angriff genommen und somit eine Fortführung dieses
Unternehmens gesichert.
Dieses zunächst zum Rechenschaftsbericht für die Wähler des Herrn Verf. be¬
stimmte Büchlein enthält eine so klare und systematisch gearbeitete Darstellung der
Arbeiten unserer norddeutschen Reichsvertretung und des Zollvereins vom consti»
tuirenden Reichstage bis auf die gegenwärtig tagende Session, daß es auch weite¬
ren Kreisen als geeignetes Mittel zur Orientirung über die legislative und po¬
litische Arbeit der letzten Jahre empfohlen werden kann. Die einzelnen Materien
sind nach allen ihren Hauptmomenten beleuchtet und so glücklich gruppirt, daß sie
sich zu einem ansprechenden Bilde der bisherigen Errungenschaften des neuen Bun¬
des zusammenschließen. Der Standpunkt des Herrn Verf., der bekanntlich den Frei-
conservativen angehört, tritt natürlich überall deutlich hervor und namentlich in den
Fragen, in denen diese rechte Seite der großen Mittelpartei andere Wege ging, als
die nationalliberale Fraction. Die Darstellung ist indessen so maßvoll und ver¬
söhnlich gehalten, daß das Ganze durchaus nicht den Charakter einer einseitigen
Parteischrift macht. Im Gegentheil tritt allenthalben das Bestreben hervor, dem
großen nationalen Gedanken gerecht zu werden, der in den Mitielparteien seine ent¬
schiedensten Vertreter hat. Bei der Raschheit, mit der das neue Parlament bis
jetzt gearbeitet und seine Thätigkeit über die verschiedensten Interessengebiete ver¬
breitet hat, erscheint eine solche für die Ansprüche weiterer Kreise berechnete Recapitu-
lation der bisher gewonnenen Resultate besonders dankenswerth.
Der verewigte Präsident Dr. Lette hat den unterzeichneten drei Vereinen
von ihrer Gründung an in unermüdlicher Thatkraft und treuer Fürsorge als
Leiter und Förderer angehört.
Sein Andenken zu ehren und späteren Geschlechtern als leuchtendes Vor¬
bild der rastlosen Arbeit in Linderung menschlicher Noth, in Förderung des
geistigen, sittlichen, körperlichen Wohls der arbeitenden und nothleidenden
Classen lebendig zu erhalten, sind wir in dem Mittelpunkt seiner langjäh¬
rigen Thätigkeit dringend aufgefordert.
In seinem eigenen Sinne fordern wir nicht zu einem Denkmal von
Stein, sondern zu einem Denkmal werkthätiger Liebe auf, — zu einem
„Lette-Stipendium" für die Zwecke der unterzeichneten Vereine und der
deutschen Pestalozzi-Stiftung. Wir bitten dafür um recht zahlreiche Bei¬
träge, die kleinsten nicht ausgeschlossen, zu deren Annahme
Hierselbst bereit sind. Ueber Eingang und Verwendung der Beiträge werden
wir seiner Zeit Rechenschaft geben.
Heft 14. S. 39 Z. 2 v. u. muß es heißen „extreme Partei" statt ..Pöbelpartei".
Heft 15. S. SS Z, 8 v. o. muß es heißen „Barral" statt „Blujatz" und „Faible's" statt
„Faltet's".
S. 78 Z. 11 v. o, muß es heißen „Herzog Ferdinand v. Köthen" statt „Herzog v. Dessau".
In einer Abhandlung, die mir kürzlich zu Gesicht kam. und welche den
Titel führt: „Die Herrschaft des Menschen über den Tod", hat der Verfasser*)
an der Hand der Statistik den Beweis zu erbringen gesucht, wie bis zu
einem gewissen Grade die dem menschlichen Leben feindlichen natürlichen
und gesellschaftlichen Mächte zu Gunsten einer längeren Lebensdauer über«
wunden werden können, und wie der Fortschritt der menschlichen Ge¬
sittung unmittelbar zurückwirkt auf die Verlängerung der durchschnittlichen
Lebensdauer.
Gewiß, die Gewalt der fortgeschrittenen Cultur wirkt bald prophylak¬
tisch, bald beseitigt sie schon ausgebrochene Uebel sicherer, sie hat eine Ver¬
längerung der durchschnittlichen Lebensdauer der Menschen überhaupt zur
Folge, und kann auch das Verhältniß zwischen der Sterblichkeit und der
Lebensdauer beider Geschlechter wesentlich, und zwar in der Weise
alteriren. daß der jetzt sich ergebende Unterschied einigermaßen verringert
wird.
Aber ob es jemals dahin kommen wird, daß in allen Culturländern
das Sterblichkeitsverhältniß in den verschiedenen Altersstufen und die Zahl
der gleichzeitig Lebenden im Wesentlichen die nämliche ist im männ¬
lichen wie im weiblichen G.eschlechte?
Bis jetzt ist für alle Culturvölker so gut wie ausnahmslos constatirt
worden: 1) Daß mehr Knaben geboren werden, als Mädchen; 2) daß die
weibliche Bevölkerung trotzdem die zahlreichere, weil die Sterblichkeit, nament¬
lich in den ersten Lebensjahren, bei dem männlichen Geschlecht eine stärkere
ist; 3) daß die weibliche Bevölkerung durchschnittlich eine längere Lebens¬
dauer erreicht, als die männliche.
Die größere Sterblichkeit des männlichen Geschlechtes vertheilt sich auf
zwei Perioden, von denen die eine nur kurz, die andere aber erheblich länger
ist. Zur Erklärung der größeren Sterblichkeit in der ersteren dieser Perioden
— kurz nach der Geburt — fehlt noch der Schlüssel, zur Erklärung der
größeren Sterblichkeit des männlichen Geschlechtes in der zweiten, längeren
Periode verweist man auf die anstrengendere Beschäftigung, auf die öfteren
Excesse in der Lebensweise, auf den Einfluß der Kriege und auf den selbst
im Frieden Menschen verschlingenden Militärdienst. Das sind Einflüsse,
welche die Cultur abschwächen kann. Aber dazu, daß unter den gleichzeitig
Lebenden das weibliche Geschlecht stärker vertreten ist, als das männ¬
liche, wirkt die größere Sterblichkeit beim männlichen Geschlecht in den
ersten Lebensjahren stärker mit. als die in den betreffenden späteren Alters¬
stufen. Und jener stärkere Factor hat mit Culturverhältnisfen nichts zu
schaffen.
Wir dürfen also annehmen, daß der Unterschied in den Zahlen der zu¬
gleich lebenden Personen männlichen und weiblichen Geschlechtes zwar abge¬
schwächt werden kann, aber nie ganz beseitigt werden wird.
Die häufigsten Eheschließungen fallen bei den Frauen in das Lebens¬
alter zwischen 17 und 25 Jahren und bei den Männern in das Lebensalter
zwischen 24 und 32 Jahren.
Fast bei allen Culturvölkern ist nun, wie die Zahl der Personen weib¬
lichen Geschlechtes überhaupt größer ist, als die Zahl der Personen männ¬
lichen Geschlechts, so auch die Zahl der Frauen im Alter von 17 bis
25 Jahren größer, als die Zahl der Männer im Alter von 24 .bis 32
Jahren.
Es zeigt sich also beinahe überall ein beträchtlicher Ueberschuß der hei--
rathssähigen Personen weiblichen Geschlechts über die Zahl der heiratsfähigen
Personen männlichen Geschlechtes.
Natürliche und bis zu einem gewissen Grade unabänderliche Verhältnisse
zwingen daher einen immerhin erheblichen Theil der weiblichen Bevölkerung
zur Ehelosigkeit.
Man hat sich vielfach schon mit dieser Erscheinung begnügt, um die
Unerläßlichkeit der Sorge für die Erweiterung des Gebietes weiblicher Er-
werbsfähigkeit zu begründen. Meines Bedünkens ist diese Begründung nicht
genügend. Denn keineswegs immer ist für die Frau die Ehe zugleich eine
Versorgung, noch ist der ehelose Zustand an sich ein Zustand der Hülfslosig-
keit, oder gar des Elendes.
Das aber ist freilich nicht in Abrede zu stellen, daß, wenn es sich um
Maßregeln zur Beseitigung wirthschaftlicher und gesellschaftlicher Uebelstände
handelt, unter denen ein Theil der weiblichen Bevölkerung leidet, auf jenen
— man kann wohl sagen naturgesetzmäßigen — Ueberschuß der weiblichen
über die männliche Bevölkerung Rücksicht genommen werden muß.
Denn übelsituirte verheirathete Frauen bedürfen einer anderen Art von
Hülfe, als übelsituirte unverheirathete.
Nichts — kann man sagen — ist charakteristischer für die Culturstufe,
auf welcher sich ein Volk in vergangenen Zeiten befunden hat, als das Ge¬
präge seiner Ideale. Die wirklichen wirthschaftlichen, gesellschaftlichen und
Bildungszustände selbst der gebildetsten Classe eines gegebenen Volkes sind
ungemein mannichfaltig und wandelbar. Weitaus faßbarer, weil weitaus
stabiler, sind die Anschauungen der Gebildetsten über diejenigen Zustände,
welche ihnen am meisten wünschenswerth dünken.
Die Nachkommen unserer Nachkommen werden über die wirklichen Cul¬
turzustände ihrer Vorfahren sich unterrichten können, indem sie aus der
Quelle der Statistik, die erst in unseren Tagen reichlich zu fließen beginnt,
unmittelbar schöpfen. Wir haben es weit schwerer, uns über den Cultur¬
stand unserer Vorfahren zu unterrichten. Und das zuverlässigste Bild ge¬
währt uns immer noch, was an Denkmalen der Kunst auf uns gekommen.
Die culturgeschichtlich werthvollsten unter diesen Denkmalen sind jene, aus
denen wir die Idealvorstellungen der Vorzeit zu lesen vermögen. Aus einer
Combination solcher Ueberlieferungen ergänzen wir uns das Bild der ver¬
gangenen Wirklichkeit.
Welche Vorstellungen werden sich unsere Nachkommen machen von unseren
Anschauungen über die wünschenswerthe Stellung des Weibes? Wenn sie
die auf sie kommenden Ueberlieferungen richtig zu deuten verstehen, werden
sie sagen. wir seien zwar auch in diesem Punkte ein nüchternes Geschlecht ge¬
wesen, aus einer Periode der Unnatur und des überschwänglichen Idealismus
zurückgeleitet zu der Befähigung, die Dinge zu nehmen wie sie sink; aber
wir hätten doch eine hohe und geläuterte Vorstellung von den Aufgaben des
Weibes gehabt, und unsere Anforderungen an die ihm gebührende Stellung
seien viel weiter gegangen, als in allen früheren Jahrhunderten. Wir hätten
uns veschieden. daß nicht alle heirathsfähigen Frauen verheirathet sein können;
aber wir hätten die Beseitigung aller uns überkommenen künstlichen Ehehinder¬
nisse eifrig angestrebt, wie überhaupt unsere Zeit sich auszeichne durch ein
ernstes Streben danach, dem Menschen die freie Entscheidung in höchstper¬
sönlichen Angelegenheiten thunlichst zu überlassen.
Die Ehe habe unsere Zeit vorgestellt als eine innige Lebensgemeinschaft,
bestimmt, außer zur Erfüllung natürlicher Funktionen, zur sittlichen Läute¬
rung und Kräftigung beider Theile, zur Sänftigung des rauheren Mannes
und zur Stütze des schwächeren Weibes; in dieser Ehe haben wir jedem
Theile gleiche Rechte und jedem gleiche Pflichten dem anderen gegenüber zu-
gewiesen; unser Ideal der Frau habe sich gleich fern gehalten von dem Bilde
der Herrin wie von dem der Dienerin; insoweit haben wir uns die Ehe
als eine Lebensgemeinschaft vorgestellt, daß wir für diese auch wirthschafclich
hoch bedeutsame Vereinigung den Grundsatz der Covperation festgestellt, aber
es für das Erstrebenswerthe gehalten hätten, daß der Mann vorzugsweise
dem Erwerb, die Frau der Erhaltung des Erworbenen und der Verwerthung
desselben in der Hauswirthschaft ihre Kräfte widme. Aber wir seien fern
gewesen von dem Wahne, daß die hausw irthschaftlichen die wichtigsten oder auch
nur die vornehmsten Lebensfunctionen der Frau sein müßten. Und anderer¬
seits sei es uns auch nicht als ein besonderes Unglück erschienen, wenn die
Frau, insoweit es ihre Natur und ihre specifischen Aufgaben gestattet, sich an
der Erwerbsarbeit des Mannes betheiligt habe.
Jene innige Lebensgemeinschaft, als welche wir uns die Ehe vorgestellt,
sei uns allerdings in so schönem Lichte erschienen, daß wir in dem Wunsche,
„es möge ihr eine glückliche Ehe beschieden sein", alle unsere Wünsche für eine
von uns geachtete Frau zusammengefaßt hätten, aber wir seien nicht be¬
fangen gewesen in dem Vorurtheile, daß es für die Frau außer der Ehe kein
Lebensglück und keine Lebensaufgabe gebe. Im Gegentheil hätten wir uns
nicht nur mit dem oben erläuterten Naturgesetz, sondern auch mit der That¬
sache abzufinden gewußt, daß äußere, zufällige Umstände, oft bisweilen auch
sittliche Entschließungen, welche von bewundernswerther Entsagung Zeugniß
geben, für die Ehelosigkeit entscheiden.
Es sei unserer Zeit zum Bewußtsein gekommen, daß, wie die verhei-
rathete Frau dem Schutze des Mannes anvertraut, so es die Pflicht der bür¬
gerlichen Gesellschaft sei, der unverheiratheten Frau die Wege zu einer sorgen¬
freien und ehrenhaften Existenz zu ebnen; es habe uns das Bewußtsein der
Pflicht'erfüllt, nicht nur alle künstlichen, insbesondere gesetzlichen oder in der
Gewohnheit und dem Vorurtheile wurzelnden Schranken, welche dem Weibe
auf solchem Wege begegnen, hinwegzuräumen, sondern auch durch die Reform
der weiblichen Erziehung die Betretung des geebneten Weges ersprießlich zu
machen. Wie uns der Mann, der nicht arbeite, als verächtlich erschienen sei.
— denn unser Zeitalter habe in der Arbeit eine sittigende Macht erkannt —
so habe uns auch die Erziehung der Frau zur Arbeit für eine wichtige Zeit-
avfgabe gegolten, und minder scrupulös, als frühere Geschlechter, seien wir
gewesen in der Abgrenzung des weiblichen Arbeitsgebiets; keine ehrliche Ar¬
beit Schande das Weib, und jede, deren es fähig sei, zieme ihm — so sei un¬
sere Meinung gewesen.
Großherzige und geistvolle Männer unseres Zeitalters seien so weit ge¬
gangen, für unsere Frauen das Recht der unmittelbaren Theilnahme an der
Gesetzgebung und Verwaltung in unseren politischen Gemeinwesen zu vindi-
ciren. Aber diese Forderung habe in unserer Zeit noch nicht einmal Aus¬
sicht gehabt, auch nur von den Gebildetsten gewürdigt zu werden; nicht jedoch
Geringschätzung der weiblichen Fähigkeiten, nicht die Eifersucht der bsati
possiäootös — der politisch allein vollberechtigter Männer —, sondern ge¬
rechte Würdigung der specifischen weiblichen Fähigkeiten und der weiblichen
Neigungen sei der allgemeinen Billigung jenes Vindicationsversuches hinder¬
lich gewesen.
Ein solches Bild — denke ich — werden unsere Nachkommen, wenn sie
aus den ihnen zukommenden Ueberlieferungen zu lesen verstehen, von unseren
Anschauungen über die Aufgabe und Stellung des Weibes sich entwerfen.
Und. falls ihnen nicht treue Schilderungen unserer Wirklichkeit zur Seite
stehen, werden sie von unseren Idealen auf jene Wirklichkeit zurückschliehen.
Ob das so entstehende Bild gleich wahrheitsgetreu ausfallen wird, wie
das erste?
Man gestatte mir, einige flüchtige Blicke auf die Wirklichkeit zu
werfen, die uns ja Allen vor Augen steht!
In Wirklichkeit wird bei uns noch gar zu häufig und in allen Ständen
nicht nur jenes vorhin erörterte Naturgesetz ignorirt, demzufolge ein erheb¬
licher Theil der weiblichen Bevölkerung auf Eheschließung verzichten muß,
sondern auch die große Mehrzahl der Töchter so erzogen, als wenn der
Frauenberuf nur in der Stellung der Ehefrau erfüllt werden könne. Und
doch wird es mit dieser Erziehung in der Mehrzahl der Fälle so wenig genau
genommen, daß solcher Mangel häufig Ehen überhaupt, häufiger noch glück¬
liche Ehen unmöglich macht. Eine harmonische und gründliche Erziehung für
den Hausfrauenberuf würde ja auch dann vom größten Segen sein, wenn die
Wahl dieses Berufes schließlich außer Betracht bleiben muß. Denn unsere
Anforderungen an die Bildung einer deutschen Hausfrau sind groß und um¬
fassend. Aber nicht für den Beruf der Hausfrau, sondern auf den
Zufall hin. daß sie sich v er ehelichen werden, pflegt man die Töchter
zu erziehen. Treffe der gehoffte Zufall ein, dann — so meint man — werde
die Noth des Lebens, in welcher Form sie auch auftreten möge, das in der
Vorbereitung Versäumte rasch nachholen helfen. Und, wenn das Loos anders
fällt, als man hoffte, so hat man nichts zur Verfügung, als wohlfeiles Be¬
dauern über Verfehlen des Lebenszweckes. Gerechtfertigt ist das Mitleid
mit Frauen, welche nothdürftig darauf hin erzogen sind, daß sie sich ver-
heirathen werden, wenn diese Hoffnung fehlschlägt, stets und unter allen Um¬
ständen. Solche Frauen, wenn sie den ärmeren Classen der Bevölkerung an¬
gehören, fallen nur zu leicht noch größerem Elend, wenn den wohlhabenderen
Classen angehörig, mindestens dem Mißmuth und dem Lebensüberdruß oder
einer völlig verkehrten Lebensanschauung anheim.
In Wirklichkeit sind wir auch noch keineswegs so weit, daß wir alle
künstlichen Hindernisse der Eheschließung überwunden hätten. Carl Braun's
Schrift 'über „das Zrvangscölibat für Mittellose in Deutschland" belehrt uns
an der Hand der einschlagenden deutschen Landesgesetze, daß in den meisten
Theilen unseres Vaterlandes, namentlich aber im Süden und Südwesten,
zur Zeit der Entschluß der Betheiligten noch einen weitläufigen und bedenk-
Jnstanzenzug zu Passiren hat. und daß diese künstlichen Erschwerungen un¬
sägliches sittliches Unheil anrichten.
Das Leben in der Ehe aber gewährt noch keineswegs überall unseren
Frauen die unserem Ideal entsprechende Stellung. In den wohlhabenderen
Kreisen der Bevölkerung ist die Ehefrau oft nur allzuwenig gebildete Haus¬
frau und Mutter, ohne daß die Zeit, welche der Erfüllung dieser heiligen
Pflichten zu widmen wäre, etwa anderen ernsten und wichtigen Zwecken zu¬
gewendet würde. In den ärmeren Classen der Bevölkerung sehen wir nur
allzuhäufig, daß bittere Noth die Frau ihrem eigentlichen Beruf entfremdet;
da muß die Sorge für die Hauswirthschaft und die Kinderpflege zurückweichen
vor der die Kräfte gänzlich absorbirenden Erwerbsarbeit.
Modelle für die Schilderungen aus -dem Leben einer Fabrikarbeiterin,
wie sie uns Jules Simon in ergreifender Weise vorführt, finden wir auch in
unseren Fabrikvistricten noch massenhaft. Er schildert vergleichsweise noch
glückliche Situationen, Verhältnisse, in denen dem Loose der verheiratheten
Fabrikarbeiterinnen schon einige Sorgfalt zugewendet wurde. Und doch grei¬
sen- uns seine Worte ans Herz. „Was fehlt denn dieser Frau, dieser Mutter
noch, um glücklich zu sein?" — fragt er. — „Es fehlt ihr die Gegenwart
ihres Kindes! Wenn in der Welt Alles damit abgemacht wäre, daß man
ein Dach für sein Haupt, Kleider und Nahrung hat, so könnte man gegen
diese Lebensweise nichts sagen. Denn das Brod ist reichlich, die Nahrung
gesund, der Körper wohl. Aber die Seele leidet: denn die Frau wird jeden
Augenblick in ihrer Sittsamkeit verwundet; sie lebt fern von ihrem Ehemanne,
indem sie nicht das Mittagsmahl mit ihm einnimmt und ihn erst Abends
wiederfindet, wenn Beide abgejagt und erschöpft aus ihren Werkstätten kom¬
men. Die Mutter umarmt nicht ihr Kind am hellen Tage, sie verschlingt
es nicht mit ihren sehnsüchtigen Augen; sie ist nicht bei seinem ersten Stam¬
meln zugegen; sie erfreut sich nicht an seinem ersten Lächeln . . . Wenn die
Sittlichkeit ihre Reinheit und Kraft bewahren oder wiederfinden soll, so ist
die erste von allen Bedingungen, daß die Frau zum Herde, die Mutter zur
Wiege zurückkehre. Und selbst dann — welches Loos, blüht der Arbeiter¬
frau? Die Glücklichen der Welt, welche sich begnügen, die Armen aus der
Entfernung zu unterstützen, haben gar keinen Begriff von der Thätigkeit,
welche eine Familienmutter in ihrer niederen Wirthschaft entfaltet, damit der
Mann, wenn er von der Arbeit zurückkommt, seine Entblößung nicht zu sehr
fühle, damit die Kinder reinlich gehalten werden und weder Frost noch
Hunger leiden. Oft ist in einem Winkel der Dachstube neben der Wiege des
Neugeborenen die Lagerstätte des Großvaters, welcher nach einem harten
Arbeitsleben der Sorge der Seinigen anheimgefallen ist. Die arme Frau,
sie muß für Alles sorgen. Sie ist am Morgen die erste auf, die letzte in der
Nacht zu Bett. Wenn ihr ein Augenblick übrig bleibt, wenn ihre alliäg-
liche Arbeit zu Ende ist, waffnet sie sich mit ihrer Nadel und vervollständigt
und bessert die Kleider der ganzen Familie aus. Sie ist die Vorsehung der
Familie; sie sorgt für die kranken Mitglieder derselben, bittet die Arbeitgeber,
beschwichtigt die Gläubiger, bemüht sich, das Uebermaß der gemeinsamen
Noth zu decken und findet endlich mitten unter diesen Sorgen noch eine Lieb¬
kosung, noch ein Herzenswort, um ihren Mann zu ermuthigen und ihre Kin¬
der zu trösten."
So Jules Simon in seinem bekannten Buche „I,g, ksminiz ouvriers".
Für diese Schilderung ist der Pinsel noch längst nicht in die schwärzeste
Tinte getaucht. Das Bild hat noch seine lichten Seiten. Die Regel ist
viel düsterer. Ich brauchte in dem Buche meiner eigenen Erinnerungen und
Beobachtungen nicht lange zu suchen, um die Motive zu weit traurigeren
Bildern zu finden. Die fabrikative Großindustrie bietet zu solchen Schilderungen
keineswegs den dunkelsten Hintergrund. Die manufacturmäßige Hausindustrie
verdient nur ausnahmsweise, daß man das Schicksal, welches sieden Arbeite¬
rinnen bietet, über die Leiden der Fabrikindustrie stellt. Es würde mich zu
weit führen, wollte ich, damit ich den Beweis dieser Behauptung erbringen
kann, beispielsweise meine Leser bitten, mich in die Hütte einer erzgebirgischen
Spitzenklöpplerin zu geleiten.
Ungemein verschiedenartig ist auch bei uns in Deutschland, trotz im Gan¬
zen doch ziemlich gleichartiger Culturverhältnisse, das Maß der Anforderungen,
welche die Noth oder die Sitte an die Kraft der neben dem Manne im Ge¬
schäftsbetriebe thätigen Ehefrau stellt. Zwar nur ganz ausnahmsweise finden
wir bei uns Zustände, wo die Rollen zwischen Mann und Frau vollständig
vertauscht sind, und der letzteren die schwierigeren und wichtigeren Erwerbs-
functionen obliegen. Im Uebrigen aber sind auch bei uns alle Stufen von
der völlig gleichen Theilung der Erwerbsaufgaben zwischen Mann und Frau
bis zu der nur gelegentlichen und kaum sichtbaren Theilnahme der Frau an
der Erwerbsarbeit vertreten. Im Ganzen finden wir, daß im Norden die
Kräfte der verheiratheten Frauen mehr geschont werden, als in Mittel- und
Süddeutschland. In Sachsen, Thüringen, Schwaben, Bayern, der Pfalz, kann
man wohl auch der mittleren Bäuerin einmal am Pfluge begegnen; in Han¬
nover, Braunschweig, Mecklenburg, Pommern trifft man auch die Klein-
bäuerin wohl bei der Ernte-, nie aber bei der schwierigen Bestellarbeit.
In der industriellen und Handelswelt sind jene localen Verschiedenheiten
schon weit mehr ausgeglichen. Im Norden wie im Süden kann man in der
Cigarrenfabrik am gleichen Tische Mann und Frau, in der Weberei, wo diese
noch manufacturmäßig betrieben wird, den Weber und die Weberin je an
einem besonderen Webstuhle, in der Schuhmacherei die Meisterin neben dem
unterm Knieriemen arbeitenden Meister mit Einfaßarbeit, oder an der Näh¬
maschine beschäftigt finden, und hier wie dort sehen wir den Krämer sein
Geschäft unter regelmäßiger Assistenz seiner Frau betreiben.
Hier wie dort beobachten wir bald maßlose Ueberbürdung, bald den
Kräften völlig entsprechende maßvolle Beschäftigung der Frau mit den Er¬
werbsarbeiten, von denen wir annehmen, daß sie eigentlich der Mann sich
allein vorbehalten sollte.
Die Betheiligung der Ehefrau an dem Geschäft ihres Mannes, oder an
der Erwerbsarbeit überhaupt hat bei uns kaum mit irgend welchen Vor¬
urtheilen zu kämpfen.
Die nämlichen Arbeiten aber, welche die Sitte der Frau, als der Ge¬
hülfin ihres Mannes ganz unbedenklich gestattet, versagt ein barbarisches
Vorurtheil noch vielfach der unverheiratheten Frau als selbständiger Unter¬
nehmerin. Und nicht nur ein grausames Vorurtheil, sondern da, wo es dem
Geist unserer Zeit noch nicht gelungen ist, das altfränkische Bollwerk des
Zunftwesens völlig zu brechen, oft auch ein grausames Gesetz.
Bald die Gesetzgebung, .bald thörichte Vorurtheile schränken das Gebiet
für die Bethätigung der weiblichen Arbeitskraft bei uns noch ganz er¬
heblich ein.
Tausende von deutschen Arbeiterinnen verwerthen in Paris ihre Arbeits¬
kraft in von Frauen begründeten und geleiteten gewerblichen Unternehmungen,
welche hier zu Lande als die ausschließlichen Domainen männlicher UnternehMer-
und Gehülfen-Arbeit betrachtet werden. Oder was würde man dazu sagen,
wenn hier eine Frau eine Schneider- oder Schuhmacher-Werkstatt für Männer¬
kleider und Schuhe errichten und im Wesentlichen mit weiblichen Gehülfen
besetzen wollte? In Paris sind 12.000 Frauen in der Schuhmacherei, 16,000
in der Weißzeugnäherei. Tausende bei der Fertigung von Männerkleidern,
beim Poliren und Lackiren von Holzmeubels, in der Marmorschleiferei, in der
Shawlweberei u. f. w. beschäftigt. Unendlich mannichfaltig sind dort schon
jetzt die Gebiete, auf denen die Verwendung der Frauenarbeit durchaus nichts
Anstößiges hat, und namentlich der Frauenarbeit nicht das Hinderniß klein¬
lichen Coneurrenzneides entgegentritt. Die Zahl dieser Gehecke vermehrt sich
von Tag zu Tage.
Wie eng begrenzt ist dagegen das Erwerbsgebiet, auf welchem sich bei
uns unverheiratete Frauen bewegen können!
Im Fache der persönlichen Dienstleistungen haben sie nur Zu¬
tritt zum Dienstbotengewerbe, zur Krankenpflege, zum Lehr - und Erziehungs¬
beruf, zu gewissen künstlerischen Dienstleistungen. Verschlossen ist ihnen der
ärztliche Beruf; nur ganz ausnahmsweise, wie wir später sehen werden, ver¬
wendet man Frauenkräfte in den verschiedenen Verkehrsgewerben, in Biblio¬
theken und Schreiberstuben.
Auf dem Gebiete der G ü t er erz e u g un g s g e w erde ist es einmal die
Landwirthschaft. welche regelmäßig weibliche Hülfskräfte beansprucht; dann
find co einige — jedoch sehr wenige — Gruppen von Gewerben, die manu-
factur- oder handwerksmäßig betrieben zu werden pflegen, in denen die Ar¬
beitskraft unverheiratheter Frauen Verwendung findet, und endlich sämmt¬
liche Zweige der Fabrikindustrie, in denen Frauenkräfte entweder ausschlie߬
lich, oder doch neben den Kräften der Männer verwerthet werden können.
In den Handelsgewerben sehen wir unverheirathete Frauen fast nur
als Verkäuferinnen in Detailgeschäften, höchst selten am Comtoir oder an der
Casse verwenden.
Drei Gruppen sind es vornehmlich, in welche sich bei uns das Gros der
unverheiratheten Arbeiterinnen theilt. Wir finden sie vornehmlich als Dienst¬
boten, als Lehrerinnen und Erzieherinnen, als Fabrikarbeite¬
rinnen.
In diesen drei Berufszweigen ist, sehr zu Ungunsten der Betheiligten,
das Angebot meist erheblich größer, als die Nachfrage; in keiner dieser
Branchen die Situation der Betheiligten besser, als höchstens mittelmäßig.
Ich will es nicht unternehmen, bis ins Einzelne jene düsteren und trau¬
rigen Verhältnisse zu schildern, unter welchen das Gros'unserer Arbeiterinnen
sein kümmerliches Dasein dahinbringt. Ich will es nicht versuchen, die Schä¬
den aufzudecken, unter denen viele Tausende und aber Tausende unserer un¬
verheiratheten Frauen verkümmern, weil sie sich einem jener Berufszweige
zugewendet haben, in denen die Concurrenz so ungünstig ist, oder weil sie
sich, Dank der Tyrannei des Vorurtheils, überhaupt keinem bestimmten regel¬
mäßigen Berufe, der ihren Neigungen und Kräften entsprochen haben würde,
zuwenden konnten. Das Alles sind ja bekannte Dinge.
Es galt nur, dem Ideale die Wirklichkeit entgegenzuhalten. Und daß
die letztere dem ersteren so wenig entspricht, — das ist's eben, was den In¬
halt der in unseren Tagen so viel erörterten Frauenfrage ausmacht.
Weiter aber klar erkennen müssen wir die Ursachen des großen Ab-
standes zwischen Ideal und Wirklichkeit.
Warum — so müssen wir fragen — warum ist es Regel, die Töchter
nur auf die Chance der Eheschließung hin und doch auch für die der Ehefrau
wartenden Aufgaben mangelhaft zu erziehen?
Warum ist bei uns die erfolgreiche Theilnahme der Ehefrau an der
Erwerbsarbeit des Mannes, selbst wenn diese Theilnahme durch die Umstände
geboten erscheint, vergleichsweise selten?
Warum ist die Zahl der Berufsarten, denen sich bet uns alleinstehende
Frauen zuwenden können, so außerordentlich beschränkt?
Warum ist das Loos der Frauen, welche sich den Frauenhänden aus¬
schließlich, oder in Concurrenz mit Männerarbeit, ganz regelmäßig überlasse¬
nen Berufszweigen zuwenden, bei uns vergleichsweise so überaus be-
klagenswerth?
Es läßt sich nicht verkennen, daß diese Erscheinungen untereinander in
einem gewissen ursächlichen Zusammenhange stehen. Sie wurzeln allesammt
in gemeinschaftlichen Grundursachen.
Als solche möchte ich bezeichnen: gewisse Mängel in der Methode
der öffentlichen weiblichen Erziehung; tief eingewurzelte, weitver¬
breitete, nur historisch zu begründende Vorurtheile über die Lebens¬
stellung der Frau; diesen Vorurtheilen entsprungene, die wirthschaft¬
liche Freiheit der Frau zu Gunsten des Mannes beschränkende
Gesetze, und wo diese auch längst beseitigt sind, ihre Nachwirkungen;
endlich Mangel an Verstand.riß der wirthschaftlichen Natur¬
gesetze.
Es ist nicht zu verwundern, daß die Methode der öffentlichen
weiblichen Erziehung viel zu wünschen läßt. Ist es doch kaum hundert
Jahre her, daß man es überhaupt für der Mühe werth hält, nach Grund¬
sätzen sür die Erziehung des heranwachsenden Geschlechtes zu suchen! Ist es
doch z. B. eine völlig moderne und eben deshalb noch keineswegs in
Fleisch und Blut übergegangene, noch weniger aber consequent erfüllte
Forderung, daß die Volksschule nicht eine einseitige Verstandesabrichtungs-,
sondern eine harmonische Bildungsanstalt sür alle Kräfte des Menschen sein
müsse! Schwanken doch die Meinungen der Berufenen über die Realisirung
dieser Forderung auch in der Pädagogik des männlichen Geschlechts! Oder
wüßten wir etwa nicht, daß z. B. die Vorkämpfer frühzeitig beginnender Be¬
rufsbildung den Vertretern der die zufällige spätere Berufswahl außer Acht
lassenden allgemein menschlichen Erziehung schroff und unversöhnt gegen¬
überstehen?
Ich neige mich zu der Annahme, daß in der Methode der weiblichen
Volkserziehung eher zu viel, als zu wenig, eher zu früh, als zu spät, an den
künftigen Beruf gedacht, und daß dieser künftige Beruf nur zu häusig ledig¬
lich im Ehestandsberufe gesucht wird. Täusche ich mich nicht, so ist die Ele-
mentarschule für daS weibliche Geschlecht zu wenig auf die harmonische und
gründliche Entwickelung aller Kräfte der Zöglinge bedacht, und fehlt es in
den höheren weiblichen Bildungsanstalten überhaupt häufig nur zu sehr an.
der Beobachtung des menschlichen Geisteslebens abgelauschten Erziehungs-
Maximen. Es will mich bedünken, als werden in der Leitung unserer ele¬
mentaren Töchterschulen dem weiblichen Gemüthe vielfach zu große, dem
Willen aber und dem Verstände zu geringe Zumuthungen gestellt, um als
dominire in den höheren Töchteranstalten statt eines wohlüberlegten, rücksichts¬
los consequenten Erziehungssystems viel zu sehr das mit der Mode wechselnde
Maß von Anforderungen, welche die Eltern an die Bildung ihrer Töch¬
ter stellen.
Weit entfernt bin ich, dem Vorwurfe, daß die weibliche Erziehung zu
wenig praktisch sei, so wie er gemeint ist, ohne Weiteres zuzustimmen.
In die Elementarschule und in die höhere Töchterschule, soweit sie nicht Be-
russschule ist. Bildungsstoffe und Uebungen einzuführen, die nicht auf den
ganzen Menschen, sondern auf einzelne specielle, möglicherweise später zu ver¬
werthende Fähigkeiten berechnet sind — das pflegt man „praktisch" zu
nennen. Aber man vergißt, daß es sehr fraglich ist, ob die Zukunft der
Schülerin wirklich verstattet, die angelernte specielle Fertigkeit zu verwerthen.
Die Elementar-, ebenso wie die höhere Töchterschule sollte von jedem
etwaigen künftigen Beruf abstrahiren und ihr Augenmerk darauf richten, die
Schülerinnen durch harmonische Entwickelung aller Kräfte für jeden Beruf
geschickt zu machen.
Wie für das männliche, so mögen dann auch für das weibliche Geschlecht
besondere sachliche Bildungsanstalten auf der gewonnenen allgemei¬
nen Bildungsgrundlage in den der Verschiedenartigkeit des Bedürfnisses ent¬
sprechenden Formen weiterbauen. Für diejenigen Schülerinnen, welche früh¬
zeitig sich der Erwerbsthätigkeit zuwenden müssen, bedarf es der Fachschulen
mit stark beschränktem Pensum, ähnlich den an vielen Orten bereits be¬
stehenden Lehrlings-Sonntags- und Industrie-Schulen; für solche, denen die
äußeren Verhältnisse noch längere Muße verstatten, sind Bildungsanstalten
nach Art unserer technischen Hochschulen und Universitäten unerläßlich. Leicht
möglich, daß eine glückliche Combination zwischen Polytechnicum und Uni¬
versität für die weibliche Berufsbildung uns Männern den Weg zeigt, wie
auch wir die bestehende widernatürliche Kluft zwischen jenen beiden Bildungs¬
anstalten auszufüllen vermögen.
Wäre die weibliche Erziehung, von der ein Mann wie Sir Robert Kane
nicht mit Unrecht erklärt, sie bunte ihm fast noch wichtiger als die männ¬
liche, erst einmal nach diesen, freilich nur flüchtig hingeworfenen Grund,
zügelt geregelt und in die eben angedeuteten Formen gebracht, so würde der
glücklichen Lösung der wichtigen Zeirfrage schon sehr wirksam vorgearbei¬
tet sein.
Hand in Hand mit solchen Reformen aber muß der eifrige Kampf
gehen gegen das tiefeingewurzelte Vorurtheil, daß die Betheili¬
gung der Frau an der Erwerbsarbeit des Menschengeschlechtes überall auf
die engen Grenzen beschränkt bleiben müsse, auf die wir sie zur Zeit sast überall
beschränkt sehen. Es gibt gewichtige, ja meiner Ueberzeugung nach unüber¬
windliche Gründe gegen die Gestattung der weiblichen Concurrenz im poli¬
tischen Leben*), und gewisse Gebiete der wissenschaftlichen Forschung, selbst
des künstlerischen Schaffens werden den Frauen aus natürlichen Gründen
immer verschlossen bleiben, oder der Betheiligung von Frauenkräften nie er¬
hebliche Fortschritte zu danken haben.
Nichts aber befugt uns. anzunehmen, daß im Interesse unseres Cultur¬
fortschrittes auch da, wo die Frau offenbar fähig ist. die Concurrenz mit
dem Manne zu bestehen, oder da gar, wo ihre Arbeit offenbar der des
Mannes überlegen ist. die selbständige Bethätigung der Frauenkraft ein¬
geschränkt werden müsse.
Ein grausames Vorurtheil ist es, daß die Frau nur dem häuslichen
Berufe gehöre, der doch einer großen Anzahl von Frauen aus natürlichen
Gründen verschlossen ist; oder daß ihr nur zu einer gewissen Zahl von wissen¬
schaftlichen, künstlerischen und gewerblichen Leistungen Zutritt zu gestatten
sei, während man doch steht, daß innerhalb dieses so eng begrenzten Leistungs¬
gebietes ein übermäßiges Angebot den Erwerb fort und fort schmälert; oder
daß. wenn die weibliche Arbeitskraft weitere Erwerbsgebiete aufsuche, sie sich
anständiger Weise unter männliche Procura begeben müsse, während sie sich
doch zur selbständigen Unternehmerleistung ebenso befähigt erweist wie zur
Gehülfenleistung.
Es ziemt unserer Zeit nicht, Spinde Vorurtheile zu pflegen. Lossagen
müssen wir uns davon so bald und so gründlich als möglich. Frei bekennen
und Zeugniß ablegen dafür müssen wir, daß es unsere Ueberzeugung ist.
berechtigt sei die Frau zu jeder Arbeit, deren sie fähig ist.
Und dieses Bekenntniß, wenn es das Vorurtheil gebrochen, wird auch
die künstlichen Hindernisse, welche in der Form beschränkender
Gesetze der freien Bethätigung der Frauenkraft noch im Wege stehen, über
den Haufen werfen, oder die Gewohnheiten, welche früher solche Gesetze her¬
vorgerufen, beseitigen. Auch das Letztere thut noth. Denn nicht nur be¬
stehende „Gesetz und Rechte", sondern auch formell beseitigte „erben sich" gar
oft noch „wie eine co'ge Krankheit fort", zumal, wenn die formelle Gesetzes¬
änderung eingerostete Vorurtheile wider sich hat. — Nicht nur mit der Me¬
thode der Frauenerziehung, nicht nur mit thörichten Vorurtheilen, für die man
einen Grund zu suchen gar nicht für nöthig hält, nicht nur mit bestehenden
und mit den Nachwirkungen beseitigter Gesetze haben diejenigen den Kampf
zu bestehen, welche entschlossen sind, der Frauenwelt eine glücklichere Zukunft
bereiten zu helfen.
Auch mit dem Gewicht angeblich .wirthschaftswissenschaft¬
licher Argumente tritt man uns entgegen. Und hinter diese Argumente,
so unhaltbar sie sind, verschanzt sich doch unbesehends ein gar großer Theil
unserer Gegner. „Was Anderes, als die Verdienstverkürzung auf beiden
Seiten kann die Folge von Maßregeln sein, welche Arbeitsgebiete, die bisher
den Männern vorbehalten waren, den Frauen eröffnen?" so ruft man uns
entgegen. „Muß das durch die Frauen verstärkte Arbeitsangebot nicht die
Preise der Erzeugnisse und Leistungen und also den Verdienst der Produ¬
centen drücken?"
Mit welcher Unfehlbarkeit und Siegesgewißheit dieser Einwand auch
erhoben wird — es bedarf nur eines Wortes, um ihn zu Falle zu bringen.
Wenn die Männer die unumschränkten und privilegirten Beherrscher der Er¬
werbsarbeit sind — wer muß denn die Frauen, die nicht erwerben, oder
nur einen geringen Theil ihres Bedarfs durch ihren Verdienst decken, schlie߬
lich ernähren, wenn nicht die Männer? Angenommen, nicht zugegeben, daß
eine vielleicht plötzliche Mitbesiedelung jener Gebiete durch die Frauen
die Löhne schmälerte — könnte sie dieselben um mehr schmälern, als was
bisher die Männer von ihren höheren Löhnen zur Erhaltung der nichtarbei¬
tenden Frauen in der einen oder anderen Form abgeben mußten?
Wird aber die Wirkung der Beseitigung des die Frauenarbeit ein¬
schränkenden Vorurtheiles nicht vielmehr die sein, daß sich die Frauen ganz
neue Arbeitsgebiete schaffen, und unter den alten sich derer bemächtigen, die
für ihre Anlagen und Fähigkeiten vorzüglich geeignet sind? Daß sich die
Männer den vorzugsweise für sie geeigneten Aufgaben mit um so größerer
Widmung und um so besserem Erfolge hingeben können? Und wer hat jemals
beobachtet, daß eine Vervielfältigung der Production an sich die Preise und
also die Löhne drückt? Sind wir irgendwo schon an der äußersten Grenze
der Bedürfnißsteigerung und der Naturausbeutung angelangt? Schmälere
es den Verdienst von tausend Arbeitern, daß tausend weitere Arbeiter in
derselben Branche in Thätigkeit treten, wenn gleichzeitig die Nachfragenach
dem Product so sehr steigt, daß sie statt zwei- dreitausend Arbeitern Be¬
schäftigung geben könnte? Wer hat die Kühnheit, zu behaupten, daß. Frei¬
heit der Arbeit, des Handels und Verkehrs vorausgesetzt, irgendwo die Ver¬
mehrung der thätigen Arbeitskräfte eine Theilung anstatt einer Vermehrung
der Arbeitsaufgaben zur Folge haben müsse? Ist nicht das Vorurtheil. daß
die Einführung von sogenannten arbeitsparenden Maschinen Arbeiter brodlos
mache, sowie das andere, daß die Zunahme der Bevölkerung Verarmung
zur Folge haben müsse, längst überwunden? Und beruhten nicht jene Vor¬
urtheile genau auf denselben fehlerhaften Grundlagen, wie das. mit welchem
man uns jetzt entgegentritt? —
Aber noch in einer anderen Beziehung hemmt die Unkenntniß der Ge¬
setze des Wirthschaftslebens die Beseitigung bestehender Mißstände auf dem
Gebiete der Frauenarbeit. Selbst da. wo das Vorurtheil gegen die Er¬
werbsthätigkeit der Frauen längst geschwunden ist. z. B. in manchen Zweigen
der Fabrik- und der manufacturmäßigen Großindustrie, gewahren wir solche,
und oft zwar himmelschreiende Mißstände und Gebrechen. 12- bis 15-stün-
dige Arbeit, Arbeit bei Tag und Nacht, Arbeit unter männlicher, anstatt
weiblicher Aufsicht, Arbeit im Zeitlohn statt im Stücklohn, äußerste Rück¬
sichtslosigkeit in der Behandlung der Arbeiterinnen, keine Sorgfalt für die
Wohnungs- und Ernährungsweise derselben, keine Fürsorge für angemessenes
Unterkommen und angemessene Unterhaltung in den spärlichen Freistunden!
Und worauf sonst, als auf die entsetzlichste Verblendung der Unternehmer,
welche in dem Wahne leben,, es fromme ihnen, die ihnen günstige Concur-
renz des Arbeitsangebotes maßlos auszubeuten, sind diese Mißstände zurück¬
zuführen? Ist es doch oft, als wenn für das Verständniß der einfachen
Wahrheit, daß — ich will gar nicht sagen dem Lohne, aber der Art, wie
der Unternehmer seine wirthschaftliche Aufgabe seinen GeHülsen gegenüber
auffaßt und erfüllt, die Leistungen der Letzteren in Menge und Güte genau
entsprechen, als wenn — sage ich ^— sür das Verständniß dieser Wahrheit
auch den intelligentesten Unternehmern völlig das Organ fehlte. Denn auch
die augenscheinlichsten, handgreiflichsten Belege machen dafür nur ganz all¬
mählich und in seltenen Fällen wirksame Propaganda. —
Wir haben das Problem, welches unserer Zeit in der sogenannten
Frauenfrage gestellt ist, wir haben den Boden kennen gelernt, welchem jene
Zustände entwachsen sind, die es zu beseitigen gilt. Es bleibt uns die Frage
nach den Mitteln zur Lösung des Problems zu beantworten.
Irrthümer, Unkenntniß, Vorurtheile sind es, die wir zu bekämpfen
haben. Diese Feinde überwindet man nicht im ersten Ursprung. Allmälig
haben sie ihr Terrain besetzt, Allmählich, Schritt für Schritt, muß man sie
daraus verdrängen. Es sind Feinde besonderer Art. Sie gebieten über
Millionen; sie sind groß geworden mit unserer ganzen Culturgeschichte. Sie
sind nicht mit List, nicht mit Gewalt zu überwinden, auch bestechen kann
man sie nicht. Ueberzeugen kann man sie allein in langsamer Gedanken¬
arbeit, überzeugen durch Schrift und Wort und Beispiel. Und hat man sie
überzeugt, dann hat man gewonnen.
Einzelne hervorragende Geister haben es bisweilen vermocht, mit ihrer
göttlichen Einzelkraft culturfeindliche Mächte zu überwinden und dem Fort¬
schritt gebieterisch neue Bahnen zu ebnen. Aber Jahrhunderte erst gebären
bisweilen einen solchen Heroen des Geistes. In einer unthätigen Messias¬
hoffnung die eigene Läuterungsarbeit zu versäumen — das ist nicht die Art
unseres raschlebenden und rührigen Geschlechtes.
Was der einen reichbegabten, mit schöpferischen Genie ausgestatteten
Kraft zuweilen gelingt, sollte das nicht stets einer wohlorganisirten Ver¬
einigung rühriger, gemeinsinniger, klarblickender Geister auch gelingen?
Gewiß — aber auch nur einer solchen. Schulter an Schulter in Reih
und Glied, der gleichen Parole gehorchend — so nur wird es uns möglich
sein, jene feindlichen Mächte zu überwinden.
Genossenschaftliches Zusammenwirken — das ist es auch hier,
was Noth thut. Einzelbestrebungen verrinnen im Sande. Nur
mit vereinten Kräften läßt sich dasgroße Problem erfolgreich
an greifen.
Es ist nicht die Sache der Frauen, um die es sich hier handelt;
es ist die Sache der Cultur. Deshalb mögen sich Frauen und
Männer in solchen Vereinen zusammenfinden, welche sich die Lösung der
Frauenfrage zur Aufgabe machen. ES findet sich Arbeit für die vereinten
Kräfte und specifische Arbeit bald für die Einen, bald für die Anderen.
Die maßgebenden Ideen sind in den Vereinen selbst zur Klar¬
heit zu bringen und von Vereinswegen zu propagiren durch Schrift und
Wort. Je größer die Zahl der Vereine, je mannichfaltiger ihre Gebiete, je
geschlossener ihre Organisation, um so mächtiger und stegreicher wird der Ge¬
danke, der sie alle beseelt.
Sobald, als das Ziel klar vor aller Genossen Augen steht, mag man
nicht säumen, vom Worte überzugehen zur That. Man mag sich
trösten, wenn die zur Zeit möglichen Thaten zu dem Umfange dessen, was
man will, in keinem Verhältnisse stehen. Man mag sich auch wappnen
gegen den Spott, der an solchem Mißverhältniß einen bequemen Anknüpfe-
Punkt findet.
Die erste That mag ein schwacher Nothbehelf sein. Als solcher erscheint
mir stets die Errichtung sogenannter Frauen-Bazars. Wenn der Bazar
wirthschaftlich berechtigt sein soll, muß er Artikel, nach denen bereits Nach¬
frage vorhanden ist, oder geweckt werden kann, und die in der Vereinzelung
schlecht verkäuflich sein würden, in reichem Assortiment zu verständig calculir-
ten Preisen anbieten, muß er entweder ständiger Arbeitgeber, oder der
Verkaufsvermittler einer wohlorgcinisirten Arbeiterinnen-Ge¬
nossenschaft sein. Für den Anfang aber mag er nur zeigen, was Frauen¬
arbeit leisten kann, mag er durch die Vermittelung des Verkaufes von im
Einzelnen schwer verkäuflichen Artikeln die gelegentlichen Abgeberinnen zu
regelmäßigen Lieferantinnen machen; mag er dienen als Mittel zur Kund¬
machung der specifischen Nachfrage und zur Normirung des Angebotes.
Das Arbeits-Nachweisungs-, oder S t ellen vermietet un g s-
bureau — in der Regel auch eine der ersten Unternehmungen solcher Ver¬
eine, wie wir sie hier im Auge haben — kann ja augenscheinlich nicht un¬
mittelbar Arbeitsgelegenheit schaffen. Aber es tritt wenigstens zweckmäßig
an die Stelle gewissensloser Commisfionaire, und es vermittelt die Kenntniß
der augenblicklichen Qualität und Stärke der Nachfrage und des Angebotes
in Frauenarbeiten. Verständig verwaltet bringt es die rechte Kraft an den
rechten Platz. Es gewährt einen tiefen Einblick in Verhältnisse, deren Kennt¬
niß für die praktische Wirksamkeit des Vereins unerläßlich ist.
Die Gründung von Frauen-Asylen, theils zur angemessenen Unter¬
bringung zeitweise unverschuldet unbeschäftigter Frauen, theils als Locale für
angemessene gesellige Erholung beschäftigter Arbeiterinnen der verschiedenen
Stände in ihren Mußestunden, werden sich in größeren Städten überall be¬
währen, wenn sie mit Verständniß und Tact eingerichtet sind.
Die Einführung der Frauenarbeit in die Werk statte,.oder
das Atelier stößt, wenn bis dahin dort nur männliche Arbeiter beschäftigt
wurden, auf Schwierigkeiten, die oft unüberwindlich scheinen. Aber unzwei¬
felhaft gelingt auch dies energischer und verständig vermittelnder Vereins¬
thätigkeit leichter, als der Einzelkraft. Der weitaus günstigste Fall ist der.
wenn die Gründung von Productivgenossenschaften zu ermöglichen ist. Aber
das Geschäft muß klein beginnen, wenig Capital und nur denjenigen Grad
von Fertigkeit erfordern, den man auch bei nicht specifisch vorgebildeten
Frauen findet. Denn für die specifische Vorbildung fehlt eben zur Zeit noch
meist die Gelegenheit. Auf diesem Gebiete mag man sich hüten, vor jeder
Anregung zu Unternehmungen, die nicht die Garantie des Gelingens in sich
tragen. Bietet sich aber eine solche günstige Gelegenheit, so kann der Verein
ihre Verwerthung trefflich vermitteln.
Die Einwirkung auf die Staatsverwaltung mit der Absicht,
daß sie in ihrem Bereiche der Frauenarbeit diejenigen Gebiete eröffne, in wel¬
chen die letztere füglich verwandt werden kann, also z. B. Frauen im
Post-, Telegraphen- und Eisenbahndienst verwende, gelingt ohne Zweifel
Vereinen besser als Einzelnen.
Vereine sind es auch, welche, je mächtiger und geschlossener sie da¬
stehen, um so entschlossener es wagen dürfen, ihren Einfluß auf die
öffentliche weibliche Erziehung geltend zu machen. Und, wenn ihnen
irgend die Mittel zu Gebote stehen, mögen sie nicht vor der Aufgabe zurück¬
schrecken, weibliche Erziehungsanstalten selbst zu begründen, seien
dies nun Elementar- oder Fortbildungs- oder Fachschulen, seien die letzteren
Fachschulen niederer oder höherer Art, eingerichtet zur Vorbereitung auf ein¬
zelne bestimmte Berufszweige, oder auf ganze Gruppen von solchen.
Vereine sind es, die am wirksamsten die Rechte und gerechten An¬
sprüche der gesammten arbeitenden Frauenwelt nach allen
Richtungen hin vertreten können. Sie gewinnen so eine große und
weitverzweigte Clientel. Und wo wären lohnendere Aufgaben für die Kraft
eines Sachwalters zu finden?
Vereine eigenthümlicher Art endlich sind das einzige Mittel, der Noth
der bereits am sichersten in der Erwerbsarbeit eingebürgerten Frauen, der
Arbeiterinnen in der Großindustrie, abzuhelfen. Solche Fabrikanten¬
vereine, lediglich bestimmt, den Genossen ihr Interesse an dem
physischen und si teil es en W o h lerg eh en der Gehülf en v or An gen
zu führen, ihnen die Kenntniß solcher Maßregeln, welche am erfolgreichsten
jenem Zwecke dienen, zu verschaffen, sie zu gegenseitigem Wetteifer anzuspor¬
nen, können, wie die berühmte Loeiät« inäustrielis in Mülhausen zeigt, ein
gutes Theil zur Lösung der sogenannten Frauenfrage beitragen.
So hätten wir denn in flüchtigen Umrissen auch die Mittel uns vor¬
geführt, welche die Lösung der großen Zeitfrage herbeizuführen geeignet sind.
Es ist tröstlich, zu gewahren, daß überall im civilisirten Europa und
auch jenseits des Oceans rüstig Hand ans Werk gelegt, von jenen Mitteln
der ausgiebigste und meistens ein erfolgreicher Gebrauch gemacht wird.
Eine ausgezeichnete, hochgebildete Frau ist es, welche uns in dieser Voll¬
ständigkeit zum ersten Male die Frage beantwortet hat: was ist bisher zur
Lösung der sogenannten Frauenfrage geschehen?
Man gestatte mir zum Schlüsse, daß ich einem Vortrage, den die Secre-
tairin des Berliner Vereins zur Förderung der Erwerbsthätigkeit des weib¬
lichen Geschlechtes. Fräulein Jenny Hirsch, in der vorjährigen General¬
versammlung dieses Vereins geHallen hat, die bemerkenswerthesten historischen
und statistischen Daten entlehne und diesen Mittheilungen Einiges anfüge,
was ich aus eigener Anschauung oder anderen Quellen entnommen.
Die Verfasserin macht vor allen Dingen auf die sehr bemerkenswerthe
Erscheinung aufmerksam, daß beinahe gleichzeitig in den verschieden-
sten Theilen von Europa und der neuen Welt an die Lösung der
sogenannten Frauenfrage Hand angelegt worden sei — ein Beweis sür das
überall dringend empfundene Bedürfniß, eine Mahnung für diejenigen unter
den Berufenen, welche noch säumen, ihre Kräfte der großen Bewegung zu
widmen.
In Petersburg war man zur Zeit der Berichterstattung mit der
Herausgabe einer Frauenzeitung, mit der Begründung eines Arbeitsnachwei¬
sungsbureaus, einer Gewerbeschule und eines Lesezimmers sür Frauen be¬
schäftigt. Zwei junge Russinnen waren damals im Begriff, sich für den
ärztlichen Beruf auszubilden. Wir erinnern uns Alle noch der Nachricht von
der im Jahre 1867 stattgehabten Doctorpromotion des Fräulein Nadeschda
Suslowa an der Universität zu Zürich.
In Skandinavien knüpft sich Alles, was in neuerer Zeit zur
Verbesserung der Stellung der Frauen geschehen, an den Namen der
schwedischen Schriftstellerin. Friederike Bremer, die mit unermüdlichem
Eiser für die rechtliche und gesellschaftliche Befreiung ihres Geschlechts ge¬
kämpft und das Glück gehabt hat, in grundsätzlichen Reformen der weiblichen
Erziehung, in der Beseitigung gesetzlicher Beschränkungen der Frauenarbeit,
in der üblich gewordenen Verwendung von Frauenkräften im Post-, Eisen¬
bahn- und Telegraphendienst günstige Erfolge ihrer vielfachen Bemühungen
noch zu erleben.
Von Belgien und Holland weiß Fräulein Hirsch wenig zu berichten;
daß in der Schweiz die Frauenfrage nicht zu den dringlichen Tagesfragen
gehört, scheint ihr erklärlich, da dort in vielen und besonders blühenden
Zweigen der Großindustrie — der Uhrenfabrikation, der Strohflechterei,
Seidenbandweberei, Weißfeinstickerei und Bijouteriewaarenfabrikation — schon
seit geraumer Zeit Frauenkräfte lohnende Beschäftigung finden, und die ander¬
wärts gegen die gewerbliche Mitwirkung der Frauen bestehenden starren Vor-
uitheile längst überwunden sind.
In Frankreich trifft das Letztere, wie bekannt, noch in höherem Maße
zu. Hier in der That hat die Frau Zutritt zu jeder Arbeit, deren sie fähig
ist. Wir wissen, daß in verschiedenen Gewerben beschäftigte Arbeiterinnen
den zehnten Theil der Bevölkerung von Paris ausmachen. Die französische
Abtheilung der 67er Weltausstellung hatte fast in allen Gruppen wahrhafte
Triumphe der Frauenarbeit aufzuweisen, und mit Vergnügen wird sich jeder
Besucher des Ausstellungspalastes jener kleinen Werkstätten erinnern, in denen
Frauen mit wunderbarer Geschicklichkeit und Anmuth, hie und da unterstützt
durch sinnreiche Werkzeugmaschinen, die mannichfaltigsten industriellen Arbeiten
verrichteten.
Nichtsdestoweniger vernehmen wir fort und fort aus dem Munde un-
befangener Beurtheiler französischer Zustände die Klage, daß bei diesem un¬
serem Nachbarvolke, welches sich so gern seines Platzes an der Spitze der Ci-'
vilisation rühmt, die weibliche Erziehung so gut wie Alles zu wünschen läßt,
in den unteren Ständen ebenso wie in den höheren.
Auch die bei uns übliche weibliche Erziehung ist — ich suchte dies an
anderer Stelle zu constatiren — in vielen Stücken mangelhaft. Aber das
Durchschnittsniveau der Bildung unserer Frauen in Stadt und Land, in
allen Lebenskreisen, steht doch offenbar höher als das der französischen,
die zum größten Theile noch auf die dürftigen Leistungen geistlicher Ordens¬
schulen beschränkt sind. Nur zu leicht lassen wir uns in unserem Urtheile
zu Gunsten des Bildungszustandes französischer Frauen blenden durch das,
was wir in Pariser Werkstätten beobachten und aus diesen hervorgehen
sehen. Aber das ist mehr natürliche Anlage und angeborener Geschmack, als
die Frucht sorgsamer Erziehung, und Paris ist nicht Frankreich, die Pariser
Jndustriearbeiterinnen bilden doch nur einen sehr kleinen und einen ganz ab¬
sonderlichen Bruchtheil der weiblichen Bevölkerung des Kaiserreichs.
Die neueren, namentlich von dem derzeitigen Unterrrichrsminister Duruy
angeregten Bestrebungen auf dem Gebiete der Frauenfrage sind deshalb
auch vorzugsweise auf eine gründliche Reform der weiblichen Erziehung, der
elementaren, wie der höheren Bildungsanstalten, gerichtet. Und selbst von
diesen Bestrebungen kann man nicht Notiz nehmen, ohne sich von der Be¬
fürchtung beschleichen zu lassen, daß es dabei weit mehr auf einseitige, schablo-
nenmäßige Dressur, als auf gründliche und harmonische Durchbildung abge¬
sehen sei.
Wir können in Paris lernen, welcher großen Ausdehnung das gewerb¬
liche Arbeitsgebiet der Frauen sähig ist; aber, wenn wir nach Vorbildern
einer zweckmäßigen weiblichen Erziehungsmethode suchen, dürfen wir unsere
Blicke gewiß nicht nach Frankreich wenden.
Beschränken sich in Frankreich die auf die Verbesserung der Stellung
des weiblichen Geschlechtes gerichteten Bestrebungen fast lediglich auf einige
theils von gemeinsinnigen Privatpersonen, theils von Staatswegen unter¬
nommene und auf die weibliche Bevölkerung von Paris berechnete Versuche
von noch ziemlich jungem Datum, so darf es nicht Wunder nehmen, daß jen¬
seits des Canals. in Großbritannien, die Bewegung Ungleich tiefere
Wurzeln geschlagen, ungleich breiteren Boden gewonnen hat. Hat sich doch
in Großbritannien schon seit geraumer Zeit die Stellung der Frau völlig an¬
ders gestaltet, als aus dem Continent! Spielen doch dort, keineswegs erst
seit heute und gestern, die privatrechtlich stärker als irgendwo bevormundeten
Frauen im öffentlichen Leben eine weitaus bedeutendere Rolle, als irgendwo
sonst! Sind doch dort früher als anderwärts, und gründlicher, nach unse-
rem Geschmack fast zu gründlich, die Vorurtheile beseitigt, welche das Weib
in die stillen Kreise, wenn nicht gerade des Familien-, so doch des Privat¬
lebens verweisen! Ist doch nirgends der genossenschaftliche Geist lebendiger,
schöpferischer als in Großbritannien, und bemächtigt er sich doch nirgends
rascher und ernstlicher aller sogenannten socialen Zeitfragen! In einem Lande,
wo eine Miß Fry und eine Miß Mary Carpenter Unvergleichliches für die
Reform des Gefängnißwesens geleistet, eine Miß Florence Hill und Miß
Louis« Troining für die Einrichtung von Armen- und Rettungshäusern ganz
neue Bahnen vorgezeichnet, wo eine Miß Burdett Coues bahnbrechend für die
Begründung von Land- und Baugesellschaften gewirkt, und Frauen wie die
verehrungswürdige Miß Nightingale der Welt gezeigt haben, welche Refor¬
men die Humanität auf dem Gebiete der öffentlichen Krankenpflege und des
Lazarethwesens fordere; in einem Lande, wo der bessere Theil der erzählen¬
den Literatur großentheils in Frauenhänden ruht, wo viele anderwärts aus¬
schließlich den Männern vorbehaltene Berufszweige seit langer Zeit her¬
gebrachtermaßen von Frauen versehen werden; in einem Lande endlich, wo
das Plaidoyer eines John Stuart Mill und eines Fawcett für politische
Gleichberechtigung der Frauen kaum mehr große Sensation erregt — in einem
solchen Lande waren ja alle Bedingungen gegeben, um die Frauenfrage einer
systematischen Lösung entgegenzuführen.
Und doch brauchen wir kaum zu fürchten, daß wir in unseren, vielleicht
bescheidener aussehenden Bestrebungen auf dem gleichen Gebiete von den Eng¬
ländern alsbald überflügelt werden möchten. In Großbritannien gilt es zu¬
vörderst noch eine Arbeit zu vollenden, die bei uns längst erledigt ist; ich
meine die privatrechtliche Emancipation der Frau. Und eine andere Arbeit,
welche dort eingeleitet ist. wird — fürchte ich — zu einer Vergeudung werth¬
voller Kräfte führen. Der Kampf für die politische Gleichstellung der Frau
ist ein Kampf um ein Schemen. Würde der Sieg errungen — es würde
ein Sieg von sehr zweifelhaftem Werthe und von sehr fraglicher Dauer sein.
Es ist nicht zu leugnen, namentlich seit der Thronbesteigung der Königin
Victoria ist in Großbritannien Vieles geschehen, ebensowohl zur Verbesserung
weiblicher Erziehung, wie zur Eröffnung neuer Erwerbsgebiete für Frauen.
In jeder größeren Stadt des mit Großstädten so reich gesegneten Jnselreichs
bestehen Vereine, die nach beiden Seiten hin ihre Wirksamkeit entfalten.
Aber das Terrain ist schwieriger zu bearbeiten, als es auf den ersten Blick
scheint. Die mehr wissenschaftlichen Berufszweige sind in England den Frauen
minder verschlossen, als anderwärts, und die mächtige und mächtig centrali-
sirte Großindustrie verwendet Frauenarbeit in ausgedehntesten Maße, oft
freilich auch in widernatürlichster Weise. Dagegen widerstrebt in den mittle¬
ren Schichten der Bevölkerung ein vielleicht stärkeres Vorurtheil, als ander-
wärts. der Erweiterung der üblichen weiblichen Wirkungskreise, und, wenn
in diesen Schichten durchschnittlich die Erziehung in England eine sorgfälti¬
gere sein mag. als z. B. in Frankreich, so fehlt es jedenfalls dort ganz an
jenen wunderbaren Naturanlagen, die bei den französischen Frauen der mitt¬
leren Stände den Erziehungsmangel so häufig, wenn nicht ergänzen, so doch
verdecken.
Indeß — der britischen Energie und dem in England so lebendigen Ge¬
meingeist wird es — daran brauchen wir nicht zu zweifeln — gelingen, in
der Lösung der Frauenfrage stets mindestens mit allen Denen gleichen Schritt
zu halten, die auf vielleicht minder schwierigem Terrain sich bemühen, in die¬
sem Punkte die ersten zu sein.
Lernen können wir vor Allem von den Engländern die vublicistische
Erörterung der mannichfachen Seiten, welche die Frage darbietet. Dem
„Victoria-NaMöius". der von Frauen gedruckten Monatsschrift des im
Jahre 1860 in London gegründeten Vereins zur Förderung der Erwerbs-
fähigkeit des weiblichen Geschlechts, werden wir noch lange nichts Ebenbürti¬
ges an die Seite zu stellen haben. Lernen können wir auch von ihnen die
zweckmäßige Organisation der Vereine, die bald auf die höhere
weibliche Fachbildung oder auf die allgemeine Fortbildung weiblicher Per¬
sonen ihr Absehen richten, wie die ?fing.is msäieul Loeiet^ und das >VorI:ii>F
womiziis LollöAö in London, oder die. wie die ^eillklö miclcllö eini^i-s,-
lion Loeiet^, das Dress-inaKinK ana Nilliner-Housö, die ^rw^-clotdinZ
I^etor^, unmittelbar praktische ökonomische Zweck« ins Auge fassen.
Lernen wie von den Engländern können wir auch von den Amerika¬
nern, wenn es auch diesen unverkennbar durch das Zusammentreffen vieler
nirgends sonst vorhandener Umstände besonders leicht geworden ist, den
Frauen eine besonders günstige Stellung anzuweisen. Lernen könnten unsere
Großindustriellen von ihren Fachgenossen in dem amerikanischen Manchester,
in Lowell. wo 5000 junge Arbeiterinnen in den Spinnereien förmlich ge¬
hegt und gepflegt und unter den glücklichsten Bedingungen zu Musterarbeite¬
rinnen ausgebildet werden. Lernen könnten unsere Universitäten, Cultus¬
ministerien und Medicinalcollegien von den gleichartigen amerikanischen In¬
stituten, welche kein Bedenken haben, Frauen zum Studium und zur Aus¬
übung der Heilkunst zuzulassen, und deren unbefangener Auffassung der wirk¬
lichen Sachlage die Amerikaner weibliche Aerzte, wie Mary Walker, die
Schwestern Blackwell, Maria Zakczewska u. A. verdanken. Lernen könnten
unsere reichen Mitbürger von ihren Glücksgenossen jenseits des Oceans, die
wie der berühmte Peabody, oder Matthew Vassar. ihre größte Freude darin
finden, dem Vaterlande durch großartige Liberalität einen Theil der Sorge
für seine Frauen abzunehmen. Lernen endlich könnten und sollten wir alle
von den amerikanischen Männern das zuvorkommende, decente und rück-
sichtsvolle Benehmen gegen Frauen, welches diesen gestattet, so sicher
und furchtlos aufzutreten, wie es den Frauen überall dringend noth thut,
wenn sie sich ihre eigene freie und sichere Stellung im Leben erobern
wollen.
Daß er der Vereinsthätigkeit zur Besserung der Lage des weiblichen
Geschlechtes in Amerika kaum, höchstens in den größten Städten, bedarf,
begreift sich leicht.
In Deutschland dagegen sind wir ganz vorzugsweise auf Vereins¬
hülfe angewiesen, und mit Genugthuung dürfen wir uns gestehen, daß sich
in allen Gegenden unseres Vaterlandes mehr und mehr eine wohlorganisirte,
zielbewußte Vereinsthätigkeit zur Lösung der Frauenfrage entfaltet.
Seit länger als einem halben Jahrhundert sehen wir edle deutsche Für¬
stinnen an der Spitze solcher Unternehmungen, die auf die Hebung der wirth¬
schaftlichen und gesellschaftlichen Stellung des weiblichen Geschlechts berech¬
net sind.
Derartige Bestrebungen erwachten zuerst unter dem Druck der Fremd¬
herrschaft und dann in der großen, eine verjüngende Begeisterung über unser
Volk ausgießenden Epoche der Befreiungskriege.
Unsere ältesten Frauenvereine, wie sie von deutschen Frauen, in deren
Herzen das Vorbild der volkschümlichen Königin Louise lebendig wirkte, be¬
gründet waren, richteten ihre Wirksamkeit zunächst auf Bestreitung der Kriegs¬
lasten, Verpflegung der Verwundeten und Versorgung der im Kriege ver-
waisten Kinder, später vorzugsweise auf Unterstützung der Armen, Beschäf¬
tigung der Arbeitslosen und Erziehung der Jugend.
Von Preußen aus verbreiteten sich diese für die Veredelung des wirth¬
schaftlichen Lebens höchst wichtigen Vereine auch über andere Gegenden unseres
Vaterlandes und nahmen dann auch eine etwas andere, unmittelbarer der
praktischen Erziehung des weiblichen Geschlechtes zugewandte Tendenz an.
So wirkte an der Spitze einer von ihr gegründeten Frauenvereins-Organi-
sation ein ganzes Menschenalter hindurch die Frau Großfürstin Maria
Pawlowna, Großherzogin von Sachsen-Weimar, segensreichen Andenkens.
Fast in jedem Orte des Ländchens bestanden Frauenvereine und von diesen
geleitete Mädchen-Arbeitsschulen. Noch jetzt rühmen in diesem Theile
unseres Vaterlandes die Armen das Andenken dieser fürstlichen Frau,
die durch ihre Fürsorge Vielen zu einer glücklichen Existenz verholfen hat.
Nach und nach fing man an, sein Augenmerk nicht nur den ärmeren,
sondern auch anderen Classen der weiblichen Bevölkerung zuzuwenden.
Bedeutsam war für diese Bestrebungen das Aufkommen der Kinder¬
gärten nach Friedrich Fröbel's Plan. Nicht nur, daß sie einer großen
Zahl gebildeter Frauen zu einer selbständigen, anständigen Existenz und
einem segensreichen Wirkungskreise verhalfen, die Fröbel'schen Erziehungs¬
grundsätze, denen zusolge das Kind spielend zu ernster Thätigkeit ge-
leitet werden soll, hatten auch unverkennbar einen günstigen Einfluß auf
die gesammte Volkserziehung und insbesondere auf die des weiblichen Ge¬
schlechts.
Einen neuen segensreichen Wirkungskreis eröffneten ferner solchen Frauen,
die ihre ganze Kraft selbstlos dem Wohle der Menschheit zu opfern ent¬
schlossen waren, in jenen Anstalten, welche wir unter dem Namen der Diako¬
nissen h ä user zusammenfassen. und welche sich schon bei großen, allgemeinen
Calamitäten den Dank des Vaterlandes verdient haben.
Treffliche Lehrerinnen-Bildungsanstalten haben wir schon seit geraumer
Zeit manche aufzuweisen. Hie und da werden die Zöglinge solcher Institute
auch bereits im öffentlichen Schuldienst verwendet, während ihre Verwendung
im Dienst der Privatschulen für Töchter ganz allgemein üblich ist.
Allein ziemlich jungen Datums sind doch bei uns die kooperativen Be¬
strebungen, welche ausgesprochenermaßen das Ziel verfolgen, die rechtliche
und wirthschaftliche Stellung des weiblichen Geschlechts zu verbessern, und
dem letzteren neue Erwerbsgebiete zu eröffnen.
Sehen wir von den Hansestädten ab, so finden wir auch an der Spitze
dieser Bestrebungen fast überall in Deutschland fürstliche Frauen, welche
eingedenk der durch ihre hervorragende Lebensstellung ihnen auferlegten
Verpflichtungen mit rühmlichem Beispiele voranleuchten. So in Preußen,
so im Königreich Sachsen, so in Hessen-Darmstadt, so im Großherzog-
thum Baden.
In Preußen sind seit 1865 in sieben Städten solche Vereine entstanden,
der größte und zur Zeit wirksamste in der Hauptstadt des Staates.
Fräulein Jenny Hirsch macht im Ganzen 17 deutsche Frauenvereine, die
der modernen Tendenz huldigen, namhaft. Deren kommen 7 aus die süd¬
deutschen und 10 auf die Staaten des norddeutschen Bundes.
Fast in allen diesen Vereinen wirken Frauen und Männer in edlem
Wetteifer. Fast Alle richten ihr Augenmerk zunächst auf die Verbesserung
der weiblichen Erziehung, namentlich, indem sie Fortbildungsanstalten ins
Leben zu rufen oder zu empfehlen bemüht sind, welche ihre Schülerinnen in
den im praktischen Leben unmittelbar verwerthbaren Wissenszweigen unter¬
richten.
Die meisten eröffnen ihre Bestrebungen für die Erweiterung des weib¬
lichen Erwerbsgebietes mit der Errichtung von Verkaufsstellen für weibliche
Handarbetten und von Stellenvermittelungsbureaux. Einige Vereine, wie
der Berliner und der Bremische, beginnen für Kosthäuser und Pensionen für
unselbständige Frauen, sowie für die Veredelung der geselligen Vergnügungen
weiblicher Personen zu sorgen.
Zum Theil dem Einfluß dieser Vereine wird es zu danken sein, daß,
ähnlich wie in England, Frankreich und Nordamerika, so auch in mehreren
deutschen Staaten Frauen im Staats-, Post-, Telegraphen- und Eisenbahn¬
dienste vewender werden.
So beschäftigte der Telegraphendienst des Großherzogthums Baden be¬
reits im Sommer vorigen Jahres 61 Frauen und gewährte ihnen ein durch¬
schnittliches Jahreseinkommen von 440 bis 490 si., und auch im Eisenbahn-
Expedilionsdienst des genannten Landes ist ein gelungener Anfang mit der
Verwendung von Frauenkräften gemacht. Ueberall beweisen die Frauen eine
vorzügliche Befähigung für derartige Verrichtungen.
Mit dem Loose der Fabrikarbeiterinnen haben sich die deutschen Frauen¬
vereine unmittelbar noch nirgends beschäftigt. Sie werden sicher auch diesen
Gegenstand in das Bereich ihrer Wirksamkeit ziehen müssen, und dann an
der trefflich eingerichteten Pensionsanstalt für Fabrikarbeiterinnen, welche die
Herren Karl Mez Söhne in Freiburg i. B. begründet haben, oder an
der von Herrn Richter-Linder in Basel begründeten Pension in seiner Schirm¬
fabrik bei Basel, nachahmenswerthe Musterinstitute finden.
Diese, wenn auch nur flüchtige Uebersicht gewährt uns die Beruhigung,
daß unser, mit großem Unrecht als materialistisch verschrieenes Zeitalter neben
anderen auch diese große Culturaufgabe, die Aufgabe nämlich, den Frauen
zu der ihnen gebührenden wirthschaftlichen und gesellschaftlichen Stellung zu
verhelfen, mit Ernst und Hingabe erfaßt, und ihrer Lösung bereits gute
Kräfte gewidmet hat. Zugleich ersehen wir daraus, daß die positiven Er¬
folge, nicht zwar im Vergleich mit den aufgewandten Kräften, aber im Ver¬
gleich mit dem angestrebten Ziele, noch sehr geringfügig sind. Aber mit
den Traditionen von Jahrtausenden, mit Schäden, die sich unbeachtet seit
vielen Generationen in unser Volksleben ein gefressen haben, dürfen wir nicht
hoffen, im ersten Anlaufe fertig zu werden. Dazu bedarf es ruhiger, ener¬
gischer und geduldiger Arbeit, bei der abermals Generationen ausharren
müssen.
Sie wünschen von mir über die Preßzustände unserer Donauhauptstadt
zu hören? Wenn ich Ihrem Wunsche nachkomme, so geschieht es auf Ihre
Gefahr, d. h. auf die Gefahr hin, daß der Versuch gemacht wird, auch die
Grenzboten als geheime Alliirte der Clericalen und aristokratischen Freiheits¬
feinde zu verdächtigen; wer hier nicht in allen Stücken die Tagesparole nach¬
spricht und den Tagesgötzen opfert, nicht die Ueberzeugung ausspricht, die
Sache unserer liberalen Wortführer sei zugleich die des Liberalismus quanä
w6at, wird nämlich ohne Weiteres unter die Kategorie der Zurückgebliebe¬
nen gesetzt und damit abgethan.
Mit äußerst wenigen Ausnahmen sind die Wiener Zeitungen im schlimm¬
sten Sinne des Worts industrielle Unternehmungen: ein Zustand, der frei¬
lich nur in einem Lande möglich ist. in welchem die jahrhundertlange Unter¬
drückung alles selbständigen Lebens und Bewegens und das fortwährende
Experimentiren seit zwanzig Jahren, es noch bis heute nicht zur Parteibildung
haben kommen lassen. Diese hauptstädtische Presse beherrscht thatsächlich das
ganze Land, ein Land, welches bei der Mannichfaltigkeit seiner Bestandtheile
weniger als irgend ein anderes solche Centralisation und Bevormundung er¬
tragen kann. Täglich müssen wir sehen, wie provinzielle Verhältnisse und
Bedürfnisse mit völliger Unkenntnis? besprochen oder mit Hohn abgefertigt,
nationale, politische und religiöse Ueberzeugungen verletzt werden. Täglich
sehen wir die Corruption weiter um sich greifen. Täglich empfinden wir
schmerzlich, wie die gute Sache der Freiheit compromittirt. die Verständigung
der Nationalitäten erschwert wird.
Wir, die wir vom Kampf gegen die ultramontanen und feudalen
Mächte noch warm sind, werden ab und zu sogar in Versuchung geführt,
Partei zu ergreifen für die Clericalen gegenüber der maßlosen Frechheit ge¬
wisser Preßspeculanten, welche über Verletzung der Gleichberechiigung schreien,
wenn der Steckbrief hinter einem stammverwandten Gauner dessen „Con-
fession" erwähnt. Wir leiden unter dem Terrorismus und sind doch außer
Stande, ihn abzuschütteln. In Wien selbst hat es noch nicht gelingen wollen,
ein unabhängiges Organ emporzubringen gegen die mit allen Mitteln der
modernen journalistischen Industrie arbeitenden Geschäfrsblätter. Die von
allen Seiten zuströmenden Subventionen gewähren diesen die Mittel, durch
die Fülle der Nachrichten und des Lesestoffes überhaupt, jedes blos auf Abon¬
nenten und Inserenten angewiesene Journal vollkommen in Schatten zu
stellen. Und was in der Hauptstadt unmöglich, wie sollte das in den Kron¬
ländern möglich sein! Nur Ungarn hat sich nie Wien untergeordnet und
Prag erhält einige Blätter von mehr als localer Bedeutung, hauptsächlich,
weil es die Hauptstadt eines industriellen Landes ist.
Nickt immer war es so schlecht um die Wiener Presse bestellt. Von
der ausschließlich belletristischen Zeit vor 1848 kann hier so wenig die Rede
sein wie von dem Sturmjahre. Aber die wenigen Zeitungen, welche sich aus
jenem in den Belagerungszustand hinübergerettet hatten, bewahrten auch in
den folgenden Jahren eine im Allgemeinen sehr anständige Haltung. Der Grün»
der der damals sehr einflußreichen „Presse", der bekannte Zang, war, was
man ihm auch sonst vorwerfen mag. jeder Zeit ein guter Oestreicher. Man
machte sogar Opposition innerhalb der engen Grenzen der Bach'schen „Pre߬
freiheit". Zur Zeit des orientalischen Krieges errangen die Wiener Blätter
sich eine geachtete Position vor ganz Europa. Ueberall wurde anerkannt,
daß sie mit Talent gemacht und von Patriotismus geleitet seien. Nur ein
Fleck haftete noch von früherher auf der Wiener Journalistik: die literarische und
Kunstkritik galt für käuflich. Dagegen empörte sich ein Kreis von jungen
Männern, welche sich eines reineren Strebens bewußt waren als die Ver¬
treter des „alten Wien", die Saphir und Bäuerle und Consorten und unter
dem Beifall des Publicums wurden diese Götzen von ihren Postamenten ge¬
stürzt. Aber um dieselbe Zeit, als in den Feuilletons gegen die Bestechlich¬
keit gedonnert wurde, hielt die Corruption zum ersten Male ihren feierlichen
Einzug in die Spalten „über dem Strich". Der arme Saphir mußte Spie߬
ruthen laufen, weil er den Sänger tadelte, welcher verabsäumt hatte, ihm
einen Braten in die Küche und noch einige Ducaten dazu zu schicken; der
Scandal endigte wie gewöhnlich mit einer Gerichtsverhandlung, und die
Herren Redacteure und Eigenthümer der Zeitungen wendeten sich voll mo¬
ralischer Entrüstung von dem feilen Collegen ab. Denn sie hatten sich ja
nur „betheilen" lassen. Von Brück patronistrt war kurz zuvor die Credit¬
anstalt für Handel und Gewerbe nach französischem Muster gegründet wor¬
den und nach französischem Muster suchte man die Blätter für das Unter¬
nehmen zu interessiren, indem man ihnen Actien zum Emissionspreise zur
Verfügung stellte. Ein ganz unschuldiger Vorgang — natürlich. Nicht we¬
niger natürlich thaten die Blätter das Ihrige, um die Actien in die Höhe
zu bringen. Und es gelang ihnen wunderbar. Die berüchtigte L.ne Huin-
cnmpoix war nach Wien versetzt Vierundzwanzig Stunden vor Beginn der
Actienzeichnung stellten sich die Menschenmassen unter freiem Himmel auf,
um einige Jnterimsscheine zu erwerben und sie sofort wieder mit einem Auf¬
gelde von zehn oder fünfzehn Gulden an den Mann zu bringen. Und so
stieg das Agio von Tage zu Tage fort. Weshalb? Wo lag die Gewähr
so großen Gewinns? Niemand wußte es, die Wenigsten hätten sagen können,
wie sie sich eigentlich die Wirksamkeit der Creditanstalt vorstellten. Die
Blätter sagten, daß die Anstalt ungeheure Geschäfte machen müsse, und das
war genug. Wer einige Gulden übrig hatte, eilte sie in diesem unvergleich.
lichen Papier anzulegen. Den Sinn für Gewinn solcher Art zu wecken,
dafür hatte ja der Staat durch seine verlosbaren Anlehen und durch die
massenhaften „Cavalier-Anlehen" längst gesorgt. Nun speculirte Jedermann
in „Credit". Der Rückschlag konnte nicht fehlen. Heute gaben die Organe
der Presse einem Abonnenten auf die Frage, ob es nicht Zeit sei, die Actien
wieder zu verkaufen, welche ungefähr 380 für 200 standen, noch zur Ant¬
wort, er möge warten, bis das Agio auf 200 Procent gestiegen sei, und
morgen fingen sie an, ihren Lesern reinen Wein einzuschenken. Der Sturz
ging noch etwas geschwinder vor sich, als der Aufschwung und riß den Wohl¬
stand Unzähliger mit sich. Die Lehre war empfindlich, aber — dachten wir
damals — sie wird eine Warnung bleiben für die Zukunft.
Frommer Wahn! Der Schwindel von 1856 wiederholt sich verzehnfacht,
verhundertfacht 1869. Von der früheren Periode kann ich als Augenzeuge
berichten; ob diesmal auch wieder die „kleinen Kapitalisten" sich auf der Gasse
„angestellt" haben, um ihre sauer ersparten Papiergulden für die Actien einer
noch auf dem Papier existirenden Bank hinzugeben, weiß ich nicht. Doch
in dieser Beziehung unverdächtige Zeugen, die Wiener Zeitungen, erzählen
uns selbst, daß im Bankjahre der Taumel viel toller, viel sinnloser sei. als
im Creditjahre. Und sie erzählen uns auch, daß der journalistische Schwindel
von damals eine wahre Kinderei gewesen ist gegen den dermaligen. Längst
war es kein Geheimniß mehr, daß bei allen großen Jndustrieunternehmungen
die „Gründungskosten" sich von Jahr zu Jahr in riesigen Dimensionen stei¬
gern, weil „die öffentliche Meinung" immer kostspieliger wird; und zu ent¬
behren ist diese nun einmal nicht, am wenigsten bei den Eisenbahnen, welche
nicht allein Abnehmer für ihre Actien, sondern auch noch vom Staate Zins¬
garantien haben wollen. Der Blätter werden immer mehr und ein feindlich
gesinntes kann mehr schaden als zehn befreundete nützen. Die Unternehmer
möchten sich daher mit einem jeden gut zu stellen suchen, und die fortgeschritte¬
nen, ihres Einflusses sich bewußten Journale, sollen sich auf die doch nie ganz
sicheren Chancen der Coursdifferenz längst nicht mehr einlassen, sondern ihr
Fürwort oder ihr — Schweigen als „volle Bezahlung" anrechnen. Sind
aber die Eigenthümer und Leiter befriedigt, so melden sich die Mitarbeiter
der volkswirthschaftlichen Rubrik, die Correspondenten auswärtiger Zeitungen
u. s. w. Die Acten einiger gescheiterten Unternehmungen haben ganz erbau¬
liche Daten über den Umfang dieser „Betheilungen" ans Licht gefördert,
und auch ohne dieselben mußten dem aufmerksamen Zeitungsleser diese Ver<
lMtnisse längst klar werden. Denn das alte Spiel wiederholte sich mit der
größten Regelmäßigkeit immer wieder. Zuerst ist wochenlang von nichts die
Rede als den unerhörten Erfolgen, welche der neuen Bahn oder der neuen
Bank gar nicht entgehen können, dem Publicum wird zugeredet, „wie einem
kranken Roß", bis der Familienvater sich für einen gewissenlosen Menschen
halten müßte, wenn er versäumen wollte, den Seinigen ein so hoch und sicher
rentirendes Besitzthum zu verschaffen. Ist das Publicum gehörig auf den
Leim gegangen, sind die Actien zu einer Höhe hinaufgeschwindelt, die so sehr
außer allem Verhältniß zu den möglichen Geschäften steht, daß sogar die
naiven bedenklich werden, so entäußern sich die Eingeweihten und „Betheil¬
ten" schleunigst ihrer Papiere und gewinnen plötzlich eine ganz neue An¬
schauung von der Sache. Die noch einigermaßen Verschämten, die Kleinen,
maskiren die Schwenkung: die Voraussetzungen sind nicht eingetroffen, die
Leitung zeigt sich ihrer Aufgabe nicht gewachsen u. tgi. in. Die Großen
verschmähen solche Winkelzüge. Als hätten sie ihm nimmer das Wort ge¬
redet, brandmarken sie mit den bittersten Worten den Schwindel, durch welchen
den Leuten das Geld aus dem Sacke gelockt werde. Ist die Unternehmung
besser als der Ruf, welchen man ihr jetzt mit eben so großer Beflissenheit
macht, wie ehevor den guten, so ist's wiederum ein gutes Geschäft, die
Actien zu dem niederen Course zurückzukaufen, über den sie sich ja wieder er¬
heben werden. Häufig haben aber die Blätter das zweite Mal die Wahr¬
heit gesagt, nicht selten macht ein scandalöser Proceß das Ende der ganzen
Geschichte, und dann berufen sich die tugendhaften Zeitungen stolz auf ihre
„bereits vor Monaten erlassenen Warnungen".
Daß solch' Treiben so lange flonren kann, erscheint unglaublich; denn
verborgen kann es doch nicht bleiben. Ein „Gründer" jammerte mir neulich
in Wien die Ohren voll über die unerhörten Contributionen. welche jeder
neuen Unternehmung auferlegt würden. Er schwor hoch und theuer, daß
jeder Zeirungseigenthümer ohne Ausnahme sich bereits auf Kosten der Actio-
naire wenigstens ein Landhaus, wenn nicht gar einen Palast an der Ring¬
straße gekauft habe, und daß betriebsame Jünglinge, welche vor einem Jahre
noch „auf ein warmes Nachtessen anstanden" (wie er sich ausdrückte), heute
ihre fünfzigtausend Gulden im Sacke hätten. Daß das auserwählte Volk
hierbei die Hauptrolle spiele, gab auch er zu. aber er meinte zugleich: die
Zugereisten aus dem norddeutschen Bunde seien in diesen Künsten allen Ein¬
geborenen weit überlegen. Auf die Frage: Warum laßt ihr euch das ge¬
fallen? antwortete er mit einem verlegenen Achselzucken, das beredt genug
war.— Andere verblendet die Leidenschaft des Spiels. Wer einmal „abge¬
sotten" wurde, will sich seinen Verlust wiederholen; ein Zweiter traut sich
zu. gescheidter zu sein, als die Opfer der Agiotage; er will gewiß im rechten
Augenblick verkaufen. Und endlich giebt's immer noch Unschuldige: das
Reich ist ja so groß! Einen Beweis rührender Naivetät lieferten vor eini¬
gen Monaten die Capitalien eines südwestlichen Kronlandes. Dort hatte
man endlich die längst ersehnte Eisenbahnconcession ergattert, und nun galt
es. das Unternehmen populär zu machen und Regierung und Volksvertretung
behufs der Zinsengarantie günstig zu stimmen. Ein Interessent, welcher der
Feder mächtig war. setzte gründlich auseinander, welche Wohlthat die neue
Linie für das Kronland und für das ganze Reich sein werde, wie sicher selbe
sich rentiren müsse, belegte alle seine Behauptungen mit statistischen Daten und
schickte den Aufsatz der in dortiger Gegend weitverbreitetsten Zeitung Wiens
ein. Nach wenigen Tagen erhielt er sein Manuscript mit der Bemerkung
zurück, auf die Besprechung von Eisenbahnprojecten könne man sich nicht ein¬
lassen. Die guten Provinzler trauten ihren Augen nicht: waren doch fast
täglich ganze Spalten mit dergleichen Angelegenheiten gefüllt! Einer setzte
sich auf nach Wien und nahm einen ganzen Jahrgang der Zeitung mit. um
die Redacteure von ihrem Irrthum zu überführen. Zu seinem Heil besprach
er sich aber zuerst in Wien mit kundigen Personen, welche ihm riethen, die
Maculatur in seinem Koffer zu lassen und dafür andere Papiere in seine
Brieftasche zu stecken. Und siehe da. bei seiner Rückkehr konnte er der Ge¬
sellschaft berichten, seine Reise sei wohl ein wenig kostipielig geworden, dafür
werde aber von jetzt an die betreffende Bahn nickt nur von jenem unabhän¬
gigen Journal, sondern auch von dem geehrten Abgeordneten sür Eisenbahnen
und Jndustrieunternebmungen. überhaupt aufs Wärmste unterstützt werden.
Im vergangenen Winter ließ es sick so an, als sollten dem Publicum
endlich einmal die Augen über diesen Unfug geöffnet werden. Ein Wochen¬
blatt kündigte der Creditanstalt Fehde an, weil es bei einer „Betheilung" über¬
gangen worden war. und da die Anstalt murhige Vertheidiger fand, hagelte
es von beiden Seiten Schimpf und Schande und.Enthüllungen. Aehnliche
Scenen sind uns schon oft aufgeführt worden, Warrens und Zang. Alte
und Neue Presse verbissen sich schon wiederholt wie Bulldoggs in einander.
Doch da spielte Jeder den Se. Georg, welcher die Welt von einem Drachen-
ungethüm befreien wollte. Die Persönlichkeit, welche diesmal in den Kampf
eintrat, nahm nicht die Larve sittlicher Entrüstung vor, sondern erklärte rund
heraus: „Ihr hattet anderthalb Millionen zur Bestechung der Zeitungen, habt
aber nur fünfmalhunderttausend Gulden in Actien diesem schönen Zweck zu-
geführt, und in Folge dieser Oekonomie bin ich ganz leer ausgegangen. Das
lasse ich mir nicht bieten. — Hätte die Creditanstalt mich in so ausgiebiger
Weise bedacht, wie einen ihrer Vertheidiger, so hätte sie sich den Angriff und
die Kosten der Vertheidigung ersparen können" — so stand wörtlich zu lesen.
Das war doch mindestens aufrichtig und mußte den Leuten endlich zeigen,
wie sich die Blätter von der Solidität einer Unternehmung überzeugen. Aber
nachdem der Kampf vierzehn Tage getobt hatte und alle Kämpfer über und
über mit Koth bedeckt waren, erkannte es die Creditanstalt für die weiseste
Politik, Frieden zu machen, und ihr Gegner schwieg. Er brauchte das Ein¬
stellen der Feindseligkeiten nicht zu erklären oder zu entschuldigen, die Leser
wußten, woran sie waren und woran er war.
Derselbe Herr benutzte diesen Anlaß, um zu dociren. daß die Zugänglich-
keit in wirthschaftlichen Fragen keineswegs auch Käuflichkeit in der Politik
bedinge: dort handle sichs um Geschäfte, hier um Ueberzeugungen. Ob er
viele Gläubige gefunden hat, steht dahin. Gewöhnlich geartete Sterbliche
werden nicht so leicht im Stande sein, diese sublime Unterscheidung zu be.
greifen. In Wahrheit gelangt man dahin, an Integrität bei Persönlich¬
keiten des öffentlichen Lebens überhaupt nicht mehr zu glauben. Hier und da
sind auch schon sehr böse Anspielungen darüber gefallen, in welchen Kreisen
die neueste schwarze Kunst Adepten aufzuweisen habe, und mit einfachen De¬
mentis wird man das Mißtrauen nicht ausrotten. Die „Unabhängigkeit der
Presse" wurde schon vor Jahren so gekennzeichnet: „Von den fünfzehn Tages¬
blättern in Wien sind vierzehn officiös und eins officiell." Das mag über¬
trieben sein, kommt aber gewiß der Wahrheit ziemlich nahe. Auffallen muß
es schon, daß Zänkereien zwischen zwei Zeitungen regelmäßig mit der Be¬
schuldigung der Officiosität nach beiden Seiten anfangen. .Und als der Ab¬
geordnete Steile, das eiMnt tsi-ribis der Opposition, einmal behauptete, Herr
v. Beust habe die gesammte Journalistik Wiens gekauft, erhielt er zwar von
allen Seiten Grobheiten, aber so viel ich mich erinnere (sollte ich irren, so
bitte ich um Entschuldigung), forderte von den namhaften Wiener Blättern
nur eines dccidirt Beweis oder Widerruf — der Wanderer. Das war vor
etwa zwei Jahren; seit einigen Wochen soll auch der Wanderer in den Besitz
von Leuten übergegangen sein, welche eher mit sich reden lassen. Gewiß läßt
nicht jedes Blatt sich die Unterstützung der Regierung baar bezahlen, denn
unter Umständen können ja Nachrichten viel mehr werth sein als Banknoten.
Auch mögen häufig nur Verträge für einen bestimmten Fall abgeschlossen
werden. Wo aber weder Geld, noch Mittheilungen noch Orden Einfluß
haben, da herrscht gewöhnlich eine Roheit, ein so ekelhaftes Schmeicheln
und Hätscheln der Leidenschaften und des Geschmacks der großen Masse, daß
einem reinlichen Menschen auch vor der Berührung mit diesen Unabhängigen
graut. Die natürliche Folge ist, daß immer seltener politische Menschen,
welche mit ihrer Meinung und ihrer Stellung kein Geschäft machen wollen,
sich an der Publicistik betheiligen. Allerdings ist es nicht die rechte Art. sich
schmollend und pessimistisch zurückzuziehen. Die Parteien müssen Opfer brin¬
gen, um sich von der schmählichen Vormundschaft der Geschästsblätter zu
emancipiren. Aber das steht noch in weitem Felde.' Bringen wirs doch
kaum im Parlamente zu einer Parteigruppirung! Die gesundesten unab¬
hängigsten Männer, welche wir aus den Provinzen nach Wien schicken, büßen
in kurzer Frist alle Energie ein, und auch darin liegt ein Grund des sich
immer allgemeiner und stärker äußernden Provinzialismus, über welchen später
einmal zu reden sein wird. Für diesmal will ich nur noch den „Wiener Un¬
abhängigen" welche sich getroffen fühlen sollren. a/statten, mich für einen
Ultramontanen, einen Pensionär des preußischen Preßfonds, einen abgewiese¬
nen Mitarbeiter oder was ihnen sonst beliebt zu erklären.
Catania macht wie Palermo den Eindruck einer herabgekommenen Stadt,
die den Muth verloren hat. Hier wie dort eine Menge von Häusern, die
halb aufgebaut, dann mitten im Bau stehen geblieben oder mit einem Nots¬
tände zugedeckt sind. In beiden Städten sind die Straßen augenblicklich noch
in einem besonders wüsten Zustande, weil sie, vielleicht des besseren Verkehrs
wegen, nivellirt werden; so stehen ganze Häuserreihen mit ihren Eingängen
acht Fuß über dem neuen Pflastergrunde und ihre Fundamente sind blos¬
gelegt. Ein Erdstoß jetzt und sie liegen in Trümmern. Man findet wenig
gut ausgestattete Läden und denselben Dilettantismus in der Arbeit, wie
überall.
Die Tracht der Cataneserinnen hat etwas auffällig Nonnenhaftes. Keine
einzige geht ohne einen Shawl oder das Mantello über dem Kopfe. Dies
ist ein halbkreisförmiges Stück dunkelblaues oder weißes Tuch, das mit
der geraden Seite über den Kopf gelegt, unter dem Kinne zugehalten wird
und bis über die Hüften herabfällt. Wohlhabendere Frauen tragen ein
solches Mantello von schwarzer Seide und länger.
Auch hier gibt es die hübschen Pferdegeschirre in maurischen Geschmack,
und die Lastkarren werden zu fahrbaren ebenfalls bretternen Volksbüchern.
Auf einem studirte ich die Geschichte vom Verlornen Sohn. Der Künstler
hat sie kühn in ein tintenklecksendes Säculum versetzt und sich so ein für seine
Leute höchst verständliches Motiv geschaffen. Auf dem Bibliothekschranke des
Vaters stehen neben einem großen Dintenfasse nicht-weniger als drei kolossale
Dintenflaschen. Die austunken zu müssen! — es begreift sich, daß ein junger
Kerl in einer Anwandlung von Weltsucht davor wegläuft. Er geräth schlie߬
lich an die Schweine und kehrt um. Das letzte Bild bringt die Versöhnung:
die drei großen Dintenflaschen stehen noch immer da, aber sie scheinen ein
wenig kleiner geworden zu sein, und ein schöner Schweinebraten hält ihnen
im Gemüthe des Beschauers die Waage. So sind die Extreme, Schweine
und Dintenflaschen. einfach und sinnig versöhnt und Alles ist auf eine für
den Sodn ganz annehmbare Weise ausgeglichen. Das nenne ich eine Predigt!
Von sonstigen Straßenbeobachtungen noch zwei: eine über Diejenigen,
die das Wasser holen, und eine über das Wasser, das geholt wird. Die
Cataneserinnen als Chosphoren geben ein schönes Bild. Die Flaschen und
Amphoren, welche sie tragen, haben die antike Form beibehalten (den Wespen¬
bauch mit dem schlanken Halse und den oben dicht an die Mündung ge¬
setzten langen Henkeln), und man trägt sie nun auch nach antiker Weise.
Solch ein Waffertrog mit den lebhaft gestikulirenden ab- und zugehenden
Weibern ist gar zu hübsch! Und das Wasser selbst kommt so antik geflossen,
daß einem Philologen dabei das Herz im Leibe beben müßte. Da sind die¬
selben Wasserpfeiler, die wir in Pompeji sahen, und hier mit all' ihrem
Röhrenwerk, oft zu kleinen Thürmen und castellartigen Bauten erweitert.
Das Wasser kommt in Aquäducten vom Gebirge herab, steigt in diese Pfeiler
hinauf und wird von da aus auf das nächste Revier in die verschiedenen
Brunnenkasten und in die Häuser vertheilt. So hatten wir es auch schon
in Palermo gesehen.
Wir machten uns nun an die Alterthümer. In dem jammervollen Zu¬
stande, in dem sie sich befinden, und nachdem wir so viel bessere gesehen,
erregten sie kein besonderes Interesse mehr. Eine ganz hübsche Sammlung,
die indessen nichts Hervorragendes enthält, fanden wir im Museum des Prin¬
cipe Biscari. Ergötzlich sind einige Gliederpuppen in Terracotta, die als
Kinderspielzeug gebraucht wurden. Eine Terracottaarbeit aus dem sechzehn¬
ten Jahrhundert, den Tod des heiligen Benedict darstellend, ist vortrefflich.
Das Museum, welches die Benedictiner zusammengebracht haben, enthält
einige kleine Fresken aus römischen Gräbern, leicht und elegant hingezeich¬
nete, aber höchst liederlich ausgeführte Figürchen der spätesten Zeit. Außer¬
dem finden sich hier eine Menge antikerund christlicher Grabinschriften, ein
Jupitertorso und ein bacchisches Relief.
Der Benedictinerconvent, in welchem sich außer all' diesen Dingen eine
Bibliothek mit vielen Manuscripten befindet, die noch kein Mensch kennt,
ist von mächtiger Ausdehnung; es soll das zweitgrößste Kloster der Christen¬
heit sein. Gegenwärtig verliert sich eine technische Schule darin; früher beher¬
bergte es die jüngeren Söhne des Adels, die nur hier eine anständige Exi-
Sterz führen zu können glaubten. Es ist begreiflich, daß der Sicilianische Adel
auf die neue Dynastie nicht gut gestimmt wurde, als ihm diese eines Tages
seine Luruskinder zurückschickte, die er aus des lieben Gottes Tasche geschoben
und zeitlich wie ewig wohl versorgt hatte. So ein ausrangirter Mönch von
dreißig Jahren, der in Gottes Welt nichts gelernt hat. vom Staate verjagt,
von der Familie grämlich aufgenommen wird — das muß ein befriedigen¬
des Gefühl sein!
Wir besuchten die Lava von 1669 an der Stelle, wo sie ins Meer ge¬
flossen ist. Sie brach an der Südseite des Aetna aus, wo sich damals der
Monte rosso bildete, floß bis ins Meer 2S Miglien weit und- gebrauchte
dazu 15 Monate. An manchen Stellen hat sie eine ungeheure Höhe und
4 Miglien ist sie breit. Das sind Massen! Gegen den Aetna ist der Vesuv
nur ein kleiner Speiteufel.
Neben dieser Lava beginnt ein ziemlich breiter Streifen von gelbem
Sande, in welchem man nach bewegter See Ambra sucht. Den Sand mit-
sammt dem Ambra führt der Simeto, der größte Fluß Siciliens, herab. Das
Meer füllt ihn beim Heraustreten und wirft ihn gegen die Küste. Die
Nacht hatte ein tüchtiger Scirocco geweht; aber die Ambrasucher, die im
Gänsemarsch an uns vorüberzogen, warfen auf unsere Frage nach ihrer Beute
nur den Kopf in den Nacken. Das ist eine sehr provocante Bewegung.
Warum müssen .wir Anderen, wenn wir Nein sagen wollen, den Kopf sechs¬
mal hin und her schleudern, und diese Italiener werfen ihn einmal in starker
Opposition in die Höhe?
Wir verfolgten nun die Lava weithin aufwärts und gelangten hoch über
der Stadt in den Garten des Marchese Giuiliano, gründlich verwahrlost, aber
von reichster Vegetation. Verbenen, Tulpen, Hyacinthen, Nelken. Goldlack,
Levkoyen. Alles stand in vollster Blüthe. Die Mandeln, die bereits im De¬
cember geblüht hatten, entwickelten schon tüchtige Kerne, nebenan blanken
große Flachsfelder. — Der Aetna hat sich aber so in Schnee und Nebel ge^
hüllt, daß an eine Besteigung nicht zu denken ist. Wir haben uns also be¬
zwingen müssen, dem erwähnten Monte rosso, einem der 326 „Söhne des
Aetna", wie man diese gefährlichen Schlingel nennt, unseren Besuch abzu¬
statten. Er soll vom Meere aus so hoch sein wie der Vesuv; vom Grunde
des Aetna aus erhebt er sich noch tausend Fuß. Seinen Namen hat er von
der rothfarbigen Asche, die er bei der Eruption von 1669 zu Tage gefördert.
Von dem Rande des wohlerhaltenen Kraters aus hat man eine herrliche
Aussicht über die Küste, die Stadt und den fruchtbaren Piano ti Catania,
eine breite Ebene, die der Simeto aus den Gebirgen herabgeschwemmt hat.
In nächster Nähe umgiebt den Monte rosso eine ganze Anzahl seiner Brü-
der und Brüderchen. — Als wir nach dem Dorfe Nicolosi hinunterkcimen,
sahen wir auf der Straße einen fünfundzwanzigjährigen Thiermenschen, der
von allen Prädicaten des Menschen nur das an sich bastelte, ein Sohlen¬
gänger zu sein; er kann nämlich nur auf allen Vieren gehen, dabei schiebt
er die vorderen Extremitäten genau wie ein Pavian vor. Die Laute, die
er ausstößt, stimmen zum Charakter der Bewegung. Dies Geschöpf, das
noch einen ebenso gearteten Bruder von 23 Jahren hat. fühlt sich, wie aus
seinem vergnügten Grunzen wahrzunehmen ist. ganz glücklich; nur uns. die
wir einmal ein höheres Maaß für dasselbe in uns haben, ist der Anblick
dieses Kolumban schrecklich.
In Gesprächen mit den Einwohnern von Nicolosi begegneten uns die¬
selben Klagen, die man auch in Italien hört: „Die Beamten fressen das
Reich". Ein Fremder kann die Wahrheit solcher Aeußerungen nicht wohl
untersuchen, aber es ist schon schlimm genug, daß sie allgemein ausgesprochen
und allgemein geglaubt werden. Nach oberflächlicher Wahrnehmung scheint
mir jedoch, als leide der Verwaltungsmechanismus des Königreichs an dem
Mangel einer mittleren gebildeten und durchaus ehrenhaften Beamtenschicht;
eine Unmasse von Subalternen, die sich keine Autorität zu geben wissen, und
einzelne Chefs darüber in weiter, weiter Ferne, mit denen das Volk nicht in
Berührung kommt, und denen es ohne Weiteres alle Leiden des Tages
in die Schuhe schiebt, — so sieht sich die Sache an. Statt der Verwaltung
hat man den Mechanismus der Constitution ausgebildet. ein Anachronismus,
der sich noch als sehr verhängnißvoll erweisen wird. Es dient nicht Allen
Alles, und nicht Alles zu jeder Zeit. Und wie will dieser Staat leben
können? Ein armselig aussehendes Dorf wie Nicolosi. mit 3000 Einwoh¬
nern, hat 6 Kirchen und 10 Priester. Verzehren die 9 Ueberflüssigen nicht
eben das, was in den allgemeinen Nutzen des Orts aufgewandt werden
sollte? Ehe der König nicht selbst die Reformation der Kirche, ich sage nicht
ihres Dogma's, aber ihrer gesellschaftlichen Einrichtung in die Hand nimmt,
kann sein Staat nicht wahrhaft aufblühen.
Wir begannen den zweiten Tag unseres Aufenthalts hier mit einer
Fahrt über den Hafen, in den Anapus hinein und zur Quelle Cyana hinauf.
An deren Ufern wächst — es ist die einzige Stelle in Europa — in großen
Massen die Papyrusstaude, eine mächtige, schlanke, dreikantige Binse mit
wallenden Haaren; ein leichtbewegliches, reizend nymphenhaftes Geschöpf.
Unser Führer, der Maler Michelangelo Politi, verfertigt aus dem Stengel
nach der Weise der Alten den Papyrus, der freilich nur noch zu kleinen
Souvenirs verwandt wird. Er nimmt dazu das untere Ende der Binse,
etwa anderthalb Fuß, schält sie und schneidet ganz dünne, etwa zollbreite
Streifen herunter, die er mit einem aus derselben Pflanze gewonnenen Gummi
zusammenklebe und zwei Tage lang preßt. Dann kommt ein von kräftigen
Fasern durchzogenes sehr festes, durchschimmerndes gelbliches Blatt zum Vor¬
schein, auf welches sich malen und schreiben läßt. Es ist zu verwundern,
daß man den Papyrus, der eine feste elastische Schale, eine sehr starke Faser
und einen guten Gummi liefert, nicht ausgiebiger benutzt.
Von der Cyana aus fuhren wir zu Wagen nach den Trümmern der
Burg des Dionys. Es ist ein prachtvoller Blick da oben auf diese eigen¬
thümlichen langgestreckten Höhenzüge, die mit uralten Oelbäumen besetzte
Ebene des Anapus. die beiden großen Buchten rechts und links von Ortygia,
nördlich über Tapsus hinweg bis zu dem Vorgebirge, auf dem das Theater
von Taormina steht. Die ganze Figuration der Landschaft ist so, daß man
augenblicklich sieht, hier mußten große Anlagen versucht und große Kämpfe
gekämpft werden. Sie ist eine von den historisch prädestinirten.
Nicht weit von den sogenannten Römerbädern zeigt man die Gräber
des Archimedes und Timoleon, einander dicht benachbart. Beglaubigt sind
sie in keiner Weise; sie sind nur durch ein Frontispiz vor den übrigen aus¬
gezeichnet. Woran Cicero das Grab des Archimedes erkannt hat, die Kugel
auf dem Cylinder, eben davon ist keine Spur mehr vorhanden. Von diesen
Gräbern ging's zu einem modernen deutschen, in dem ein Mann ruht, dessen
Geist in Griechenland wohnte, zum Grabe Platen's. Es liegt an einer Fels¬
wand im Garten des Marchese Bandolina, der den Protestanten hier einen
Friedhof gewährt hat, und ist mit einem kleinen auf die Wand geklebten
Marmorobelisken geschmückt, der das Wappen des Dichters trägt. Neuer¬
dings aber hat man seine Gebeine auf einen abgesonderten Platz nicht weit
davon übertragen, und in nächster Zeit wird sich über ihnen ein Monument
mit der Büste erheben. Dieser neue Schmuck ist durch eine in Deutschland
veranstaltete Sammlung zu Stande gekommen, zu welcher König Ludwig I.
von Bayern eine große Summe beisteuerte. Das alte Monument wird in¬
zwischen von wallfahrenden Deutschen als ein poetisches Stammbuch ange¬
sehen; „zum Zeichen höchster Verehrung" schmieren sie kreuz und quer Verse
darauf, die indeß oft gar nicht übel sind. Unser Führer machte uns darauf
aufmerksam, daß der Bruder des früheren bayerischen Consuls noch im Be¬
sitze eines von Platen geschriebenen Buches sei, das er den Erben auszuliefern
wünsche; es enthalte eine Sammlung griechischer Gedichte. Wir sind dann
Abends hingegangen, das Manuscript zu sehen, aber der Inhaber war leider
verreist; doch ist dafür zu sorgen, daß das Buch erhalten bleibt und in die
rechten Hände kommt.
Wir sahen nun noch zwei große und höchst interessante Lakonien. Die
eine ist im Besitze der Familie Borgia, die einen prächtigen Garten darin
angelegt hat. Er ist ringsherum von mehr als hundert Fuß hohen Fels¬
wänden eingeschlossen, eine mit einem mächtigen Saal, welcher schon einmal
zu einem Balle benutzt wurde. Kolossale Felspfeiler von phantastischen For-
men sind im Garten stehen geblieben, und zwischen sie hinein hat das Erd-
beben von oben herab riesige Blöcke gestürzt. Die andere Latomie ist die
der Kapuziner, die größte und mächtigste, ein höchst malerischer Irrgarten
von den großartigsten Prospecten.
Neben S. Giovanni, der einzigen Kirche, die als mittelalterliches Denk¬
mal Interesse hat, ist der Eingang zu den Katakomben, die wie diejenigen
von Neapel in drei Etagen über einander angelegt sind, nur sind die grö¬
ßeren gekuppelten Räume regelmäßiger und gleichartiger geformt, ein Um¬
stand, der die Orientirung sehr erschwert. Auf meine Frage, ob sich Ge¬
mälde in den Katakomben fänden, sagte der Custode, es sei ein einziges da;
aber er vermochte nicht, es wieder aufzufinden, so leicht ist es hier, sich zu
verirren.
Am Ausgang einer ziemlich engen malerischen Felsschlucht liegt Lentini.
Da machten wir in einem armseligen Wirthshause Rast, stärkten uns an
vortrefflichem Ziegenbraten, den man in Deutschland mit Unrecht verachtet,
und fuhren eiligst weiter, noch vor Nacht Catania zu erreichen. Aber nicht
lange, so begegnete uns ein Wagen, der am Simeto hatte umkehren müssen,
weil dieser durch Regengüsse im Innern der Insel zu stark angeschwollen war,
um vermittelst der Fähre passirt werden zu können. Auch weiter landein¬
wärts gab es keine Möglichkeit hinüberzukommen, und es blieb nichts weiter
über, als den Weg nach Lentini zurückzumachen, um in der Frühe den
Uebergang zu versuchen, in der Hoffnung, die Fluth werde bis dahin ver¬
laufen sein. Wir hatten keinen Bürgen einzulösen wie Möros, der vielleicht
dieses selben Weges gezogen war, und durften uns mit einem minder heroi¬
schen Entschlüsse begnügen.
Mit sauren Mienen begrüßten wir unsere Wirthsleute von Lentini, die
uns ihrerseits herzlich genug empfingen und dem Vetturino feierlich ge¬
lobten, unsere Betten mit reiner Wäsche versehen zu wollen, um uns mit
unserem Schicksal zu versöhnen. Ein Gang durch die Stadt verschaffte einen
komischen Anblick. Auf dem Markte nämlich ergingen sich bei beginnendem
Dunkel die Männer von Lentini, sämmtlich in lang herabhängenden weißen
Nachtmützen, wohl Hunderte. Es sah aus, als hätte sie ein plötzlicher nächt¬
licher Lärm aus den Betten geholt, und doch machten sie nur ihre gewöhn-
Itche UnterhaltungSpromenade und waren in ihren Sonntagsstaat gekleidet.
Dergleichen hatten wir in keiner der bisher besuchten Städte gesehen, wie
wir auch z. B. die obenerwähnte Frauentracht nur in Catania wahrgenom¬
men hatten: so mag wohl jede dieser Gemeinden ihre charakteristische Eigen-
heit haben und eben diese Manntchfaltigkeit schon eine Reise ins Innere
lohnen. Auf einer Insel indtvidualisirt sich Alles fester und bestimmter.
Wir hatten uns in uuserem schmucklosen mit sechs Betten besetzten Schlaf¬
saale beim Schein einer dreiarmtgen Lucerna zum Schreiben niedergesetzt, als
unser dicker Wirth, der eben ein wenig brünstig zum Dionysos gebetet hatte,
auf der Schwelle erschien, um sich zu überzeugen, wie wir das Schicksal er¬
trugen, in sein Haus verschlagen zu sein; er schilderte auf die ergötzlichste
Weise, wie Andere vor uns in ähnlicher Lage, in demselben Saale, an dem¬
selben Tische sich benommen hätten.
Früh um 3 Uhr ein unbehagliches Erwachen. Wir machten die Rech¬
nung. Mutter Wirthin, ein drolliges Bild des heidnisch-christlichen Misch-
Wesens dieser Insel, oben drapirt wie eine Madonna und unten wie eine
Nymphe, hatte die Nacht über eine hübsche Ziffer herausgebracht. Beim
Weggehen streckten sich uns alle beschäftigten und unbeschäftigten Hände zum
Trinkgeld entgegen, selbst die der letzteren Kategorie angehörigen des dicken
Wirths, und aus den ängstlichen Blicken, mit denen er seine entfernt stehende
Gattin beobachtete, wurde nur zu sehr ersichtlich, daß sie ihn nicht in aus¬
reichendem Maße an den regelmäßigen Einnahmen seines Hauses zu bethei¬
ligen pflegt.
Fort ging es in die Nacht hinein; ein bescheidenes Mondviertel erleuch¬
tete sie so, daß man zur Noth dabei hätte lesen können. Auf dieser Straße
kann man zu jeder Zeit vollkommen unbesorgt reisen. Wir passirten eine
Menge Lastkarren und bepackte Esel, die alle zum Simeto hinabgingen. Als
wir die Höhe über der breiten Ebene des Flusses erreicht hatten, ging rechts
von uns über dem Meere die Sonne auf; sie beschien eine Landschaft, wie
ich sie in breiteren und größeren Formen nie gesehen habe. Nirgends eine
kleine gebrochene Linie. Alles weit und mächtig geschweift, großartig hinge¬
lagert. Unmittelbar vor uns die mehrere Stunden breite Thalsenkung, die
sich nach dem Meere zu vollständig abflacht und in einer schönen Bogenlinie
begrenzt; jenseits erhebt sich ohne Vorberge der Aetna, dessen beschneite
Gipfel eben jetzt zart geröthet wurden; vom Meere, wie vom Lande her steigt
er in einer herrlich geschwungenen, nirgends gebrochenen Linie ebenmäßig zu
majestätischer Höhe empor, in selner ganzen Größe wirkend; in all diese Breite
und Mächtigkeit hinein die ernste rothglühende Sonne, in solchem Moment
nicht wie ein Allgemeines empfunden, sondern wie eine Persönlichkeit, wie
ein Held, der aus seiner Kammer hervorgeht, zu beginnen den Lauf!
Bald kamen wir zu Thal; der Fluß ging noch in gelben reißenden
Wogen. Hunderte von Menschen, alle in ihre blauen Kapuzen gehüllt,
standen mit ihren Eseln und Karren an beiden Ufern und warteten, ob sich
die Ueberfahrt ermöglichen würde. Man glaubt es kaum, daß dieser größte
Fluß Siciliens so lange ohne Brücke bleiben konnte; eine jammervolle Fähre,
auch für den gewöhnlichen Bedarf unzureichend, hat bis jetzt den Verkehr
vermittelt. Das Volk wartete geduldig und fing an sich zu lagern; wir
entließen unsern Wagen, benutzten eine Barke, aus welcher die Passagiere
der Post überfuhren, und fanden drüben unter den Kutschen, die zurück¬
kehren mußten, eine, die uns aufnahm. Der Kerl, der die Ueberfahrt leitete,
sich für einen königlichen Beamten ausgab und auf das Gesetz berief, hatte
uns in die Barke nicht aufnehmen wollen. Die Einheimischen aber erklärten
ihm, er verstände gar nichts vom Gesetze, wir zogen unser Geld hervor, und
Beides steckte er gleich ruhig ein.
So kamen wir wohlbehalten nach Catania zurück.
Da den Abgeordneten des Reichstags nicht erspart wird, den größten Theil
der Zeit mit kritischer Emendation von unfertigen Gesetzesparagraphen zu ver¬
bringen, so gilt ihnen und der Nation als Festtagsverhandlung, wenn sie einmal
die großen politischen Fragen ihres Staates zu erörtern veranlaßt sind. Solche
gute Tage waren die Debatten über bessere Organisation der Bundesregierung und
über Ausdehnung der Bundescompetenz auf das Civilrecht der Deutschen. Beide
Anträge hängen innig zusammen und suchen im Grunde dasselbe Ziel. An beiden
Tagen entsprachen die Verhandlungen im Ganzen der Bedeutung des Gegenstandes,
sie hatten wenigstens eine der Wirkungen, welche von den Antragstellern beabsichtigt
waren, sie lenkten in eindringlicher Weise die Aufmerksamkeit der Regierenden auf höchst
berechtigte Forderungen der Nation.
Das stärkste Interesse, auch ein dramatisches, erregten die Verhandlungen über
den Tochter-Münster'schen Antrag «uf Einsetzung von Bundesministerien. Während
Tochter die Nothwendigkeit verantwortlicher Bundesminister als Consequenz dessen,
was bereits im Bunde gethan sei, darstellte und Graf Münster sehr wohl-
meinend, aber nicht zeitgemäß, als wünschenswerthe Folge ein Kaiserthum der
Hohenzollern am Horizont aufsteigen ließ, betonte der sächsische Bevollmächtigte,
Herr v. Friesen, mit allem in seiner Stellung nöthigen Tact die bundesgemäßen
Rechte und die Selbständigkeit der Einzelregierungen. Det Bundeskanzler über, im
Anfange geneigt, den Antrag als ein Mißtrauensvotum zu betrachten, welches seiner
Oberleitung in schlauer Weise den Widerstand von Fachmimstern entgegensetzen sollte,
gewährte den fesselnden Eindruck eines Politikers. der sich am Ende von der guten
Meinung seiner Gegner überzeugt; erst als Laster ihm sagte, daß der Minister¬
präsident unseres Bundes durchaus das Recht haben solle, Kollegen, mit denen er
nach seiner Ueberzeugung nicht zusammenwirken könne, aus dem Amte zu entfernen,
flog ein Helles Licht über den umwölkten Himmel, die Sonne des Einverständnisses
brach hervor und die 'Verhandlung war beendet. Wahrscheinlich dachten beide
Redner, als sie so bereit waren, unwillkommene Minister zu opfern, nicht
ganz an dieselben Männer, Herr Laster doch Wohl an Graf Eulenburg und Muster,
der Bundeskanzler an einen Anderen und an eine plötzliche Entfernung, deren
Billigung dach die öffentliche Meinung ihm unsicher schien, und deretwegen er
vielleicht gar in geheimer Seele den Antrag der nationalen Partei als eine
Aufkündigung dreijährigen Vertrauens empfand,. — Von allen Seiten wurde bei
der Debatte gut gesprochen, und doch gönnte der Lauf der Dinge dem Punkt,
worauf es ankam, nicht genügende Ausführung. Denn ob die gewünschten Bundes¬
minister unter der besonderen Art von Verantwortlichkeit stehen, welche einem Reichs¬
tage verstattet, in gewissen feierlichen Rechtsformen als ihr Ankläger oder gar als
Richter aufzutreten, das ist in Wahrheit gar keine Sache, über welche jetzt ersprie߬
lich verhandelt werden kann; diese Verantwortlichkeit ist Folge einer Herrschaft des
Parlamentarischen Systems im Staatsleben, einer Herrschaft, welche gegenüber der
Krone, den Ministern und auch dem Volke nicht durch Gesetzesparagraphen allein
gegeben werden kann; und wir dürfen in diesem Sinne Wohl sagen: Minister sind
einer Volksvertretung zu jeder Zeit gerade so weit verantwortlich, als Muth und
Kraft der Volksvertretung reicht. In keinem Fall soll uns dies Maß unserer Kraft
gerade jetzt Sorge machen. Auch das Verhältniß der Minister zu ihrem Chef, dem
Kanzler, ist uns gar nicht Hauptsache. Ja auch nicht der Titel Minister. Dagegen
suchen wir in der Debatte vergebens eine genügende Darstellung der wichtigsten Uebel¬
stände, welche gegenwärtig durch den Mangel an Bundesministerien entstehen. Zu diesen
Uebelständen gehört vor Allem in Abwesenheit einer höchsten Verwaltungsinstanz, welche
die gleichmäßige Ausführung der erlassenen Gesetze controlirt und neue Gesetzvorlagen
mit der wünschenswerten Gründlichkeit vorbereitet. Daß jetzt eine große formelle
Ordnung und ein geschäftlicher moäus vivsnäi besteht, wird Niemand bezweifeln, der
die Genauigkeit der preußischen Verwaltung kennt. Daß auch die Maschine, unfertig
wie sie ist, oft mit junger Kraft und zum Segen für die Nation arbeitet, geben
wir mit dankbarem Herzen zu. Aber ebenso klar ist, daß weder Herr v. Delbrück
und sein Bureau, noch die zugeordneten Bundesrathe trotz aller Arbeitskraft irgend¬
wie ausreichen, eine gleichmäßige sichere Continuität der Bundesverwaltung darzu¬
stellen. Wir sind in eifriger Gesetzgebung, welche ziemlich das ganze Verkehrslcben
der Deutschen umfaßt, aber die Ausführung dieser Gesetze ist dem Belieben und der
Auffassung in den Einzelstaaten völlig anheimgegeben. Wie Mecklenburg oder Lippe
die Gesetze verstehen zu deuten, biegen, das steht jetzt bei ihnen. Ebenso aber, wie
wir einen Bundesgerichtshof für Handelssachen zu schaffen genöthigt sind, um Gleich¬
mäßigkeit in den Rechtsanschauungen hervorzubringen und die Differenzen in den
Rechtssprüchen durch eine einheitliche letzte Instanz auszugleichen, gerade so bedürfen die
Regierungen für ihre Anschauungen über Anwendung der Verkehrsgesetze eine reget>
mäßig arbeitende, in schonender Form ausgleichende letzte Instanz. Daß in den
Bundesfinanzen ebensosehr eine von dem preußischen Finanzministerium unabhängige
Instanz, welche dem Bundeskanzler allein untersteht, Bedürfniß geworden, wurde
im Reichstag angedeutet, die Doppelstellung des Kriegsministeriums kaum er¬
wähnt.
Nicht weniger ersehnt die Gesetzgebung des Bundes eine Befestigung der unter
oberster Bundesleitung arbeitenden Kräfte. Wir haben am Bundesgewerbegesetz und an
dem Gesetzentwurf über literarisches Eigenthum die Erfahrung gemacht, daß die Ar¬
beiten der zufällig erwählten preußischen Juristen oder Verwaltungsbeamten nicht
ausreichen, um gute Gesetzvorlagen zu machen. Auch der Bundesrath, einige Wochen
vor dem Reichstag einberufen, vermag, wie förderlich seine Mitwirkung in vielen
Fällen ist, selbst in dem Fall nicht genügende Garantien für eine gut durchgearbei¬
tete Gesetzvorlage zu geben, wenn den einzelnen Regierungen diese Vorlagen vorher
zu ruhiger Prüfung in das Haus gesandt worden sind. Es ist zufällig, ob die Re¬
gierungen resp, die Commissionsmitglieder im Bundesrath die volle Sachkenntniß
besitzen, und ihnen macht außerdem das politische Interesse ihrer Heimath dem sach¬
lichen Concurrenz. Die Folgen einer ungenügenden Durcharbeitung der Gesetzes¬
vorlagen aber sind, daß dem Reichstage nicht erspart wird, Hunderte von Para¬
graphen eines Gesetzes selbst zu corrigiren und zu amendiren. Wir Deutsche haben
darin allerdings eine eigenthümliche Praxis gewonnen, welche wahrscheinlich der Zu¬
kunft als merkwürdige Signatur unserer Zeit gelten wird; aber solche Arbeit ist
doch eine ganz falsche Verwendung der parlamentarischen Kraft einer Nation. An
ihre Stelle müßte, was bei einzelnen Gesetzen erfolgreich begonnen wird, durchweg
treten: gründlichste Durcharbeitung der Vorlagen in den einzelnen Ressorts mit Zu¬
ziehung von Sachverständigen.'
Ob die Annahme des Tochter-Münsterschen Antrags in diesem Sinne irgend
welche praktischen Folgen haben wird, darüber vermögen wir aus den Verhandlungen
nichts zu entnehmen, und das ist, was uns trotz vieler guten Worte die Freude an
den gepflogenen Erörterungen verkümmert.'
Die folgende Verhandlung über den Miquöl-Lasterschen Antrag: Ausdehnung
der Bundescompetenz über Civilrecht und Strafrecht, gerichtliches Verfahren und Or¬
ganisation der Gerichte war ein siegreicher Kampf gegen die Particularisten; nicht
Herr v. Friesen, sondern Herr v. Zehner sprach hier als Gegner. Der Antrag
erhält Unterstützung durch einen gleichzeitigen Antrag Hamburgs beim Bundesrath,
welcher einheitlichen obersten Gerichtshof für alle Rechtsverhältnisse des Bundes for¬
dert. Was unsere Freunde im Reichstag wollen, ist bekanntlich in der Hauptsache
kein neu erfundenes Project, sondern nur Erweiterung thatsächlicher Vereinbarung
zwischen deutschen Regierungen (Obligationenrecht) aus der Zeit des alten Bundes.
Außer der juristischen Bedeutung hat der Antrug auch eine eminente politische.
Seine Annahme und Durchführung würde die Stellung des Reichstags zum preu¬
ßischen Landtag wesentlich ändern und in der schonendsten Weise einen Dualismus
beseitigen helfen, in welchem, wenn er weit hinaus verlängert wird, der Staat zer¬
rüttet und die Vertreter des Volkes Physisch und geistig aufgerieben werden. Auch
bei diesem Antrag wissen wir nicht, ob seine Annahme sofort Praktische Folgen
haben wird.
Aber beide Anträge der nationalen Partei sind von jetzt ab gleich Marken
gestellt, welche die inneren Machtgrenzen des neuen deutschen Bundes und die nächste
patriotische Arbeit unserer Staatsmänner bezeichnen sollen.
„Wir wollen uns nicht auf das politische Gebiet begeben, nicht in der
Zukunft forschen, was da kommen wird, sondern einzig fragen: welcher Weg
ist unter den gegebenen Verhältnissen möglich, um die nothwendige Rechts¬
einheit, die endlich mit Mühe errungen zu sein scheint, zu wahren und eine
gemeinsame Fortbildung zu sichern? . . . Gegenwärtig ist nur ein Einheits¬
organ möglich, das ist ein deutscher Gerichtshof."
Mit solchen Worten empfahl vor nunmehr fast acht Jahren, im
Mai 1861, Dr. Goldschmidt in Heidelberg dem eben begründeten deut¬
schen Handelstage, dessen Mitglieder andächtig dem gediegenen Vortrage
des berühmten Handelsrechtslehrers lauschten, die Resolutionen des Aus¬
schusses über Handelsgesetzbuch und Handelsgerichte, von denen die eine
also lautete: „Es möge durch Vereinbarung der deutschen Regierungen und
Stände baldmöglichst ein gemeinsamer oberster deutscher Gerichtshof zur Er¬
haltung der Einheit und gemeinsamen Fortbildung des deutschen Handels¬
rechts ins Leben treten." Badenser und Sachsen, Preußen und Württem¬
berger stimmten freudig dem Antrage zu, kein Widerspruch erhob sich. Und
es waren nicht Schwärmer und Idealisten, die also stimmten, sondern nüch¬
terne, praktische Kaufleute unter Vater Hansemann's Vorsitz. Auch als drei
Jahre später Dr. Braun-Wiesbaden vor dem volkswirthschaftlichen Congresse
in Hannover einen sast gleichlautenden Commissionsantrag begründete, durste
er noch getrost behaupten, daß dahinter unmöglich jemand Mediatisirungs-
gelüste oder sonst politische Zwecke wittern könne; „denn Richter", sagte er.
„sind eigentlich nur Rechtstechniker, die das Recht finden sollen."
Es ist uns im Augenblicke nicht erinnerlich, ob nicht selbst Herr von Beust
in einer der bezaubernden Reden, mit denen er als sächsischer Premier die Ohren
Europas auf sich zu richten und die Herzen politischer Kinder zu bethören liebte,
die Idee eines obersten Gerichtshofs für den Bund hat schillern lassen; zu
national wäre -sie ihm jedenfalls dazu nicht erschienen. Ob dann freilich,
wenn man Ernst gemacht hätte, Einigkeit zu erzielen gewesen wäre unter
den dreißig und etlichen Regierungen, deren einige es für ein zu hartes Opfer
an ihrer Souverainetät hielten, auch nur ein gemeinsames Patentamt zu er¬
richten — das stand auf jenem anderen Blatte, welches in europäischen
Reden überschlagen zu werden pflegt. Hätte aber ein Mann aus dem Volke
mit beschränktem Unterthanenverstande, hätte ein öffentliches Blatt die Idee
als „zu national" verwerfen wollen, es wäre ihnen der wohlverdiente Hohn
von keiner Seite erspart worden.
Und jetzt? „Wir sind jetzt endlich in der glücklichen Lage, einen solchen
Gerichtshof schaffen zu können. Es sind viele Gemüther hungrig und durstig
nach der Erfüllung der Versicherungen und Hoffnungen, die der norddeutsche
Bund genährt und die schon lange zuvor im deutschen Volke geherrscht hatten.
Zeigen wir ihm, daß wir gemeinsame Institutionen schaffen können und
wollen!" Wem hätte der Abgeordnete Stephani diese Worte nicht aus dem
Herzen geredet? Und doch! wir brauchen nicht zu suchen nach solchen, denen
die Idee so verhaßt ist wie der Eule das Tageslicht; weder im Reichstage
noch außerhalb.
Selbstverständlich sind es rein sachliche Bedenken, formelle Gewissens-
scrupel, zum Theil auch nur Opportunitätsgründe, welche man der von der
sächsischen Regierung angeregten, von weit mehr als zwei Drittel der Stim¬
men im Bundesrathe empfohlenen Maßregel entgegenhält. Wie unhöflich
von dem Abgeordneten Blum, den Gegnern vorzuwerfen, das sei eben das
System der Particularisten. daß sie, wenn wir einen Schritt zur Einigung
thun wollen, uns daran hindern, weil sie wissen, daß solche Schritte zum
Vorwärtskommen nöthig sind.
So ist z. B. der Abgeordnete Windthorst-Meppen im Allgemeinen ganz
einverstanden mit seinem verehrten College» Laster; er hält insbesondere —
abweichend von Herrn von Zehner, dem ein einheitlicher Specialgerichtshof
noch nicht genügt — die Errichtung eines obersten Handelsgerichts für eine
Sache von der allergrößten Wichtigkeit und hat nur das eine völlig harm¬
lose Bedenken, daß eine so vortreffliche Sache weit besser durch gegenseitige
Vereinbarung der betheiligten Staaten, als auf diesem schmucklosen Wege
des Gesetzes erzielt werden könnte. Das war freilich idyllischer in der Eschen-
heimer Gasse, als noch Lippe-Schaumburg oder Reuß-Schleiz selbst den libe.
raken Launen eines Beust gegenüber sagen durften: Es wird nichts daraus!
Da galt noch das „Selbstbestimmungsrecht der Nationen", gehandhabt von
der Elite der Diplomatie. Doch nein, der Abgeordnete Windthorst hat sich
rein auf den juristischen Standpunkt gestellt und wird dafür auch von der
„Sächsischen Zeitung" als einer der ersten jetzt lebenden Juristen gepriesen.
Herr von Zehner aber fürchtet, bei dem Mangel einer einheitlichen Proce߬
ordnung möchte der Gerichtshof, statt der von ihm öd sehr ersehnten Einheit,
nur Vtelspaltigkeit erzeugen.
Ausführlich geht auf die technischen Bedenken gegen den Entwurf eine
speciell diesem Zwecke gewsdniete Broschüre*) ein, die, in Berlin erschienen,
nach dem Wasser der Niederelbe oder Trave schmeckt. In der vom 26. März
datirten Vorrede zu dem uns heute erst (17. April) als Novität zugekommenen
Schriftchen erklärt der ungenannte Verfasser ausdrücklich, die Frage nicht erörtern
zu wollen, „ob es Billigung verdienen würde, diejenigen Bundesstaaten, welche
in der Verwirklichung des Vorschlags eine Gefährdung und Verkümmerung
ihrer Rechtspflege erblicken und erblicken müssen, zur Annahme der Maß.
reget zu nöthigen." Wir dürfen folglich überzeugt sein, haß wir es mit
einem völlig unparteiischen Manne zu thun haben.
Der Verfasser findet zunächst die dem neuen Gerichtshofe zuzuweisende
Thätigkeit „in hohem Grade abnorm" und vermißt insbesondere eine Be¬
stimmung darüber, nach welchen processualischen Vorschriften dieses seine Ent¬
scheidungen zu fällen hat. Unseres Wissens enthält der Entwurf die ausdrück¬
liche Bestimmung, daß in der Reges das Proceßgesetz des Gebiets maßgebend
sein soll, aus welchem die Sache an dqs Oberhandelsgericht gelangt. Das
ist freilich dem Verfasser undenkbar: „ein solcher Gerichtshof ist sicherlich
weder jemals projectirt worden, poch hat er, zu irgend einer Zeit bestanden."
Das Erstere widerlegt sich, wie gesagt, durch die Vorlage selbst. Wegen
des zweiten möchten wir allerdings nicht gern an das Reichskammergericht
erinnern. Aber müssen nicht auch das Oberappellationsgericht zu Lübeck,
dessen der Verfasser an anderer Stelle mit Hochachtung gedenkt, ferner das
zu Jena, von dem der Abgeordnete Endemann aus Erfahrung berichten konnte,
und ebenso das Berliner Obertribunal mit je mehreren und zum Theil sehr
verschiedenartigen Proceßrechten arbeiten? Und was hat denn der deutsche
Juristentag, dessen Mitglieder doch die Zerrissenheit unserer Rechtszustände
am eigenen Leibe genugsam erfahren, sich dabei gedacht, als er bei seinem
ersten Zusammentritt, sechs Jahre por deur Schlafengehen des Bundestages,
sich für einen gemeinsamen oberstes, Gerichtshof aussprach und dabei bezüglich
des Wechselrechts und des zu schaffenden gemeinsamen Handelsrechts dessen
sofortige Errichtung als wünschenswerth bezeichnete? War damals kein
Zehner da, um von so unbesonnenen Beginnen abzurathen? — Die Mög¬
lichkeit, daß die deutsche Civilproceßordnung zu Stande kommt, ehe das Ge¬
bäude für den neuen Gerichtshof fertig ist, wollen wir ganz bei Seite lassen.
Wir gehen wefter.
„Durch die in der nächsten Zeit zu erwqrtende Publication der Wechsel¬
ordnung und des Handelsgesetzbuchs als Bundesgesetze — so war in den
Motiven des vorliegenden Entwurfs gesagt — „wird eine gemeinsame Ge¬
setzgebung für das Wechsel- und Handelsrecht im Gebiete des norddeutschen
Bundes erzielt werden. Indeß scheint diese Gemeinsamkeit dadurch wieder
gefährdet, daß die obersten Gerichtshöfe in den verschiedenen Bundesstaaten
die Bestimmungen der Wechselordnung und des Handelsgesetzbuchs in ver¬
schiedener Weise auslegen, wie dies aus den in großer Zahl veröffentlichten
Entscheidungen dieser Gerichtshöfe hervorgeht. Es würde daher der durch
die Gemeinsamkeit der Gesetzgebung erreichte Vortheil verkümmert werden,
wenn nicht die Entscheidung derjenigen streitigen Rechtsverhältnisse, sür welche
eine gemeinsame Gesetzgebung besteht, einem gemeinschaftlichen obersten Ge¬
richtshofe überwiesen und dadurch einer abweichenden Auslegung jener Ge¬
setze möglichst vorgebeugt wird." Der Verfasser der „Bedenken" glaubt
Zweifel darüber erheben zu dürfen, ob nicht die Auffassung der Motive eine
zu ungünstige sei; „den deutschen Richtern", sagt er. „wird Niemand Ein¬
sicht und Gewissenhaftigkeit absprechen, und doch würde es nur bei dem
Mangel an der einen oder der anderen dieser Eigenschaften, oder an beiden,
geschehen können, wenn durch die Richtersprüche unwissentlich oder gar wissent¬
lich die Gesetze verletzt (!) und die von der Gesetzgebung erstrebte Rechtssicherheit
untergraben würden." Der Verfasser scheint hier auf ein sehr naives Publi-
cum gerechnet zu haben, dem eine so handgreifliche Verdrehung entgehen
könnte. Wer nur einmal in den Borchardtschen Kommentar der deutschen
Wechselordnung einen Blick geworfen hat. der kann über die Richtigkeit des
in den Motiven Gesagten nicht in Zweifel sein; die Ausgabe dieses mit
Bienenfleiß gearbeiteten Werkes gibt nicht weniger als 886 „Zusätze" zur
Wechselordnung, und 631 Anmerkungen enthalten dazu so zahllose „Präju-
dicien" der so und so viel obersten Gerichtshöfe, daß ein schwindelfreier Kopf
dazu gehört, um sich in diesem wohlgeordneten Labyrinthe nur über einen
einzelnen Artikel zu ortentiren. Und dabei ist unsere Wechselordnung aner¬
kanntermaßen ein vorzügliches Gesetz, so musterhaft redigirt, daß die nach
zehn Jahren mit der Revision beauftragte Commission kaum einige wenige
Punkte zu ändern fand. Der „Nothstand", welchen der Verfasser erwähnt,
ist in der That vorhanden.
Ein anderes Bedenken ist eher geeignet, den Laien zu blenden. Das
Handelsgesetzbuch, sagt unser Schriftchen, enthält nur einen kleinen Theil der
rechtlichen Normen, welche im Handelsverkehr zur Anwendung kommen. Man
muß das bürgerliche Recht zu Hilfe nehmen; kaum eine schwierige Handels¬
sache läßt sich beurtheilen, ohne daß man auf die entsprechenden Partieen
des Civilrechts (Kauf. Mandat. Mietsvertrag u. s. w.) eingeht. Und da nun
jeder Laie weiß, daß das Civilrecht in Deutschland ein sehr vielgestaltiges ist.
so wird er natürlich vor diesem^ gelehrten Einwände gebührend zurückschrecken.
Er mag sich nur beruhigen; in den Punkten des Civilrechts, die hier in
Frage kommen, differiren unsere.Particulargesetze nur selten; und wo das
der Fall ist, da gilt eben wieder das oben vom Proceßrecht Gesagte.
Mit Vorliebe behandelt schließlich der Verfasser das Seerecht und hier
ist es nicht sowohl die Idee eines obersten Gerichtshofes an sich, welche ihm
Schrecken einflößt, als die Wahl der Binnenstadt Leipzig zum Sitze desselben.
Für dieses war in den Motiven geltend gemacht die centrale Lage — mit
Recht hat man dabei den künftigen Eintritt der Südstaaten in Rechnung
gezogen, in denen die Angelegenheit mit begreiflichen Interesse verfolgt
wird —, die Universität, die commercielle Bedeutung des Platzes, seine Stel¬
lung zum deutschen Buchhandel; auf seine nationale Gesinnung hat Laster
ergänzend hingewiesen. .Das Einzige" - so schließen die Motive — „was
Leipzig fehlt, ist die Schifffahrt. Allein abgesehen davon, daß diese mit neu-
traler Lage nirgends vereinigt zu finden ist, erfreut sich die Seeversicherung,
welche Kenntnisse in fast allen Theilen des Seerechts voraussetzt, in Leipzig
einer gedeihlichen Entwickelung, und außerdem wird bei der Wahl der Mit-
glieder des obersten Gerichtshofs auf eine gründliche Vertretung des See¬
rechts besondere Rücksicht zu nehmen sein." Mit gutem Grunde hat der
Abg. Stephani den Einwendungen der Gegner das Beispiel des Berliner
Obertribunals entgegengesetzt; und die offene Erklärung des Abg. Meier-
Bremen, für die Vorlage stimmen zu wollen, wird auch die Bedenken ängst¬
licher Gemüther zerstreut haben.
Die sachlichen Bedenken erweisen sich nach alle dem so fadenscheinig, daß
es den Gegnern des Entwurfs nicht gelingen wird, die Blöße ihrer wahren
Herzensmeinung damit zu bedecken. Und zum Ueberfluß wird diese uns von
der Sächsischen Zeitung, die bei dieser Gelegenheit wieder einmal als erMilt
terridls der Partei auftritt, offen verkündet. Sie beklagt das offene Dementi,
das die sächsische Regierung der Sache des Particularismus gegeben, und
stimmt eine Elegie an um das bedrohte „Recht des Landes auf den
Besitz vaterländischer Gerichtshöfe." Das ist es. Zur Zeit des
heiligen römischen Reichs war auch keine Stadt, keine „Immunität" zufrie¬
den, wenn sie nicht ihre Strauchdiebe an ihren eigenen Galgen hängen konnte,
und das „jus Ah vor» axpellaiulo" war das Symbol der sich entwickelnden
Landeshoheit. Wehe der Regierung, die sich dieses Hoheitsrechts entäußert.
Sie begibt sich vamit auf eine schiefe Ebene, und Arm in Arm mit „den
„nationalen, einem Laster und Consorten", rutscht sie unaufhaltsam dem
Einheitsstaat in den Rachen.
Das ist die wahre Meinung. Sollen wir es da mit der „freien Ver-
einbarung" des ehemaligen Ministers Windthorst versuchen? Uns scheint
denn doch der „Weg des Gesetzes" sicherer. Aber die Competenz! Nun, wir
meinen, der Hinweis des Bundescommissars v. Friesen auf die Zweidrittel¬
mehrheit, den die Sächsische Zeitung als das unzweideutige Eingeständniß
proclamirt, „daß man es mit einer Perfassungsänderung zu thun hat", wäre
unnöthig gewesen. Dem Bunde steht die Gesetzgebung zu auf dem Gebiete
des Handelsrechts wie d?s Processes. Zur wirklichen Durchführung dieser Gesetz¬
gebung ist ein oberster Gerichtshof das unerläßliche Mittel — sollte eß ihm
versagt sein? Ein so besonnener Staatsrechtslehrer wie v. Gerber rechnet
„die Organisation und Instruction der Behörden im Affgemeinen unter daß
Verordnungsrecht des Monarchen", weil sie nur „die Ausführung des als
Gesetz oder sonst bestehenden Rechts" betreffen — sollen die besten gesetz¬
gebenden Factoren des Bundes weniger vermögen? — Doch genug, w,ir
werden den Bau, der die deutsche Rechtseinheit bedeutet, sich erheben sehen
und das Gekrächze des Nachtgevögels, dqs ihn umschwirrt, wird sein Vor¬
wärtsschreiten nicht Hinhern.
Nur warnen möchten wir noch zum Schlüsse vor dein, Antrage, mit dem
Hamburg ganz neuerdings den regelmäßigen Gqn^g der Verhandlungen ge¬
kreuzt hat: gleich für alle Processe sowohl in Strafsqchen, wie in priyqt-
rechtlichen Streitigkeiten, mindestens aber für letztere, einen gemeinsamen
obersten Gerichtshof einzusetzen. Der Antrag mag gut geryeint sein, aber er
hat bedenkliche Ähnlichkeit mit einem Schachzuge gegen den gqnzen Plan,
und die Uebereinstimmung mit der Ansicht des Herrn v. Zehner dient plebe
gerade dazu, ihn vor dem Verdachte dieser Aehnlichfeit zu schützen. Möge man
sich an das zunächst Rothwendige und zunächst Erreichbare halten, eingedenk
des qlten Wortes, daß das Bessere der Feind des Guten ist.
Große Nationen genießen den Vorzug, daß sie nicht nur Zeugen bös.
iytellectuellen Lebens anderer großer Nationen sind, sondern durch ihre eigen,?
Entwickelung Einfluß auf fremdes Volksleben üben. In einem ungünstigen
Verhältniß stehen kleinere Völker. Ihr ganzes geistiges Dasein ist eng um¬
grenzt und wird außerdem der ihm gebührenden Stellung beraubt, schon
weil ihre Sprache nur von wenigen Fremden yerstanden wird. Uebersetzungen
ihrer geistigen P-olucticnen seltener stattfinden und außerdem keinen ge-
nügenden Einblick in ihr Leben geben. So geschieht es uns Holländern
häufig, daß wir draußen — und nicht zuletzt in Deutschland — schiefen
Vorstellungen über unsere Zustände, häufiger noch gänzlicher Unkenntniß
derselben begegnen. Und doch kann ein kleines Volk einen ebenso eigenarti¬
gen und kraftvollen Entwickelungsgang durchmachen wie ein großes. Ist
doch det Organismus eines kleineren Individuums nicht weniger gegliedert
als der des großen, und nehmen doch die Factoren im Leben einer Nation
nicht immer mit der Zahl ihrer Köpfe zu!
Ein in der letzten Zeit mit dem Nationalbewußtsein erwachter National¬
dünkel veranlaßt Manchen in Deutschland, auf vieles Ausländische mit Ge¬
ringschätzung herabzusehen. Dennoch glaube ich, daß je der vorurtheilsfreie
Deutsche gern die Bekanntschaft auch holländischer Zustände verwerthen wird,
zumal wenn dieselben in mancher Rücksicht der Nachahmung werth sind.
Der Zweck dieser Zeilen ist, den Lesern der „Grenzboten" das möglichst
getreue Bild eines Kampfes zu geben, der in der letzten Zeit sowohl in
Deutschland als auch in anderen Ländern begonnen hat, in den Nieder¬
landen jedoch schon seit längerer Zeit geführt wird. Es ist der Streit der
konfessionellen gegen die confessionslose, neutrale Schule.
Im Gegensatz zu anderen Ländern besteht in den Niederlanden die neu¬
trale Schule als bereits anerkanntes Staatsinstitut; dieses Institut wird von
einem Feinde angegriffen, der sich die „christlich-nationale Partei" nennt
und Herrn Groen van Prinsterer zum Führer hat. Diese Partei, die auf
rein politischem Gebiete eher liberal als conservativ genannt werden muß,
hät in der letzten Zeit an den Ultramontanen einen Bundesgenossen in
ihren Bestrebungen auf dem Felde des Schulstreites erhaltet! und schließt sich
zuweilen auch den politisch ConservattveN 'an.
Nachdem im Jahre 1795 die reformirte Kirche als Staatsreligion ge¬
fallen war und alle Confessionen gleiche Rechte erhalten hatten, entstand im
Jahre 1806 ein Schulgesetz, nach welchem alle öffentlichen, durch die Re¬
gierung öder bürgerliche Gemeinden errichteten Elementarschulen konfessions¬
los sein sollten. Privatschulen konnten konfessionell sein, bedurften aber zu
ihrer Errichtung der Zustimmung der örtlichen Schulbehörde. Unterricht
durften nur examinirte Lehrer ertheilen, und zwar bestand ein besonderes
Examen für die Hauptlehrer, die einer Schule selbständig vorstehen durften,
und eines für Hülfslehrer. Der Religionsunterricht war von den Stäats-
schulen ausgeschlossen und obwohl die Richtung des Unterrichts religiös sein
sollte, so durfte doch nichts vorgetragen werden, was der eintzn oder anderen
Confession anstößig erscheinen konnte. Schulgeld konnte zwar erhoben vier¬
ten. rbÄr aber meistens nicht gebräuchlich. Der Religionsunterricht war den
kirchlichen Gemeinden überlassen.
Dieser Zustand blieb ziemlich unverändert bis zur Einführung deS Ge¬
setzes von 18S7, welches in Folge des im Jahre 1848 durch die combinirte
erste und zweite Kammer festgestellten Staatsgrundgesetzes von beiden Kam¬
mern angenommen wurde.
Der betreffende Artikel dieses Grundgesetzes lautet:
„§. 194. Der öffentliche Unterricht ist Gegenstand fortwährender Re¬
gierungssorge.
Die Einrichtung des öffentlichen Unterrichts geschieht mit Achtung vor
Jedermanns religiösen Meinungen.
Ueberall im Staate wird von Obrigkeits wegen genügender öffentlicher
Elementarunterricht gegeben.
Unterricht zu ertheilen steht Jedem frei unter Vorbehalt der Aufsicht
der Behörde, und außerdem, was den Real- und Elementarunterricht betrifft,
eines Examens über die Fähigkeit und Sittlichkeit des Lehrers. Ein Gesetz
regelt das hierauf Bezügliche/'
Man ersieht aus diesem Paragraphen, daß der Grundgedanke, auf
welchem die frühere Schulgesetzgebung beruhte, auch bei der Feststellung des
neuen Staatsgrundgesetzes vorgewaltet hatte.
Das Ministerium Thorbecke, unter welchem im Jahr 1848 die neue
Constitution zu Stande gekommen war, fiel in Folge der sogenannten April¬
bewegung von 18S3, Der Staat war confessionslos, neutral erklärt, allen
Religionen und Confessionen waren gleiche Rechte ertheilt, und das Ministe¬
rium Thorbecke schloß auf Grund dieses von den Kammern ausgesprochenen
Princips ein Concordat mit dem päpstlichen Stuhl ab, nach welchem dem
Papste die Ernennung der Bischöfe, der katholischen Kirche die Errichtung von
Priesterseminarien, kurz alle die Rechte eingeräumt wurden, die jener Kirche
schon nach dem Staatsgrundgesetz zukamen. Obgleich dieses Concordat durch
die Kammern sanctiomrt war, wurde im Lande eine Agitation hervorgerufen,
der gegenüber das Ministerium Thorbecke abtrat.
Das neue Ministerium van Rheenen machte nun den Kammern in den
Jahren 18S4 und 18S5 zwei Vorlagen eines neuen Schulgesetzes, in welchem
die Neutralität des Staates consequent festgehalten wurde, und demgemäß
nicht mehr wie im Gesetze von 1806 vom Christenthum oder von christlichen
Tugenden die Rede war. Das Cabinet meinte mit Recht, daß, da im Grund¬
gesetz bestimmt sei, daß der Unterricht mit Ehrerbietung vor Jedermanns reli¬
giösen Meinungen eingerichtet sein solle, damit zugleich Achtung vor dem
Christenthum gefordert sei, von einem unchristlichen Charakter der Schule also
nicht die Rede sein könne. Bei der Trennung zwischen Staat und Kirche
habe der erstere nur für die Sittlichkeit der Schule zu sorgen und müsse der
letzteren die Sorge für den Religionsunterricht überlassen bleiben. — Gegen
diese Auffassung wurden die seit dem Concordatsstreite noch nichtberuhigten
Gemüther des Volkes wieder aufgeregt, und die Folge dieser Agitation
war eine Menge Adressen, aus denen man jedoch keinen allgemein aus-
gesprochenen Wunsch formuliren konnte.
Das Gesetz vom Jahre 1806 sprach von „christlichen Tugenden", der
Entwurf van Rheenen nicht. Man spiegelte dem Volk vor, die Liberalen
wollten unchristliche Schulen haben, um damit das Christenthum zu beseitigen.
Das war dem religiösen Sinn der Holländer, die mit dem Geiste des Ge¬
setzes vom Jahre 1806 zufrieden gewesen waren, und die Segnungen des¬
selben kennen gelernt hatten, zu arg. Daher rührte der Petitionensturm.
Einige Adressen verlangten Confessionsschulen, andere allgemein christliche,
und wieder andere besondere Schulen für die Jsraeliten. Hauptsächlich schien
aber der Geist des Volkes durch Auslassung des Passus „christliche Tugenden"
in Aufregung gebracht worden zu sein.
Das Cabinet van Rheenen. seiner Ueberzeugung treu bleibend, trat ab,
und das Ministerium Simons-van der Brugghen wurde sein Erbe. Von
diesem erwartete die ultra-orthodoxe Partei — oder besser gesagt die christ-
lich-nationale Partei des Herrn Groen van Prinsterer —ihr Heil; gehörten
doch die Hauptpersonen des Cabinets ihr an. Sie wurde indessen gründlich
enttäuscht, da das von dem Cabinet mit der Majorität der Kammer nun¬
mehr vereinbarte Gesetz von dem Entwurf van Rheenen nur durch Hinzu¬
fügung des Ausdrucks „christliche Tugenden" abwich.
Die „christlich-nationale Partei" hatte sich beim Concordatsstreite mit
den Conservativen zum Umsturz des Ministeriums Thorbecke vereinigt, und
Herr Groen hatte gehofft, daß seine Partei zur Belohnung für ihre Hülfe
gegen Thorbecke jetzt durch die Conservativen in der Schulfrage unterstützt
werden würde. Aber diese Conservativen verließen ihre bisherigen Freunde
und stimmten mit Liberalen und Katholiken für die neutrale Schule. Das
Gesetz wurde mit 47 gegen 13 Stimmen in der zweiten Kammer angenom¬
men. Die Artikel, worin die Neutralität der Schule ausgesprochen ist, lauten
jetzt folgendermaßen:
„§. 16. In jeder Gemeinde wird der Elementarunterricht in einer der
Bevölkerung und dem Bedürfniß entsprechenden Anzahl Schulen ertheilt, die
allen Kindern ohne Unterschied des Glaubensbekenntnisses zugänglich sind.
§. 23. Die Schule bezweckt, die Verstandeskräfte der Kinder durch Unter¬
richt in zweckmäßigen und nützlichen Kenntnissen zu entwickeln und dieselben
zu allen christlichen und bürgerlichen Tugenden zu erziehen.
Der Lehrer vermeidet Alles zu lehren, zu thun oder zu lassen, was gegen
die Achtung, die den religiösen Ansichten Andersdenkender gebührt, streitet.
Der Religionsunterricht wird den kirchlichen Genossenschaften überlassen.
Zu diesem Zwecke kann über die Schulräume, außer der Schulzeit, zum
Besten der Schüler verfügt werden."
Das einzige Zugeständnis, das den Christlich-nationalen gemacht wurde,
war also das Wörtchen „christlich" in §. 23 obenstehenden Gesetzes, und die
schon aus dem Staatsgrundgesetz resultirende Freiheit, so viel Privatschulen
zu errichten, als man wollte. Diese Freiheit war der berechtigten Beschränkung
unterworfen, daß der Unterricht nur durch examinirte Lehrer gegeben werden
durste, und daß er von der Behörde überwacht wurde.
War einmal das Princip angenommen, daß die Sorge für den Unter¬
richt dem Staat anheimfiel, so mußte der Staat auch ein Mittel haben, um
denselben in den Privatanstalten überwachen zu können.
Dasselbe Wörtchen „christlich" hat bei dem Streit über das Schulgesetz
auch in den letzten Jahren eine große Rolle gespielt. Bei den Berathungen
in den Kammern wollten viele Abgeordnete dasselbe gestrichen sehen, da die
Staatsschule auch den Nichtchristen, namentlich den Juden, geöffnet sein müsse,
und hauptsächlich erklärten sich katholische Abgeordnete dagegen. Nach der
Erklärung der Negierung jedoch, daß mit christlichen Tugenden keine anderen
gemeint seien, als die Tugenden, die ein hauptsächlich aus Christen bestehender
Staat mit auf christlichen Principien beruhenden Einrichtungen von seinen
Bürgern verlangen müsse, der Begriff „christlich" hier also mit „bürgerlich"
ziemlich gleichbedeutend sei, beruhigte man sich über die Redaction des
Artikels.
Allgemein war man in den ersten Jahren nach dem Jahr 1857 mit dem
Schulgesetz zufrieden; nur Herr Groen van Prinsterer nicht, der jedoch als
Abgeordneter bei den übrigen Mitgliedern der Kammern keine Unterstützung
mehr fand und darum sein Mandat niederlegte, Man fand die zugestandene
Freiheit, Privatschulen ohne Erlaubniß der Behörde errichten zu dürfen, für
alle Parteien genügend. Wer mit dem Staatsunterrichte nicht zufrieden war,
konnte sich andern verschaffen. Ja, bei den Berathschlagungen über das
Staatsgrundgesetz im Jahre 1848 hatte die conservative Partei (die Christlich-
Nationalen bestanden damals noch nicht) gegen die Freiheit, die das liberale
Ministerium den Privatschulen gewähren wollte, opponire und zwar, aus
Furcht davor, daß kirchliche 'Behörden und Genossenschaften Sectenschulen
errichten und dadurch den Staatsschulen nachtheilig werden könnten.
Wie ist es nun dem Herrn Groen van Prinsterer gelungen, eine förm¬
liche Agitation gegen dieses Schulgesetz, das sowohl auf der Tradition als
auf dem Charakter des Volks beruhte, ins Leben zu rufen? Nach dem Zu¬
standekommen des Schulgesetzes forderte er überall zur Errichtung von Ver¬
einen „für christlich-nationalen Unterricht" auf, die auch an vielen Orten ent¬
standen. Jedoch stellten sich der Errichtung und Erhaltung der beabsich-
tigem Seelen - resp, der orthodox-protestantischen Schulen finanzielle Hinder¬
nisse in den Weg.
Die von den bürgerlichen Gemeinden unterhaltenen Staatsschulen waren
überall für die ärmeren Classen und theilweise auch für die mittlere Bürger¬
classe unentgeltlich; sollten die Sectenschulen bevölkert werden, so mußte man
den Kindern der Armen ebenfalls unentgeldlichen Unterricht ertheilen. Bei den
Staatsschulen bezahlten durchschnittlich 55 Procent der Schüler kein Schul¬
geld, und konnten die Sectenschulen darum auf nicht mehr als höchstens die
Hälfte der zahlenden Kinder rechnen.
Die Unterhaltungskosten der Sectenschule konnten aber unmöglich ganz
dieser Hälfte aufgebürdet werden, da dieselbe nicht im Stande war sie zu
tragen. Die bemitteltere Classe der Bürgersandte schon früher und sendet noch
jetzt ihre Kinder in Privatschulen, die fast alle nach dem Schema der Staats¬
schulen eingerichtet sind und wo ein Schulgeld von dreißig bis zu hundert
Gulden jährlich und noch mehr bezahlt wird. Diese Bürger zeigten nun
aber nicht das geringste Bedürfniß, ihre Kinder in die Sectenschulen zu
schicken. Es blieb also für diese keine andere Wahl, als das nothwendiger¬
weise entstehende Deficit durch gesammelte milde Beiträge zu decken. Aber
eben diese flössen nicht reichlich genug ein, denn nur bei Wenigen fand man
die gewünschte Sympathie für die Sache des „christlich-nationalen" Unterrichts.
Herr Groen und seine Partei ließen sich dadurch nicht abschrecken, ob¬
gleich sie sich häufig genug beklagten. Sie hatten gehofft, kraft der ihnen zu
Gebote stehenden Freiheit die Vorzüge der Sectenschule gegenüber der neu¬
tralen Schule thatsächlich beweisen zu können, und sahen sich jetzt getäuscht.
Nicht allein, daß sie keine genügende Anzahl Schulen errichten konnten — die
glücklich ins Leben gerufenen blieben gewöhnlich unter dem Niveau der
Staatsschulen. Die Ursache lag hauptsächlich im Geldmangel, da die bürger¬
lichen Gemeinden besser bezahlen und sich demnach die tüchtigsten Lehrkräfte
auswählen konnten.
Man sah. daß man der Staatshülfe nicht die Spitze bieten konnte, des¬
halb mußte ihr Concurrenz gemacht — sie selbst — wo möglich vernichtet
werden, und man wandte sich nun gegen das Schulgesetz. Man avvellirte
an die allgemein bekannte Religiosität des Volkes und bewies demselben mit
einer Terminologie, die im Deutschen genau dieselbe ist wie im Holländi¬
schen, daß die Staatsschule gottesdienstlos (religionslos — irreligiös) sei.
Ein Mensch ohne Ehre ist ehrlos; der Staat ohne Gott ist gottlos; die
Schule ohne Gottesdienst ist gottesdienstlos. Letzteres ist jedoch ein neues
Wort, klingt ungefähr so wie gottlos, und bald hieß es: die Staatsschule ist
gottesdienstlos, das heißt: materialistisch. — Aber diesem Beweise stand das
Wörtchen „christlich" im Schulgesetz gegenüber und die Anhänger desselben
konnten sich mit allem Recht darauf berufen, daß die Schule nach dem Gesetz
christlich, also nicht gottesdienstlos sei. Dasselbe Wörtchen „christlich", das
im Jahre 1857 von den Liberalen als ein den Christlich-nationalen gemach¬
tes Zugeständnis? betrachtet worden war, bildete jetzt den Stein des An¬
stoßes für die nationalen.
Herr Groen ließ sich im Jahr 1862 wieder in die zweite Kammer wäh¬
len, da die Aussichten auf Erfolg seiner Bestrebungen unter den damaligen
politischen Verhältnissen gewachsen waren.
Die conservative Partei hatte nämlich nach dem Ministerium van der
Brughen-Simons noch einige Ministerien aufgestellt, die jedoch alle keine
dauernde Mehrzahl in den Kammern für sich gewinnen konnten. Der König
hatte deshalb wieder Herrn Thorbecke beauftragt, ein liberales Cabinet zu
bilden. In Folge dieses Umschlags suchten die Conservativen ihre früheren
Bundesgenossen, die Christlich-nationalen wieder auf. um ihre Opposition
gegen Thorbecke dadurch zu verstärken. Herr Groen scheint im Jahre 1862
auf Grund dieses Bündnisses, das sich jedoch als sehr locker erwies, auf eine
Revision des Schulgesetzes gehofft zu haben.
Er beantragte deshalb in der Kammer die Streichung des Wörtchens
„christlich", weil „christliche Tugenden" und ein Christenthum, die sich nicht
auf Dogmen stützte, nicht beständen; da die Staatsschule neutral sein und
keine Dogmen lehren solle, könne in derselben weder vom Christenthum, noch
von christlichen Tugenden die Rede sein. Von anderer Seite wurde dagegen
behauptet: Es gebe ein Christenthum, das über der Meinungsverschiedenheit
stehe, das der Ausfluß der Ueberzeugung aller Konfessionen und Secten sei
und nach dem sich unsere modernen socialen Verhältnisse gestaltet hätten.
Zu einem Resultate hat die Eingabe des Herrn Groen nicht geführt, da
er nur geringe Unterstützung fand.
Das inzwischen zur Berathung gelangte Gesetz über die höheren Bürger¬
schulen schien die allgemeine Aufmerksamkeit, die sich in der letzten Zeit fast
ausschließlich auf die coloniale Frage gerichtet hatte, wieder auf die Schul-
angelegenhetten zu lenken, und Herr Groen hatte die Genugthuung, daß von
seinen Ideen wieder gesprochen wurde.
Das Ministerium Thorbecke und das Cabinet Franssen van de Putte
unterlagen jedoch in dem Streit über die Colonien und die Conservativen
gelangten wieder ans Ruder. Einige Mitglieder des neuen Ministeriums
Myer — van Zuylen gehörten zu den Gesinnungsgenossen Groens und man er¬
wartete allgemein von denselben, daß sie nicht allein die coloniale Frage
lösen, sondern auch eine Revision des Schulgesetzes von 1857 herbeiführen
würden. In dieser Erwartung sah man sich wiederum gänzlich betrogen.
Herr Myer ließ sich alsbald zum Generalgouvemeur von Ostindien ernennen.
und der Minister des Innern, Herr Heemskerk, erklärte feierlich: „die Regie¬
rung werde nicht dulden, daß die Schmach der Unchristlichkeit auf die offene>
liebe Schule geworfen würde!"
Das Verhalten des Ministeriums bei der Ernennung des Herrn Myer
rief einen Sturm in der Kammer hervor, so daß dieselbe im Herbste des
Jahres 1866 aufgelöst wurde, und die heftigste Aufregung im Lande ent¬
stand. Es war natürlich, daß das Ministerium durch die neuen Wahlen
das Uebergewicht in der zweiten Kammer erlangen wollte, um am Ruder
bleiben zu können; es mußte sich darum mit allen nichtliberalen Parteien
verbinden. In gemeinsamer Action mit den letzteren konnte allein der libera¬
len Partei mit Erfolg Widerstand geboten werden. Ueberall wurde unter
verschiedenen Losungen aaitirt: hier appellirte man an die Religiosität des
Volkes, indem man den Liberalen Materialismus vorwarf; dort rief man,
die Rechte der Krone seien in Gefahr; wieder anderswo hatte man andere
Anklagen gegen die Liberalen. Auch die Katholiken, die ihre Gleichberechti¬
gung im Staate der letzten Partei zu verdanken und sich zu derselben ge¬
halten hatten, waren durch den Syllabus in eine andere Strömung gerathen
und traten mit ihrer Antipathie gegen die neutrale öffentliche Schule hervor,
deren Confessionslosigkeit ihnen noch im Jahre 1857 nicht deutlich genug im
Gesetz ausgesprochen werden konnte.
So gewann das Ministerium in der neuen Kammer einige Stimmen,
obgleich es noch nicht über eine evidente Mehrzahl verfügen konnte, da beide
Parteien, Liberale und Antiliberale, sich so ziemlich das Gleichgewicht hiel¬
ten. Bei der Berathung des Budgets kam es im Herbste 1867, gelegentlich
der Besprechung des Verhaltens des Ministeriums in der luxemburgischen
Frage, zur Verwerfung des Vertrages des Herrn van Zuylen, und das Mi¬
nisterium wagte eine zweite Auflösung der Kammer.
Diese in den niederländischen Annalen unerhörte That half dem Ca-
binete nichts, obgleich es mit Agitationen jeder Art fortfuhr und sich trotz
seiner früheren Erklärungen zur Revision des Schulgesetzes verpflichtete, kurz
Unterstützung suchte, wo es irgend konnte. Wohl hatten die Liberalen in
der binnen Jahresfrist zum zweiten Male erneuerten Kammer keinen Zuwachs
an Mitgliedern erhalten; wohl reichte Herr Heemskerk einen neuen Schul¬
gesetzentwurf ein, aber selbst die Conservativen fanden eine zweimalige
Kammerauflösung zu dem alleinigen Zweck, ein Ministerium zu retten,
gefährlich. Das Cabinet mußte endlich abtreten, und im Frühling des
vorigen Jahres trat das Ministerium van Bosse-Font ein. Die erste
That des Herrn Font war, daß er den Gesetzentwurf des Herrn Heemskerk
zurückzog und bald darauf in der Kammer erklärte, er habe nicht die
Absicht, das Schulgesetz zu ändern; er sei überzeugt, daß mit dem-
selben die Wünsche der großen Mehrzahl des Volkes befriedigt werden könn¬
ten; die Klagen, die von der Gegenpartei gegen das Gesetz erhoben würden,
stützten sich auf keine Thatsachen und bewegten sich in so allgemeinen Aus¬
drücken, daß man ihnen keine bestimmt ausgesprochenen Wünsche entnehmen
könne. Wofern ihm von Mitgliedern der Kammer Thatsachen mitgetheilt
dazu würden, wolle er dieselben untersuchen, im Uebrigen überlasse er es den sich
berufen fühlenden Männern, den Entwurf eines neuen Gesetzes einzureichen.
Nach einigen verunglückten Anstrengungen der Christlich-nationalen und der
inzwischen durch ein gegen die neutrale Schule gerichtetes Votum der Bischöfe
noch mehr aufgeregten Katholiken, eine dem Minister Font ungünstige Stim¬
mung hervorzurufen, ist vorläufig die Schulfrage von der Tagesordnung
der Kammer verschwunden. Von dem gegenwärtigen Cabinet wird an der¬
selben jedenfalls nicht gerührt werden und die Kammer wird bei ihrer der-
weiligen Zusammensetzung schwerlich etwas thun. Da jedoch im Juni die
Hälfte der Kammermitglieder abtreten muß, wird bei der Neuwahl der Kampf
vermuthlich aufs Neue entbrennen.
Hiermit glaube ich in kurzen Zügen die Geschichte des Schulstreites in
der zweiten Kammer skizzirt zu haben; in der ersten hat derselbe einen
ganz ähnlichen Verlauf gehabt. Die Voden, über welche die Christlich-
Nationalen und die Katholiken zu verfügen haben, erreichen noch nicht den
vierten Theil der Stimmen, und da die konservative Partei durchaus nicht
geneigt ist, die neutrale Schule zu opfern, so droht derselben weder von der
gesetzgebenden noch von der ausführenden Gewalt Gefahr. In jedem civili-
sirten Lande besteht aber noch eine dritte Macht, die der öffentlichen Mei¬
nung, und obgleich dieselbe in den Kammern ihren Ausdruck erhalten, also
mit dieser zusammenfallen soll, so ist das nicht immer der Fall. Zur Ge¬
schichte des hiesigen Schulstreites gehört also auch das Verhältniß des Volkes
zu demselben. Um dasselbe richtig würdigen zu können, muß ich einige Worte
über den Bildungsgrad voranschicken. — Die unteren Classen, bis zum kleinen
Handwerker, bekümmern sich um Fragen, die nicht den täglichen Erwerb be¬
treffen, fast gar nicht. Zwar durchgängig religiös und einigermaßen zum
Pietismus geneigt, ist ihr Bildungsgrad im Verhältniß zu denselben Classen
in Deutschland so niedrig, daß es wahrlich viel besser wäre, man stritte sich
nicht über neutrale oder confessionelle Schulen, sondern beriethe über die
Mittel, wie dem Unterricht überhaupt mehr Einfluß auf das Volk gegeben
werden könnte. Nach statistischen Nachweisen besucht ein Fünftel der Kinder
zwischen sechs und zwölf Jahren keine Schule; von Unterricht nach dem
zwölften Jahre ist keine Rede, einzelne, nicht nennenswerthe Ausnahmen ab¬
gerechnet; die wenigen für's Volk berechneten Bücher finden beinahe keine
Leser; Zeitungen sind — Dank sei dem enormen, seit einigen Tagen glück-
lich abgeschafften Zeitungsstempel — viel zu theuer; mit einem Wort: die
unteren Classen lesen nicht mehr, wenn sie mit dem zwölften Jahre die
Schule verlassen haben, und die geschriebenen Rechnungen unserer Handwerker
beweisen, welche Spuren der Schulunterricht zurückgelassen hat.
Die Bildungsstufe der höheren Classen ist allerdings durchgängig nicht
auf demselben Niveau mit der der Gebildeten in Deutschland, aber der ge¬
sunde praktische Sinn der Holländer und- eine langjährige Beschäftigung mit
öffentlichen Angelegenheiten geben dafür hinreichenden Ersatz.
Gemüth, Humanität und Religiosität sind Hauptzüge des Volkscharakters
und es wird schwerlich eine religiösere Nation als die holländische zu finden
sein. Dagegen findet man in Glaubenssachen alle Abstufungen, deren ein
nüchternes Volk fähig ist, vertreten; besonders hat das sogenannte moderne
Christenthum in der letzten Zeit unter den Gebildeten sehr zugenommen.
Man wird der Wahrheit wohl am nächsten kommen, wenn man die eine
Hälfte der höheren Stände zu den Liberalen und die andere zu den Ortho¬
doxen rechnet. Bei dem hohen Wahlcensus kann man mit ziemlicher Sicher¬
heit die zweite Kammer als den Ausdruck des Willens des gebildeten Theils
der Bevölkerung ansehen, und wie jene so stellt auch diese sich zur Schul¬
frage. Nur ein Theil der Orthodoxen verlangt mit den Katholiken Revision
des Schulgesetzes, resp, confessionelle Schulen, der andere Theil, und natür¬
lich mit ihnen die sogenannten Modernen, wollen den Status pu« beibehalten.
Die Mittelclassen, die sogenannte Bourgeoisie, sind einer gewissen allgemei¬
nen, obschon nicht gründlichen Bildung theilhaft und haben eine instinctive
Abneigung gegen das Treiben der Secten. Die niederen Classen, die täglich
um ihr Dasein ringen, geben dafür ein desto günstigeres Terrain ab, und es
ist im Allgemeinen wahr, daß, wer aus denselben sich um etwas mehr als
den täglichen Erwerb kümmert, sich ausschließlich mit den Geheimnissen und
dunklen metaphysischen Fragen des Christenthums beschäftigt. Daß die Be¬
fähigung zur Lösung derselben fehlt, versteht sich von selbst. Von der Aristo¬
kratie wird diese Richtung besonders begünstigt.
Eben im Namen dieses Theils der Bevölkerung arbeitet Herr Groen
zur Erlangung der konfessionellen Schule. Diese Leute haben größtentheils
nicht das Wahlrecht, und darum stützt sich Herr Groen auf „das Volk hinter
den Wählern."
Muß man diesen Leuten nun auch den Titel des „besseren Theils ihrer
Standesgenossen" geben, so ist doch — wie in fast allen Dingen — dieser
bessere Theil bei weitem der kleinste.
Ob ein moderner Staat der in Rom entsprungenen reactionairen Strö¬
mung Rechnung tragen muß und darf, ist zu bezweifeln; jedenfalls aber
muß die niederländische Regierung mit den Katholiken, die ein gutes Drittel
der Bevölkerung betragen, rechnen. Was die Ultramontanen wünschen, ist
überall genug bekannt, und ihre Tactik läßt sich in wenigen Worten charak-
terisiren: Im Anfang verlangen sie Gleichberechtigung, dann Vorrechte und
zuletzt Alleinherrschaft. An ihrer Spitze stehen als Führer die Herren Dr.
Nutzens und Abt Brouwers. Vor einem Jahre reichte Herr Groen diesen
Herren die Hand zum gemeinschaftlichen Kampf gegen das Schulgesetz; der
Gedenktag der Schlacht bei Heiligerlee (1568) hat aber das Mißtrauen beider
Parteien gegeneinander erweckt und einen Streit ins Leben gerufen, der in
lehrreicher Weise zeigt, wie man in konfessionellen Schulen der Geschichte
Zwang anthun muß, wenn man nicht den verurtheilten Charakter der neu¬
tralen Schule annehmen will.
Herr Groen hat erst die Streichung des Wörtchens „christlich" und
Unterstützung der Sectenschulen vom Staate verlangt, sowohl direct durch
Zuschüsse in Geld, als auch indirect durch Vertheuerung des Unterrichtes
auf den Staatsschulen, abgesehen von anderen Forderungen seiner Partei¬
genossen, als Erleichterung der Examina für die Lehrer, oder Erlaubniß für
Hülfslehrer als Hauptlehrer an Privatschulen zu fungiren u. s. w. Jetzt will
Herr Groen Aenderung, resp. Streichung 5es §. 194 des Staatsgrund¬
gesetzes aus dem theoretisch richtigen, jedoch praktisch schlecht angebrachten
Princip, daß der Unterricht nicht Sache des Staates sei.
Mit welchen Waffen die Staatsschule bekämpft wird, kann man aus
der folgenden Argumentation der Christlich-nationalen ersehen. Es heißt
nämlich, das moderne Christenthum wolle von der Wahrheit der Dogmen
nichts wissen, lehre allgemeine christliche Tugenden und die Staatsschule lehre
ebenfalls keine Dogmen und nur christliche Tugenden: also sei die Staats¬
schule durchaus nicht neutral, sondern eine Confesfionsschule des modernen
Christenthums. Das zwischen Etwas nicht lehren, oder lehren, daß
Etwas nicht wahr sei, ein sehr großer Unterschied ist, kann Jeder ein¬
sehen, und dennoch haben sich unbegreiflicherweise sehr Viele irre leiten
lassen.
Gruppirt man nun das Volk, nach seiner Stellung zur Schulfrage, so steht
auf Seiten des Gesetzes der allergrößte Theil der gebildeten Classen, und auf
der entgegengesetzten Seite eine kleine, politisch und social ganz unbedeutende
Aristokratie im Bunde mit einem kleinen Theil der untern Bevölkerung und
den Katholiken. Der größte Theil des niedrigen Volkes, das nur hin und
wieder durch Parteigänger jeder Richtung in Bewegung gebracht werden
kann, verhält sich dagegen wesentlich theilnahmlos.
Das ungefähr wäre der Stand der Agitation gegen das Schulgesetz hier
zu Lande; Agitation sür dasselbe hat sich in der letzten Zeit ebenfalls ge¬
zeigt. Die Gesellschaft: N^tsedaxp^ tot nut van't al^sacer, die im ganzen
Lande verbreitet ist, in den Mittelclassen tausende von Mitgliedern zählt,
und sich in früherer Zeit (sie besteht seit 1784) sehr große Verdienste um
das Schulwesen erworben hatte, sucht dem Volke durch Brochüren und
Vorlesungen die Vortheile der neutralen Schule ins rechte Licht zu setzen.
Lehrerversammlungen, Schulcommissionen und Jnspectoren sprechen sich bei¬
nahe einstimmig zu Gunsten des bestehenden Schulgesetzes aus. Für den
Vorwurf einer materialistischen Richtung des Elementarunterrichts ist bisher
noch kein einziger Beweis geliefert worden; derselbe wird übrigens auch schwer
beizubringen sein, da einestheils Lehrer mit materialistischen Ideen sehr selten
sind, und anderntheils die Regierung streng über die Neutralität der Schule
wacht und demnach auch in dieser Richtung jede Propaganda verhütet.
Daß das Schulgesetz verändert werde, hält man darum allgemein für
höchst unwahrscheinlich.
Zum Schluß noch einige Worte über eine Brochüre vom^Prediger
F. W. S. Schwarz in Amsterdam: „Die religionslose Schule der Niederlande
und ihre Früchte." Jeder vorurtheilsfreie,, mit hiesigen Zuständen bekannte
Mann würde sie ruhig bei Seite legen, froh, daß er sich durch so viel Unwahr¬
heiten und Verleumdungen hindurchgearbeitet hat. Wenn aber Berliner
Lehrer sich bei einerEingabe an daspreußische Abgeordneten¬
haus auf dieses Schriftstück berufen, so ist es nöthig, vor solchen
falschen Darstellungen unserer Verhältnisse zu warnen.— Es ist unmöglich,
alle die Beschuldigungen, die Herr Schwarz auf die öffentliche Staatsschule
wirft, zu widerlegen, da die meisten Thatsachen, die er anführt, ohne Namen
und Bezeichnung des Ortes sind. So lange sie in dieser Anonymität blei¬
ben, muß man sie für ersonnen halten; denn wenn man liest, daß die Kosten der
Staatsschule bleischwer auf den Gemeinden lasten, und man dagegen weiß, daß
dieselben in Amsterdam circa 6 Procent des Budgets betragen, so kann man
aus dieser Beschuldigung, die man controliren kann, ersehen, was man von
der andern zu halten hat, die der Controle entzogen sind. Oder kann man
auf Wahrheit und Ehrlichkeit Anspruch machen, wenn man von national-
christlicher Seite auf Materialismus gerichtete Anklage gegen solche Lehrer
bei der Regierung erhebt, die biblische Geschichte unterrichten und in der
Bibel lesen lassen, wie solches u. A. in Zuyd-Beyerland geschehen ist, Ein-
gabe des Lehrers der Sectenschule I. M. Stroes.
Oder wenn Herr Groen sagt: „Wir haben auf der neutralen Schule
am liebsten keine Moral, weil sich darunter so leicht der Religionseifer wohl¬
meinender Lehrer verbirgt", oder „Am besten wäre es, den Unterricht in der
vaterländischen Geschichte auf der öffentlichen Schule mit Claudius Civilis
zu schließen."
Vollkommene Unwahrheit ist es endlich, wenn Herr Schwarz behauptet, bis
zum Jahre 1857 habe die confessionelle Schule bestanden, oder die öffentliche
Sittlichkeit habe sich in der letzten Zeit nach dem Zeugniß der Criminal-
statistik nicht gebessert. Die letztere beweist eben das Gegentheil dieser Be¬
hauptung, und das Schulgesetz vom Jahre 1806 scheint Herrn Schwarz un¬
bekannt zu sein, oder er ignorirt dasselbe einfach, wie so vieles Andere, was
ihm unbequem ist. Eine „große protestantische Partei" von der gesprochen
wird, ist hier nicht bekannt, wie überhaupt die Schwarz'sche Darstellung der
Kammerverhandlungen über das Schulgesetz ganz unrichtig und verwirrt ist.
Auf eine Widerlegung aller anderen notorischen Unwahrheiten dieser
Schrift kann ich nicht eingehen, Ausdrücke, wie „französisch-jüdische" oder
„liberal.jüdische Partei", „Juden und Judengenossen", „des ruhigen und klaren
Denkens entwöhnte Afterwissenschaft", „mit gespenstischer Feinheit zusammen¬
gewobener allermodernsten Götzen moderner Welttrunkenheit" u. s. w. machen,
zumal im Munde eines Predigers, jede vernünftige Discussion unmöglich.
Herr Schwarz zeigt in seiner Schrift sehr deutlich, zu welcher Verzerrung
der Wahrheit und Sitte sein Ideal der Sectenschulen anleiten würde.
Die skandinavische Idee ist gegenwärtig auf stilles Fortschreiten an¬
gewiesen, wie die Idee der italienischen Einheit vor dem Krimkriege und
die Idee der deutschen Einheit vor dem letzten Schleswig'schen Kriege. Einen
Gegenstand für die Thätigkeit der Cabinette macht sie noch nicht aus. Ihre
Verwirklichung bereitet sich in den Gemüthern vor; für Diplomaten und prak¬
tische Politiker ist sie bis jetzt lediglich Zukunft, eine vorläufig nicht in Be¬
tracht zu ziehende bloße Möglichkeit.
Wenn der Geschichtschreiber später das Werden der Nationaleinheit in
den Ländern der europäischen Mitte schildert, so werden die Eisenbahnen
ihren vollgemessenen Antheil an der Hervorbringung dieses politischen Pro¬
ducts erhalten, zumal in Deutschland. Die Eisenbahnen haben erst die natio¬
nalen Congresse möglich gemacht — die periodischen Begegnungen und Samm¬
lungen derjenigen Stände, in denen das Bedürfniß, das Pathos und die
Initiative zu jener großen krönenden Reform lag. Auf den bürgerlichen
Congressen aber wurde die national-politische Idee zum Gemeingut der ton¬
angebenden gebildeten Kreise, überwand sie die Vorurtheile, welche ihr in
dem gegenseitigen Nichtvoneinderwissen entgegenstanden. Diese Läuterungs¬
und Stärkungsperiode macht die skandinavische Nationalität augenblicklich
durch. In jede der bereits bestehenden oder sich noch bildenden Wanderver¬
sammlungen von Fachgenossen fährt früher oder später die Tendenz, sich aus
einer schwedischen, norwegischen oder dänischen zu einer gesammtnordischen zu
erweitern; keineswegs weil ihre Leiter sämmtlich schon von dem stillen Feuer des
Skandinavismus ergriffen wären, sondern meist aus lediglich in der Sache
liegenden Beweggründen. Der Kreis von Berufsgenossen, welchen das einzelne
Land zusammenzubringen vermag, ist, selbst Schweden nicht ausgenommen,
verhältnißmäßig immer klein. Der Zufluß aus den beiden Nachbarländern
ist daher an sich wünschenswerth. und die Verschiedenheit der Sprache nicht
groß genug, um erheblich zu stören. Dazu kommt, daß man von Kopen¬
hagen und Christiania ebenso rasch oder rascher nach Stockholm gelangen
kann, als aus den südlichsten und den nördlichsten Theilen Schwedens selbst
— Dank vor Allem wieder dem sich zusehends ausdehnenden und verdichten¬
den schwedischen Eisenbahnnetze.
Um den einmal vorhandenen, wenn auch geringen Unterschied des Schwe¬
dischen vom Dänisch-Norwegischen für das thatsächliche Verständniß noch
weiter abzuschwächen, tritt demnächst ein gemischter Ausschuß von sprach¬
gelehrten und Schriftstellern aller drei Länder zusammen, der eine neue, ge¬
meinsame Rechtschreibung entwerfen soll. Es gilt da namentlich, das Dänisch-
Norwegische von einem Ballast überflüssiger, weil in der Aussprache ver¬
schwindender Buchstaben zu säubern. Für Schweden ist weniger zu thun
übrig, dafür wird die Nothwendigkeit einer Besserung dort aber auch schwächer
empfunden und der Uebergang zu Neuem folglich schwieriger sein. Die Uni-
sitäten Upsala, Lund, Christiania und Kopenhagen sollen jede drei Vertreter
schicken; die meisten derselben sind bereits ernannt.
Die Idee zu diesem auch für uns Deutsche interessanten Unternehmen ist
aus einer anderen, älteren skandinavischen Veranstaltung entsprungen: der
wechselsweisen gegenseitigen Absendung von Lehrern der vier nordischen Uni¬
versitäten. In Stockholm hat der Reichstag dazu das Geld ausgeworfen;
in Christiania wollte der Storthing, dessen Bauernmehrheit den ihrem Stande
eigenen öffentlichen Geiz besitzt, von solcher Freigebigkeit für weitaussehende
Bildungszwecke nichts wissen, so daß dort, wie auch in Kopenhagen, Privat¬
mittel aufgebracht werden mußten. Eben in Kopenhagen war es nun, wo
Professor L. Daa von Christiania, als er im letzten Winter dort einen
Cyclus von Vorträgen hielt, jene Idee in Cours setzte und sofort auch ihre
Ausführung veranlaßte.
Professor Daa steht jetzt an der Spitze der skandinavischen Gesellschaft
in Christiania, der norwegischen Trägerin des Skandinavismus, nachdem
der bisherige Präsident. Professor Broch, Staatsrath und Chef des Marine.
Departements geworden ist. Diese Ernennung des Hauptes der norwegischen
Skandinavisten zum Regierungsmitgliede, welche während der letzten An¬
wesenheit König Karls XV. in Christiania erfolgt ist, zeigt immerhin aufs
neue, wohin die Sympathien und Tendenzen des schwedischen Königshauses
neigen. Professor Broch ist als norwegischer Bevollmächtigter auf der ersten
Weltmünzconferenz zu Paris im Frühsommer 1867 auch weiteren Kreisen
bekannt geworden, wie schon früher durch statistische Arbeiten. Lund und
seiner politischen Freunde Verhältniß zu der schwebenden Frage der schwedisch¬
norwegischen Unionsreformen hat übrigens die Skandinavistenpartet in Nor¬
wegen gespalten. Sie sind Manchen nicht specifisch-norwegisch und nicht de¬
mokratisch genug; Männer wie der Staatsproeurator Dunker und der be¬
kannte Dichter Björnstjerne - Björnson haben sich öffentlich von ihnen los>
gesagt, indem sie sie „Amalgamisten" schelten, und beschuldigen, Norwegens
innere Selbständigkeit der schwedischen Mehrheit auf einem künftigen Unions¬
parlament preisgeben zu wollen. Dunker und seine Anhänger gehen ihrerseits
so weit, von keiner wesentlichen Verfestigung der Unionsbande wissen zu wollen,
bevor Dänemark nicht der Dritte im Bunde ist und das schwedische Ueber¬
gewicht — Schwedens Bevölkerung verhält sich zu derjenigen Norwegens
reichlich wie 8 zu 3 — mildert; und wie man sich denken kann, werden sie
von Orla Lehmann und andern dänischen Gesinnungsgenossen darin unter-
stützt. Die Leiter der skandinavischen Gesellschaft hingegen meinen, jede Be¬
festigung der Union mit Schweden, welche die gemeinschaftliche Macht erhöhe,
sei ein Gewinn auch für das Zukunftsziel, Dänemark mit in den nordischen
Bund hereinzuziehen. Nach einer anderen Seite hatte Professor Broch im
Lauf des vorigen Jahres einmal seine Waffen zu kehren, als er von der sich
im Lande ausbreitenden pangermanischen Idee sprach, d. h. einer gewissen
noch ziemlich unklaren Neigung, sich Deutschland politisch anzuschließen, welche
aus den Erfolgen des Grafen Bismarck erwachsen zu sein scheint.
Zu dem ersten diesjährigen Heft der zu Lund erscheinenden skandinavi¬
schen „Nordisk Tidskrift" überschlug ein „älterer Beobachter" einmal die
Chancen des Skandinavismus in Norwegen. Seine Rechnung lief darauf
hinaus, daß Norwegen zur Verwirklichung dieser Idee niemals die Initiative
ergreifen, derselben aus eigenem Entschluß auch niemals große Opfer bringen,
daß es sich aber andererseits dem Anschluß an eine auf dieses Ziel gerichtete
Reichspolitik auch nicht leicht entziehen werde.
Aehnlich urtheilt ein in der Nordischen Gesellschaft zu Kopenhagen am
1. März abgestatteter Jahresbericht über Dänemark. Die Nordische Gesell¬
schaft, welche dort das Hauptquartier der Skandinavisten bildet, über 2100
Mitglieder zählt und hauptsächlich durch ihr in 1800 Exemplaren verbreitetes.
von Dr. C. Rosenberg herausgegebenes „Wochenblatt für den gemeinen Mann"
wirkt, hat während des verflossenen Jahres nicht weniger als 33 Volks¬
versammlungen in allen Theilen des Königreichs gehalten, um die Gegen¬
sätze öffentlich zur Sprache und dadurch das Volk zum Bewußtsein seiner po¬
litischen Lage zu bringen. Den Dänen sagt es offenbar vor vielen anderen
Völkern zu. sonntäglich im Verein oder auch in einem geeignetem Saale zu¬
sammenzukommen, ihre Politiker sprechen, womöglich auch sich ein wenig in
die Haare gerathen zu hören, und dann dies Tagewerk mit einem vergnüg¬
lichen Bankett zu beschließen. Der nüchterne, rauhe Ernst öffentlicher Ange¬
legenheiten fließt dieser leichtblütigen, lebenslustigen Nation mit de^in Spiele
einer ausgebildeten Genußsucht nur zu leicht in Eins zusammen. Nirgend
in der Welt ist bekanntlich so reichlich für die öffentliche Vergnügungslust ge¬
sorgt wie in Kopenhagen, und der Leichtsinn, mit welchem man dort noch
während des letzten Krieges einem lockeren Leben nachhing, bis dasselbe mit
der Eroberung Athens plötzlich in das Gegentheil panischen Schreckens und
Allesverlorengebens umschlug, hat es zu einem historischen Gedenkwort ge¬
macht, daß „Schleswig im Tivoli verloren worden sei." Bei alledem möchte
es an sich nicht zu tadeln sein, daß die vorausblickenden Führer der nationalen
und liberalen Partei sich dieses allgemeinen Hanges ihrer Landsleute bedienen,
um ihre Ideen den Volksmassen einzuprägen. Gefährlich könnte dieses
Thun nur werden, wenn es sie selbst rückwirkend mit Illusionen über die
Tragweite solcher öffentlichen Applause und Bekehrungen erfüllte, und davor
bewahren sie gegenwärtig einigermaßen die furchtbaren Enttäuschungen über
Dänemarks Recht und Europas thätiges Interesse, welche erst das Jahr 1864.
dann der Mißerfolg der bekannten nordschleswigschen Clausel des Prager
Friedens ihnen bereitet hat.
Dieser bitteren Lehre droht sich übrigens eben jetzt eine neue Hinzuzuge-
sellen. Wie es den Anschein hat, wird aus der Abtretung von Sanct Tho¬
mas und Sanct Johann an Nordamerika nichts werden. Im Jahre 1865
von Seward zuerst angeregt, damals in Kopenhagen kühl, um nicht zu sagen
ablehnend aufgenommen, dann aber von Washington her immer wieder mit
höheren Geldangeboten betrieben, endlich von Dänemark acceptirt und loyal
ausgeführt, ist diese Maßregel von den Vereinigten Staaten auf eine in der
That sehr rücksichtslose Weise erst hingehalten, dann mehr oder weniger auf¬
gehoben worden. Gerade als Dänemark seinen Theil des Vertrages erfüllt,
die Abstimmung aus den beiden Inseln vorgenommen und zu Gunsten der
Maßregel geleitet hatte, hörte in Washington alle Thätigkeit in Bezug auf
sie mit Einem Male auf. Der Staatssecretair lieh sein Ohr noch lockenderen
Vorschlägen, welche von der Erwerbung der Bat von Samana auf Hasel
sprachen; und im Congreß stieß schon die Genehmigung des Ankaufs von
Russisch-Amerika (Alaska) auf Schwierigkeiten, welche keine gute Vor¬
bedeutung enthielten für das Geschick, dessen der Antrag auj> den Kauf
Dänisch - Ostindiens sich zu versehen haben würde. Die dänische Regierung
hat nun den Kriegsminister General Raaslöff, der zur Zeit der ersten Er¬
öffnungen Seward's ihr Vertreter in Washington war. dorthin gesandt,
damit er Alles aufbiete, um den Vertrag zur Ausführung zu bringen und sie
aus der peinlichen Lage zu befreien, daß Dänemark noch über Unterthanen
herrscht, welche bereits feierlich erklärt haben, einem anderen Staatswesen
angehören zu wollen. Es ist denkbar, daß Präsident Grant sich als Mann
von scrupulöser Rechtlichkeit durch die Handlungen seines Vorgängers im
Amte oder vielmehr des früheren Staatssecretairs gebunden fühlt, die Sache
nach dem Wortlaut des Vertrages durchzusetzen. Dann aber geschieht es
eben auch nur aus solchen formellen Gründen; und einstweilen ist General
Raaslöff von Newyork wieder in See gegangen, ohne die Ratifikation in
der Tasche zu haben. Bringt er auch keine zuverlässigen Aussichten auf nach¬
trägliche Erfüllung des Vertrags mit, so wird angenommen, daß nicht allein
er, sondern das ganze Cabinet zurücktreten werde. Es entgehen dem Staate
dann die Geldmittel, welche schon im Voraus allgemein zum Bau von
Kriegsschiffen und zur Anlegung eines Schatzes für den sehnlich erwarteten
Rachekricg gegen Deutschland bestimmt worden waren.
Diesen Rachekrieg der nördlichen Germanen gegen die südlichen zeigt in
der Perspective der Zukunft auch eine kleine Schrift über den Krieg von
I8K6, welche Graf Henning Hamilton in Stockholm vor Kurzem hat er¬
scheinen lassen. Er war bis zum letzten schleswigschen Kriege schwedischer
Gesandter in Kopenhagen und nahm seinen Abschied, weil Schweden für
Dänemark nicht das Schwert ziehen wollte. Jetzt steht er an der Spitze der
ständischen Opposition gegen das Ministerium de Geer; wir müssen uns sei¬
nen Namen merken, denn wenn ihm jemals das Portefeuille der auswärti¬
gen Angelegenheiten übertragen werden sollte, so wird das ein Zeichen sein,
daß im Rathe des Königs Karl der Entschluß zu feindlicher Parteinahme
gegen Deutschland die Oberhand gewonnen hat. Die vorliegende Schrift
des Grafen Hamilton zeichnet sich noch vor dem bekannten Aussatz des Polen
Klaczko und ähnlichen Schriften durch leidenschaftliche Parteilichkeit gegen
Preußen aus und endet mit dem charakteristischen Rath für Schweden, daß
es seine Armee nicht der auflösenden Unruhe einer Reform aussetze, dieweil
der preußisch-französische Krieg, an dem es nothwendig theilnehmen müsse,
um Nordschleswig wieder an Dänemark zu bringen, vor der Thür stehe.
„Faedrelandet", das die Schrift sonst unbedingt billigt und lobt, hält diesen
Rath mit Recht für verfrüht und zweischneidig.
Graf Henning Hamilton gehört übrigens nicht zur Partei der eigene-
lichen Skandinavisten in Schweden. Diese hat ihren Mittelpunkt im nor¬
dischen Nationalverein, welcher — und das bezeichnet besser als etwas den
Grad von Reife, welchen der nordische Einheitsgedanke in diesem wichtigsten,
ja allein entscheidenden Lande bisher gewonnen hat — seit Jahr und Tag
nichts Anderes treibt als die Gründung von Bauerhochschulen nach dänischen
Muster. Von dem politischen Nutzen dieser echt modernen, Patriotismus
und öffentlichen Geist in dem ausschlaggebenden Stande erweckenden Bildungs¬
anstalten läßt sich nicht leicht hoch genug denken. Auch ist man damit sehr
rüstig am Werke; im Januar 1868 hielt der Redacteur von Aftonbladet,
Mag. Sohlman, in Stockholm den ersten dazu anregenden Vortrag, und im
Herbst wurden -schon drei schwedische Bauerhochschulen eröffnet. Der Anstoß
ist selbst nach Norwegen und nach Finnland hinübergedrungen. Aber für
den Zweck des Nordischen Nationalvereins, die staatliche Vereinigung der
drei (oder vier) nordischen Länder ist dies doch ein sehr entferntes Mittel.
Es heißt nur erst das Erz schärfen, aus welchem später Waffen geschmiedet
werden sollen. Mit der ungeduldigen Kriegssehnsucht des Grafen Henning
Hamilton hat diese Propaganda jedenfalls nichts gemein. Das ist aber noch
nicht einmal der „schwedische Materialismus", über welchen in Kopenhagen
und unter den Dänen Nordschleswigs so mancher Stoßseufzer gen Himmel
steigt — jener von den Eisenbahnlinien aus verbreitete, durch die Locomotive
rings im Lande verstreute Trieb, die Hülfsquellen Schwedens reicher fließen
zu machen und jede Art von Capital anzuhäufen. Diese in allen Ständen
herrschende Stimmung, welcher der Ehrgeiz der Politiker, selbst der des gekrön¬
ten Hauptes derselben wohl oder übel Rechnung tragen muß, gibt der anti¬
deutschen Leidenschaft von 1864 Zeit, sich abzukühlen, und läßt die Möglich¬
keit offen, daß eine geschickte, wohl vertretene deutsche Ostseepolitik die Er¬
innerung an den großen Gustav Adolf praktisch wiederbelebe.
So lange Deutschland im Rath der europäischen Großmächte nicht an¬
zahlte und von Franzosen, Russen und Engländern nur in Rechnung ge¬
zogen wurde, wenn es ausgebeutet werden sollte, hatten wir ein Recht, über
unseren inneren Angelegenheiten, kleinen und großen, den politischen Makrokos¬
mos zu vergessen. Der April 1869 wäre uns damals nur der Monat gewesen,
in welchen eine Debatte über die Erweiterung des Bundeskanzleramts zu
einem Ministerium fiel und über den Gedanken und Möglichkeiten, die sich
an dieses parlamentarische Ereigniß knüpfen, hätten wir vergessen dürfen,
was sonst um uns herum geschah. Unser Dreinreden wäre doch unbeachtet
verhallt.
Heute steht die Sache anders, denn unser Einfluß in der großen Welt,
der von unseren Wünschen und Idealen unabhängigen Realität, ist ein an¬
derer geworden.— Aus der Zahl der internationalen Angelegenheiten, welche
in den letzten vier Wochen zur Verhandlung kamen, tritt uns eine entgegen,
deren wirkliche Bedeutung sich zwar noch nicht feststellen läßt, die im Auge
zu behalten wir aber allen Grund haben: die belgisch-französische Eisenbahn¬
angelegenheit, welche in ein Stadium getreten ist, das die Verkehrtheit der
Zustände und Anschauungen an unserer Westgrenze deutlich illustrirt.
Worum handelt es sich in diesem französisch-belgischen Eisenbahnhandel,
der alle Augenblicke Miene macht, zur internationalen Frage zu werden, ob¬
gleich er im Grunde nicht einmal das ist, was man eine „Frage" nennt? Die
mit der kaiserlichen Regierung ziemlich eng zusammenhängende Gesellschaft
der französischen Ostbahn (Lowps.Anis ü-ardaise 6e l'Lst) fühlte schon seit
lange das Bedürfniß, sich auszudehnen und ihre Netze durch innere wie aus¬
wärtige Maschen zu bereichern. Sie begann damit, im Frühjahr 1868 die
Luxemburger Wilhelmsbahn zu erwerben, welche sich durch das Gebiet jenes
sehnsüchtig begehrten Großherzogthums zieht, dessen Verkauf dem Könige von
Holland vor zwei Jahren untersagt wurde; diese Bahn mündet auf belgi¬
sches Gebiet aus, da sie bis vor die Thore von Spaa sührt. Da diesem
Geschäft weder von belgischer noch von niederländisch-luxemburgischer Seite
Schwierigkeiten in den Weg gelegt worden waren, so glaubten die französi¬
schen Actionaire, auf dem Wege weiterer Erwerbungen im Auslande vor¬
schreiten zu können, ein Gedanke, der, wie wir annehmen müssen, außerhalb
der Gesellschaft, vielleicht in der Nähe des Tuilerienhofes zuerst entsprungen
war, denn der Zusammenhang der Compagnie mit den Pariser Machthabern
wird von diesen selbst nicht im Ernst geleugnet. Schon sechs Monate nach
dem Ankauf der Wilhelmsbahn wurde der belgischen Gesellschaft des Kraud-
I^uxemdours (Linie Arion-Brüssel) der Vorschlag gemacht, ihr Eigenthum
gleichfalls in französische Hände übergehen zu lassen. Obgleich ein früherer
Minister Leopolds I. und bekannter belgischer Politiker, Victor Tesch, an der
Spitze des Krauä-^uxemdoui-Z steht, fand der von vortheilhaften Be¬
dingungen begleitete Vorschlag bei den Brüsseler Actionairen Beifall, und
vielleicht wäre auch dieses Geschäft in aller Stille abgemacht worden, wenn
die französische Begehrlichkeit sich mit demselben begnügt und nicht gleich¬
zeitig einen zweiten Schritt gethan hätte, der die Aufmerksamkeit des Herrn
Frere-Orban erregen mußte. Der belgischen Regierung wurde die Anfrage
vorgelegt, der Osteompagnie werde doch wohl gestattet sein, eine directe Ver¬
bindung von Spaa an die Lüttich-Limburger Linie herzustellen, deren Direction
nicht abgeneigt sei. gleichfalls über einen Verkauf zu verhandeln. Es war
von den Franzosen darauf abgesehen, einst auf eigenen Schienen bis an das
Weichbild von Brüssel zu fahren und ein Netz über Belgien hinweg bis an
die großen holländischen Häfen zu spannen.
Daß über diesen Plan in Brüssel anders geurtheilt wurde wie in Paris,
versteht sich von selbst. Die erbetene Concession zur Herstellung der neuen
Verbindung von Spaa (das durch die Wilhelmsbahn bereits zu einem
Theil des französischen Netzes geworden war) an die Linie Limburg-Lüttich
wurde sofort verweigert und zugleich eine Maßregel ergriffen, welche die be¬
reits gesponnenen Fäden des Vertrags über die Arion-Brüsseler Bahn zer¬
schneiden und ähnlichen Zumuthungen ein für alle Mal eine Grenze setzen
sollte. An demselben Tage, an welchem Graf Bismarck in Veranlassung
der Sequestrationsangelegenheit seine bekannte Rede- über Preußens aus¬
wärtige Beziehungen und seine Stellung zu Frankreich hielt, votirte das
belgische Abgeordnetenhaus ein Gesetz, welches der Regierung das (übrigens
selbstverständliche) Recht zusprach, den Verkauf belgischer Bahnen an aus-
ländische Gesellschaften zu genehmigen oder nicht zu genehmigen, widerspenstige
Bahnen (edemins as ehr i-Lesleitraus) zu sequestriert und die betreffenden An¬
sprüche durch die Gerichte entscheiden zu lassen.
Das formelle Recht der Factoren belgischer Gesetzgebung steht so voll¬
ständig außer Frage, daß Niemand auch nur den Versuch gemacht hat, das»
selbe zu bestreiten. Nichtsdestoweniger erhob die officiöse Presse des zweiten
Kaiserreichs, sobald der belgische Kammerbeschluß bekannt wurde, ein Ge-
schrei, als sei die Ehre der französischen Nation ins Herz getroffen. Daß die
liberalen Blätter energisch widersprachen, daß die inspirirte Presse einen ziem¬
lich schlecht gedeckten Rückzug antreten mußte und die Organe Deutschlands.
Englands und der gesammten civilisirten Welt sür das unzweideutige Recht
Belgiens eintraten — das Alles datirt um Wochen zurück und braucht nicht
genauer ausgeführt zu werden. In das Stadium eines Ereignisses von
wirklich politischer Bedeutung ist dieser Handel erst dadurch getreten, daß
Belgien sich bestimmen ließ, über denselben mit der französischen Regierung
in Verhandlung zu treten. Es war ein leidiger Trost für die Belgier, daß
Frankreich vor Beginn der Verhandlungen zusicherte, es werde sich keines¬
wegs blos um diese Eisenbahnfrage handeln, sondern um einen freundlichen
Meinungsaustausch über die materiellen Verhältnisse und gemeinsamen Wirth-
schaftlichen Interessen beider Staaten überhaupt.
Diese Verhandlungen, um deretwillen Herr Frere-Orban den ganzen
abgelaufenen Monat über in Paris geweilt hat, sind, allen officiösen Ver¬
sicherungen zum Trotz, so gut wie vollständig erfolglos geblieben und es läßt
sich schlechterdings nicht absehen, wie eine Verständigung erzielt oder für
Frankreich auch nur die Möglichkeit eines ehrenvollen Rückzuges geschaffen
werden soll. Herr Rouher. der an den Versuchen zur Auseinandersetzung
mit dem belgischen Minister sehr lebhaften Antheil genommen, versichert durch
seine Organe immer wieder, von dem Ankauf der Arion-Brüsseler Linie sei
gar nicht mehr die Rede und man stehe darum schon auf dem Punkte, sich zu
verständigen. In das Deutsche übersetzt, heißt das: Wir verlangen die Lei¬
tung des Betriebes der in die belgische Hauptstadt führenden Bahn, und
Herr Fröre-Orkan sagt uns. er könne diese ebenso wenig bewilligen, wie das
Eigenthum an jener wichtigen Verkehrslinie. Das äußerste Angebot des
Belgiers, welches gestatten wollte, daß französische Waggons geschlossen und
ununtersucht durch ganz Belgien fahren dürften, ist von den Franzosen als
ungenügend bezeichnet worden. — Was die Pariser Blätter von einem bevor¬
stehenden Umschlag in Brüssel und von der Bereitwilligkeit der belgischen
Ultramontanen zur Zurücknahme des von den Liberalen durchgesetzten Kam¬
merbeschlusses erzählen, gehört bis jetzt in das Reich der Fabel. Alle belgi¬
schen Patrioten sind darüber einig, daß die Abtretung ihrer wichtigsten Eisen¬
bahnlinien an eine französische Gesellschaft, hinter der die kaiserliche Regie¬
rung steht, mit der Sicherheit des Staats und dem neutralen Charakter des¬
selben unverträglich sei. Die Franzosen dagegen sind durch die unaufhör¬
lichen Zeitungsphrasen über diesen Gegenstand in den Wahn gewiegt worden,
die Ehre der großen Nation sei gefährdet, wenn der kleine Nachbarstaat
nicht die gewünschten Zugeständnisse mache, und darum müsse auf diesen be¬
standen werden. Selbst die liberalen Oppositionsblätter, welche noch vor einigen
Wochen voller Unwillen über die Frechheit der säbelklirrenden Hofjournale und
sittlich entrüstet waren, haben sich gewöhnt, auf die einzelnen materiellen
Fragen und auf Untersuchungen darüber einzugehen, nach welchen Richtungen
die noch eben perhorrescirten Ansprüche der Regierung doch eine gewisse Be¬
rechtigung haben dürften. Da alle Nachrichten darin übereinstimmen, daß
die belgische Regierung bereits an die äußerste Grenze der ihr möglichen
Zugeständnisse gegangen sei, dieselbe nicht überschreiten könne und nicht
überschreiten werde und da andererseits die Fabel von dem Engagement der
französischen Ehre bereits im Munde eines nicht unbedeutenden Theils der
Pariser Presse ist, so fragt man vergeblich, wie diese Differenz ohne Stö¬
rungen gelöst werden soll. In vier, vielleicht schon in drei Wochen stehen
die Neuwahlen für den gesetzgebenden Körper bevor; der französischen Regie¬
rung muß Alles daran gelegen sein, bis zu diesem wichtigen Zeitpunkte einen
gewissen Abschluß erzielt zu haben. Alles, was in Frankreich seit Wochen
geschehen, war mit Berechnung auf diese Wahlen vorgenommen worden; die
vielbesprochene Rede des Herrn v. Lavalerte ist sicher noch mehr an die fran-
zösischen Wähleradressen als an deutsche und englische Diplomatenadressen
gerichtet gewesen; das in elfter Stunde abgegebene Versprechen, nicht nur
die. alten Soldaten des Kaiserreichs, sondern auch verdiente Lehrer und Be¬
amte mit Pensionen zu bedenken, die Versöhnung zwischen Rouher und dem
Seinepräfecten — Alles hat auf die Wahlen Beziehung. Ist da anzuneh.
men, daß man den Oppositionscandidaten die Gelegenheit bieten wolle, von
einem vor der Thür stehenden neuen Fiasco der kaiserlichen Diplomatie zu
reden und peinliche Erinnerungen an Nikolsburg, Mexico und Luxemburg
heraufzubeschwören? Die eigenthümliche Gestalt, welche die Wahlagitation im
zweiten Kaiserreich angenommen hat, muß die Regierung noch zu besonderer
Vorsicht in dieser Beziehung zwingen. Während in den übrigen konstitutio¬
nellen Staaten Europas die Wähler die Initiative ergreifen, aus dem Schooß
der Wahlkreise hervorgegangene Comite's Candidaten und Programme auf¬
stellen, sind es in Frankreich die Candidaten, welche an der Spitze der Agi¬
tationen stehen und, Weinreisenden gleich, die Waare ihrer Programme an¬
preisen. Gerade wegen der zahlreichen Blößen, welche die liberale Opposition
sich gegeben hat, kann nicht fehlen, daß dieselbe ihre Möglichstes thut, um
aus den Fehlern der Regierung Capital zu schlagen; machen diese Fehler
doch den größten Theil des Credits aus. von dem Politiker wie Thiers,
Favre, Simon u. A. leben, und bleibt diesen Leuten doch wenig mehr übrig,
als den Wählern zu beweisen, daß die Regierungscandidaten noch weniger
taugen, als sie selbst. An sehr vielen Punkten wird der Regierung nichts
übrig bleiben, als ihr Heil mit Männern der dynastischen Opposition vom
Schlage Ollivier's zu versuchen, so wenig diese auch nach dem Herzen der
gegenwärtigen Machthaber sein mögen. Sollen diese Männer der tiörs-
Partei aber etwas ausrichten, so müssen sie beweisen können, daß die Re¬
gierung ihre früheren diplomatischen Fehler gut gemacht habe, und das wird
schwer halten, so lange die belgische Eisenbahnangelegenheit nicht geordnet ist.
Wenn man in Brüssel entschlossen ist, den eingenommenen Standpunkt
nicht mehr zu verlassen, so thut man das in der Rechnung auf die zweifel¬
lose Unterstützung der Großmächte, namentlich Englands. — Das britische
Cabinet ist im Augenblick mit anderen Dingen so überbeschäftigt, daß es zu
der in Rede stehenden Streitfrage noch nicht feste Position genommen hat.
Die Entscheidung über die irische Staatskirche harrt noch einer dritten Lesung
im Unterhause, und der Beurtheilung durch die Lords; obgleich Gladstone
bis jetzt aus allen Discussionen über dieselbe als Sieger hervorgegangen ist,
bleibt ihm immer noch ein tüchtiges Stück Arbeit übrig, denn der Wider-
stand der im Oberhause vertretenen hohen Geistlichkeit der anglikanischen
Kirche ist noch nicht vollständig gebrochen. Auf die große Masse der Be¬
völkerung haben Lope's Budgetersparnisse und Abrüstungsmaßregeln einen
entschieden günstigen Eindruck gemacht, aber die Wehrkraft Englands hat
durch dieselbe nicht gewonnen und John Bright wird dafür sorgen, daß mit
Verminderung der Armee und Flotte wo möglich noch weiter vorgegangen
wird. Dabei ist das britische Cabinet bereits anderweitig von diplomati¬
schen Fragen in Anspruch genommen. Der Nachfolger des amerikanischen
Gesandten Reverdy-Johnson wird, wie man annimmt, sehr viel weniger Eifer
für Beilegung des Alabamastreits mitbringen, als der redselige Tischgenosse
des Lordmayors, und am östlichen Horizont tauchen die Gefahren eines
Conflicts mit den in Mittelasien unaufhaltsam vorschreitender Russen auf.
Gladstone's Bemerkungen über freundschaftliche Verhandlungen, welche darüber
mit dem Petersburger Cabinet angeknüpft seien, sind von der Presse der
beiden russischen Hauptstädte sehr ungünstig aufgenommen worden. Läßt sich
nach den Aussprüchen der „Most. Zeitung", des „Golos" und auch der
konservativen „Wesstj" auf die herrschende Stimmung schließen, so ist der
Gedanke an Zugeständnisse, welche den englischen Wünschen in Afghanistan
gemacht werden sollen, bei allen Parteien gleich unpopulair. Man beruft sich
auf Englands feindliches Verhalten in der orientalischen Frage und imputirt
außerdem den Vereinbarungen, welche der neue Vicekönig in Ostindien, Lord
Mayo, mit schir-Alp getroffen hat, einen provokatorischen Charakter. Nuß-
land — so heißt es — habe absolut kein Interesse daran, sich zu Gunsten
Englands durch politische oder commerzielle Verträge die Hände zu binden
oder in die Anstellung gegenseitiger Consularagenten für Indien und Tur-
kestan zu willigen; im Gegentheil müsse Rußland in der Lage bleiben, für
den Fall neuer Meinungsverschiedenheiten über die orientalische Frage die
Gunst seiner turkestanischen Stellung in die Wagschale werfen zu können.
Daß es im Augenblick ruhiger im europäischen Osten aussieht, bietet nach
russischer Anschauung keine Garantie für die Zukunft und die türkischen Re-
gierungsmaßregetn gegen die Sporaden haben in Petersburg ebensowenig
einen guten Eindruck machen können, wie das neu erlassene Gesetz, nach wel¬
chem keine in der Türkei geborene Person sich durch Anschaffung eines frem¬
den Passes einer anderen Nationalität anschließen darf.
Freilich spielen all' diese Dinge zur Zeit auch in Rußland eine unter¬
geordnete Rolle, da man mit inneren Angelegenheiten vollauf zu thun hat.
Die Armee wird mit Hinterladern bewaffnet, in Polen wie in den Ostsee¬
provinzen stoßen die russificatorischen Maßregeln fortwährend auf Schwierig¬
keiten, und die Studentenunruhen in der Newaresidenz bieten der Streitlust
und den Intriguen der Parteien einen willkommenen Gegenstand. Die Moskaner
nationalen behaupten, der unruhige Sinn der akademischen Jugend sei wesent¬
lich auf die Umtriebe unzufriedener Polen und Aristokraten zurückzuführen,
während die Letzteren aus den vorgefallenen Ruhestörungen Schlüsse auf die
Gefährlichkeit demokratischer und panslawistischer Ideen ziehen und auf die
Nothwendigkeit eines restriktiven Unterrichtssystems hinweisen, — Unterdessen
hat die Thätigkeit der Regierung nicht gefeiert. Die verbesserte Gerichtsorga-
nisation ist wiederum auf eine Anzahl neuer Provinzen ausgedehnt worden,
der Reichsrath discutirt ein Gesetz über den Verkauf der Staatsbergwerke,
der Kriegsminister hat eine unserem Freiwilligeninstitute analoge Einrichtung
für die Armee ins Leben gerufen, und außerdem wird an Eisenbahnen und
" Eisenbahnprojecten rüstig weiter gearbeitet. Die vielbesprochene Kowno-Libauer
Eisenbahn ist aufs Neue Gegenstand eifriger Zeitungsdebatten geworden;
eine preußische Gesellschaft wünscht nämlich die Concession zu der Linie Lyk-
Bjälostok-Brest zu erwerben, und ist bereit dieselbe auch ohne Zinsgarantie
zu bauen. In Moskau glaubt man in diesem Project zugleich eine strate¬
gische Gefahr für das westliche Rußland und einen Versuch zur Werthver¬
minderung des Kowno-Libauer Schienenwegs sehen zu müssen, und aus diesem
Grunde wird die Regierung dringend vor den preußischen Anerbietungen ge¬
warnt. Der Zweck der Kowno-Libauer Bahn ist bekanntlich, den polnischen
und westrussischen Export in einen russischen Hafen zu leiten, und von Königs¬
berg, wohin derselbe bisher mündete, abzuziehen. Da die Lyker Eisenbahn aber
die Verbindung mit Königsberg erleichtern würde, soll dieselbe um jeden
Preis verhindert werden, und wird ein Concurrenzproject zu Gunsten Danzigs
von nationaler Seite her nach Kräften unterstützt. Die immer näher rückende
Eröffnung des Suezcanals hat nämlich eine Anzahl Danziger Firmen auf die
Vortheile aufmerksam gemacht, welches sich aus einer erleichterten Verbindung
mit Odessa, dem Haupthafen des Schwarzen Meeres ziehen ließen; die¬
selben haben vorgeschlagen, Danzig mit den westrussischen Bahnen (bet
Minsk) direct zu verbinden, da diese Bahnen demnächst mit den im Bau
begriffenen südrussischen Linien ein Ganzes bilden werden. Wie es heißt, soll
die Entscheidung über dieses der Lyker Bahn concurrirende Project schon in
einigen Wochen gefällt werden.
Im westlichen Europa ist die allgemeine Aufmerksamkeit in den letzten
Wochen besonders lebhaft mit Italien beschäftigt gewesen. Nicht etwa weil
Herr Cambray-Digny des italienische Deficit mit Hülfe des Kirchengüter-
Verkaufs auf ein Viertel seines bisherigen Betrages (statt 388 bloße 75
Millionen) herabzusetzen versprochen, sondern weil Pius IX. sein SOjähriges
Priesterjubiläum zum Gegenstande einer großen Schaustellung gemacht hatte.
Von allen Ecken und Enden des Welttheils sind die Gläubigen in die ewige
Stadt gewallfahrtet, um der Welt zu beweisen, daß der Felsen Petri allen
Zeitstürmen zum Trotz noch immer unerschüttert fest dasteht. Die malcontente
östreichische Aristokratie, Westphalen, Belgien und Holland haben besonders
reichliche Kontingente an Wallfahrern gestellt, und wie neulich aus Rom
geschrieben wurde, ist der dritte Mensch, der dem Besucher des Kaffee¬
hauses und der Osteria oder dem Spaziergänger auf dem spanischen Platze
begegnet, ein Graf aus Münster, ein böhmischer Magnat oder ein belgischer
Jesuit, dessen hohle Züge sofort den „Fanatiker aus Reflexion" erkennen
lassen. Diese Secundizfeierlichkeiten, an denen das Ausland sich sehr viel
lebhafter betheiligt hat, als Italien und selbst Rom, ist von einem kleinen
Vorgang begleitet gewesen, der uns wiederum an die italienisch-östreichischen
Allianzgerüchte erinnert; auf Antrag des Wiener Botschafters wurde der
zufällig anwesende Herzog von Parma aus der Loge, die für die regierenden
Fürsten aufgestellt war, verwiesen. Ziemlich gleichzeitig ist der italienische
General, der dem Kaiser Franz Joseph die Jnsignien des Annunciataordens
überbracht, in Wien mit Ovationen überhäuft worden und unseren hoffnungs¬
vollen Partikularisten- und Welfenjournalen gilt der Abschluß eines Vertrages
zwischen den beiden, 60 Jahre lang verfeindet gewesenen Cabinetten bereits
für eine ausgemachte Thatsache. Daß es soweit noch nicht gekommen ist,
versteht sich von selbst, und selbst wenn es soweit gekommen wäre, bliebe
noch höchst fraglich, was man sich in Florenz unter einem Abkommen mit
der Hofburg gedacht hat. Graf Menabrea's Stellung ist nicht dazu an¬
gethan, der italienischen Regierung einen auch nur vorläufigen Verzicht auf
Rom rathsam zu machen, denn es vergeht kein Monat, in welchem die
italienischen Liberalen nicht Miene machen, das Cabinet vom Herbst 1867
über den Haufen zu werfen. Ohne Frankreichs Mitwissen und Mitwollen
wird die italienische Regierung es schwerlich zu dem Entschluß bringen, die
erprobte preußische Alliance gegen die Freundschaft Oestreichs auszutauschen,
und daß Frankreich jetzt keine Conjunctur unterstützen wird, welche den
Papst gefährden könnte, versteht sich von selbst. In drei Wochen geht der
französische Bauer und Kleinbürger an die Wahlurne, und der Wahlzettel,
den er in dieselbe wirft, ist ihm nur allzuhäufig von seinem Beichtvater
dictirt worden. — Ueberdies hat Italien mit inneren Schwierigkeiten, nament¬
lich mit der feindlichen Stimmung in Neapel und Sicilien so vollauf zu
thun, daß es zu großen diplomatischen Diversionen weniger Beruf als jemals
fühlen dürfte. Sein Credit im Auslande ist so stetig gesunken, daß selbst
die liberalen Spanier den Gedanken aufgegeben haben, den jüngern Sohn
des Begründers der italienischen Einheit auf ihren erledigten Thron zu rufen
und damit ihrer Königsnoth ein Ende zu machen.
Die Lösung der spanischen Thronfrage hat auch in dem letzten Monat
keine Fortschritte gemacht; es sei denn, daß man die definitive Weigerung
des königlichen Vaters von Portugal, Dom Ferdinand's von Coburg-Cohary
als einen Fortschritt ansehen wollte. Die Schwierigkeit, für den spanischen
Thron einen König zu finden, macht mehr und mehr Miene für die Sache
des spanischen Königthums präjudicirlich zu werden. Bis jetzt haben die Arbei¬
ten zur Feststellung der neuen Verfassung den Vorwand dafür geliefert, daß
man die Entscheidung über die Throncandidatur aussetzte, aber diese Arbeiten
Werden nächstens beendet sein, ohne daß die Glieder der Regierung oder die
übrigen Monarchisten im Stande gewesen wären, auch nur einen populären
Namen neben den des wenig beliebten Herzogs Anton von Montpensier auf
ihr Schild zu schreiben. Die Verfassung selbst wird für den Fürsten, der mit
ihr regieren soll, übrigens wenig verlockend sein, denn sie ist auf so breite demo¬
kratische Basen gestellt, als sei sie sür ein politisch reifes Volk, nicht für die
verwilderten, ungebildeten oder demoralisirten Spanier bestimmt. Dem erb¬
lichen König, den man mit vieler Mühe durchgesetzt hat, soll ein blos auf¬
schiebendes Veto zur Seite stehen, der Senat seinem Haupttheile nach nicht
stabil sein, sondern alle zwölf Jahre neu gewählt werden, das Abgeord-
netenhaus alle drei Jahre erneuert werden. Eine ausgedehnte Preß- und
Versammlungsfreiheit versteht sich von selbst, dagegen hat man sich nicht
entschließen können, den Akatholiken mehr als bloße Duldung zuzusichern,
oder die Todesstrafe aufzuheben. Der künftige König findet außerdem eine
völlig leere Staatscasse und eine neue Staatsschuld im Betrage von 1000
Millionen Realen (viermal so viel, als die Staatseinnahmen im besten Fall
betragen) vor; in den spanischen Städten wird er jeden Augenblick Schild¬
erhebungen enttäuschter Republikaner, auf dem flachen Lande Pronuncia-
wentos der Carlisten und Jsabellinos zu erwarten haben, und die Hoffnung,
Spaniens wichtigste Colonie, die Insel Cuba, dieser Krone erhalten zu sehen,
nimmt von Tag zu Tag ab. Der Generalcapitain Dulce hat eben so wenig
ausrichten können, als sein Vorgänger Lerfundi. und Serrano hat den Cortes
selbst eingestehen müssen, daß die Lage der Insel sich in den letzten Wochen
wesentlich verschlimmert habe. Die Hoffnungen der cubanischen Insurgenten
richten sich immer wieder auf die nordamerikanische Union, und obgleich der
Neue Präsident Grant nicht der Mann ist, in so offenkundiger Weise wie
Weiland Herr Buchanan das Völkerrecht zu verletzen, so steht doch fest, daß
es in Nordamerika viele und einflußreiche Politiker gibt, welche minder skru¬
pulös sind als das gegenwärtige Staatsoberhaupt. Da Spanien der For¬
derung des Newyorker Cabinets nachzugeben und die in Havanna gefangen
genommenen amerikanischen Bürger freizulassen Willens scheint, so sind die
Beziehungen der Regierung von Madrid zu der mächtigen Republik des
Westens bis jetzt übrigens ungetrübt geblieben.
In den beiden Staaten des sü d oft ki es e n Europa, welche zu dem Suchen
nach willfährigen Fürsten in der Neuzeit zuerst das Beispiel gegeben haben,
in Griechenland und Rumänien, hat die Sache der Ordnung und Ruhe auch
in dem abgelaufenen Monat keine Fortschritte gemacht. Parteikämpfe und
Bürgerkriege bleiben bei ihnen trotz der glücklich gefundenen Fürsten ebenso
üblich wie in dem königloser Spanien. — Das Friedens- und Bildungs¬
programm, über welches sich eine Anzahl ätherischer Wahlmänner vor Kurzem
geeinigt hat, wird noch lange zu warten haben, ehe es in weiteren Kreisen
Unterstützung findet. In der griechischen Politik spielt ein Programm, wel-
ches Reorganisation des Schulwesens, Anlegung neuer Straßen, Stabilität
der Beamten und Sparsamkeit im Staatshaushalt auf seine Fahne schreibt,
zunächst die Rolle eines Curiosums. denn für diese Dinge haben hellenische
Liberale und Conservative, Großgriechen und Föderativrepublikaner gleich
wenig Sinn und Verständniß. Daß dasselbe Programm die Errichtung einer
Flotte und ein Ministerverantwortlichkeitsgesetz verlangt, geschieht offenbar,
weil die Führer der neuen Partei eines populairen Köders bedürfen, um auf
die Masse zu wirken. Da die neue Kammer schon in drei Wochen gewählt
werden soll, hat dieser erste Versuch in vernünftiger Weise auf Förderung der
materiellen Interessen und Beschaffung der ersten Bedingungen wirklicher Cultur
hinzuarbeiten, noch wenig Aussicht auf große moralische Eroberungen unter
den Hellenen. Wie schwer es hält, die Völker des slavischen Südostens in die
Bahn wirklicher Gesittung zu führen, das hat auch die rumänische Regierung
in letzter Zeit wieder deutlich erfahren. Die Neuwahlen zur Kammer, auf
welche auch außerhalb Rumäniens so große Hoffnungen gesetzt wurden, sind
allerdings wesentlich im Sinn der Regierung und einer friedlichen Politik
ausgefallen, aber die Partei Bratiano's hat so erfolgreich an die Sympa-
thieen des „Volkes hinter den Wählern" appellirt, daß an verschiedenen
Orten, u. A. auch in der Hauptstadt Bucharest, wiederholte und ernste Ruhe¬
störungen vorgekommen sind, und der Gehorsam gegen das Gesetz in ein¬
zelnen Städten nur mit Hülfe der Waffen erzwungen werden konnte. Bra¬
tiano's großrumänische Phantasien gelten dem rumänischen Normalpolitiker
immer noch für den einzigen vollgültigen Ausdruck des Patriotismus und
einer wahrhaft nationalen Gesinnung, Der Einfluß dieses unruhigen Mannes
ist so groß, daß er den Verdiensten, welche Fürst Karl sich um das Land er¬
worben, reichlich die Waage hält und daß immer wieder vergessen wird, daß
Bratiano es war, der — gerade wie Herr Bulgaris in Athen — dem Moldau-
Wallachischen Staat im Westen wie im Süden die gefährlichsten Feinde be¬
reitete, ohne irgend wirksame Schutzmittel gegen dieselben in Händen zu
haben. — In den ersten Apriltagen hat die Bucharester Regierung sich sei¬
tens der Pforte ein neues Pfand ihrer Selbständigkeit auszuwirken gewußt,
die Anerkennung des Münzrechts. Dagegen hat Fürst Karl vorläufig auf
die Befugniß, diplomatische Vertreter seines Staates an auswärtige Höfe zu
senden verzichtet; damit ist natürlich nur dem Recht zur Anstellung regel¬
mäßiger Gesandten entsagt, die Absendung von Missionen zu besonderen
Zwecken hat den Hospvdaren schon früher zugestanden und ist praktisch sehr
häufig ausgeübt worden.
Die Veränderungen, welche sich im Lauf des April bei Rumäniens nächsten
Nachbaren, den Ungarn, vollzogen haben, werden den Staatsmännern in
Jassh und Bucharest übrigens besondere Vorsicht und Enthaltsamkeit zur
Pflicht machen. Jene Pester Linke, welche von jeher die mißtrauischeste Geg¬
nerin aller südslavischen Völker, die stolzeste Vertreterin der magyarischen
Hegemonie an der unteren Donau war, hat bei den Neuwahlen zum Land¬
tage eine lange Reihe glänzender Erfolge davongetragen. Schon der ge¬
messene, fast besorgliche Ton der Thronrede, mit welcher der Kaiser und
König Franz Joseph die neu gewählte ungarische Ständeversammlung er¬
öffnete, weist darauf hin, daß die Tage der Allgewalt Deal's gezählt sind
und daß die von diesem Staatsmanne begründete Partei mehr verloren hat,
als den „Lmdorixoillt", welchen Graf Andrassy so leicht verschmerzen zu
können meinte. Nicht nur, daß es der Partei, welche ziemlich offen Los¬
reißung von Oestreich predigt, gelungen ist, eine Anzahl der wichtigsten
Wahlkreise zu erobern — diese Partei hat so geschickt zu operiren gewußt,
daß die Döakisten viele ihrer tüchtigsten Glieder durchfallen sahen und daß die
ministerielle Fraction qualitativ noch mehr verloren hat, als quantitativ.
Auch die äußerste Linke, welche den großen Grundbesitz sprengen und Acker¬
vertheilungen herbeiführen möchte, hat sich verstärkt. — Der Erfolg muß leh¬
ren, ob und in wie weit ein ferneres Zusammengehen der beiden zweispalti-
gen Hälften des östreichisch-ungarischen Reichs noch möglich sein wird. So
schlecht De-akisten und liberale Deutschöstreicher sich auch bis jetzt vertragen
haben, durch das gemeinsame Interesse an der Erhaltung des Dualismus
hängen sie doch so eng mit einander zusammen, daß jeder Verlust der Einen als
Schaden für die Anderen angesehen werden muß. In diesem Sinne ist der
Ausfall der ungarischen Wahlen von der böhmischen Nationalpartei und den
übrigen Föderalisten als ein hochwillkommenes Ereigniß und als Vorbote
eines immer nothwendiger werdenden Systemwechsels begrüßt worden. Man
rechnet darauf, die gegen die Ungarn unmuthig gewordene Regierung mit
den vereinigten Kräften der galizischen Polen, der Böhmen, Slowenen, Ti¬
roler und Klerikalen ohne große Anstrengung zu Concessionen bringen zu
können. Wenn bis jetzt weder Graf Beust, noch die cisleithanischen Minister
nachgegeben haben, so werden sie das (nach Meinung der Föderalisten) in Zu¬
kunft mit desto ausgedehnteren Concessionen bezahlen müssen. Bis jetzt ist die
Regierung fest geblieben und die endlich erfolgte Ernennung des Grasen
Taaffe zum definitiven Ministerpräsidenten scheint darauf berechnet, den wan¬
kenden Muth der Anhänger zu heben, die Gegner in ihre Schranken zu ver¬
weisen. — Aber selbst in Wien bleibt die Stimmung flau und argwöhnisch,
und die Leute versuchen, ihr Mißtrauen gegen die Dauerbarkeit der Ver¬
hältnisse durch waghalsige Bankspeculationen zu übertäuben. Gegen die Re¬
nitenz und Feindschaft der Klerikalen wagt man noch immer nicht energisch
vorzugehen, obwol man aus langjähriger Erfahrung weiß, daß Nachgiebig¬
keit und Versöhnlichkeit hier am übelsten angebracht sind. Aber der Einfluß
der Bürgerminister hat an den Sympathien und Traditionen der Hofburg
seine sehr bestimmte Grenze und diese ist mit Bestätigung der gegen das
Concordat gerichteten Gesetze längst erreicht. — Während die officiöse Presse
sich noch in Freudenbezeugungen darüber erging, daß die Anträge des gali-
zischen Landtags in den Ausschußberathungen des Reichsraths zu Fall ge¬
kommen, haben die Parteien der Opposition an der Debatte über das Schul¬
gesetz zu einer feindlichen Demonstration Veranlassung genommen, welche in
Bezug auf Entschiedenheit nichts zu wünschen übrig läßt. Kaum war der
erste Paragraph jenes Gesetzes verlesen, so erhob Pater Greuter sich zu einer
fulminanten Rede gegen die „confessionslose" Schule, und als diese erfolglos
blieb, verließen die klerikalen Tiroler unter Führung Giovanelli's, von den
Polen und Slowenen begleitet, nach feierlichem Protest den Sitzungssaal.
Der Eindruck dieser Scene mußte um so größer sein, als zwei Tage zuvor
bekannt geworden war, daß die Minister es nicht für rathsam gehalten, dem
Ausschußgutachten für Vornahme directer Wahlen in jenen Ländern, deren
Landtage in dem Reichsrath unvertreten sind, zuzustimmen. Diese Zögerung
ist um so. bemerkenswerther, als selbst die Polen dem Ausschußgutachten bei¬
getreten waren. Wahrscheinlich hat man sich gescheut, der nationalböhmi¬
schen Partei einen neuen Fehdehandschuh hinzuwerfen. Dieselben Zeitungs¬
blätter, welche diese bedeutungsvollen Nachrichten brachten, enthielten ein
Telegramm, welches für die Lage in Ungarn höchst charakteristisch ist: an
einem und demselben Tage hatte die Linke darauf angetragen, die Minister
wegen Beeinflussung der Wahlen in Anklagezustand zu versetzen, Kossuth zur
Einnahme seines Sitzes im Ständesaal einzuladen und Klapka, den Ercom-
mandanten von Komorn, als Landesvertheidigungsminister aufzustellen —
Beweis genug dafür, daß die Opposition sich zu fühlen beginnt.
Während Oestreich auf diese Weise durch den Hader feindseliger Na¬
tionalitäten und unsühnbarer Gegensätze hin- und hergerissen wird, hat sein
erster Staatsmann Zeit und Unternehmungslust genug übrig gehabt, um
seine gewohnten kleinen Ränke gegen Preußen fortzuspinnen. Nicht nur, daß
der vierte Band des östreichischen Generalstabswerkes über den Krieg von
1866 den Wortlaut preußischer Depeschen (die mit der Sache selbst nichts
zu thun haben) entstellt, um in Paris und Florenz böses Blut gegen das
Berliner Cabinet zu machen, die officiöse Presse der östreichischen Hauptstadt
nimmt an diesem militairischen Werk plötzliche Veranlassung, die Gültigkeit
unserer Schutz- und Trutzbündnisse mit den süddeutschen Staaten ganz direct
in Frage zu stellen. Der wiederhervorzeholte Satz der k. k. Regierung „Streng
genommen sind diese Bündnisse durch den Prager Frieden ungültig geworden" hat
der „Neuen freien Presse" und deren Genossen zu einer Anzahl Schmähartikel
Veranlassung gegeben, welche übrigens ebenso gegen Bayern wie gegen Preußen
gerichtet sind. Was man mit den Angriffen und Recriminationen gegen das
Berliner Cabinet beabsichtigt, bedarf nicht erst der Erklärung. Wird doch seit
Jahr und Tag jede Gelegenheit in Wien dazu benutzt, den Ausspruch zu
illustriren, mit welchem Gros Beust seinen Eintritt in den österreichischen
Staatsdienst begleitete, die famose Versicherung, daß er von keinerlei Rache¬
gedanken gegen Preußen erfüllt sei. Zweifelhafter könnte sein, was mit den
Ausfällen gegen Bayern und andere süddeutsche Staaten gewollt wird. Die
Wiederbelebung erstorbener Sympathien mit Schmähungen fertig zu bringen,
Wird man doch schwerlich unternommen haben. Oder hat man in Wien
die stolzen Hoffnungen auf Herstellung eines Südbundes unter östreichi¬
schen Protectorate so vollständig begraben, daß man sich bereits von
jeder Rücksicht auf den ehemaligen Bundesgenossen losgelöst fühlt? Zu
den Gewohnheiten der Hofburg und der anspruchsvollen Feinheit ihrer
Diplomaten hatte sonst nicht gehört, den Aerger über zu Wasser gewordene
Hoffnungen und Pläne so anstandslos vor aller Welt auszuposaunen. — Es
wird von Interesse sein, die Antworten der so empfindlichen Süddeutschen
auf diese Herausforderung zu vernehmen; die Beobachter-Partei wird es
schwer haben, den süddeutschen Regierungen auch dieses Mal alle Zweifel
an der unveränderlichen Freundschaft des k. k Staatskanzlers auszureden.
Von allem Uebrigen abgesehen, muß beispiellos genannt werden, daß
diese publizistischen Feldzüge mit Waffen geführt werden, in deren Besitz man
auf widerrechtliche Weise gelangt ist. Solche Waffen öffentlich anzulegen, ist
nur möglich, wenn man mit dem Gefühl für Recht und Unrecht zugleich den
Anspruch aufgegeben hat, die Formen der Schicklichkeit zu beobachten,
welche in der diplomatischen Welt gelten und auf deren mustergültige Hand¬
habung man sich sonst in Wien besonders viel einzubilden pflegte. Der alte
Metternich, vielleicht auch Felix Schwarzenberg würden sich im Grabe um¬
drehen, wenn bis zu ihnen die Kunde dränge, ein k. k. Staarskanzler habe
die Hofburg dem Vorwurf plebejen Handelns ausgesetzt und zur Klage über
Verletzung des ABC der guten Gesellschaft Veranlassung gegeben. Die
Urtheile der diplomatischen Welt werden in diesem Falle noch sehr viel
härter lauten, als die Antworten der officiösen Berliner Presse.
Polemischer Wassergänge zwischen den Officiösen an der Donau und
Spree ist das Publicum zu gewöhnt, um sich durch dieselben in dem Ver¬
trauen auf den Frieden erschüttern zu lassen. Ueberdies ist man in Berlin
mit ganz anderen Dingen beschäftigt, als mit der Lectüre der Herzens-
ergießungen des schreib- und sprechlustigsten aller modernen Staatsmänner.
Es sind noch nicht vier Wochen, daß der norddeutsche Reichstag seine Ar¬
beiten wieder aufgenommen hat. und bereits liegt eine Fülle wichtiger
Beschlüsse und Verhandlungen vor. Obgleich die Discussion über das neue
Gewerbegesetz noch nicht zu Ende ist, und dasselbe sehr zahlreiche und wichtige
Abänderungen durch den Reichstag erfahren hat (zu diesen rechnen wir ganz
besonders die erhebliche Beschränkung, welche das wesentlich von der Polizei
abhängige Concessionswesen erlitten), kann die Annahme desselben nach
dem. was in den letzten Tagen bekannt geworden, doch schon als gesichert
angesehen werden und ist damit ein erfolgreicher Schritt auf der Bahn jener
Thätigkeit weiter gethan worden, welche der neue Bund zum Heil unserer
materiellen Interessen seit dem ersten Tage seiner Constituirung betreten hat.
Die Wahrheit des Buckle'schen Satzes, daß es die negativen und emancipa-
tiven Gesetze, d. h. die Beseitigungen veralteter Schranken der Wohlfahrt
seien, welche den raschesten und nachweisbarsten Nutzen trügen, hat sich
durch die bisherige Geschichte des norddeutschen Reichstags und seiner gesetz-
geberischen Thätigkeit mehr wie ein Mal bestätigt, und auch in diesem Sinne
muß die neue Gewerbeordnung als ein wichtiger Act begrüßt werden, der,
wenn er richtig benutzt wird, den im Jahre 1866 geschaffenen Verhältnissen
zahlreiche neue Freunde erwerben wird. Diese richtige Benutzung wird aber
nur möglich sein, wenn die Ausführung des neuen Gesetzes in Händen ruht,
welche ein Interesse daran daven. dieselbe gegen die entgegenstehenden Ge¬
walten energisch durchzusetzen. Es kann überhaupt kein neues organisches
Gesetz für den norddeutschen Bund gedacht werden, ohne daß wir an die
praktischen Motive erinnert werden, aus welchen der viel besprochene
Tochter-Münster'sche Antrag auf Einsetzung verantwortlicher Bundesminister
herausgewachsen ist.
Merkwürdig genug, daß diese in Wahrheit maßgebendsten Gründe für
jenen Antrag bei der Debatte über denselben in den Hintergrund gerückt wor¬
den sind. Unstreitig ist es diesem Umstände zuzuschreiben, daß die Verhand¬
lungen vom 16. April sich in einer Kette von Mißverständnissen bewegten,
deren Lösung ohne die Gewandtheit Laster's vielleicht noch heute auf sich warten
ließe. Nimmermehr hätte der Tochter - Münster'sche Antrag eine so reiche
Unterstützung aus beinahe allen Fraktionen des Hauses erhalten, wenn die
Empfindung von der Unzulänglichkeit der gegenwärtigen Ausführungsorgane
minder verbreitet gewesen wäre. Als' Laster das Wort ergriff, hatte die Dis-
cussion sich bereits so weit von ihrem natürlichen Ausgangspunkt entfernt,
war die Frage nach der Stellung des Grafen Bismarck zu den Antrag¬
stellern und zu der Majorität des Hauses so sehr zu ihrem Hauptinhalt ge¬
worden, daß dem Redner nichts übrig blieb, als den einmal thatsächlich
eingeschlagenen Weg weiter zu gehen, und die Consequenz zu ziehen, welche
am nächsten lag: daß wenn man einem Ministerpräsidenten College» geben
will, diese nicht die Aufgabe haben können, die Politik ihres Leiters zu hem¬
men, sondern daß sie derselben zu ersprießlicher Durchführung verhelfen sollen.
Laster's Deduction hat nicht nur das Verdienst, die bewegte Verhandlung
in ihre natürlichen Gleise zurückgeführt zu haben, sie hat zugleich an einen
constitutionellen Gedanken gemahnt, der trotz alles fortschrittlicken Eifers
für den Parlamentarismus, bei uns eigentlich immer im Winkel ge¬
legen hat. Unsere höchste Regierungsgewalt ist noch nicht von der Noth¬
wendigkeit überzeugt, daß Uebereinstimmung zwischen den Gliedern eines
Cabinets für eine geordnete Regierung ebenso unerläßlich ist, als Ueber¬
einstimmung mit der Majorität der Volksvertretung. Im Grunde genom¬
men liegt die Forderung der Solidarität zwischen Ministern noch näher,
als der Anspruch auf deren Uebereinstimmung mit der Majorität. — Daß
der Bundesrath dem Reichstagobeschluß vom 16. April seine Bestätigung geben
wird, ist nach dem, was der Kanzler am Schluß der Debatte sagte, wohl nur
noch Frage der Zeit.
Der Antrag auf Einsetzung verantwortlicher Fachminister des nord¬
deutschen Bundes ist aber nicht der einzige, der von dem Wachsthum und
Expansionsbedürfniß unsres neuen Staats Zeugniß abgelegt hat. Zwei andere
Anträge (und wenn wir die Grundrecht'sche Bill für Unterordnung der
Küstenpolizei und des Btleuchtungswesens hinzuzählen — drei) liegen in
derselben Richtung vor: die Miquel-Losker'jede Motion für Ausdehnung der
Bundescompetenz auf die Civilgefetzgebung und das Verlangen der königlich
sächsischen Staatsregierung nach Begründung eines obersten Bundesgerichts¬
hofes in Leipzig. So wenig zwischen den Antragstellern der einen und der
andern Forderung bewußte Interessen- und Jdeengemeinschaft angenommen
Werden kann, beide Anträge stehen nicht nur in materiellem Zusammenhang,
sondern sie ruhen auch auf dem Grunde der gemeinsamen, hier ausgesprochenen,
dort unausgesprochenen Ueberzeugung, daß die Entwickelung des Werkes vom
Jahre 1866 unaufhaltsam ist. und daß die Interessen der Deutschen mächtiger
und connexer sind, als alle Parteien.
Wesentlich dieselben Bedenken gegen die Mendelssohnsche Schrift über den
Rastadter Gesandtenmord, welche die Grenzboten vor einigen Wochen bei Gelegen¬
heit des Erscheinens derselben (vgl. Ur. 12 v. 19. März 1869) aussprachen, haben
den Herrn Verfasser der vorliegenden Broschüre veranlaßt, sich zur Sache zu äußern.
Dem Herrn Verf. ist es gegangen wie uns, er ist nicht im Stande gewesen,
aus der erwähnten Schrift einen anderen Eindruck zu gewinnen, als den, daß
Herr Mendelssohn eine Hypothese aufgestellt hat, die weder bewiesen, noch auch nur
wahrscheinlich gemacht worden ist. Die Annahme, daß es französische Emigranten
gewesen, welche jenes Verbrechen begangen, ist weder durch das, was Herr Mendels¬
sohn über den Hergang berichtet hat, noch durch die von demselben aufgefundenen
Wiener Documente unterstützt und der Herr Verf. der vorliegenden Schrift scheint
uns vollkommen den Nagel auf den Kopf getroffen zu haben, wenn er die Besorgniß
ausspricht: „die hohe Liberalität Sr. Excellenz des Reichskanzlers Grafen Beust habe
den Herrn Professor wohl an den unrechten Actenkasten geführt." Der ein¬
fache Umstand, daß von den Untersuchungsacten die, wenn überhaupt noch vorhan¬
den, in Wien aufbewahrt sein müssen, macht diele Befürchtung des Herrn Prof.
Zarte mehr wie wahrscheinlich. Da die übrigen Papiere, welche sich auf j^nes Er-
eigniß beziehen, sämmtlich erhalten sind, so erscheint es übrigens höchst unwahr¬
scheinlich, daß die Untersuchungsacten verloren gegangen sein sollten. Ihre etwaige
Vernichtung wäre ein Argument mehr gegen die Unschuld de/ Wiener Regierung.
'
Der zweite Abschnitt unserer Schrift enlhait eine Reihe Fragmente, welche der
verstorbene Kirchenrath Zarte, Vater des Herausgebers, kurz nachdem das Ver¬
brechen verübt worden, zusammengestellt hat. Obgleich dieselben wesentlich nur be¬
stätigen , was anderweitig bereits bekannt geworden, enthalten sie doch einige kleine
Zuge von Interesse. So wird z. B. erzählt, daß die Szekler Husaren den Wagen,
in welchem die französischen Damen nach der Ermordung (beziehungsweise Ver¬
wundung) ihrer Männer in die Stadt zurückkehren sollten, daran verhinderten, in
das Schloß zu fahren; weiter wird erzählt, daß der badische Major von Harrant,
als er sich bei dem Schulzen des Dorfes Rheinau nach einer Spur des geflüchteten
Gesandten Jean de Bry erkundigte, von diesem erfuhr, derselbe werde auch von den
Szekler Husaren gesucht. Die wichtigste unter all' diesen Notizen ist aber folgende
von dem damaligen preußischen Gesandten, Grafen Solms, selbst erzählte Anekdote:
Am 28. April (dem Tage des Verbrechens) wollte der dänische Gesandte, Herr von
Rosenkranz, Rastatt verlassen, wurde aber von dem Husarenrittmeister Burkhard,
welcher die bei Rastatt stehende Szeklerabtheilung befehligte, daran verhindert. Als
der Gesandte dem Rittmeister anderen Tages auf der Straße begegnete, redete dieser
ihn mit der Frage an „Nun, habe ich Recht gehabt, daß ich Sie gestern nicht fort¬
ließ?" Als der dänische Gesandte dem Rittmeister in Gegenwart anderer Diplo-
malen diese verdächtige Phrase vorhielt, erwiderte jener in barschem Tone „Wollen
Sie mit mir eine Inquisition anstellen?" Dieses letzte Wort wird auch von Herrn
Mendelssohn bestätigt, nur daß dieser den Zusammenhang, in welchem es gesprochen
worden, nicht gekannt zu haben scheint. — All' die übrigen Aufzeichnungendes Ver¬
storbenen bestätigen, daß niemand in Baden zur Zeit des Verbrechens in Zweifel
gewesen, daß dasselbe unter Mitwirkung des Obrist Barbaczy und des Rittmeister
Burkhard von den Szekler Husaren verübt worden; selbst österreichische Offi-
ciere haben dieser Auffassung damals nicht widersprochen. Erwähnt sei noch,
daß damals das Gerücht umging, der verhängnißvolle Befehl sei durch ein Papier
ertheilt worden, dessen Unterschrift eine geschickte Fälschung der Signatur des Erz¬
herzogs Karl enthielt. — Hoffen wir, daß auch die vorliegende Schrift dazu bei¬
tragen werde, die Frage nach der Urheberschaft des Verbrechens vom 28. April 1799
auf der Tagesordnung zu erhalten. Vielleicht gelingt es einem anderen Historiker,
jenen „richtigen Actenkasten" aufzufinden, an welchem Herr Prof. Mendelssohn
vorübergeführt worden zu sein scheint.
Dieses treffliche Buch, von dem einzelne Abschnitte den Lesern der „Grenz¬
boten" in früheren Jahren als Journalartikel vorgelegen haben, hat die verdiente
Anerkennung in so reichem Maß erfahren, daß binnen sieben Jahren die dritte Auf¬
lage nothwendig geworden. Der Herr Verfasser hat den Werth seines Buches auch
dieses Mal durch wesentliche Erweiterungen zu erhöhen gewußt. Abgesehen von
zahlreichen Nachträgen, Zusätzen und Quellennachweisen ist namentlich der dritte
Abschnitt „die drei Stände" umgearbeitet und durch die Resultate neuerer For¬
schungen erweitert worden. Die Vorzüge des anmuthigen Werkes, welches ebenso
den Ansprüchen eines größeren Leserkreises, wie der Bedeutung des Gegenstandes
gerecht wird, machen zweifellos, daß die „Darstellungen" fortfahren werden, ihren
bildenden Einfluß auf immer weitere Kreise des gebildeten deutschen Publicums
auszuüben.
Diese von uns bereits erwähnte neue Ausgabe der Rückertschen Dichtungen
unrd demnächst vollständig vorliegen. Von den zwölf Bänden (45 Lieferungen), auf
Kelche sie angelegt ist, sind neun bereits erschienen. Das Ganze gliedert sich in drei
Abtheilungen; die erste umfaßt Rückert's lyrische Dichtungen, welche in sechs Bücher
(Vaterland, Liebesfrühling, Haus und Jahr, Erzählungen, Wanderung, Pantheon) zer¬
fallen; die zweite umfaßt zwei Bände Dramen (Saul und David, Herodes der Große,
Kaiser Heinrich IV., Christophero Colombo); die dritte die epischen Gedichte (Evan¬
gelien-Harmonie, Makamen des Hariri, Nal und Damajanti, Rostemund Suhrab,
Hidimba, Sawitri, Räthselmann, der Blinde. Herr Malagis, Kind, Horn, Rodach,
Ein Denkmal der Gastfreundschaft). Nur die epische Abtheilung steht noch aus, die
lyrischen und dramatischen Dichtungen liegen bereits vollständig vor und ermöglichen
einen Ueberblick über das reiche Schaffen dieses Dichters, mit dem das letzte große
lyrische Talent unserer Nation zu Grabe gegangen ist.
'
Eine Sammlung der Riickertschen Werke ist zu Lebzeiten des Dichters bekannt¬
lich niemals vorgenommen worden, obgleich dieselben über ein halbes Jahrhundert
zerstreut und schon aus diesem Grunde in sehr ungleichem Maße bekannt geworden
find. Die in den Jahren 1834—33 in sechs Bänden erschienenen „Gesammelten
Gedichte" sind später nicht wieder aufgelegt worden, da die aus denselben getroffene
und in einen Band zusammengedrängte Auswahl, trotz ihrer UnVollständigkeit alle
übrigen Ausgaben verdrängte und fünfzehn Mal, zuletzt im Jahre 186S, aufgelegt
wurde. Ein ähnliches Geschick hatten die Dichtungen, welche ihre Stoffe aus dem
Orient holten und in eine Anzahl Einzelsammlungen versplittert sind. Dieser Um¬
stand allein rechtfertigt die vorliegende Ausgabe, welche in jeder Beziehung empfohlen
zu werden verdient. Die Revision der Texte ist mit Gewissenhaftigkeit und Sachkenntniß
vorgenommen und die Verlagsbuchhandlung hat trotz des wohlfeilen Preises für eine
würdige und elegante Ausstattung gesorgt. — Der Sammlung werden außerdem
eine Lebensskizze und Charakteristik des Dichters, sowie drei Portraits (aus Rückert's
verschiedenen Lebensaltern) beigegeben sein. — Bei dem großen Umfange des Werkes
wäre ein alphabetisch geordnetes Specialregister der lyrischen Gedichte im Interesse
erleichterter Uebersicht entschieden zu wünschen.
Das vorliegende neue Verzeichniß vou Post-, Dampfschiff- und Eisenbahn¬
coursen hat vor den übrigen Zusammenstellungen dieser Art zwei verschiedene Bor«
züge. Es enthält einmal neben den einzelnen Nachweisen die Angabe über eine
Reihe directer Reisctouren zwischen Berlin und den wichtigsten europäischen Haupt¬
städten, als Brüssel, Frankfurt, Amsterdam, München, Wien, Paris, Petersburg :c.
Außerdem sind dem Text 14 sorgfältig ausgeführte Routenkarten beigegeben, welche
dem Reisenden die Orientirung in den einzelnen Landschaften wesentlich erleichtern,
und die Benutzung der minder handlichen General-Eisenbahnkarte von Mitteleuropa
entbehrlich machen. —Wir bemerken bei dieser Gelegenheit, daß es wünschenswert!) wäre,
daß die Karten und Verzeichnisse unserer Coursbücher nicht, wie es bisher üblich gewesen,
blos ans West- und Mitteleuropa beschränkt blieben. Die rasche Ausdehnung nach Osten,
welche das europäische Eisenbahnnetz in den letzten Jahren erfahren, wird es nothwendig
machen, daß auch diese Hälfte unseres Welttheiles genauer als bisher berücksichtigt
werde. In dem vorliegenden Buch ist eine Anzahl neuer russischer Eisenbahnen
bereits erwähnt, dagegen fehlen andere Linien der großen Monarchie des Ostens
vollständig, obgleich sie dem Verkehr bereits seit Jahr und Tag übergeben sind, so
z. B. die Odessa-Baltaer Bahn. Insbesondere wird die Erweiterung der Eisen¬
bahnkarten über alle Theile Europas nicht mehr lange zu entbehren sein, denn
der 40. Grad östlicher Länge hat längst aufgehört, die äußerste Grenze mitteleuro¬
päischer Reiselust zu bilden. Unseres Wissens sind die neueren englischen Cours¬
bücher in Bezug >auf Angaben über die dem Verkehr übergebenen oft- und süd¬
europäischen Linien den deutschen bereits mit gutem Beispiel vorausgegangen. —
Die praktische Stoffanordnung der vorliegenden Zusammenstellung, die Sauberkeit
und die Bequemlichkeit der Karren werden ohne Zweifel für Verbreitung derselben
Sorge tragen.
Aus der reichen Sammlung für Goethe-Literatur, welche Herr Dr.
Hirzel in Leipzig besitzt, wird uns freundliche Mittheilung eines Briefes von
Goethe. Der Brief, zur Zeit unbekannt, ist in hohem Grade charakteristisch
für die künstlerischen Anschauungen des großen Dichters, aber auch darum
lehrreich, weil er eine der schwierigsten Fragen dramatischer Kunst berührt,
welche den Dichter der Gegenwart noch viel näher angeht, als die Schaffen¬
den des Jahres, in welchem der Brief geschrieben wurde.
Wir stellen den Brief selbst in getreuem Abdruck voran; er ist von Goethe
dictirt und unterzeichnet, von seinem Secretair geschrieben und lautet folgender¬
maßen:
„Mir sind zwar schon mehrere, sich auf die Zeitumstände beziehende
Stücke mitgetheilt worden, keines derselben aber ist so glücklich erfunden,
so heiter und zugleich so rührend ausgeführt, als das hierbei zurückfolgende.
Was jedoch die öffentliche Darstellung betrifft, so haben Ew. Wohlgeboren
selbst in Ihrem Schreiben die Gedanken, wie ich sie hege, ausgesprochen.
Das Publicum überhaupt ist gar zu geneigt, bei Arbeiten, welche eigentlich
nur ästhetisch aufgenommen werden sollten, stoffartige Beziehungen zu suchen,
und ich habe nichts dagegen, wenn in großen Städten die Theaterdirectionen
diese Neigung benutzen, bei bedeutenden Gelegenheiten die Menge aufregen,
sie anziehen und Geld einnehmen. Hier in Weimar aber habe ich seit vielen
Jahren darauf gehalten , daß man selbst das Nahe in eine solche Ferne rückt,
damit es auch als schön empfunden werden könne, wie die Gelegenheits-
gedichte bezeugen, die theils von mir, theils von Schiller verfaßt worden.
So habe ich auch z. B. sorgfältig aus den Kotzebueschen Stücken die Namen
lebender Personen ausgestrichen, es mochte nun der Verfasser ihrer lobend
oder tadelnd erwähnen. Ja die Erfahrung hat mich gelehrt, daß wenn, ent-
weder ohne mein Vorwissen, oder auch wohl durch meine Nachgiebigkeit etwas
dergleichen zum Vorschein kam, jederzeit Unannehmlichkeiten entstanden sind,
die doch zuletzt auf mich zurückfielen, weil man allerdings von mir verlangen
kann, daß ich die Effecte zu beurtheilen wisse.
In gegenwärtigem Falle, besonders wie er jetzt eintritt, hätte ich man¬
ches Mißtönende zu befürchten, welches keineswegs aus der lobenswürdigen
Arbeit selbst, sondern aus Deutungen und augenblicklichen Eindrücken ent¬
springen könnte. Dieses habe, nach vielfacher Ueberlegung und genauer Be¬
trachtung des vorliegenden Falls mittheilen, und nichts mehr wünschen wollen,
als daß die angekündigten freyen und unbezüglichen Compositionen ebenso
glücklich in Anlage und Bearbeitung sein mögen, als das Gegenwärtige,
dessen Verdienste bei wiederholtem Lesen mich beinahe von meinen alt her¬
kömmlichen Ueberzeugungen hätten abbringen können.
Weimars den 4. May 1814.
Wir wissen nicht, an wen der Brief gerichtet ist, auch eine Musterung
der etwa gleichzeitigen Stücke gibt kein sicheres Resultat. Aber wir erkennen
wohl, wie Goethe zu selner peinlichen Vorsicht gekommen war. Er zumeist
War es gewesen, welcher in einer Wirklichkeit, die den Dichtern arm und ge¬
mein erschien, seinem Volke ein Reich des Schönen geöffnet hatte.
Es war in reizloser Landschaft ein fest umhegter Garten, in welchem er
mit Schiller Edles aus allen Perioden des Menschengeschlechts akklimatisirt.
das Schönste selbst geschaffen hatte. Auf dem Gebiete der Kunst und Wissen¬
schaft war damals alle Freiheit, Kühnheit, Größe der deutschen Natur zu
finden, nicht in den Intriguen der despotischen Staaten, nicht in den Greuel¬
thaten der Revolution, nicht bet den deutschen Heeren, welche ihre Profose
in den Wald sandten, Spießruthen zu schneiden, nicht bei den Pfaffen der
verschiedenen Kirchen, deren beste damals als Schweif hinter der Kantischen
Philosophie einHerzogen. Ihres Gegensatzes zu der Wirklichkeit waren die
großen Künstler jener Zeit sich immer stolz oder schmerzlich bewußt.
In der Hauptsache gilt die Ansicht Goethe's doch auch für uns Mo¬
derne. Es ist wahr, der Dichter hat das Recht, seine Stoffe aus jedem Ge¬
biet der realen Menschenwelt zu wählen, d. h. aus jedem Gebiete, welches
ihm möglich macht, den Stoff mit souverainer Freiheit zu idealistren, zu
einer einheitlichen Handlung zu gestalten, deren Verlauf sich aus sich selber
vollständig erklärt, deren Charaktere nur als Träger der Handlung durch die
Dichterarbeit sich menschlichen Antheil gewinnen. Die Bedeutung des Stoffes
in der Wirklichkeit, ja auch die realen Vorbilder der poetischen Charaktere
sollen im Kunstwerk unwesentlich werden gegenüber dieser Dichterarbeit, welche
der höchsten Sehnsucht des Gemüthes und dem tiefsten Verständniß der Men¬
schennatur, wie beide dem Volke und der Zeit des Dichters möglich sind,
gerecht werden muß. Aus diesem Grunde wird dem Dichter jedes Gebiet
der Stoffe unheimisch bleiben, bei welchem er ein übermächtiges Eindringen
realer Wirklichkeit nicht abwehren kann. Ihm selbst wie seinem Publicum
werden dadurch die Unbefangenheit und die frei gehobene Stimmung, also
die Grundlagen jedes schönen Genusses vermindert. Oeffentliche Charaktere,
welche so bekannt sind, daß der Dichter nur ihre wirkliche Erscheinung copiren
kann; ungelöste politische und sociale Streitfragen, welche den Zuschauer in den
Zank des Marktes hineinziehen, wird er vermeiden. Er wird sogar, wo
er ernste Sammlung der Hörer fordern muß, Schlagworte des Tages darum
besonders mißachten, weil diese Hülfstruppen die Seelen an unkünstlerische
Interessen mahnen. Deshalb wird die Fähigkett des dramatischen Dichters,
Politische und sociale Tagesinteressen zu verwerthen, nur dann größer, wenn
seine Persönlichkeit und das Genre seines Stückes ihm möglich machen, jene sou-
veraine Freiheit dabei siegreich zu wahren, also überall, wo gute Laune, Aus¬
druck eines fröhlichen Herzens, oder gar ein übermüthiges Spiel mit dem
Stoff gestattet ist. Die Politik wird also leichter in das Lustspiel, als
in das ernste Drama eindringen dürfen, am leichtesten und mit der größten
Berechtigung in die ausgelassene Posse, deren beste und echt künstlerische
Wirkungen darauf beruhen, daß in ihr die schaffende Kraft des Dichters am
freiesten und kecksten mit dem Leben spielt. Und in der Posse, so hoffen wir,
wird unsere Nation sich einst auch an der Politik erfreuen.
Unterdeß mag der Brief Goethe's uns erinnern, daß wir ebenfalls unsere
Breter von unkünstlerischer Wirklichkeit rein zu halten haben, wenn wir auch
nicht so peinlich-säuberlich abfegen, wie unser lieber Pater Seraphicus in der
höchsten reinlichsten Zelle.
Regel und Herkommen bestimmen das Osterfest als den Abschluß der
römischen Fremdensaison. Alte Reisehandbücher erzählen von den wohlbepack¬
ten Reisewagen, die gleich nach Ostermontag aus den Thoren Roms rollen,
neuere Berichte wissen viel von dem ungeheuren Andrang zu sagen, der um
diese Zeit in dem Holzschuppen herrscht, welcher bis jetzt den römischen Bahn¬
hof vorstellt. So unwiderstehlich Rom bis Ostern erscheint, nach dem Feste
glaubt der Fremde es hier nicht länger aushalten zu können und läßt sich
theils von der Sehnsucht nach der Heimat, theils von der Lust, im tollen
Neapel zu schwärmen, fortziehen. In diesem Jahre war es anders. Das
päpstliche Jubiläum verlängerte die römische Festzeit um vierzehn Tage. Die
Zahl der ankommenden Fremden hielt mit jenen der abreisenden gleichen
Schritt, überflügelte zuletzt diese, und wer der alten Regel treugeblieben und
gleich nach Ostern nach Neapel gegangen war. kürzte den Aufenthalt daselbst
ab und kehrte rechtzeitig zurück, um noch der Feier der Secundiz des Papstes,
seines funfzigjährigen Priesterjubiläums, beizuwohnen. Die eigenthümliche
Natur dieses Festes prägte sich allmälig in der Straßenphysiognomie aus.
In den letzten Tagen machte sich unter den fremden Zungen der westfälische
und bayerisch-östreichische Dialekt entschieden geltend, die Tracht nordischer
Geistlichen wurde häufiger gesehen, nicht allein in den Kirchen, sondern auch
in Cafe's, wo die Lebelustigeren gern einkehrten, so lange sie sich nicht von
ihren Oberen beobachtet und unter Aussicht gestellt glaubten. In der Nähe
des Jesuitencollegiums herrschte regerer Verkehr, in den inneren Hallen des¬
selben, wie Kundige versicherten, große Freude; desto ungemüthlicher war es
bei Bedeau und veuvs Köirmuä. Hier hatten die Verwandten der päpstlichen
Zuaven ihr Hauptquartier aufgeschlagen; sie verübten großen Lärm, tranken
gute Weine, sprachen schlecht Italienisch. Die Römer selbst behielten ihre
Ruhe und ihre hohen Osterpreise, namentlich für die Wagen und Droschken,
welche wie an jedem Feste sich vorzugsweise in der Richtung nach dem Vatican
bewegten. Denn daß hier die Festbühne werde ausgeschlagen werden, war
auch für Jene einleuchtend, die nicht zu den Eingeweihten gehörten. Die
letzteren haben bereits in römischen und pariser Zeitungen die Feierlichkeiten
zu beschreiben begonnen; die Eindrücke, die ein Laie empfing, mögen die fol¬
genden Zeilen schildern.
Für uns Laien begann das Fest am Samstag-Morgen, am Vortage
des Jubiläums. Etwa ein Dutzend Karren, von stattlichen Campagneochsen
gezogen, rollten langsam nach dem ersten vaticanischen Hofe. Wagen und
Thiere waren festlich mit Blumen und gelben Tüchern geschmückt, die Wagen¬
lenker in die bekannte Sonntagstracht der römischen Landleute gekleidet.
Sie brachten die Producte der verschiedenen römischen Bezirke als Geschenk
dem Landesherrn.dar. Träger mit den Opfergaben der Stadt Rom schlössen
sich ihnen an. In den unteren Hallen des Hofes des Damesus, den die
schönen Loggien Bramantes einschließen, fanden alle diese Geschenke eine ge¬
ordnete, vielbesuchte Ausstellung. Gemüse aller Art, Artischocken, Spargel,
dann Blumen und Früchte, zwischendurch die verschiedenen Sorten römischen
Landweins, bald in Fässern, bald in Flaschen, große Säcke mit Kohlen und
Kartoffeln, mächtige Oelkrüge, Kälber und Lämmer, Stücke Leinwand und
Tuch, ein Assortiment von Knabenhüten prangten hier, von den päpstlichen
Fahnen beschattet, von sauber gedruckten Votivschriften begleitet. Das Ganze
machte den Eindruck einer kleinen landwirtschaftlichen Ausstellung, das ein¬
zelne Object unbedeutend, oft dürftig, wie z. B. der Fruchtstrauß aus flecki¬
gen Birnen und Orangen römischer Obstweiber, aber deutlich das Ergebniß
freiwilliger Hingabe, nicht viel Gutes, nichts Glänzendes, aber doch das Beste,
was ein industriearmes, auf die Wohlthaten der Natur hingewiesenes Land
bieten konnte. Was allein den Eindruck störte, waren zwölf gezogene Ka-
nonenläufe, angeblich das Geschenk einiger römischer Einwohner und mehre¬
rer fremder Katholiken. Wir irren wohl nicht, wenn wir die Mehrzahl
der letzteren recht groß annehmen. Es zeigte sich hier zum ersten Male die
verschiedene Auffassung des Festes bei den Einheimischen und bei den Frem¬
den. Die Einen hatten eine harmlose persönliche Huldigung im Sinne, ohne
jeden politischen Hintergedanken; die Anderen, der ultramontanen Partei an¬
gehörig, aus aller Herren Länder zusammengetrommelt, wollten eine politisch¬
kirchliche Demonstration hervorrufen. Die römische Bevölkerung wird nicht
für die weltliche Herrschaft des Papstes einstehen, sie nicht angreifen, aber
auch nicht aufopfernd vertheidigen. Das liegt nicht in ihrer Natur. Im
Mittelstande, besonders unter den zahlreichen unbeschäftigten Avvoeati, gibt
es viele Schwärmer für die Einheit Italiens; die strebsame Jugend fühlt
sich durch den geistigen Druck, der auf ihr lastet und die Kinderjahre ungebühr¬
lich verlängert, geradezu beschimpft; unter den besseren Handwerkern hört
man häufig Aeußerungen des Grimms über die vielen Müßiggänger. Aber
abgesehen von dem Einfluß der Weiber, die nun einmal, wenn sie gebären,
heirathen und sterben, den altgewohnten kirchlichen Apparat nicht entbehren
können und daher auch die Lenker des letzteren mit ehrfurchtsvoller Scheu
betrachten, lieben auch die Männer den Pomp und die Pracht des päpst¬
lichen Hofes, freuen sich über die massenhaft zuströmenden Fremden und
das viele in Umlauf gesetzte Geld und halten in finanzieller Beziehung
wenigstens die Lage ihrer Landsleute im Königreiche, im „rsguo", nicht
gerade für beneidenswert!). Die Römer, vorausgesetzt, daß keine Geldopfer
von ihnen verlangt wurden, betheiligten sich willig an der Feier des
Päpstlichen Ehrentages, sie überstürzten sich nicht in jubelnder Begeiste¬
rung, aber sahen vergnügten Auges den Herrlichkeiten zu, die Hof und Kirche
vor ihnen entfalteten. Eine politische Bedeutung hatte für sie das Fest
nicht. Das zeigte sich deutlich am Haupttage. Am frühen Morgen donnerten
bereits die Kanonen der Engelsburg; sie kündigten die Messe an, welche der
Papst persönlich in der Peterskirche celebrirte und wozu sich die Fremden in
hellen Haufen, wie am Ostertage, drängten. Die heimische Bevölkerung,
einige hundert Landleute aus der Umgegend ausgenommen, war, wie immer
bei solchen Gelegenheiten, verhältnißmäßig schwach vertreten. Desto größeren
Antheil glaubte man, werde sie an dem Feste nehmen, das auf den Sonntag-
nachmittag angesagt war. Es sollte ein von Gounot componirter Fest¬
hymnus auf dem Petersplatze gesungen, von den Militairmusikbanden dazu
gespielt werden. Also ein Monstreconcert im Freien. In der That füllte
sich auch gegen 4 Uhr der Petersplatz zur Hälfte. Auf dem erhöhten Vor¬
platze vor der Peterskirche hatten sich Sänger und Spielleute geordnet, in
den Fenstern des Vaticans, auf der Galerie der rechten Colonnade waren
Uniformen, Kirchentrachten und feinste Pariser Modeartikel in bunter Menge
zur Schau gestellt. Eine Viertelstunde verging nach der andern, ohne daß
die Musikbanden ein Lebenszeichen von sich gaben. Man hörte eine Stunde
lang nichts Anderes, als das unharmonische Zusammenschlagen der Glocken
von Se. Peter, die irgend eine Vesper einläuteten. Trotzdem harrte das
Volk geduldig aus, höchstens daß in einzelnen Gruppen gelacht wurde, wenn
eine Pause im Geläute eintrat, und die Hoffnung, jetzt sei es doch einmal
mit dem Gebimmel vorbei, durch einen erneuerten Glockenlärm verspottet
wurde. Endlich trat ein päpstlicher Kämmerling auf die Seitenloggia der
Kirche und gab den Musikbanden das Signal zum Anfang. Sie setzten auch
richtig an, die Sänger intonirten, da kam selbiger Kämmerling wieder zum
Vorschein und ließ die Musiker innehalten. Um aber das Volk nicht miß-
muthig zu machen, machte er allerhand Geberden und gab pantomimisch zu
verstehen, der Papst werde selbst auf die Loggia kommen und den Segen
ertheilen. Im Angesicht der majestätischen Peterskirche, des gewaltigen
Palastes, des ewigen Obelisken machte der heftig gesticulirende Kämmerling,
über ihm der Glöckner in Hemdärmeln, der nach gethaner Arbeit sich im
offenen Glockenstühle niedergelassen hatte und stolz auf die Menge herab¬
blickte, einen seltsamen Eindruck. Endlich wurde es Ernst. Das Signal
zum Musikbeginn wurde abermals gegeben, alle Loggien füllten sich mit
Herren in schwarzem Frack und mit weißer Cravatte, — den Deputationen
der nordischen Katholikenvereine, welche dem Papste auf seinem Gange von
den vaticanischen Gemächern nach der Loggia vorgestellt wurden, — und
über die Brüstung der linken Loggia wurde ein rother Sammetteppich ge¬
hängt, das Zeichen, daß der Papst selbst erscheinen werde. Die erste Strophe
des Hymnus, nebenbei gesagt eines schwächlichen Musikproductes ohne Wir¬
kung, war zu Ende gesungen, als der Papst auf der Loggia sichtbar wurde,
freundlich begrüßt von der Menge durch Zuruf und Winken. Dieses war
aber offenbar den Deputirten der nordischen Katholikenvereine nicht genug.
Sie schwenkten mit den Hüten, wehten mit den Taschentüchern, fuhren mit
den Armen heftig hin und her, um die Begeisterung des Volkes anzufachen.
Dieses ließ sich aber nicht beirren, es blieb freundlich und wohlgesinnt, es
ließ aber das ersehnte Lvviva paxa rsl nicht hören, sich zu keiner Demon¬
stration, die politisch zu deuten wäre, gebrauchen. Es hatte den Papst be¬
grüßt, es dankte ihm, als er den Segen spendete; kaum hatte aber Pio IX.
die Loggia verlassen, was schon nach wenigen Minuten geschah, so verlief
sich auch hastig alles Volk, ohne den Schluß des Hymnus abzuwarten.
Die nächstfolgenden Festlichkeiten waren zu sehr in den hergebrachten
Rahmen gespannt, als daß sie zu außerordentlichen Demonstrationen hätten
Veranlassung geben können. Sie bestanden in der Girandola, die des
schlechten Wetters wegen zu Ostern nicht abgebrannt wurde und nun nach¬
träglich noch in passender Weise die Jubiläumsfeier verherrlicht. Da die
Girandola auf allen höheren Punkten Roms sichtbar ist. so vertheilen sich
die Zuschauer und findet nirgendwo ein größerer Zusammenlauf des Volkes
statt. Ebenso hatte auch die Illumination am Abende des 12. April so viele
Glanzpunkte, und glichen sich die einzelnen beleuchteten Objecte in den ver¬
schiedenen Quartieren so sehr, daß zwar überall ein fröhliches Wogen der
Menge, aber nirgend für die Fußgänger ein undurchdringliches Gedränge
herrschte. Die Privathäuser waren höchstens mit einigen Lämpchen an den
Fenstersimsen geschmückt und auch dieses nicht überall. Dagegen vereinigten
sich die Bewohner der einzelnen Pfarrsprengel, böse Zungen behaupten, nicht
immer aus freien Stücken, um auf größeren Plätzen architektonische Gerüste
aufzuschlagen, die über und über mit Lampen bedeckt und mit Transparenten
geschmückt waren. Man sah reiche Triumphbogen, Prospecte von Bauten,
Z. B. von dem künftigen Eisenbahnhof und Kirchenfacaden, zu deren Dar¬
stellung der gothische Stil mit Vorliebe gewählt wurde, denn dieser erscheint
dem Römer so phantastisch, daß er sich ihn als Unterlage von Illuminationen
und Feuerwerken gern denkt. Abgesehen von der Einförmigkeit war die
Illumination eine wahrhaft glänzende, aber freilich sind die Römer wie die
Italiener überhaupt an solche Dinge längst gewöhnt, und mehr als ruhige,
beschauliche Freude ließ sich ihnen auch dieses Mal nicht abgewinnen. Da¬
gegen waren sie voll Feuer und Flammen, um die Herrlichkeiten zu schauen,
welche in der Festwoche im Vatican öffentlich ausgestellt wurden. Sie hatten
von den prächtigen Goldgefäßen, von Juwelen und Kleinodien gehört, welche
dem Papste von nahe und ferne verehrt worden waren und konnten nun
den Augenblick nicht erwarten, um sich von ihnen die Augen blenden zu
lassen. Gold und Silber übt auf alle Italiener den größten Zauber. Sieht
man in einer Straße vor einem Laden eine größere Gruppe stehen, so kann
man sicher sein, daß es ein Juwelierladen sei. So drängten sich auch die
Eingeborenen auf die Treppen des Vaticans, wie sie sich nie zu einer Kirche
drängten, harrten geduldig Stundenlang, bis ihnen der Eintritt in den Aus¬
stellungsraum gegönnt wurde, und freuten sich kindisch über die prächtigen
Waschbecken, Ttntenzeuge, Eßbestecke, Kaffeeservices u. dergl., die vor ihren
Augen glänzten. Kritik übten sie nicht und auch wir wollen dieselbe nicht
üben, wenn gleich namentlich die mitausgestellten geschenkten Gemälde, dar¬
unter eine prosaische Ansicht des Kölner Domes, zu derselben große Lust er¬
wecken. Damit war sür die Einheimischen dies Fest zu Ende. Nicht für
die Fremden. Ihnen zu Ehren veranstaltete der General Canzler eine Parade
der päpstlichen Truppen in der Villa Borghese. Die Ultramontanen waren
über die Zahl und die Haltung der Soldaten entzückt, ließen es nicht an
Aeußerungen des Selbstgefühls fehlen und hätten am liebsten gleich Italien
den Krieg erklärt. Unbefangene Beobachter entdeckten unter den Zuaven
neben vereinzelten tüchtigen Landsknechten viele entlaufene Lehrbuben, ohne
Bart im Gesicht, ohne Mark in den Knochen, in der Fremdenlegion aber
bedenklich viele Individuen, welche auf die Herkunft von irgend einer süd¬
deutschen Schneiderbank schließen ließen. Seltsam, daß ein Priesterjubiläum
in einer Militairparade seinen Abschluß finden sollte. Aber seltsamer und
trauriger für uns Andere, daß eine Deputation deutscher und französischer
Damen sich bei dem..Papst eine Audienz erbat, um ihm als Ehrengeschenk
ein — übrigens schlechtes — Gemälde von der Schlacht bei Mendana zu
überreichen. Frieden sollte das Fest athmen und kriegerische Empfindungen
machten sich überall geltend, selbst bei den Frauen, leider auch bei deutschen
Frauen. Es gab wenige Anwesende in Rom, die nicht Pius IX. den selte¬
nen Ehrentag gönnten; sie hätten nur gewünscht, daß der Tag von den
Ultramontanen nicht auch politisch ausgebeutet, nicht durch so große Takt¬
losigkeiten verunstaltet worden wäre. In den ultramontanen Kreisen, die
jetzt in Rom so viel zu sagen haben, herrscht eine fieberhafte Erregung, die
für die nächste Zukunft wenig Gutes hoffen läßt. Man hält den Augenblick
für günstig, um alle alten Verluste wieder zu gewinnen, vielleicht noch neue
Erwerbungen zu machen, man will keine Mäßigung, noch weniger Duldung,
man will die Welt nicht nur umgestalten, sondern in die alte, längst ge¬
sprengte Form zurückbringen. Man vergißt dabei, daß der Fieberwahn zwar
Träume, aber nicht lebendige Ideen schafft.
Die Verwaltung der norddeutschen Marine entspricht ziemlich genau der
Verwaltung der preußischen Landarmee: dem Kriegsmirnsterium das Marin e-
winisterium, das fast vollständig Bundesbehörde geworden ist, und dem
Generalcommando eines Armeecorps, als der Executivbehörde, das Ober¬
kommando der Marine.
Chef des Marineministeriums ist bekanntlich gegenwärtig General der
Infanterie v. Roon, gleichzeitig preußischer Kriegsminister. Eine Trennung
des Marineministeriums vom Kriegsministerium auch in der Person des
Chefs ist dem Vernehmen nach in Aussicht; sie war schon unter dem Mi-
sterium Auerswald vorhanden, als Viceadmiral Schröder Chef der Marine
war. Von dem 30. November 1853 ab stand die letztere, vom Kriegsmini¬
sterium getrennt, unter dem für sie verantwortlichen damaligen Ministerpräsi¬
denten. — Director des Marinedepartements, und zugleich Vertreter desselben
als Bundescommissar im Bundesrath und vor dem Reichstag des nord¬
deutschen Bundes ist Viceadmiral Jachmann, bekannt durch das Gefecht 1864
auf der Höhe von Jasmund. Vom Marineministerium ressortiien direct die
königliche Werft zu Danzig und die drei Marinedepots zu Stralsund, Kiel und
Geestemünde, deren vier Direktoren sämmtlich Stabsofficiere des Seeofficier-
eorps sind, das Admiralitätscommisfariat zu Oldenburg und endlich die
Hafenbaucommission für das Jahdegebiet, wozu früher noch die Landescasse
und das Lootsen- und Betonnungswesen des Jahdegebiets in Heppens kamen.
Auch das Artilleriedepot für die Hafenbefestigungen in Kiel, die Festungs-
baudirection in Friedrichsort und das Marinebekleidungsmagazin in Kiel
sind hier zu nennen. Im Allgemeinen kann man sagen, daß gegenwärtig
die Constructions-Etablissements (Schiffbau, Maschinenbau, Hafenbau u. f. w.)
und die Verwaltung des Materials direct unter dem Ministerium stehen,
daß aber alle persönlichen Angelegenheiten und Alles, was auf Commando
und Verwendung der Marine Bezug hat, unter dem Obercommando steht.
Doch ist gerade hier schärfere Abgrenzung der Competenzen dringendes Be¬
dürfniß.
Das Obercommando der Marine, dessen Chef Prinz Adalbert von
Preußen, einziger Admiral der Marine, ist, ordnet Allesauf die Verwendung
der Marine Bezügliche an, und regelt die seemännisch-militairischen Angelegen¬
heiten. Direct unter ihm stehen die Commandos der beiden Marinestationen
von Ost- und Nordsee nach dem Flottenerweiterungsplan, während bis jetzt
erst das der Ostsee errichtet ist, ferner die Commandos sämmtlicher in Dienst
gestellter Schiffe außerhalb der Ostsee, dann die Marineintendantur in Berlin
und endlich die Marineschule in Kiel. Mittelbar vom Obercommando ressor-
tiren die direct unter dem Marinestationscommando der Ostsee in Kiel stehen¬
den in Dienst gestellten Schiffe in der Ostsee und die ebenso gestellten vier
Marinetheile: nämlich die Flottenstammdivision, die Werftdivision, das See-
bataillon mit der Marinestabswache und die Seeartillerieabtheilung, deren
Stäbe sämmtlich in Kiel liegen. Entsprechend der oben bezeichneten Stellung
dieser verschiedenen Commandos hat der Commandeur der Marinestation Kiel,
Flaggosficier, jetzt Contreadmiral, die Befugnisse eines Divisionscommandeurs
der Landarmee und der Commandeur jedes der vier Marinetheile, die Be¬
fugnisse eines Regimentscommandeurs — bei den beiden ersten, den see¬
männischen Marinetheilen, ist es ein Stabsofficier des Seeosficiercorps, bet
den beiden letzten, den Truppen der Marine, ein Stabsofficier der Armee.
Auch stehen die Abtheilungen, in welche die Marinetheile zerfallen, bei
den Marinetruppen (als Compagnien) unter Hauptleuten der Armee, bei den
seemännischen Marinetheilen als „Abtheilungen", (wie Bataillone selbständiger
als Compagnien) unter Stabsosficieren des Seeosficiercorps. Die Flotten-
stammdivision besteht aus vier Matrosen- und zwei Schiffsjungen- „Ab¬
theilungen", die Werftdiviston aus Handwerker- und Maschinenabtheilungen.
Die „Abtheilungen" der Werftdivision bilden nun nebst den direct
unter dem Martneministerium stehenden Ingenieuren (für Schiffbau, Ma¬
schinenbau und Hafenbau) und deren Unterbeamten und Arbeitern die tech¬
nische Branche der Marine.
Bis jetzt besteht nur eine Werftdivision und eine Flottenstammdivision, in
der Ostsee. Sobald aber der Kriegshafen an der Jahde vollendet ist, wird eine
zweite Flottenstammdivision der Nordsee errichtet. Der Ausdruck „Division"
hat bei der Marine eine viel weniger bestimmte Bedeutung, er bezeichnet nicht
die Zahl der Mannschaften oder kleineren kantischen Einheiten, wie bei der
Landarmee, wo Division entweder den Complex mehrerer aus je 2—3 Regi¬
mentern bestehenden Brigaden, oder wie in Oestreich und Frankreich die Zu¬
sammenfassung von je zwei Schwadronen der Cavallerie oder Compagnien
der Infanterie ausdrückt. Bei der Marine dagegen sind beide Divistonen
bloße administrative Abtheilungen von unbestimmter Größe, gleichsam Reser¬
voirs, aus welchen für jedes Schiff, das in Dienst gestellt werden soll, die
nöthige Anzahl von Mannschaften jeder Kategorie entnommen wird. Da die
Anzahl der für die Marine ausgehobenen oder eingezogenen Mannschaften
fest begrenzt ist, und infolge der bestimmten Dauer der Dienstzeit einen fest
begrenzten Etat ergibt, während die Anzahl der für die Schiffsbesatzungen
nöthigen Mannschaften durch die verschiedenen, oft plötzlich eintretenden In-
dienststellungen von Kriegsschiffen schnellen Veränderungen unterworfen ist,
so macht sich das Bedürfniß nach einer Formation geltend, welche alle
Mannschaften der Marine umfaßt, und aus welcher zu jeder Zeit für jedes
Schiff die nöthige Anzahl jeder Kategone entnommen werden kann: diese
großen Reservoirs sind die Flottenstammdivifion und die Werftdivision. Man
kann sich dieses Verhältniß an einem analogen Falle bei der Verwendung der
Landarmeen noch deutlicher machen. Wenn es sich als nöthig herausstellt, einen
Cordon von Wachen und Posten aufzustellen, deren Zahl und Stellung je
nach dem Bedürfniß häufigem Wechsel unterworfen ist, so wird dasjenige
Bataillon, welches bestimmt ist. diese Wachen zu geben, ungefähr den er¬
wähnten Marinedivisionen entsprechen: das Bataillon tritt dann nie als tac¬
tische Einheit auf, ist nur administrative Abtheilung; aber die Mannschaften,
welche auf Wache commandirt werden, entsprechen als selbständige tactische
Einheiten den Schiffsbesatzungen, welche gleichsam auch nur abcommandirt
sind. Denn diese Mannschaften treten, sobald das Schiff seinen Auftrag
erfüllt hat, und außer Dienst gestellt ist, wieder in die Formation der
Flottendivision zurück.
Der einzige Unterschied zwischen der Flottenstammdivifion und der Werft¬
division besteht in ihrer technischen Verwendung: die Flottenstammdivifion
enthält in ihren Matrosenabtheilungen die eigentlichen Seeleute für diejenigen
Dienste, welche das Schiff an sich nöthig macht, also für die Bedienung der
Takelage, des Steuers, der Anker, der Boote und dergleichen, sowie für die
Bedienung der Geschütze (und aushülfsweise auch für den Kampf mit Hand¬
waffen bei Enterungen und Landungen); den Mannschaften der Werstdivision
dagegen fällt, soweit sie zur Maschinenabtheilung gehören, ausschließlich die
Bedienung der Maschinen auf den in Dienst gestellten Schiffen und die Con-
servirung der Maschinen auf den außer Dienst gestellten Schiffen zu; und so¬
weit sie zur Handwerksabtheilung gehören, sind sie für die Reparatur von
Ausrüstungsstücken der verschiedensten Arten bestimmt, Uebrigens bestand die
Werftdivision schon nach dem Organisationsreglement vom 20. Juli 1868
aus einer Handwerks- und einer Maschinencompagnie, diese sind aber durch
neuere Bestimmungen in die freiere Stellung administrativ selbständiger „Ab¬
theilungen" getreten.
Bei Werstdivision und Flottenstammdivifion sind die Mannschaften und
die Chargen in drei an beiden Divisionen sich völlig entsprechende Rang¬
stufen eingetheilt.
Die oberste Rangstufe bildet die der Flotte eigenthümliche Classe der
Deckofficiere, von denen zwar nicht die theoretische (mathematisch-astrono¬
mische) Bildung der Seeofficiere gefordert wird und die auch nicht Officiers-
rang haben, die aber dennoch über der Unterosficiersclasse stehen, und haupt-
sächlich zur Leitung des praktischen Dienstes an Bord der Schiffe bestimmt
sind, ähnlich wie die englischen naviMting lieutenants: factisch stehen sie mit
den Oberfeuerwerkern und mehr noch mit den Zahlmeistern der Landarmee
in analogem Verhältniß. In der Flottenstammdivision scheiden sich die Deck¬
officiere nach ihrer seemännischen Specialität in die drei Kategorien der
Steuerleute, der Feuerwerker und der Bootsleute, als Deckofficiere I. Classe:
Obersteuerleute, Oberseuerwerker und Oberbootsleute. Bei der Werftdivision
sind die Deckofficiere in der Maschinenabtheilung Maschinisten und die Deck-
osficiere I. Classe, Obermaschinisten; in der Handwerksabtheilung heißen die
Deckofficiere I. Classe Obermeister, die Deckofficiere II. Classe Meister.
Die folgende Rangstufe bilden die Unterofficiere, welche bei der
Marine als Maaten (ihres speciellen Fachs) bezeichnet werden; die Maaten
I. Classe haben den Rang von Sergeanten der Landarmee, die Maaten II.
Classe den Rang von Unterofficieren (Corporalen) der Landarmee; auch ge¬
hören hinterher die Feldwebel der früheren Compagnien der Flottenstamm¬
division. Ganz analog der Eintheilung ihrer Deckofficiere scheiden sich auch
die Unterofficiere in Steuermannsmaaten, Feuerwerksmaaten und Boots¬
mannsmaaten; bei der Maschinenabtheilung in Maschinistenmaaten, und bet
der Handwerkabtheilung in Meistersmaaten, alle I. u. II. Classe.
Die dritte, unterste Rangstufe endlich bilden die Mannschaften im
Rang von Gemeinen und Gefreiten der Landarmee. Bei der Flottenstamm¬
division sind es die Matrosen I., II., III. und IV. Classe, von welchen die
ersten die höchste „Seegewohnheit" und Ausbildung haben und die beste Be¬
zahlung erhalten; bei der Maschinenabtheilung sind es die Maschinenappli-
kanten (im Rang von Gefreiten und Gemeinen), oder die Heizer I.—IV. Classe,
und bei der Handwerksabtheilung sind es die Handwerker I.—IV. Classe,
welche Schiffszimmerleute, Segelmacher. Schmiede, Tischler, Maler, Bötticher,
Büchsenmacher, Recpschläger (Seiler — Reep heißt im Plattdeutschen Tau)
oder Oekonomiehandwerker (Schneider und Schuhmacher) sind. Außerdem
sind die Lazarethgehülfen der Marine im Range von Unterofficieren I. und
II. Classe und die Unterlazarethgehülfen (im Rang von Gefreiten) der Werft¬
division attachirt. Als Maschinistenapplikanten werden namentlich solche
Ersatzpflichtige ausgehoben, die bereits als Maschinisten oder Assistenten auf
Dampfern oder Locomotiven gefahren haben, also in der Leitung einer arbei¬
tenden Dampfmaschine praktische Erfahrung besitzen, und demnächst solche
Leute, die ein Zeugniß der Reife von einer Provinzialgewerbeschule besitzen
und eine zweijährige Lehrzeit als Maschinenbauarbeiter nachweisen können,
namentlich wenn sie in Etablissements waren, welche Schiffsmaschinen bauen.
Als Heizer dagegen werden vorzugsweise Leute genommen, welche auf See¬
oder Flußdampfern schon als Heizer gefahren haben, demnächst solche Heizer
ont Locomotiven oder stehenden Maschinen, die gleichzeitig Feuerarbeiter
sind, und endlich Feuerarbeiter aus größeren Eisenwerken, welche an Hitze
und schwere Arbeit gewöhnt sind. Wer aus der Handelsmarine als Ma-
schinist auf Beförderung übertreten will, muß den Nachweis abgeleisteter
Militairpflichr und der vollständigen technischen Qualifikation führen können
und erweisen, daß er 42 Monate zur See gefahren ist, davon 12 Monate
auf Kriegsschiffen oder als selbständiger wachhabender Maschinist auf Dampfern
der Handelsmarine. Eleven des Maschinen- und Schiffbaufachs, welche die
Qualifikation für den einjährigen freiwilligen Dienst besitzen, können als
solche in die Werftdivision eingestellt werden, und werden hier im praktischen
Dienst beschäftigt. Man sieht aus diesen Bestimmungen zur Genüge, daß
für diese technischen Marinetheile der Vortheil nach aller Möglichkeit aus¬
genutzt wird, welchen technische Vorbildung aus früheren Civilverhältnissen
dem Flottendienst irgend leisten kann, ähnlich wie Oestreich in seiner Armee
für die Schützentruppe nach Möglichkeit nur Gebirgsschützen (Tyroler), für
Husaren nur ungarische Steppenreiter, für Lanzenreiter fast nur die hier¬
für besonders geschickren Polen aushebt, wogegen Rußland wenigstens unter
Nicolaus für seine Marine die Leute ohne Unterschied nahm, natürlich nicht
zum Vortheil des Kriegsschiffsdienstes.
Die Uniform ist bei beiden Divisionen fast vollständig gleich, d. h. für
Mannschaften und Unteroffiziere dunkelblaue Beinkleider und dunkelblaue
Jacke mit gelben (Tomback) Knöpfen und Ankern darauf. (Die Uniform für
den Dienst in ungewöhnlichen Witterungsverhältnissen (se^'aeliet) hat keine
Rangabzeichen.) Der ganze Unterschied in der Uniformirung zwischen den
Matrosen der Flottenstammdivision und den Mannschaften der Werftdivision
besteht darin, daß die Matrosen die beiden Reihen kleiner Ankerknöpfe vorn
an der Jacke so unterbrochen haben, daß der oberste Knopf dicht am Kragen
von den übrigen, nach unten dicht zusammengerückten Knöpfen durch einen
größeren Zwischenraum getrennt ist, während die Knöpfe bei der Werft¬
division sämmtlich die gleichen Abstände weisen, ferner, daß die Matrosen
brandenburgische Aufschläge mit 6 kleinen Ankerknöpfen, die Werftmänner
schwedische Aufschläge mit nur 2 Knöpfen tragen; die Heizer und Kohlen¬
arbeiter haben auch letztere Uniform, doch nur mit einer Reihe Knöpfe.
Dagegen sind die vier Gehaltsclassen innerhalb der Mannschaften in ihrer
Uniform nicht unterschieden, abgesehen von einem winkelförmigen Chevron
auf dem linken Oberarm bei den Matrosen I. Classe.
Die Unterofficiere (Maaten, d. h. Gehülfen) haben als Abzeichen
vor den Gemeinen ein ovales gestricktes Tuchschild auf dem linken Oberarm
voraus, welches auf der Jacke von dunkelblauem Tuch mit goldgestickten
Emblem, und auf dem blauen Hemde von gelber, auf dem weißen Hemde
von blauer Wolle ist. Das Emblem selbst besteht bei den Steuermanns¬
maaten aus zwei gekreuzten klaren Ankern (Ankern ohne Tau), bei den
Bootmannsmaaten aus einem unklaren Anker (Anker, um den ein Tau ge¬
schlungen ist), bei den FeuerwerkSmaaten aus zwei gekreuzten Kanonenröhren,
und in der Werftdivision bei den Maschinistenmaaten und den Meisters¬
maaten aus einem Rade über einem klaren Anker auf einer Jacke, wie die
Heizer sie tragen. Ueber dem Emblem haben sämmtliche Maaten I. Classe
noch eine Krone als Rangabzeichen; die Deckofficiere endlich, deren Uni¬
form der Osficiersuniform sehr ähnlich ist, tragen dieselben Embleme, ent¬
sprechend ihrer Kategorie, auch mit bez. ohne Krone in Gold auf dem Kra¬
gen, während sie auf den Schultern kein Abzeichen tragen, wie die See-
officiere es haben. Die Marine hat, abgesehen von dem Seeofficiercorps,
überhaupt kein Abzeichen auf den Schultern, auch bei den Seeoffizieren ist
der Rangunterschied nur theilweise auf den Schultern kenntlich gemacht, ein
Princip, das keineswegs vortheilhaft erscheint, da Abzeichen doch eben dazu
da sind, um den Rang des Betreffenden schnell und in jeder Stellung
kenntlich zu machen. Rangabzeichen auf den Aermeln aber und vollends wie
bei den Maaten nur auf einem Oberarm sind nicht in jeder Stellung
sichtbar.
Die Stärke der Werstdiviston betrug noch 1863 in der Maschinen¬
compagnie nur 31 Maschinistenmaate I. und II. Classe und 92 Heizer I. bis
IV. Gehaltsclasse, in der Handwerkscompagnie nur 29 Meistersmaaten I. und
II. Classe und 250 Handwerker I. bis IV. Gehaltsclasse, sowie an Lazareth-
gehülfen 6 Unterofficiere und 13 Gemeine I. bis IV Gehaltsclasse, nebst
16 Functionairen (Oekonomiehandwerkern, d. h. Schneider und Schuhmacher).
Seitdem ist eine bedeutende Vermehrung der Mannschaftsstärke ein¬
getreten. Es weist in der Werftdivifion bereits auf: 62 Deckofficiere (Ma¬
schinisten und Zimmerleute). 80 Maschinistenmaate, 50 Meistersmaate, 40 La-
zarethgehülfen, 16 Maschinistenapplikanten, 284 Heizer und 274 Handwerker,
zusammen 779 Mann.
In welcher Weise nun aus dem Mannschaftsstande der Werftdivision
das Bedürfniß der verschiedenen Schiffsclassen zu decken ist, zeigt die Be¬
mannungsstärke, welche für diejenigen Schiffe in Aussicht genommen war,
die ursprünglich während des Jahres 1863 in Dienst gestellt werden sollten.
Danach kamen z. B. auf die Panzer freg arten „Kronprinz" und „Frie¬
drich Karl", die ihrem Range nach etwa den früheren Linienschiffen ent¬
sprechen, je 5 Maschinisten (Deckofficiere). 9 Maschinistenmaate. 55 Heizer, 21
Handwerker und 6 Lazarethgehülsen; sür unsere ganze gegenwärtige Flotte
wäre nach diesem Maßstabe an Maschinenpersonal nöthig: 56 Maschinisten
und 212 Heizer auf die vier Panzerschiffe, die eine Hälfte davon auf die
beiden Fregatten normaler Größe, die andere auf „König Wilhelm" und
Panzercorvette „Hansa"; 24 Maschinisten und 40 Heizer auf die beiden
Panzerfahrzeuge; 55 Maschinisten und 115 Heizer auf die fünf gedeckten
Corvetten; 65 Maschinisten und 75 Heizer auf die fünf Glattdeckscorvetten.
von denen die neueren viel stärkere Maschinen haben als die beiden älteren;
36 Maschinisten und 81 Heizer auf die acht Schraubenkanonenboote I. Classe
und den „Rhein"; 42 Maschinisten und 84 Heizer auf die vierzehn Schrau¬
benkanonenboote II. Classe und 12 Maschinisten und 27 Heizer auf die drei
Aviso's, also zusammen 280 Maschinisten und 634 Heizer oder 914 Köpfe
für die jetzt existirenden Schiffe.
Dagegen werden für die künftige Flotte in der Stärke, wie sie vom
Flottenentwickelungsplan in Aussicht genommen ist, nach demselben Ma߬
stabe nöthig sein: 208 Maschinisten und 584 Heizer für die 16 Panzerschiffe
und .Fahrzeuge, 231 Maschinisten und 399 Heizer für die 21 Corvetten
(gedeckte und Glattdeckscorvetten), 12 Maschinisten und 27 Heizer für die drei
Transportschiffe, 74 Maschinisten und 156 Heizer für die schon gegenwärtig
vorhandenen 22 Schraubenkanonenboote und 32 Maschinisten und 72 Heizer
für die acht Avisos, also zusammen 557 Maschinisten und 1238 Heizer, d.h.
1795 oder rund 1800 Köpfe des Maschinenpersonals, während die 1864 er¬
schienene Brochüre „eines Fachmanns" nur 400 Maschinisten und 1000
Heizer — 1400 Mann in Aussicht nimmt, allerdings nur als Dreiviertel der
etatsmäßigen Zahl und ohne Rücksicht auf Bildung einer Reserve.
Wenn nun auch für die Indienststellung der Schiffe im Frieden nicht die
volle angegebene Summe, sondern eine viel geringere Stärke des Maschinen-
Personals ausreichen wird, so genügt die gegenwärtig vorhandene Zahl doch
auch für die Verhältnisse des Friedens nicht, sobald die Flotte planmäßig
vergrößert ist. Indessen wird sich in dem mehrjährigen Zeitraum, ohne allzu¬
große Mühe, die Anzahl heranbilden lassen, welche für die Bedürfnisse des
Friedens allmählig nothwendig wird — nach einer kürzlich erfolgten Be¬
kanntmachung des Martneministeriums ist bereits die Schaffung neuer Ma¬
schinistenstellen in diesem und dem nächsten Jahre in sichere Aussicht ge¬
nommen.
Anders dagegen und viel schwieriger stellt sich die Frage der Comple-
tirung des Maschinenpersonals in Kriegszeiten, wo alle Schiffe zugleich in
Dienst gestellt werden. Wenn wir nur die Stärke der Besatzung für jedes
Schiff annehmen, wie sie in dem Friedensetat für 1868 vorgesehen war, ohne
Kriegsverstärkung jeder einzelnen Equipage und ohne Reserven am Lande, so
ergibt sich bei einer Flotte, wie sie die Negierung herstellen will, keine ge-
ringere Zahl als etwa 560 Maschinisten und Maschinistenmaate und 1250
Heizer. Diese Stärke ist trotz der großen Zahl von Maschinisten, welche
Deutschland in seinen Privatetablissements zählt, dennoch sehr schwer zu
decken, da die tüchtigsten Maschinisten, wenn sie nicht an die See gewöhnt
sind, während der ersten Monate gerade in den entscheidenden Momenten
ganz unbrauchbar werden können. Die erforderliche Gewöhnung zu er¬
langen, dürfte für binnenländische Techniker, wenn sie das zwanzigste Lebens¬
jahr überschritten haben und sich nicht mehr so leicht an Neues gewöhnen,
frühestens in zwei Jahren möglich sein. Maschinisten aber von der Handels¬
marine heranzuziehen ist, wie der dänisch« Krieg gezeigt hat. nur in sehr
beschränktem Maße möglich; trotz des Stillliegens der gesammten Handels¬
dampfschifffahrt hat die preußische Marine 1864 Monate lang gebraucht, um
den achten Theil der oben genannten Anzahl von Heizern und Maschinisten
zusammenzubringen. Es wäre also eigentlich nöthig, in ähnlicher Weise, wie
man sich den Bedarf an Matrosenunterossicieren aus Schiffsjungen heran¬
bildet, so auch Seemaschinisten für die Flotte heran zu erziehen. Dies ver¬
ursacht aber übermäßige Kosten, da das Jndiensthalten vieler Schiffe unter
Dampf ungeheure Quantitäten von Kohlen absorbirt, und wir haben daher
mit besonderer Freude einen Vorschlag jenes „Fachmannes" begrüßt, auf
dessen in einer Broschüre niedergelegte Urtheile hier hinzuweisen mehrmals
Veranlassung war. Er will nämlich nur ein Drittel der an sich nöthigen
Zahl von Maschinisten als Stammmannschaft heranbilden, den übrigen Be¬
darf aber dadurch decken, daß von jetzt ab alle Feuerleute und Maschinisten,
welche ihrer Wehrpflicht zu genügen haben, nicht mehr der Armee über¬
wiesen werden, natürlich nur, soweit dieselben dort nicht für technische Branchen
wie die Zeugverwaltung und die Eisenbahnfeldabtheilungen nöthig sind,
sondern vielmehr der Marine zugetheilt werden. In ihrer Dienstzeit ge¬
wöhnen sie sich dann vollständig an den Seedienst und sind schon im letzten
Dienstjahre und im Reserveverhältniß für die Bedienung der Schiffsmaschine
völlig brauchbar. Der Staat aber hat nicht nur keinen Verlust an Wehr¬
fähigkeit, sondern sogar einen Vortheil, insofern sich hier die Arbeitskraft der
betreffenden Leute besser als in der Armee verwerthet, und dem Einzelnen
wird es in der Regel lieb sein, in seinem Fach beschäftigt zu bleiben, neue Sei¬
ten desselben an den Schiffsmaschinen kennen zu lernen, und auf längeren
Reisen Gesichtskreis und Bildung zu erweitern, wodurch er später im bürger¬
lichen Leben leistungsfähiger wird. Wir sind allerdings der Meinung, daß
die Verwendung des Dienstpflichtigen für besondere technische Zwecke, zu denen
er durch seinen Civilberuf qualificirt erscheint, in schonender und wo möglich
die persönlichen Wünsche berücksichtigender Weise erfolgen muß. Denn gesetzlich
ist Jedermann zum Waffendienst verpflichtet, aber ob er deshalb auch wider
Wunsch genöthigt werden kann, als Heizer auf einem Kriegsschiffe oder als
Schuster eines Bataillons zu dienen, ist keineswegs erwiesen. Und wir halten für
zweckmäßig, zu vermeiden, daß diese Frage überhaupt als Vorwurf aufge¬
worfen wird.
Uebrigens scheint dem obigen Vorschlage neuerdings auch officiell Rech¬
nung getragen zu werden, da bei der letzten Volkszählung als zur seemänni¬
schen Bevölkerung gehörig auch die Maschinisten der Eisenbahnen aufgenom¬
men worden sind, nach der Ersatzinstruction für das Maschinistencorps und
die Heizercompagnien.
Für das Stammpersonal der Marinemaschinisten dagegen liegt von dem
erwähnten Fachmanne ein anderer Vorschlag vor, den wir für noch wichti¬
ger halten. Eine höhere wissenschaftlich-technische Bildung ist gerade beim
Maschinisten Wünschenswerther als bei irgend einer anderen Stellung in der
Marine, von Officieren und Aerzten abgesehen. Im Muschinensach sind die
Seeosficiere nicht ebenso competent, wie sonst in den nautischen Branchen,
sie können es auch nicht sein, weil ihre Zeit durch die mehrseitige nau¬
tische und militairische Ausbildung absorbirt wird. Deshalb ist der Ober¬
maschinist bei seiner Maschine vollkommen selbständig; kein Seeofficier außer
dem ersten Officier hat ihm etwas zu befehlen, hineinzureden oder auch nur
die Maschine zu betreten, auch der Commandant muß sich im Gefecht
ganz auf den Maschinisten verlassen, ohne selbst einschreiten zu können. Nun
ist es leider sehr selten, daß zu den Maschinistenstellen sich junge Leute von
höherer Bildung melden, und der Grund wird mit vollstem Recht darin ge¬
funden, daß außer dem unzureichenden Gehalt namentlich die sociale Stel¬
lung des Maschinisten an Bord nicht so ist, wie sie ein gebildeter Mann
verlangt, und daß er auf den Umgang mit den Unterofficieren statt mit den
Officieren hingewiesen ist. Man soll deshalb den Maschinisten höher stellen,
soll ihn, während er als Lehrling an Bord ist. mit den Cadetten, später
mit den Officieren leben lassen, dasür aber auch die wissenschaftlichen Anfor¬
derungen höher spannen. Diese Forderung begegnet einem unserer früheren
Vorschläge, der vielleicht noch etwas positiver ist. Theorie und Praxis
leisten nur dann das Höchste, wenn sie sich gegenseitig ergänzen. So sind
anerkanntermaßen die besten Schiffsbaumeister diejenigen, welche selbst zur
See gefahren haben und deren Berechnungen so zu sagen vom Jnstinct sür
das Praktisch-Nothwendige geleitet werden. Sollte es nicht mit dem Ma¬
schinenbaufach ebenso sein? Wir würden vorschlagen, die Carriere des Ma¬
schinisten mit der des Ingenieurs zu verschmelzen; junge Leute von möglichst
hoher technischer Bildung (Polytechniker) auf einer vielleicht im Centralhafen zu
errichtenden Maschinenschule theoretisch und praktisch auszubilden, — auf welcher
auch die Seeosficiere aus der Marineschule, welche mit dieser Anstalt in Ver¬
bindung gebracht werden mag, ihr Dampfexamen machen,— und diese jungen
Leute dann als „Maschineningenieure" abwechselnd am Bord in der Ma-
schinenleitung und auf den Wersten im Maschinenbau zu verwenden,
wobei sie in Gehalt und socialer Stellung absolut den Officieren gleich»
zustellen wären. Nach den Untergebenen gegenüber wird die festere sociale
Scheidung von hohem Werthe sein, da sie das Ansehen der Maschinisten er¬
höht. Die älteren jetzigen Maschinisten werden bei ihrem allmäligen Abgang
dann ausschließlich durch „Maschineningenieure" ersetzt, und zwar wären
vor der gänzlichen Ersetzung, um Kränkung und Reibungen zu verhüten, die
Ingenieure der höheren Grade nie zusammen mit jetzigen Maschinendeck-
officieren auf ein Schiff zu bringen, wohl aber in den unteren Graden.
Doch auch so würde die Reform noch nicht genügen. Denn die geringe
Zahl der Kriegsschiffe, welche wegen der Kosten bei dem großen Kohlen¬
verbrauch unter Dampf in Dienst gehalten wird, genügt für die praktische
Auebildung nur einer sehr geringen Zahl solcher Maschineningenieure, für
welche Uebung die Hauptsache ist. Dagegen haben wir in Deutschland über
SO größere Seedampser, die fast das ganze Jahr hindurch in Fahrt unter
Dampf sind, die großen Schiffe des Norddeutschen Lloyd, der Hamburg-
Amerikanischen Gesellschaft, der Stettiner Gesellschaft u. s. w. Mit diesen
Gesellschaften müßte man um jeden Preis ein Abkommen zu treffen suchen,
daß sie sich einen Theil ihrer Maschineningenieure von der Marine stellen
lassen, die man, wenn sie auf den Kriegsschiffen in Dienst nicht Platz finden,
nach einigen Monaten Ausbildung im strengen Kriegsschiffsdienst dort¬
hin schickt und von Zeit zu Zeit wechselt. Die Marine spart dabei ebenso
wie die Dampfergesellschaft einen Theil ihrer Löhnung und die Einziehung
im Kriege schadet der Gesellschaft wenig, da dann doch die Schifffahrt stockt.
Einziehungen in Friedenszeit dürfen allerdings bei diesen nur sür die Com-
pletirung im Kriege bestimmten Leuten nicht vorkommen. Wenn bis jetzt
Unterhandlungen darüber nicht zum Ziele geführt haben, so lag es wohl an
den gestellten Bedingungen. Daß die Disciplin oder die militairischen Eigen¬
schaften der Marineingenieure und Heizer durch solche Beschäftigung ans
Privatdampfern allzusehr leiden könnten, ist nicht zu befürchten, wenn sie das
erste Jahr im Marinedienst ordentlich einexercirt worden sind. Auch der
„Fachmann" befürwortet, die Maschinisten, während sie in zwei Jahren ihrer
Dienstpflicht genügen, auf jene in beständiger Fahrt befindlichen Bremer
und Hamburger Dampfer zu detachiren, wo sie in ihrem Gewerbe bleiben,
viel lernen, und, wenn Staat und Gesellschaft jede auch nur halb soviel Ge¬
halt als sonst zahlen, doch viel besser stehen, als im Marinedienst. Auf den
Amerikadampfern der Hamburger und Bremer können nach dem „Fachmann"
jährlich 60 Mann der Marinereserve und Seewehr als befahrene Maschinisten
zuwachsen. „Die Maschinisten müssen zwei Jahre unter Dampf gefahren
hoben; wie der Seemann nicht im Hafen Seemannschaft lernt, so wenig der
Maschinist, wenn die Maschine nicht geht." Auf den Kriegsschiffen aber, die
der Ersparnis; halber viel unter Segel fahren, läßt sich nur ein Drittel der
nothwendigen Zahl ausbilden. Aehnliches gilt von den Heizern, denen wir
für den Anfang drei Monate Dienst an Bord von Kriegsschiffen für Ein-
ererciren und Discipltnirung wünschen. Auch Heizer vom Lande sind an
Bord nicht zu brauchen, wie noch vor einigen Wochen die englische Admi¬
ralität im Parlament geltend machte; selbst von den außer Dienst gestellten
Schiffen nimmt man in England nicht die stokers für die Probefahrten, sondern
nur solche, die in beständiger Uebung sind und die Dampfspannung gleich¬
mäßig zu erhalten verstehen.
Außer der eben besprochenen Maschinenabtheilung gehören aber zur
Werftdivision noch die Handwerksabtheilung und die Arbeiter und Beamten
der Wersten selbst. Diese Handwerker und Arbeiter bestehen größtentheils
aus Schiffszimmerleuten, Reepschlägern (Seilern), Ketten-und Ankerschmieden,
Segelmachern. Blockmachern (für Takel und Flaschenzüge). Malern und für
Hafenarbeiter aus Erdarbeitern. Maurern und Zimmerleuten — die Dan-
ziger Werft beschäftigt etwa 800 Civilarbeiter. Ueber den Arbeitern stehen
zunächst die Werkführer, über diesen die Werkmeister (Takelmeister) und dann
die höheren Grade der Beamten, von deren Gliederung man am besten aus dem
Budget des norddeutschen Bundes eine Anschauung gewinnt.
Von dem Sammelwerke des Nicomede Bianchi: ig, Ziplomaöis,
europvÄ iri Italig, sind, seitdem in diesen Blättern ausführliche Mittheilungen
über die zwei ersten Bände, die Zeit von 1813—1830, gemacht wur¬
den*), drei weitere Bände erschienen, welche die Zeit von 1830 bis zum
Jahr 1849, also von der Julirevolution bis zur Thronentsagung Karl
Alberts, behandeln. Das Hauptinteresse ruht fortwährend auf dem Gang der
sardinischen Diplomatie, aus deren Depeschen die reichlichsten Mittheilungen
fließen, und die sich jetzt als ein zusammenhängendes Ganzes überblicken und
darstellen läßt, in welchem auch die Stockungen. Widersprüche und Schwan¬
kungen ihre Erklärung finden. Nach einer kurzen Periode hochfliegender
Entwürfe, in welcher die Staatszwecke der subalpinischen Monarchie klar er-
kannt und wenigstens als Vermächtniß für eine künftige Periode festgestellt
wurden, war in jenem ersten Abschnitt ein rasches Sinken zu constatiren,
das einmal mit der allgemeinen Restaurationsströmung des Zeitalters zu¬
sammenhing, zugleich aber unmittelbar die Folge der inneren reactionairen
Politik des Staats war. Auch in dem neuen Abschnitt hält diese Periode
der Stagnation, des Gebundenseins an Oestreich, in dem man doch fort¬
während den schlimmsten Feind erkannte, noch über ein Jahrzehnt an; erst
zu Anfang der vierziger Jahre beginnen die Versuche der Emancipation, zuerst
schüchtern, dann kühner, bis endlich gehoben durch die allgemeine Bewegung,
welche sich an der Papstwahl von 1846 entzündete, der Staat die fremden
Fesseln vollends abschüttelt und das Wagniß unternimmt nach seinen höchsten
Zielen zu greifen. Piemont ist — hierin nur mit einem einzigen zu ver¬
gleichen — in der neueren Geschichte derjenige Staat, der sich der bewußtestem
consequentesten Entwickelung nach einem klaren Ziele rühmen darf, auf das
er immer wieder zurückkommt, wenn auch Jahrzehnte scheinbaren Rückschritts
dazwischen liegen, und das, je näher es der Erfüllung rückt, um so mehr
mit einem höheren Zwecke zusammenfällt, den er selbst nur langsam und
zögernd sich zu eigen macht. In diesem Sinne ist der piemontesijche Staat
ein Kunstwerk, das der Genius der italienischen Nation schuf, um in ihm
das Gefäß für sein wiedergeborenes nationales Leben zu finden.
Jetzt, da die Geschicke des Hauses Savoyen sich dermaßen erfüllt haben,
daß ihre klug befestigte und erweiterte Hausmacht aufgegangen ist in den
Nationalstaat der Italiener, gewährt es ein eigenthümliches Interesse, seiner
Politik auch in den Jahren nachzugehen, da ihm durch die Ungunst der Zeiten,
wie durch eigene Verblendung jede fernere Aussicht verschlossen schien. Im
Nachstehenden verfolgen wir die piemontesische Politik zunächst vom Jahre
1830 bis zum entscheidenden Wendepunkt des Jahres 1846.
Das Jahr 1830 macht in der Geschichte Italiens nicht blos deshalb
Epoche, weil die Julirevolution auch auf der Halbinsel erneuerte aufständi¬
sche Bewegungen und ein verstärktes Umsichgreifen des revolutionairen Secten-
geists zur Folge hatte, sondern weil sich über der Frage der Intervention
im Kirchenstaat ein diplomatischer Ringkampf zwischen Frankreich und Oest¬
reich entspann, der, wenn er noch nicht zum offenen Bruche führte, doch den
Gegensatz der Interessen schärfte und den späteren Bruch vorbereitete. In
diesem Ringkampf nun stand Piemont gänzlich auf Seite Oestreichs. Die
französische Diplomatie hatte.zwar schon in den letzten Jahren des dritten
Jahrzehnts versucht, ihren Einfluß auf der Halbinsel zu rehabilitiren, aber
ohne Erfolg. Der Haß gegen die Revolution, der Fanatismus für Kirche
und Gottesgnadenthum. die Erinnerungen an das, was Dynastie und Volk
unter Frankreich erduldet, hatten aus Piemont ein Land gemacht nach dem
Hnzen Metternichs. eine Vormauer gegen das liberale Frankreich. Nichts
beweist mehr, welchen gewaltigen Eindruck die Zeiten der Republik und des
Kaiserreichs in der damaligen Generation zurückgelassen hatten, als daß die
unablässige Sorge der Staatsmänner darauf gerichtet war, die Wiederkehr
ähnlicher Ereignisse zu verhüten. Die Angst vor den Gefahren der Revolution
trieb die Regierenden aller Länder mit ZurückdrSngung aller anderer In¬
teressen in jene enge Solidarität, welche thatsächlich der Principal Metter¬
nichs war, und deren Bande nur erst England seit wenigen Jahren ge¬
löst hatte.
An Eifer für die Principien des Rechts und der Ordnung that es, wie
dies in den Traditionen des Herrscherhauses lag, Piemont allen anderen
Staaten voraus. Als die Julirevolution ausbrach, das Bürgerkönigthum
eingesetzt wurde, war der Turiner Hof der feindseligste von allen; er hätte
am liebsten sofort einen Kreuzzug für die Legitimität unternommen, und sein
Eifer mußte schließlich von Metternich selbst gezügelt werden. Vergebens
suchte die Regierung Louis Philipps den Turiner Hof für den Fall, daß es
Zum Kriege komme, zur strengen Neutralität zu bewegen, und vergebens
suchte Lord Palmerston in demselben Sinne einzuwirken. Karl Felix verrieth
diese Rathschläge an den Wiener Hof. und schloß mit diesem ein geheimes
Schutz- und Trutzbündniß ab. Daß unter diesen Umständen die Rathschläge
des Marchese d'Aglie, des Gesandten am Londoner Hof, bei Zeiten sich von
den unmöglich gewordenen Restaurationsideen abzuwenden, ungehört ver¬
hallten, verstand sich von selbst.
Karl Felix starb am 27. April 1831. In der Unruhe jener Zeit ging
die Thronbesteigung des Prinzen von Carignan, des „Verschwörers" und
»Verräthers" von 1821 weit anstandloser vor sich, als man erwarten konnte.
Oestreich hatte auch nach dem zweideutigen Benehmen des Herzogs von
Modena in der letzten Zeit keinen Grund mehr dessen Absichten zu be¬
günstigen. Von Seiten Karl Alberts war es überdies durch dessen förmliche
Verpflichtungen beruhigt. Es war ebenso im Interesse Oestreichs, daß der
Thron so rasch als möglich dauernd sich befestige, wie dies im Interesse Karl
Alberts lag. Dieser hatte längst gelernt seine ehrgeizigen Absichten zu ver¬
schließen und zurückzudrängen. Ganz aufgegeben waren sie zu keiner Zeit.
In Karl Albert war die Zwiespältigkeit, welche durch die ganze piemontesi.
sche Politik dieses Zeitalters ging, gleichsam personificirt. Die Widersprüche
dieser Politik waren die Widersprüche seines Charakters. Auf der einen
Seite das ausgeprägteste Gefühl der absoluten Herrschergewalt, die unbe¬
dingte Hingebung an die Interessen der Legitimität und der Kirche, aus der
anderen aber ein verzehrender Ehrgeiz, der feste Glaube an den Stern seines
Hauses, als dessen natürlichen Feind er Oestreich tödtlich haßte, und endlich
ein dunkel in ihm arbeitendes Gefühl, daß Italien eines Tages auf
die Rettung durch seinen Arm angewiesen sein werde, während er gleich«
zeitig die revolutionairen Mittel zu diesem Zwecke krankhaft verabscheute.
Allein wenn es ihm auch weniger möglich gewesen wäre, seine Gedanken
vollständig zu verbergen, für jetzt konnte er gar nicht anders, als sich
auf Oestreich stützen, denn dies war die Stütze aller legitimen Throne.
Die Versuchung, die einen Augenblick von revolutionairer Seite an ihn her¬
antrat, ließ ihn kalt. Den bekannten Aufruf Mazzini's an ihn — Le vo,
no — beantwortete er später durch die blutige Bestrafung der von der
Giovine Italia geplanten Aufstandsversuche. Von Anfang an unterließ er
nichts, um durch correctes Verhalten sich das Wohlwollen Oestreichs zu sichern.
In der Beibehaltung Della Torres als Ministers des Aeußern sah dieses eine
erwünschte Bürgschaft, daß die Politik des neuen Fürsten in den Wegen von
Karl Felix bleibe. Metternich begrüßte ihn (Depesche Pralormo's vom 19.
Juni 1831) als einen gleich aufrichtigen Freund, wie sein Vorgänger ge-
Wesen, und als einen Bundesgenossen „würdig der glänzendsten Geschicke."
Seiner unbedingten Ergebenheit hatte Sardinien es auch zu verdanken,
daß es auf besonderen Wunsch Oestreichs zu der diplomatischen Conferenz in
Rom zugelassen wurde, welche im April 1831 zusammentrat und die Paci-
fication des Kirchenstaats nach dem romagnolischen Aufstand zur Aufgabe
hatte. Metternich hatte zum sardinischen Gesandten. Grafen Pralormo, ge¬
sagt: „Sardinien hat ebenso wie Oestreich das größte Interesse an der Ruhe
Italiens. Die Absichten beider Höfe sind identisch; folglich kann die Mit¬
wirkung Sardiniens der guten Sache eine Stütze sein und der Action des
durch Frankreich vertretenen liberalen Princips zum Gegengewicht dienen."
Die Rolle Sardiniens auf der Conferenz war denn auch die einer unbedingten
Hingebung an Oestreich. Dies ging so weit, daß, als Frankreich den Vorschlag
machte, zu einer etwaigen künstigen Intervention im Kirchenstaat sardinische,
weil italienische, Truppen zu verwenden, Sardinien von selbst einen Ge¬
danken weit von sich stieß, der zu den Grundsätzen der östreichischen Politik in
so schneidendem Gegensatz stand. Es ist bezeichnend, daß der Graf Pralormo
in einer Depesche an seinen Hof (19. Juni 1831) dies zugleich folgender¬
maßen motivirte: „Ich gestehe offen, daß es mir peinlich wäre die Truppen
S. Maj. mit den Carbonari der Romagna, d. h. mit dem Allerschlimmsteri
in Italien in Berührung gebracht zu sehen. Die Einheit der Sprache und
Abstammung würde der Verführung jene leichten Gelegenheiten darbieten,
welche nicht vorhanden sind, wo es sich um Oestreicher handelt." Als später,
im Januar 1832, wegen der erneuten Unruhen die Frage einer abermaligen
Intervention praktisch wurde, kam Frankreich auf den Vorschlag zurück, sie
durch sardinische Truppen geschehen zu lassen, und ebenso wünschte Lord Pät-
merston die Vermittelung Sardiniens als einer italienischen von Frankreich,
Wie von Oestreich unabhängigen Macht. Auch dies lehnte Graf Della Torre
entschieden ab. und sehr wenig erbaut von solchen Andeutungen war der
östreichische Hof. Um jede Einmischung Sardiniens in die römische Frage
ein für allemal abzuschneiden, setzte Oestreich es durch, daß zu den späteren
Versammlungen der Conferenz, der sardinische Gesandte gar nicht mehr zu-
gelassen wurde.'
Alle Bemühungen Louis Philipps, Sardinien zu gewinnen, hinderten
aber nicht, daß Karl Albert fortfuhr, die bourbonische Emigration zu be-
günstigen und in seinem Eiser für die Legitimität im Jahre 1832 das Unter-
nehmen der Herzogin von Berry unterstützte, wie er später die Sache Dom
Miguels in Portugal. Don Carlos' in Spanien und schließlich den jesuiti¬
schen Sonderbund in der Schweiz unterstützte. Durch die mazzinistischen Um¬
triebe, welche von der Schweiz aus in den Jahren 1833 und 1834 Sardinien
Unsicher machten, konnte der König in seinem Abscheu vor der Revolution
Nur bestärkt werden. Damals wurde die Frage einer Intervention in Italien
von Neuem zwischen den Großmächten verhandelt, und die bestimmte Er¬
klärung Frankreichs, daß es eine einseitige Einmischung Oestreichs in Sar¬
dinien nicht dulden werde, veranlaßte die Conferenz von Münchengrätz im
August 1833. Durch diese Demonstration nicht eingeschüchtert, wiederholte
jetzt der Minister v. Broglie seine Erklärung: es gebe Länder, wie Belgien,
die Schweiz. Piemont, in welchen Frankreich eine Einmischung fremder
Waffen nicht dulden werde. Aber auch Metternich blieb fest und erklärte,
wenn Karl Albert Oestreich anrufe, so werde dieses mit allen seinen Kräften
wterveniren. „Wenn Frankreich diese Intervention für unerträglich hält, so
wird der Krieg daraus hervorgehen; aber sehen Sie wohl zu. ein Krieg,
den Frankreich gegen Europa zu bestehen hat. denn Ihre Regierung möge
nicht vergessen, daß Europa mit uns in Uebereinstimmung ist, mit bewaffne¬
ter Hand die Grundsätze, die wir verfechten, zu vertheidigen." Das Turiner
Cabinet. dessen strenge Maßregeln übrigens die Ruhe vollkommen aufrecht
gelten und so eine Intervention unnöthig machten, stand auch während die¬
ses Streites auf östreichischer Seite. Die Gelegenheit ergriff Lord Palmer-
ston von Neuem zu den eindringlichsten, diesmal mit besonderer Schärfe aus-
gedrückten Rathschlägen an den Turiner Hof. Er sagte zu dem Gesandten
d'Aglie': „Sehen Sie zu. daß Oestreich nicht des Gespenstes der Revolution
sich bedient, um seinen Einfluß auf Ihren König und Ihre Regierung zu
verstärken. Ich sage Ihnen ganz offen, daß ich lebhaft bedauere. Ihre Re-
gierung zum Spielball der Täuschungen und Schelmereien (Furberie) Oest-
Reichs geworden zu sehen. Metternich ist keineswegs zufrieden, daß Sie durch
Vermittelung unserer guten Dienste mit der Regierung von Paris sich aus-
gehöhnt haben. Oestreich würde im Gegentheile gern sehen, daß Ihre Regierung
nicht blos mit Frankreich, sondern auch mit uns bräche, damit man zu Wien Sie
ganz in seiner Gewalt hätte. Die Erklärung des Herzogs von Broglie ist
veranlaßt worden durch die vorausgegangenen gemeinsamen Verhandlungen
der Höfe von Wien, Berlin und Se. Petersburg. Hätten sie stille geschwie¬
gen, und hätten Sie nicht an diesen Verhandlungen Theil genommen, so
hätten Sie sich nicht über die empfangene Antwort zu beklugen. Als wir
der Ansicht waren, daß Vernunft und gutes Recht auf Seite Ihrer Regie¬
rung seien, waren wir sehr gern bereit, Sie mit unseren guten Diensten zu
unterstützen. Aber im gegenwärtigen Fall sind wir der Meinung, daß sie
auf Seiten des Unrechts steht. Sie sprechen beständig von Ihrem Wunsch,
sich in den besten Beziehungen mit Frankreich zu halten, und gleichwohl
hören Sie nicht auf, seiner Negierung Verdruß zu bereiten und Proben von
Uebelwollen zu geben. Ich muß Ihnen sagen, wenn Sie gegen Frankreich
eine weniger freundschaftliche Haltung einnehmen, so werden wir urtheilen,
daß Sie nicht den mindesten Grund dazu haben, und folglich wird es uns
unmöglich sein, Sie zu unterstützen. Der Hauptgrund des besonderen In¬
teresses, das England bisher für Piemont gezeigt, war immer die unabhängige
Stellung, die Ihre Regierung gegen Oestreich und Frankreich bewahrt.
Ganz natürlich hört dieses Interesse von dem Augenblick an gänzlich auf,
da Ihr Land sich in eine östreichische Provinz verwandelt." (Depesche des
Grasen d'Aglie, 27. Jan. 1834.)
Als im Januar 1835 das auswärtige Ministerium dem Grafen Solaro
della Margherita übertragen wurde, schien die reaetionaire Tendenz der sar¬
dinischen Regierung nur noch mehr sich zu befestigen. Denn Margherita
war ein schroffer Dogmatiker des absoluten Fürstenrechts, keine „Transaction
mit den Principien des Liberalismus" war sein Hauptgrundsatz. Er hatte
seinen Wunsch nicht zurückgehalten, daß die französischen Legitimisten, deren
Mäßigung er beklagte, die Fahne der Empörung erheben möchten, und die
Unterstützung ihrer Sache durch die conservativen Höfe, ebenso wie in Spa¬
nien, empfohlen; in diesem Sinne hatten seine Rathschläge von Madrid aus
gelautet, wo er bis dahin Gesandter gewesen war, und wo er seinem
interimistischen Nachfolger Jnstructionen im Sinne der Begünstigung des
(artistischen Aufstandes zurückließ. Minister geworden, richtete er an den
König einen Bericht, worin er, die geheimsten Neigungen Karl Alberts wohl
kennend, die Krone nachdrücklich davor warnte, sich durch ein Bündniß mit
der liberalen Partei zu ehrgeizigen Zwecken zu beflecken. „Es ist eine allge¬
mein verbreitete Meinung, daß, um die Grenzen des eigenen Gebiets auszu¬
dehnen, dem Hause Savoyen nichts anderes nöthig wäre, als sich zu eini¬
gen vorgeblichen Reformen zu bequemen. Einen solchen Weg einschlagen,
hieß^ aber nichts Anderes, als den Fußtapfen jener modernen Politiker fol¬
gen, welche der wahren Wissenschaft der Geschäfte eine Praktik von dünkel¬
haften Berechnungen und Auskunftsmitteln, die fast immer ihren Zweck ver¬
fehlen, gegenüberstellen. Es gibt einen anderen edleren und sichereren Weg.
und er besteht darin, zu denselben Resultaten zu gelangen, ohne den Grund¬
sätzen der Gerechtigkeit Eintrag zu thun, und indem man sich hinwegsetzt
über die vulgären Ideen, welche dieses Jahrhundert beherrschen und mit ihm
untergehen werden." (Februar 1833.) — Die Cabinette von London und
Paris verbargen nicht ihre Ueberraschung und ihr Mißfallen über den Ein¬
tritt eines Mannes in das Ministerium, dessen Parteinahme für die Legiti-
misten in Spanien hinlänglich bekannt war.
Mit La Margherita kam denn auch sofort ein neuer Eifer in die Be¬
mühungen des Turinerhofes für die Carlisten, obwol die Cabinette von
Wien, Berlin und Se. Petersburg weit zurückhaltender, wenigstens in thäti¬
ger Theilnahme waren. Besonders intim scheint damals in Folge der legiti-
wistischen Sympathien das Verhältniß zum Berliner Hof gewesen zu sein. Zu
Ende des Jahres 1833 ging ein besonderer Abgesandter, der Ritter Paul Cerruti
im Auftrag des Turiner Hoff zu Don Carlos nach den baskischen Provinzen. Die¬
ser Cerruti war gleichzeitig der Träger von vertraulichen Rathschlägen des Ber¬
liner Hofes, welcher dem Prätendenten empfahl, endlich aus seinem Schwei¬
gen herauszutreten und in einer Proclamation den Spaniern die Grundsätze
seiner künftigen Regierung anzukündigen. Dabei ward ihm angerathen, die
alten bürgerlichen und localen Freiheiten in Spanien wiederherzustellen;
die Mumupalfreiheiten ständen nicht im Widerspruch mit dem monarchischen
Princip, wären vielmehr dessen festeste Stütze und das wirksamste Mittel, die
falschen Freiheiten des Tags zu überwinden. Natürlich waren diese Rath¬
schläge bei Don Carlos ebenso vergeblich als die noch detaillirteren Weisungen,
die Cerruti vom Turiner Hofe für den Prätendenten erhalten hatte.
Diese leidige spanische Angelegenheit hatte auch die Entfernung eines
der verdientesten sardinischen Diplomaten aus dem Staatsdienst zur Folge.
Lord Palmerston ließ es nicht an Warnungen fehlen, um den Turiner Hos
bon seiner Parteinahme für Don Carlos zurückzubringen; und der Gesandte
w London, Graf d'Aglie, unterstützte diese Warnungen lebhaft. „Ich fürchte",
schrieb er im September 1833, „daß diese Geschichte zum Nachtheile unserer
Interessen ausschlagen werde. Die Partie steht nicht gleich. England hat
nicht unterlassen, uns die beständigsten und herzlichsten Beweise seiner Freund-
schaft zu geben. Nun ist es natürlich, wenn Lord Palmerston erwartet, daß
K>ir irgend etwas thun, um die englische Regierung zufriedenzustellen.
Solche Gelegenheiten sind für uns nicht häufig. Eine bot sich uns dar, bei
der er unzweifelhaft ein großes Interesse an den Tag legte. Er forderte
uns auf, die Flüchtlinge nicht aus unserem Gebiet, sondern nur aus unse¬
ren Häfen und von unseren Küsten zu entfernen. Unsere Weigerung schien
ihm um so außerordentlicher, als er nicht begreift, welchen Werth wir darauf
legen, ihm zuwider zu handeln. In der letzten Unterredung, die ich mit ihm
hatte, schien er beleidigt. Wenn man auf diesem Wege fortfährt, so werden
unsere freundschaftlichen Beziehungen zu England nicht mehr lange sich er¬
halten können." Im November 1837 hatte d'Aglie' wiederum von sehr
ernsten Vorstellungen Lord Palmerston's zu berichten, der am Ende seiner
Geduld schien, wenn Piemont noch länger auf einem Wege beharre, der
gänzlich von seiner alten Politik und gewohnten Klugheit abführe. Unter
diesen Umständen entschloß sich der Gesandte zu einem kühnen ungewöhn¬
lichen Schritt. Er sandte einen Courier nach Turin mit einem Schreiben
unmittelbar an den König selbst, worin er ihm mit respectvollem Freimuth
die bedenklichen Folgen der bisherigen Politik vorhielt. Margherita wußte
aber den Hieb zu Pariren; er stellte dem König vor, daß sein Gesandter sich
damit den Rathschlägen Lord Palmerston's allzu gefügig gezeigt und einen
indirecten Druck auf die Entschließungen seines Herrn habe versuchen wollen.
Und kurz darauf wurde d'Aglie', dessen politische Grundsätze schon lange im
Widerstreit mit den leitenden Ideen seiner Regierung gewesen waren, von
seinem Posten entfernt. Diese Dinge ließen nicht nur ein freundschaftliches
Verhältniß Karl Albert's zu den Westmächten nicht aufkommen, sondern
nährten auch die Mißstimmung des eigenen Landes gegen ihn. Die Libe¬
ralen waren für die Sache Jsabella's. Verdienten sich doch Officiere, wie
die beiden Durando, Cialdini u. A. ebendamals ihre Sporen im Kampf für
die Sache, deren leidenschaftlicher Gegner ihr König war.
Als im Jahre 1840 der Krieg über der orientalischen Frage auszu-
brechen drohte, suchten Oestreich wie Frankreich die Dispositionen des Tu¬
riner Hofes zu sondiren. Solaro della Margherita bemühte sich, beiden
Nachbaren gegenüber die Neutralität Sardiniens zu wahren. Wenn der
Krieg aufbreche, schrieb er an den Gesandten zu Wien, so sei es weder wegen
einer italienischen Frage, noch.wegen einer Principienfrage, wie das bei Don
Carlos der Fall gewesen, auch nicht wegen einer revolutionairen Bewegung.
Die orientalische Frage aber stehe Sardinien ferne und es beabsichtige nicht,
sich darein zu mischen. Auch habe es keinen Grund, die freundschaftlichen
Beziehungen mit Frankreich aufzugeben, das eines Tages für Nizza und
Savoyen gefährlich werden könnte. In einer späteren Depesche war vertraulich
beigefügt, daß Sardinien, wenn es zu den Waffen zu greifen genöthigt wäre, jeden¬
falls auf einer Aenderung des im Jahre 1530 mit Oestreich abgeschlossenen Bünd-
nißvertrags bestehen müßte, der in mehrfacher Beziehung für Sardinien lästig sei.
Nach Paris wurde der Graf Crotti abgesandt, um dort gleichfalls zu
erklären, daß der König neutral zu bleiben wünsche. Diese Neutralität könne
für Frankreich nur vortheilhaft sein, da es so von Seite Italiens keinen
feindlichen Einfall zu befürchten habe. Dagegen stellte Thiers dem Gesandten
in lebhaftester Weise die Gefahren der Neutralität eines Landes vor. das
zwischen zwei aufeinanderprallenden Staaten nicht Partei zu nehmen wage.
Dabei wußte er die Allianz mit Frankreich so vortheilhaft als möglich dar¬
zustellen. Frankreich werde nicht in die Irrthümer des Kaiserreichs zurück¬
fallen und niemals seine Grenzen jenseits der Alpen ausdehnen. Dagegen
würde die piemontefische Regierung, die gleichfalls nichts über den Alpen zu
suchen habe, Gelegenheit finden, auf der anderen Seite die Artischocke auf¬
zublättern. Worauf Crotti versicherte, daß der König keineswegs die Absicht
habe, der Aussicht auf Eroberungen den Frieden aufzuopfern. In einer spä¬
teren Unterredung zwischen Thiers und dem ordentlichen Gesandten Bri-
gnole (im October 1840) warf jener der sardinischen Politik ihr östreichi¬
sches Colorit vor. Die Neutralität Sardiniens wäre viel vortheilhafter für
Oestreich als für Frankreich. Aus die wiederholte Betheuerung des französi¬
schen Ministers, daß er Piemont wesentlich vergrößert wissen wolle, ent-
gegnete Brignole, daß es nicht so leicht sein möchte, Oberitalien gegen die
östreichische Herrschaft zu revolutioniren. Die Bevölkerung von Lombardo-
Venetien lebe im Allgemeinen glücklich und zufrieden, und wenn auch in den
Städten, besonders unter den Mittelclassen der liberale und nationale Geist
Viele Köpfe erhitze, wolle doch das kleine Volk, besonders auf dem Lande,
nichts von einer Veränderung seiner Lage wissen.
Uebrigens sah in kurzem La Margherita die Unmöglichkeit der Neutra¬
lität ein und stellte sich ganz auf die Seite Oestreichs, wozu auch Lord Pät«
merston dringend rieth. der zugleich für den Fall des Kriegs ernsthafte
Bürgschaften für den Territorialbestand des Königreichs zusagte, ohne sich
jedoch über die Aussicht einer Gebietserwerbung bestimmt auszusprechen.
Der Gesandte Pollone in London hatte freilich, als er diese Rathschläge
übermittelte, gleichzeitig ein vertrauliches Schreiben beigefügt, in welchem er
vor dem Bündniß mit Oestreich, das von „wildem Haß" gegen Piemont be¬
seelt sei, warnte und zur größten Vorsicht ermahnte. (27. Oct. 1840.)'
Pollone erwies sich damit als würdiger Nachfolger des Grafen dAglie,
der nie aufgehört hatte, an die ehrgeizigen Pläne und die unversöhnliche
Feindschaft Oestreichs zu erinnern, und der dem Grafen Solaro della Marghe¬
rita zu bedenken gab. daß seit alten Zeiten die Ueberlieferungen der Po¬
litik des Hauses Savoyen auf der Maxime ruhen, keine dauernde Allianz zu
haben, und ein gleiches Verhalten gegen den einen wie gegen den anderen
seiner beiden mächtigen Nachbaren zu bewahren." (9. Juli 1836.) Ueber¬
haupt waren solche Warnungen, welche an die alte Tradition Sardiniens
Oestreich gegenüber erinnerten, doch nicht so ganz vereinzelt. Gerade unter
den auswärtigen Diplomaten erhielt sich diese Tradition beständig oder kam
wenigstens bei einzelnen Anlässen wieder zu Tage. Sie schlummerte nur
gleichsam unter der Decke der östreichischen Freundschaft. Bemerkenswerth ist
besonders eine Depesche des Grafen Rossi, Gesandten in Se. Petersburg,
vom 24. Nov. 1839, in welcher es heißt: »Es ist unbestreitbar, daß früher
oder später durch die bloße Macht der Ereignisse die Suprematie Oestreichs
in Italien sich brechen muß. Nicht weniger ist es Allen einleuchtend, daß
wir durch unsere Lage die natürlichen Erben des Einflusses sind, den diese
Macht auf der Halbinsel verlieren wird. Ganz abgesehen von der Frage der
Nationalität, versetzen uns die militairischen Bedingungen, welche der König
unserem Land zu verschaffen gewußt hat, und welche den Maßstab geben für
das, was unser Königreich mit erweiterten Grenzen sein könnte, in die Lage,
um unserer militairischen Bedeutung willen als die einzige wahre italienische
Nationalmacht betrachtet zu werden. Es ist darum im wohlverstandenen In¬
teresse des europäischen Gleichgewichts, daß Piemont eine Macht ersten
Ranges werde, welcher die innere Politik Italiens mit Ausschluß jeder frem¬
den Einmischung anvertraut und ein solcher Territorialbesitz angewiesen werde,
welcher es in den Stand setzt, jedem Angriff von außen die Spitze zu bie¬
ten." Der Gesandte hatte, wie aus dem weiteren Inhalt seiner Denkschrift
hervorgeht, in erster Linie die Eventualität eines Bruchs zwischen Rußland
und Oestreich im Auge, welcher Piemont günstige Aussichten eröffnen werde.
Sind so noch immer die Spuren jener Staatskunst vorhanden, welche
die piemontesische Diplomatie bis zum Jahr 1820 fast ausnahmslos ver¬
treten hatte, so finden wir, daß die Träger dieser Diplomatie fortwährend
aufs aufmerksamste die inneren Zustände der einzelnen italienischen Staaten
verfolgen. Schärfer erkennen sie die Mängel an dem fremden, als dem eige¬
nen Staatswesen. Die Gesandtschaftsberichte aus Rom und Neapel nament¬
lich enthalten eine rücksichtslose Kritik der dortigen Zustände; sie bestätigen
vollkommen, was die liberalen Schriftsteller darüber veröffentlicht haben
und sie geben schon in den dreißiger Jahren unverholen der Ueber¬
zeugung Ausdruck, daß diese Throne, ohne Halt in der Bevölkerung,
untergraben durch ein System unheilbarer Corruption, nothwendig eines
Tages zusammenbrechen müssen. Der Gesandte am päpstlichen Hof. Marchese
Croda, ein durchaus legitimistisch und katholisch gesinnter Mann, stellt schon
in einer Depesche vom 4. März 1837 den Sturz der weltlichen Herrschaft
des Papstes in Aussicht. „Es ist hier unter den weitblickenden Personen
eine übereinstimmende Anschauung, daß, wenn in diesem Land der gegen¬
wärtige Zustand der Dinge fortdauert, mit der Zeit eine wesentliche Krisis
eintreten muß, und die wahrscheinlichste Hypothese, in der man sich ergeht,
i>t die. das große Rom auf die bloße geistliche Suprematie zurückgeführt zu
scheu, so daß es nichts behielte als den Schatten weltlicher. Macht, und diese
etwa an eine außerordentliche Commission im EinVerständniß der Gro߬
wächte, die immer in Italien geherrscht haben, überwiesen würde. Dies ist
bis jetzt eine bloße Vision, über die ich indeß in theoretischer Weise mehrere-
nral auch von unparteiischen und besonnenen Männern habe reden hören, die
sicher keiner irgendwie regellosen Idee in Betreff der religiösen und monar¬
chischen Interessen verdächtig sind."
Daß man insbesondere auch Sicilien nicht aus dem Auge verlor, das
früher schon im Besitz des Hauses Savoyen lgewesen war, geht aus einer
Depesche des Marchese Ricci aus Neapel, 23. Juni 1837 hervor. Neapel
hatte damals, sich französischer Zudringlichkeiten zu erwehren, an die
guten Dienste Piemonts appellirt, um dieses zu einem regelmäßigen Post-
Dienst nach Palermo zu veranlassen. Ricci befürwortete dieses Project leb¬
haft und fügte hinzu: „Es wird nur zu unserem Vortheil gereichen, den
Sicilianern eine gerechte Meinung von unserer Regierung beizubringen und
w ihren Köpfen Ideen keimen zu lassen. welche zu einer Zeit, die nicht sehr
entfernt sein kann, nicht unfruchtbar sein werden. Dies ist nach meiner
Meinung eine Erwägung von großer Wichtigkeit. Sicilien wird früher oder
später dem König von Neapel entschlüpfen (skuZgia) und wir werden uns
gleichsam in dieses Land eingeführt finden und somit mehr als jede andere
Negierung in der Lage sein, von den Ereignissen, welche sich darbieten werden.
Nutzen zu ziehen."
Aber auch Solaro della Margherita, in diesen Jahren der Leiter der
sardinischen Politik, war doch weit entfernt, nur den Schildknappen Metter-
nichs spielen zu wollen. Seine Politik lief in denselben Bahnen, aber sie
sollte selbständig laufen. Eine gewisse ehrenhafte Würde ist doch seiner Füh¬
rung nicht abzusprechen. Wenn er überall für die Interessen der Legitimität
eintrat, so geschah, es aus Ueberzeugung, aus blindem Fanatismus, nicht
aus Deferenz für Oestreich. Es kam mehr als einmal vor, wie auch in
Reineren Dingen, daß Margherita sich östreichische Zumuthungen verbat,
^eil sie ihm nicht im Interesse seines Staats oder seiner politischen Grund-
^he zu sein schienen. Den Ehrgeiz, von welchem Karl Albert im Innersten
verzehrt war. hatte sein erster Minister vom ersten Tag an durchschaut. „Es
bedurftej". schreibt er in seinem historisch-politischen Memorandum, „keines
großen Scharfsinns, um zu entdecken, daß er außer dem gerechten Wunsch,
Unabhängig von jedem fremden Einfluß zu sein, im Innersten der Seele
Oestreich abgeneigt war und voll Illusionen über die Möglichkeit Italien aus
seiner Abhängigkeit zu befreien. Er sprach das Wort: „hinaus mit den Bar¬
eren" nicht aus, aber in jedem Gespräch verrieth sich sein Geheimniß." Diesen
Entwürfen nun, welche von einem Theil der Umgebung des Königs genährt
wurden, wirkte La Margherita auf jede Weise entgegen, weil sie ihm unver¬
einbar waren mit dem Legitimitätsprincip. Aber doch schrieb er in den ver¬
traulichen Instruktionen, die er im Jahre 1836 seinem Gesandten in Wien,
Grafen Sambuy übersandte, folgende Worte: „Die Politik Oestreichs hat
sich seit dem letzten Jahrhundert nicht geändert. Es hat immer dieselben
Ziele, und noch viel größer ist sein Ehrgeiz. Während es nach dem Erwerb
der päpstlichen Legationen die Hände ausstreckt, wirft es gleichzeitig einen
begehrlichen Blick auf das rechte Ufer des Tessin, den es wieder überschreiten
möchte, um seine Grenzen über die Bestimmungen der Verträge von Worms
und Aachen hinaus auszudehnen. Wenn Genua ein integrirender Bestand¬
theil der sardinischen Staaten geworden ist, so verdanken wir es sicher nicht
Oestreich, und sicher war es nicht Oestreich, das unsere Sache auf dem Wiener
Congreß aufrecht hielt. Halten Sie an der Ansicht fest, daß wir nicht die
geringste Pflicht der Erkenntlichkeit gegen diesen Hof haben, welcher, uns nur
Gutes zukommen läßt, wenn er in die Unmöglichkeit versetzt ist, uns des¬
selben zu berauben. Daraus ergibt sich, mit welchem Mißtrauen wir alle
seine Freundschaftserbietungen und die Vorschläge, die in unserem Interesse
gemacht zu sein scheinen, aufzunehmen haben. Man darf kein Vertrauen
setzen auf die östreichischen Minister, ihren Worten keinerlei Glauben schenken."
Besäßen wir die vertraulichen Depeschen der östreichischen Diplomaten in
gleicher Vollständigkeit, so würde daraus ohne Zweifel hervorgehen, daß in
den Zeiten der engsten Freundschaft auch auf jener Seite das Mißtrauen,
das in der Natur der Sache lag, ganz dasselbe war.
Und so war es denn derselbe Solaro della Margherita, Her ohne es zu
wollen, allmälig in eine Politik hineintrieb, deren Strömung durch seine
felsenfesten Grundsätze nicht mehr aufgehalten werden konnte. Zu einer Zeit,
da er noch hartnäckiger als irgend eine andere Macht den Sonderbund in
der Schweiz unterstützte und piemontesische Emissaire in der Schweiz
reisten, um für monarchische Gesinnung Propaganda zu machen, hatten be¬
reits jene Streitigkeiten mit Oestreich begonnen, welche Schritt für Schritt
zum Bruche trieben, und an welchen Karl Albert vorsichtig und unter
Schwankungen aller Art, allmählig den Muth gewann, seinem Ehrgeiz freien
Lauf zu lassen. Diese Streitigkeiten betrafen die Eisenbahnfrage, später die
Salz- und Weinfrage, Verhältnisse, die öfters erörtert und erzählt wor¬
den sind.
Es ist wohl schwerlich ein Zufall, daß es gerade wirthschaftliche Fragen
waren, in welchen die piemontesische Politik sich wieder auf sich selbst besann
und den Kampf mit dem verhaßten und übermächtigen Bundesgenossen auf'
nahm. An die wirthschaftlichen Interessen knüpften sich unmittelbar die wich'
tigsten politischen. Als der Graf Josef Ricci wegen der Eisenbahnfrage in
vertraulicher Sendung nach der Schweiz und den süddeutschen Höfen geschickt
wurde, redete ihm Karl Albert mit den Worten zu: „Sehen Sie nicht, daß
Sie außer dem unmittelbaren Gewinn süe den Staat und besonders für Ihre
Vaterstadt Genua noch ein höchst bedeutendes politisches Resultat erzielen
können, indem Sie die Schweiz und die kleineren deutschen Staaten durch
das Band der Interessen uns näher bringen. Von den Handelsbeziehungen
ist es leicht zu den politischen weiterzuschreiten; und es wäre doch ein schönes
Resultat, ein Bund, der Oestreich die Spitze böte." Die Unterhandlungen,
die bis ins Jahr 1847 dauerten, wurden denn auch von Oestreich nach
Kräften durchkreuzt und hintertrieben. Es handelte sich damals bekanntlich
um den Bau des Lukmanier, und die Absicht war dabei auch darauf gerichtet,
den nächsten Weg zum Rhein zu finden und in directen Verkehr mit Preußen
Zu treten. Der Handelsvertrag, der damals mit dem Zollverein geschlossen
wurde, lag in der gleichen Linie. Damals wurde auch in der Presse zum
erstenmal die Aehnlichkeit in der Stellung der beiden Staaten Preußen und
Piemont erörtert. Die Allgemeine Zeitung in Augsburg fand: „Piemont
ist das Preußen Italiens; dies ist es durch den militairischen Geist, der das
Volk beseelt, durch seine Lage gegenüber von Frankreich, gegen welches es
Vorhut zu sein bestimmt ist, durch die Aehnlichkeit seiner Geschicke wie im
schnellen Wachsthum, so im raschen obwohl vorübergehenden Verfall, durch
die Blüthe des Unterrichts und die Gunst, die er bei der Regierung findet."
In Piemont wurde der Gedanke laut, nach Preußens Vorbild einen italie¬
nischen Zollverein mit Ausschluß Oestreichs zu gründen, und Niemand wußte
die nationale Bedeutung der Eisenbahnfragen einleuchtender nachzuweisen als
ein Schriftsteller, der damals zum erstenmal in die Oeffentlichkeit trat, der
Graf Camillo Cavour.
Die Weinzollfrage, die als „Repressalie". weil Piemont in der Salz¬
frage sich fest erwiesen hatte, von Oestreich aufs Tapet gebracht wurde, zog
sich bis in eine Zeit hin, da ganz andere Elemente in Italien lebendig
wurden, welche aus dem Jnstinct der Nation heraus der Fremdherrschaft
Krieg ankündigten. Jene Festigkeit hatte mit einem mal wieder die Hoff-
nungen auf das Haus Savoyen gelenkt, und diese Hoffnungen mischten
sich jetzt mit der allgemeinen Gährung der Geister. Angesichts der herauf-
Ziehenden Gefahren hätte Metternich gerne die ungelegene Sache beigelegt,
und La Margherita, der dem König mißtrauend doppelt das aufsteigende
Gespenst der Revolution fürchtete, kam ihm gerne entgegen. Aber der
König war fest. Der Minister, der jetzt den Boden unter sich Wanken
fühlte, das ganze politische Gebäude, an dem er mit aufrichtiger Ueber-
Zeugung gearbeitet hatte, gefährdet sah. richtete am 2. Juni 1846 ein
Denkschrift an den König, worin er ihm in den schwärzesten Farben den
Abgrund vormalte, vor welchem der Staat angekommen war. In der Rolle
des getreuen Eckart beschwor er seinen Monarchen: „Es ist der Geist der
Revolution, der Feind Gottes und der Könige, der alle Farben, alle Ver¬
kleidungen annimmt, um sein Ziel, die Umwälzung der Staaten, zu erreichen.
In unserem Land hat er sich des schönen Namens Italienisch bemächtigt,
und spiegelt vor, unsere Halbinsel zu ihrer alten Größe zurückzuführen, ihre
zerstreuten Glieder zu vereinigen, ihr ein neues Dasein im Kreis der euro¬
päischen Nationen zu verschaffen. Das, o Sire, ist Täuschung; denn Wenige
ausgenommen, streben die Liberalen direct darauf hin, die Throne umzu¬
stürzen, die Kirchen zu verwüsten, deren Güter einzuziehen, die religiösen
Orden zu unterdrücken, das öffentliche Vermögen zu verschleudern; und wenig
liegt ihnen daran, ob Italien eins werde oder getheilt bleibe, wenn nur sie
es beherrschen." In diesem Angsttöne geht es weiter. „Bereits haben sich die
souveraine von Neapel und Toscana von den Revolutionairen bethören
lassen. Am treuesten und festesten stehen die Unterthanen des Hauses
Savoyen, aber auch hier erhebt sich eine Partei, welche Ew. Maj. zum
Herrn einer künftigen Monarchie bestimmt und für diesen Plan Anhänger
durch Italien wirbt. Aber das sind gerade diejenigen, welche bisher die er¬
bittertsten Feinde des Hauses Savoyen, die Rebellen gegen die legitimen
Regierungen gewesen sind. Schon fragen die Höfe, die ehemals uns bewun¬
derten, ob es wahr sei, daß Ew. Maj. die Grundsätze geändert habe und
ihren glorreichen Stern verlassen wolle, um den Geschicken einer dunklen
Zukunft entgegenzutreiben. Und das Ende läßt sich leicht voraussehen.
Bricht die allgemeine Revolution gegen Oestreich aus, so muß man Hülfe
bei Frankreich erbitten. Das ist dann die schöne Unabhängigkeit, die Italien
zugedacht ist: es zu befreien von Fremden, um es anderen Fremden zu über¬
liefern. Selbst wenn die Krone Italiens auf solchem Wege erlangt würde,
so würde sie früher oder später den Händen wieder entschlüpfen, die sie ganz
wo andersher als von Gott genommen/' Nichtsdestoweniger. — und damit
schließt bezeichnenderweise die Denkschrift des erschreckten Staatsmannes —
wünsche auch er eine Vergrößerung der Monarchie, aber nicht anders als aus
dieselbe Weise, wie die Vorfahren Karl Alberts sie erlangt, durch kluge Be¬
nutzung der Gelegenheiten, welche die Vorsehung darbiete. Und schon zeigen
sich günstige Aussichten. Die Schweiz sei von innerem Hader zerfleischt, der
Sturz.der helvetischen Bundesrepublik in naher Aussicht. Ebenso sei Oestreich
von gewaltigen inneren Wirren heimgesucht. Galizien und Ungarn sind un¬
ruhig, Preußen schickt sich an. Oestreich die Führung in Deutschland zu ent¬
reißen. Das sind nicht zu entfernte Eventualitäten, welche Piemont benutzen
muß. ohne sich vom geraden legitimen Weg zu entfernen.
Zwei Tage darauf, am 4. Juni, war Ministerrath. Der König war
unnachgiebig. Er sagte zu den versammelten Ministern (Mllamarina, la
Margherita, Apel, Revel, Desambrois): „Ich stelle die Frage der nationalen
Würde und Ehre nicht allein über jeden materiellen Streit oder Nachtheil,
sondern auch über die Opfer, welche ich vielleicht gezwungen sein werde von
meinen Unterthanen zu verlangen; denn ich bin sicher, daß sie sich mit
Freuden lieber allen Prüfungen unterziehen, als daß durch Nachgiebigkeit die
Ehre und Unabhängigkeit von Thron und Nation beeinträchtigt wird."
Karl Albert war zwar noch keineswegs am Ende jener Periode zwei¬
deutigen und widerspruchsvollen Schwankens angelangt. Aber die Schale
neigte sich jetzt auf die andere Seite. Die nationale Bewegung, der in
Kurzem die Papstwahl Mastai Feretti's einen neuen Anstoß geben sollte,
veränderte die Lage dermaßen, daß sie nicht mehr mit den Recepten der
alten Staatskunst zu behandeln war. Schon zeigten sich an anderen italie¬
nischen Höfen Neigungen, sich der Bewegung zu bemächtigen. An Piemont
trat die Frage heran, ob es im Kampf gegen die Revolution oder im Bund
mit der Revolution und diese zügelnd das eigene Heil versuchen solle. Der
Einsatz war beidemal der höchste, aber im einen Fall war nichts, im anderen
Alles zu gewinnen. Das eigene Interesse des piemontestschen Staats ent¬
schied dafür, die nationale Bewegung in die Hand zu nehmen.
Mehr als zwei Jahre sind es nun, seit Hannover den stolzen Titel
eines selbständigen Königreichs mit dem bescheideneren einer preußischen Pro¬
vinz vertauscht hat. Zwei Male schon hat in denselben Räumen, in welchen
früher die getreuen Stände des Königreichs Hannover sich zu versammeln
pflegten, der neue Provinziallandtag getagt. Die Organisation der mittleren
und unteren Provinzialverwaltung ist der Hauptsache nach zum Abschluß ge¬
macht und die zur Ueberführung in die neuen Zustände dienende Zwi¬
schenzeit kann als beendet angesehen werden. Fest gefügt und sicher unter
Dach gebracht steht der neue Bau da. Freilich, noch immer bläst die wel-
stsche Agitation ihre Drohungen in die Welt, vor denen Niemand sich fürch¬
tet, und wirft mit Prophezeiungen um sich, an die Niemand glaubt. Je
Mehr die neuen Zustände sich consolidiren, um so ungefügiger geberden sich
die Welfischen und ihr bezahlter Schweif. Es geht ihnen, wie den Kindern,
die im Dunkeln, je ohnmächtiger sie sich fühlen, um so eifriger toben. Das
beste Zeichen aber, wie fest die Regierung sich fühlt, ist, daß sie ihren er¬
grimmtesten Gegnern immer mehr freies Wort gestattet und bereits in
den welfischen Blättern Aeußerungen duldet, welche vor zwei Jahren den
Redacteur nach Minden geführt, vor einem Jahr ihm mindestens die öffent¬
liche Anklage zugezogen haben würden. Von der kopf- und schamlosen
Sprache dieser Blätter macht man sich außerhalb unserer Provinz höchstens
bei Ihnen einen Begriff, denn Ihre „Sächsische Zeitung", der man in der
Stadt Hannover nicht selten begegnet, leistet im meißnischen Dialekt, was
hier in spitzeren Niedersächsisch geschieht.
Eine Blumenlese daraus zu sammeln, ist nicht nöthig; aber wollen
Sie Ihren Lesern einmal eine kleine Probe geben, so greifen wir aus einer
uns gerade vorliegenden Nummer der „Hannoverschen Landeszeitung" — der
hiesigen Kreuzzeitung, des Organs der Altlutheraner und der welfischen Le-
gitimisten — Folgendes heraus:
„Die nationalen machen unserer Partei zum Vorwurf, daß sie angeb¬
lich nicht die Verpflichtung anerkennt, in einem etwaigen deutsch-französischen
Kriege für Deutschland einzustehen. Die nationalen verwechseln hier wieder
Deutsch und Deutschland mit Preußisch und Preußen. Unserer, d. h. der
großen hannoversch-welfischen Partei geht Deutschland und unser
Vaterland Hannover über Alles; Deutschland und unserem Vaterland
Hannover gehört unser Kopf, unser Herz und unsere Hand, sei es gegen
wen es wolle. Aber wo ist Deutschland? Gerade, daß wir uns für Deutsch¬
land, für Hannover erklären und deren Interessen nicht mit denen Preußens
für identisch halten wollen, ist unseren Anklägern, den Particularisten mit
nationaler Maske, sehr unangenehm."
Fragt man aber nach den Leuten, die solches Blatt halten und stützen,
so sind es — selbstredend mit manchen ehrenwerthen Ausnahmen — Adel
und Geistlichkeit. Und doch sind gerade diese beiden Stände die Lieblinge
der neuen Regierung, denn kein Stand wird von derselben mit so zarten
Fingern angefaßt, keiner so begünstigt in jeder Weise, wie gerade diese. Aber
es ist das alte Lied. Adel und Clerus sind nie zufrieden; je mehr man ihnen
giebt, desto mehr wollen sie haben. Und traurig ist nur, daß die Re¬
gierung noch immer das Coquettiren mit den Junkern und Priestern trotz
aller trüben Erfahrungen nicht aufgeben will.
Auffallend ist im Gegensatz zu der schonenden Behandlung der ver¬
schiedenen kirchlichen und junkerlichen Winkelblätter, die eine der oben an¬
geführten verwandte Sprache reden, die ununterbrochene strafrechtliche Ver¬
folgung der „Deutschen Volkszeitung", des an Preußenhaß allerdings mit der
„Hannoverschen Landeszeitung" wetteifernden Organs der großdeutschen De¬
mokratie. Keine Woche vergeht, ohne daß eine oder mehrere Nummern con-
fiscire oder der Redacteur vor Gericht gestellt würde. Ist es nur der Aus¬
fluß der größeren Sympathie für die kirchliche und politische Richtung der
feudalen Blätter — abgesehen von ihrer Welfomanie — oder ist es auch
das Gefühl, daß zwar von den welfischen Legitimisten niemals ernste Ge¬
fahr für den Staat zu besorgen ist, wohl aber von der Demokratie?
Und zweifellos ist die Thatsache, daß die demokratische Partei, die vor
der Annexion in Hannover kaum irgend Boden hatte, nicht unerheblich ge¬
wachsen ist und noch wächst. Leider können wir die Regierung nicht frei¬
sprechen von Schuld an diesem unerfreulichen Ergebniß. Mancher gute
Patriot, der im Jahre 1866 den Uebergang der Kleinstaaterei mit Freuden
begrüßte und warmen Herzens sich anschloß an den neuen Staat, ist durch
das geheimräthliche Borussificirungs - Streben in die Reihen der Gegner ge¬
drängt und erfüllt sich mit bitterem Groll wider die Leitung des Staats von
Berlin aus, sodaß dem haltungslosen Gemüth die alte Göttin der Ge¬
dankenlosigkeit, die deutsche Republik, es anthut.
Das nationale Gefühl der Verständigen zu wecken, ist nichts stärker
gewesen, als der Wegfall der obrigkeitlichen Trauscheins «Pflicht, das Gesetz
über'Freizügigkeit und das sogenannte Nothgewerbe-Gesetz. Das Bewußt¬
sein, diese früher so lange vergeblich ersehnten Wohlthaten der' neuen staat¬
lichen Ordnung zu verdanken, kettet die Masse des Volkes unmerklich fest an
den Staat. Die enragirten Welsen aber zu bekehren ist vergebliche Mühe;
sie zu bekämpfen, heißt ihnen unverdiente Wichtigkeit beilegen, und so ist
denn nunmehr die Zeit da, ohne Rücksicht auf sie zur Tagesordnung zu
schreiten.
Aber die Provinz sich selber und dem neuen Leben eines wirklichen Staats
zurückzugeben, dazu hat die Regierung bisher wenig geholfen. Zwar hat
man zu Berlin durch Ernennung des Grafen Stolberg, eines durchaus wohl¬
wollenden Mannes mit warmem Herzen für das Wohl der Provinz einen
guten Griff gethan, und dem Charakter und der persönlichen Liebenswürdig¬
keit desselben, wie seinem Eifer, mit allen Verhältnissen sich gründlich bekannt
zu machen, lassen auch die entschiedensten Gegner Gerechtigkeit widerfahren ;
aber es fehlt ihm noch an Geschäftskenntniß und vielleicht an rücksichtsloser
Energie, die nöthig wäre, um den Kampf einerseits mit der Fronde, anderer¬
seits mit der Berliner Bureaukratie durchfechten zu können. Von seinem Stell¬
vertreter, Präsident von Leipziger, weiß und schätzt man, daß er den Ober-
Präsidenten in seinen Bestrebungen für das Interesse der Provinz gegenüber
den Berliner Nivellirungs-Gelüsten redlich unterstützt.
In manchen Punkten ist es auch den Bemühungen dieser Männer in Ver¬
bindung mit den Führern der nationalen Partei, namentlich dem Grafen Mün¬
ster und Rudolf von Bennigsen, gelungen, alte gute hannoversche Einrichtungen
zu retten; aber das Schlimmste, das Eindringen des Berliner bureaukratischen
Geistes in die ganze Verwaltung der Provinz haben sie bis jetzt nicht abzu¬
wenden vermocht. In großem Umfang ist allerdings Viel-Regiererei und
Viel-Schreiberei eingerissen, die dem frischen Leben Gefahr droht; ein Arbeiten
nach der Schablone, ein auf principiellen Mißtrauen beruhendes Controlir-
Shstem macht sich fühlbar, das überall Mißstimmung erregt und freudiges
Schaffen lähmt. Was soll man dazu sagen, wenn ein mit der Controle der
Cassen beauftragter Beamter an einem Orte, wo mehrere öffentliche Cassen
sich befinden, erst bei dem einen Cassen-Beamten nur den Baarbestand auf¬
nimmt und dann stehenden Fußes zu den andern Cassen eilt und sich auch
hier den Cassenbestand aufzählen läßt, ehe er die weitere Revision vornimmt
und erklärt, es geschehe das in Folge ausdrücklicher höherer Vorschrift, um
eine Malversation mehrerer miteinander durchstechender Cassen-Beamten zu
verhindern?*)
Das erste Princip der Hannover'schen Verwaltung war, jeden Beamten
als Gentleman zu behandeln, jetzt scheint oft das Gegentheil maßgebend,
was freilich, wie männiglich bekannt, keinen Rückschluß auf die Integrität
altpreußischer Beamten zuläßt, aber Uebelwollende doch zu häßlichen prak¬
tischen Vergleichen reizt. Dazu kommt ein leidiges Arbeiten nach Ministe-
rialentscheidungen ze., wie sich ja in Alt-Preußen eine umfangreiche Rescripten-
Literatur gebildet hat, aus der für den einzelnen Fall Rath geholt wird,
statt mit gewissenhafter Prüfung selbst an die Auslegung des Gesetzes zu
gehen. Vor Allem in der Steuerverwaltung herrscht in dieser Beziehung
ein wahres Unwesen und hat darüber sogar der Städtetag, wie der Provin-
ziallandtag Beschwerde zu führen für nothwendig gehalten. Der an die
Spitze der Steuerverwaltung gestellte Oberbeamte ist eine unpopuläre Per¬
sönlichkeit im Lande, trotz und zugleich wegen der staunenswerthen Ar¬
beitskraft und des Geschäftseifers, den er wiederum von allen Unter¬
gebenen mit einer Ausschließlichkeit verlangt, die mit dem sonstigen Ge¬
schäftskreise derselben in Mißverhältniß steht. Die Folge sind Verfügungen
über Verfügungen und häufige Eingriffe in die Rechte der Gemeinden, die
schon mehrere Magistrate zu energischen Protesten veranlaßt haben. Daneben
macht sich in allen Zweigen des öffentlichen Dienstes eine kleinliche Sparerei
bemerkbar, die um so unangenehmer berührt, als gerade zu Hannover'scher
Zeit übertriebene Verschwendung herrschte.
Die schlimmsten Mißgriffe indeß, welche von der Regierung gemacht
sind und welche es den wärmsten Freunden der nationalen Sache er¬
schweren, die widerstrebenden Elemente mit den neuen Zuständen auszusöhnen,
bestehen in der Auswahl der Persönlichkeiten für mehrere der hervorragendsten
Verwaltungsstellen. In dieser Hinsicht hat der commissarische Landdrost von
Ostfriesland, ein Kreuzzeitungsmann von reinstem Wasser, selbst dieser der
Preußischen Regierung 1866 so freudig entgegenjubelnden Provinz den Ueber-
gang erschwert. In Ostfriesland ist in letzter Zeit ein bet dem allzu hohen
Wogen der Begeisterung und den übersanguinischen Hoffnungen des großen
Jahres von allen Einsichtigen schon damals für unvermeidlich erkannter Rück¬
schlag eingetreten, der allerdings keinerlei Gefahren in sich trägt, vielmehr
nothwendig war, um Alles in die richtige Bahn zu lenken. Eine 50 Jahre
lang unterdrückte Erbitterung gegen alles schlechthin Hannöversche kam da-
Mals zum Ausbruch, und wie es bei so tiefer Aufregung eines sonst stillen
und bedächtigen Volksstammes stets geschehen wird, wurde die Einseitig¬
keit übermächtig und das Kind wurde mit dem Bade ausgeschüttet. Jeder
von Hannover nicht berücksichtigte Wunsch Ostfrieslands wurde, auch wenn
er unerfüllbar war, jetzt zur Beschwerde wider Hannover und seine sofor¬
tige Erfüllung durch Preußen als zweifellos betrachtet. Wie sich bei jeder
noch so reinen und edlen Volksbewegung auch Persönlichkeiten mit unlauteren
und selbstsüchtigen Motiven in den Vordergrund zu drängen wissen, so auch
hier. Gemeinnützigkeit und ordinaire Speculation mischten sich, und im ersten
Rausche wurde Alles geglaubt und von der Regierung Alles erwartet. Cana-
lisirung sämmtlicher Meere, Eisenbahn am Leer über Aurich nach Norden und
Wittmund, Küstenbahn von Norden nach Heppens, Anlage eines Kriegs¬
hafens bei der Knock, Aufhebung der dem Fiscus zufließenden sogenannten
suspendirten Gefälle, Errichtung von Leuchtthürmen auf den Inseln waren nur
die bescheidensten Forderungen, von der °Musse wurden noch ganz andere
Ansprüche erhoben und auf ihre Erfüllung mit fester Zuversicht gezählt. Die
Ostfriesen glaubten für das unleugbare Verdienst, zuerst und fast allein mit
Entschiedenheit für die preußische Sache eingetreten zu sein, auch auf mate¬
rielle Belohnung Anspruch erheben zu können, und hofften namentlich aus
Kosten der übrigen Theile Hannovers, die der Einverleibung in Preußen
wehr oder minder entschieden widerstrebten, auf erhebliche Bevorzugung rech¬
nen zu dürfen.
Neben der Bevorzugung der Provinz wurde von manchen Seiten auch
Demüthigung und rücksichtslose Behandlung des verhaßten Hannoveraner-
thums erwartet. Petitionen wurden colportirt und eifrig unterschrieben.
worin die Lostrennung von dem gemeinsamen Provinzialverbande mit Han¬
nover und Zulegung zur Provinz Westphalen erstrebt wurde. In Petitio¬
nen und in der Presse wurde sofortige Versetzung aller hannoverscher Be¬
amten gefordert; viele Städte baten um Zutheilung von Garnisonen, kurz
eine Sturmfluth particularistischer Wünsche und Leidenschaften brach her¬
vor. Als nun die preußische Regierung, unbeirrt durch alle Petitionen
und persönlichen Begierden, ihren ruhigen Weg weiter ging und mit ge¬
wohnter Energie die allgemeine Wehrpflicht und die preußische Steuergesetz¬
gebung einführte, überhaupt die Verwaltung kräftig anzog und alle neu er¬
worbenen Landestheilen mit gleichem Maße wog, wirklichen Bedürfnissen
Rechnung trug, eingebildete dagegen oder unerfüllbare unbeachtet ließ; als
namentlich für Ostfriesland keine der erhofften Begünstigungen eintrat, ja
anscheinend sogar Hannover weit mehr Berücksichtigung fand; als die weni¬
gen nach Ostfriesland geschickten altpreußischen Beamten und selbst die Gar¬
nison gerade den stolzen Emder Kaufmann häufig verletzten, sodaß Emden
und Aurich die Lasten und Unbequemlichkeiten der Neuerung weit stärker
empfanden, als ihren Nutzen, kurz als die freilich auch rauhe Wirklich¬
keit an Stelle der Phantasievorstellung trat, da wurde auch diesen hand¬
festen Realisten die Laune kraus, die öffentliche Meinung kühlte sich ab;
man fing wieder an zu prüfen und zu vergleichen und überzeugte sich, daß
materielle Vortheile von der Einverleibung in Preußen so unmittelbar
und ohne eigenes Zuthun nicht zu erwarten seien. Dieser Ernüchterungs¬
proceß der Volksabstimmung wurde geschickt von den wenigen welfisch - gesinn¬
ten Mitgliedern der Ritterschaft, den Grafen von Knipphausen und von Wede.-
und drei, vier anderen ausgebeutet; etliche Leute — natürlich von Niemand
beauftragt — wurden zur Bezeugung der ostfriesischen Ergebenheit von
den Rittern im Triumph nach Hietzing geführt; einige umherziehende
Händler machten Geschäfte mit patriotischen Pfeifenköpfen und ähnlichen de¬
monstrativen Schaustücken, und bei der Reichstagswahl von 1867 gelang es
sogar, für den welfischen Candidaren, den früheren hannoverschen Landdrosten
Nieper, einige Tausend Stimmen — allerdings zumeist nur auf den aus¬
gedehnten Besitzungen des Grafen Knipphausen — zu gewinnen.
Die Regierung war besonnen genug, den eine kurze Zeit mit wirklich
staunenswerther Dreistigkeit betriebenen welfischen Agitationen in Ostfries¬
land freiesten Spielraum zu lassen, und da sie nicht durch den falschen Schein
des Märtyrerthums unterstützt wurden, schliefen sie in kurzer Zeit wieder
ein, denn der gesunde Sinn des ostfriesischen Volkes im großen Ganzen wird
sich in der nationalen Idee und der Anhänglichkeit an Preußen nie auf die
Dauer irre machen lassen. So ist denn jetzt der ruhige zähe Charakter des
Friesen wieder in sein Recht getreten. Unbedingtes Festhalten an Preußen
als der einzig möglichen Vormacht Deutschlands; Aufgabe der thörichten
Hoffnungen auf directe Staatshülfe, Verlassen auf die eigene Thätigkeit und
energisches Anfassen der Arbeit in dem Wirkungskreise eines Jeden, haben
sich wieder allgemeine Geltung errungen.
Die Regierung hat auch ihrerseits durch Befreiung des Verkehrs von den
gesetzlichen Fesseln, durch zweckmäßigere Verwaltung der Westbahn und durch
manche in den richtigen Grenzen gehaltene und doch segensreich wirkende Be¬
willigungen die allgemeine Wohlfahrt zu fördern gestrebt. Der Handel hat in
der That neuen Aufschwung genommen, regelmäßige Dampfschiffverbindungen
von Emden und Leer nach England sind eingerichtet, große Fabriken sind ent¬
standen; in dem traurigen Nothstandswinter 1867/68 hat die Regierung den
armen Moorcolonisten wirksame Hülfe zur Anschaffung von Saatfrüchten
geleistet und dadurch großen Segen gestiftet, und die ganze Provinz ist in
entschiedenem Aufblühen begriffen. Andererseits hat sich der bittere Haß
gegen Hannover gelegt. Petitionen mit über zehntausend Unterschriften ver¬
langen, mit der Provinz vereinigt zu bleiben; eine Versetzung der hannover-
schen Beamten begehrt Niemand mehr und die Verhältnisse haben sich in
jeder Hinsicht wieder consolidirt. sodaß jetzt der inneren Angelegenheit ein
regeres Interesse zugewandt wird. Für die am 10. Mai d. I. zusammen¬
tretende sogenannte Landrechnungsversammlung ist ein Antrag auf zeitgemäße
Aenderung der Provinzialverfassung auf die Tagesordnung gestellt, der
gegenwärtig die Gemüther mehr beschäftigt, als die Fragen der großen
Politik. Diese — obwohl erst aus dem Jahre 1846 stammende — Ver-
fassung ist noch ein so völlig mittelalterliches Stück, daß ihre Beseitigung
schlechthin nothwendig ist; trotzdem werden heiße Kämpfe darüber entbren¬
nen, was an ihre Stelle zu setzen ist und werden namentlich die Führer
unserer Ritterschaft sicher ihre Lanze für die Conservirung einlegen, wobei
ihnen der Landdrost sogar secundirev wird. Ich behalte mir vor, bei Ge¬
legenheit der beginnenden Session Ihren Lesern ein Bild dieses ergötzlichen
Musterwerks althannoverscher Gesetzgebung zu entwerfen.
Eigentliche politische Parteigegensätze existiren heute in Ostfriesland nicht
wehr; man kann dreist behaupten, daß die gesammte Bevölkerung politisch
der national-liberalen Richtung mit mehr oder minder weit nach links
gehender Schattirung angehört. Abgesehen von der oben erwähnten Can-
didatur des Landdrosten Nieper sind bei allen Wahlen auch immer nur
national-liberale Candidaten aufgestellt; die trotz dem ziemlich heißen Wahl¬
kämpfe haben ihren Grund mehr in den Eifersüchteleien der verschiedenen
Bezirke und Städte gehabt. Namentlich Norden und Emden hatten in dieser
Hinsicht noch bet der letzten Reichstagswahl eine heftige Fehde, in welcher
allerdings auch confessionell« Gegensätze Mit ins Spiel kamen. Der gegen
Prince-Smith siegreiche Candidat, Herr I. te Doornkaat - Koolmann, ist
eine interessante Persönlichkeit. Als Sohn eines kleinen Brennereibesitzers
in Norden trat er ohne weitere wissenschaftliche Ausbildung noch sehr jung
in das Geschäft seines Vaters und hat dasselbe Dank seiner rastlosen
Thätigkeit dergestalt ausgedehnt, daß er jetzt eine der bedeutendsten Brenne¬
reien in ganz Deutschland besitzt, welche z. B. im Jahre 186S über 46,000
Thaler Branntweinsteuer entrichtete. Nachdem er sich so eine gesicherte
finanzielle Lage erworben, hat Herr Doornkaat sich in seinem bereits vorge¬
rückten Alter, ohne darum die eigene Leitung seines umfangreichen Geschäfts
auszugeben, mit seltener Energie auf vergleichende Sprachstudien geworfen.
Der meisten Cultursprachen nicht allein, sondern auch des Lateinischen,
Griechischen, Hebräischen, Sanskrit :c. ist er mächtig. Seit längerer Zeit
arbeitet er an einem vergleichenden Wörterbuche, wovon bereits ein erheb¬
licher Theil druckfertig ist, und zwar sind bei dieser Arbeit nicht allein die
oben gedachten, sondern auch eine Menge amerikanischer und afrikanischer
Sprachstämme mit herangezogen. Daß dieses gelehrte Werk von einem
schlichten friesischen Brenner in verhältnißmäßig hohem Lebensalter unter¬
nommen werden konnte, ist jedenfalls merkwürdig genug und Sie verzeihen
daher Ihrem Correspondenten diese Mittheilung über eines der jüngsten
Mitglieder des Reichstags, das demselben, wenn auch wol nicht als Redner,
was kaum von nöthen erscheint, so doch sonst in aller Beziehung ein wacke¬
rer Zuwachs sein wird.
Zieht man die Summe der Beobachtungen über die neue Provinz wäh¬
rend der beiden letzten Jahre, dann kann freilich nicht geleugnet werden,
daß sich die Zustände langsam befestigen und dem Interesse am neuen Staat
auch bei Wohlgesinnten noch vielfach der Schwung und die Wärme fehlt,
aber daran sind durchaus nicht blos die Fehlgriffe der Regierung schuld,
weit mehr kommt auf Rechnung der tiefgreifenden Veränderung überhaupt,
die überall und immer ein Gefühl des Mißbehagens mit sich bringt. Und
wer das bäuerlich-stabile Naturell des Volksstammes kennt, das sich auch in
den Städten nirgends verleugnet, wird sich nicht wundern, wenn die flaue
Stimmung noch eine gute Weile andauert. Wirklich gefährliche Symptome,
über welche bedachtsame und feste Verwaltung nicht Herr werden könnte, ge¬
wahren wir nicht. Die Fehler, die gemacht worden sind und theilweise im
System fortbestehen, entspringen aus Verhältnissen und Anschauungen, von
welchen die Fortentwickelung des preußischen Staats mit eigener Kraft all-
mälig befreien wird. Jetzt werden durch Eine Kur wir Alle gesund.
Oestreichs Kämpfe im Jahre 1866. 4. Bd. Wien 1869. Commission bei
Carl Gerold's Sohn.
Kaum hat jemals ein Buch, noch bevor es im Handel erschien, einen
ähnlichen Zeitungssturm hervorgerufen. Die Mittheilungen über den Inhalt,
Welche eine Wiener Zeitung nach den Aushängebogen machte, sind Veran¬
lassung zu officiösen Erklärungen und zu einer Polemik geworden, welche an
Deutlichkeit nichts zu wünschen übrig läßt. Aber nicht der Scandal, den
einige Stellen des Buches erregten, ist das Ernsthafte, sondern daß diese
Stellen Symptom eines politischen Zustandes sind, der ehrliche Freunde und
Gegner der kaiserlichen Regierung in gleicher Weise betroffen macht.
Der Band behandelt die Ereignisse des Krieges nach dem 3. Juli, bis
zum Friedensschluß. Der militairische Bericht hat dieselben Vorzüge, die am
vorhergehenden Bande zu rühmen waren. Zwar waren keine großen Zusam¬
menstöße darzustellen. Ueber den Rückzug der kaiserlichen Armee erfahren
wir einiges nicht gerade wichtige Detail; die Operationen des preußischen
Heeres, Marsch der zweiten Armee gegen Olmütz und die Veränderung in
Ausstellung derselben, die Gefahrender Rückzugslinie Olmütz'Wien sind sach¬
gemäß gewürdigt, die Haltung dieses Berichtes so, wie sie dem Soldaten ziemt.
Auch die Beschreibung der Treffen von Tobitschau und Blumenau überlassen
wir bereitwillig der Kritik unserer Fachmänner; das erstere war ein Vorstoß,
der preußischerseits mit unzureichenden Kräften unternommen wurde, das
zweite ein strategisches Wagniß, über dessen Opportunist in den letzten
Stunden der Feindseligkeiten man streiten kann. Das Gefecht selbst, von den
Generalen Fransecki und Bose. aber auch durch das Corps Thun vortreff¬
lich eingeleitet, war ein merkwürdiges Stück Feldarbeit, welches wegen Ein¬
tritt der Waffenruhe nicht zur letzten Entscheidung kam. Die militairischen
Aussichten des Gefechts bei seinem Abbruch werden deshalb wahrscheinlich für
alle Zeit ein Gegenstand der Controverse bleiben, denn die Preußen basiren
ihre Wahrscheinlichkeitsrechnung auf das Kraftverhältniß der beiderseitigen
Heere, wie es sich in allen vorhergehenden Gefechten documentirt hatte; die
Oestreicher lassen diesen Factor außer Rechnung, nehmen Kraft und Waffen¬
tüchtigkeit beider Heere als gleich an und erklären ihre Position bei Abbruch
des Kampfes für stärker und aussichtsvoller. Sie haben nach unserer Mei¬
nung Unrecht, aber wir können ihnen ihren Standpunkt nicht verdenken. Die
in den östreichischen Gefechtsplan eingezeichnete Aufstellung der kaiserlichen
Bataillone wird man preußischerseits wohl nicht für richtig halten. Endlich
nach einer andern Richtung zeigt dieser letzte Band noch einen Fortschritt
gegen den früheren, er spricht mit mehr Haltung von dem eigenen comman-
direnden General, und scheint sogar bemüht, die Härte des früheren amtlichen
Urtheils durch eine unbefangene Würdigung der Vergangenheit Benedek's
vergessen zu machen.
Auf die Schilderung der militairischen Ereignisse folgt eine Darstellung
der Friedensverhandlungen. Wir sind der Meinung, daß jede officielle mili-
tairische Darstellung eines Krieges vermeiden sollte, die Conflicte, welche der
kriegerischen Action vorhergehen, und die politischen Interessen, welche bei
dem Friedensschluß thätig sind, mit irgend welcher Ausführlichkeit darzustellen.
Den Politiker seines Staates mit der Feder zu vertreten, ist nicht Sache des
Soldaten, seine amtliche Schrift soll ein Quellenwerk von dauerndem Werth
sein, in allen militairischen Dingen darf der große Generalstab einer Armee
beanspruchen, am besten unterrichtet zu sein, und Jedermann wird ihn gern
als Fachautorität anerkennen. Wo aber der Soldat Ereignisse schildert,
die er nicht gemacht hat, hört uns seine Autorität auf. Auch in dem schönen
Werke des preußischen Generalstabes hätten wir die Einleitung kürzer und so
vorsichtig gewünscht, wie die maßvoll gehaltene Uebersicht über die Verhand¬
lungen vor dem Abschlüsse des Friedens ist. Was aber das kaiserliche Bureau¬
werk uns von den Friedensverhandlungen erzählt, das ist so außerordent¬
lich, daß es in Europa seit langer Zeit nicht seines Gleichen hat.
Zunächst ist ungehörig die tiefe und würdelose Gehässigkeit gegen
Preußen, welche drei Jahre nach dem Kriege in einer officiellen Staatsschrift
zu Tage tritt. Die ergebene Artigkeit, mit welcher Frankreichs Vermittelung
besprochen wird, und die höfliche Rücksicht, welche man Italien zu Theil
werden läßt, machen die schlecht verhüllte Erbitterung, mit welcher man den
Sieger betrachtet, um so auffälliger. Diese Gemüthsstimmung überrascht uns
im Norden nicht und beunruhigt uns nicht, und soweit wir dabei an unsern
Vortheil zu denken haben, lassen wir uns dieselbe mit Nichtachtung gefallen,
denn sie ist an sich selbst ein Zeichen politischer Schwäche und ein Beweis,
wie leicht in den maßgebenden Kreisen Oestreichs die Vorsicht und Sicherheet
bei Behandlung großer Angelegenheiten verloren gehen.
Der Preuße wird deshalb auch nur ein abweisendes Lächeln für die
Ungerechtigkeit haben, mit welcher das Verhalten der preußischen Diplomatie
während des Kriegs und beim Friedensschluß besprochen wird. Wir freuen uns
aufrichtig, jenes vielbesprochene Usedom'sche Memoire v. 19. Juni an die italie¬
nische Regierung wieder abgedruckt zu finden. Denn jenes Schriftstück war eine
zeitgemäße und verständige Mahnung Preußens an Italien, wer dasselbe auch
verfaßt haben mag, und es ist dabei nur Eines höchlich zu bedauern, daß
osficiöse preußische Federn jemals dazu gebraucht wurden, das Memoire als
ein nicht von Berlin autorisirtes Vorgehen des Grafen Usedom zu des-
avouiren. — Wenn ferner der östreichische Bericht dem Grafen Bismarck bei
den Friedensverhandlungen Schroffheit gegen Oestreich vorwirft, so haben
Wir für ein Bedürfniß nach Gemüthlichkeit in solcher Situation kein Ver.
ständniß. Ein echter Wiener hätte als Sieger dem besiegten Gegner die
Hand gedrückt, die Backen geküßt und dazu das Doppelte von Kriegsgewinn
und Schlesien als Zugabe gefordert. Bei uns war bis jetzt die Meinung,
daß die preußische Politik beim Frieden gegen Oestreich eine ganz ungewöhn¬
liche Rücksicht bewiesen und in ritterlicher Berücksichtigung der kaiserlichen
Gefühle Alles aus dem Friedensverträge entfernt gehalten habe, was als
eine unnöthige Demüthigung des Nachbarstaats erscheinen konnte. Wenn
endlich gar die östreichische Staatsschrift sich zu der Behauptung versteigt, die
A-llianzverträge mit den süddeutschen Staaten seien „strenge genommen" durch
den Prager Frieden ungültig geworden, weil sie vor demselben ohne Zuziehung
Oestreichs abgeschlossen seien, so ist diese Behauptung allerdings nur eitle Phrase
in der Schrift eines Staates, der selbst den Frieden schloß, ohne seine süd¬
deutschen Verbündeten zu fragen, und der nicht abgeneigt gewesen war, für
mögliche Verluste sich durch Landgebiet seiner eigenen Bundesgenossen schad¬
los zu halten. Aber diese Behauptung steht in einer officiellen Schrift des
Kaiserstaats und dieser Umstand macht sie zu einer ernsthaften Thatsache.
Die k. k. Regierung erörtert öffentlich die Ungültigkeit der Allianzver¬
träge zwischen dem norddeutschen Bunde und den Südstaaten. Nach fast
drei Friedensjahren bricht plötzlich wie ein Wetterstrahl aus heiterer Luft
eine Auffassung hervor, welche die Grundlagen des bestehenden Friedens-
zustandes in Frage stellt. Ist das eine Drohung? Ist es eine unkluge
Offenbarung stiller Hintergedanken? Oder gar nur eine gedankenarme Redens¬
art, und haben die Staatsmänner Oestreichs trotzdem die Ansicht, ohne Strenge
gelten zu lassen, was sie streng genommen nicht hindern können? Das friedliche
Europa ist sehr berechtigt, darüber eine runde Erklärung zu fordern. Denn
es scheint, daß jener Satz nicht zufällig in dem Buche steht. Zu gleicher
Zeit mit dieser Aeußerung hat in der separatistischen Presse Süddeutschlands
eine geräuschvolle Agitation gegen dieselben Allianzverträge begonnen, welche
jetzt als Knechtschaft und finanzieller Ruin des Südens dargestellt werden.
Wir freilich haben die Ansicht, daß diese Verträge vor Allem im Interesse der
Südstaaten abgeschlossen sind, um ihnen die letzte Garantie einer nationalen
Existenz zu geben und ihr Deutschthum vor den Vergrößerungsplänen Oestreichs
und Frankreichs zu schützen, denn für den norddeutschen Bund sind diese Ver¬
träge mehr eine Pflicht gegen unsere südlichen Landsleute, als «in Vortheil.
Wenn sie die Wirkung haben. Reichenhall und Passau, die Umgegend des
Bodensees und die bayerische Pfalz in deutschen Händen zu erhalten, so mag
das der östreichischen Politik unbequem erscheinen, aber diese verfährt doch un¬
geschickt, wenn sie sich in ihrem Aerger darüber zu verdeckten Drohungen oder
compromittirenden Behauptungen fortreißen läßt.
Das Alles wäre nur schwächlich und taktlos und ein Beweis, wie schwer
den kaiserlichen Politikern wird, die Haltung eines Großstaates zu bewahren.
Aber was noch zurück ist, das compromittirt die Geschäftsführung des
Kaiserstaats in weit schlimmerer Weise. In dem Bestreben, die Ländersucht
Preußens und dessen Illoyalität gegen den damaligen Bundesgenossen Italien
zu erweisen, versagt sich die officielle Schrift nicht, eine Depesche des Grafen
Bismarck an den preußischen Gesandten in Paris abzudrucken, welche die
kaiserliche Regierung sich irgendwie auf geheimem Wege zu verschaffen gewußt
hat, und zu deren Lectüre sie — denn die Depesche war in Chiffren geschrie¬
ben — den Schlüssel nur durch Bestechung erhalten haben kann. Da der erste
Theil der Depesche durch einen anderen Schlüssel zu lösen war, gelang
es in Wien nur die zweite Hälfte zu lesen. Und da diese Hälfte bei voll¬
ständigem Abdruck nicht die für Preußen nachtheilige Wirkung hervorgebracht
hätte, welche man in Wien wünschte, so -erschien der Inhalt der Depesche
gefälscht, indem man den Satz ausließ, durch welchen der preußische Minister
die Rücksicht auf den Bundesgenossen Italien gewahrt hatte. Und diese
durch unrechtmäßige Aneignung, durch Bestechung und Diebstahl zugänglich
gewordene, unvollständige und verstümmelte Depesche wird in einer officiellen
militärischen Schrift der kaiserlichen Regierung veröffentlicht, und in tenden¬
ziöser Weise veröffentlicht, um mitten im Frieden dadurch dem Nachbarstaat
eine Kränkung und Benachtheiligung herbeizuführen.
Es gibt wahrscheinlich keine Negierung in Europa, welche in einer Noth¬
zeit, wo es sich um Tod und Leben ihres Staates handelt, nicht versuchen
würde, durch List und Bestechung hinter die Geheimnisse des Feindes zu kom¬
men. In dem Codex unserer politischen und militärischen Moral gilt her¬
kömmlich solche Noththat für ein Unrecht, welches jeder Staatsmann und
Feldherr auf sich nehmen muß. Aber in ganz Europa, die Türkei mit ein¬
begriffen, gibt es zuverlässig sonst keine Regierung, welche der Scham und der
Rücksicht auf politische Schicklichkeit so baar ist, daß sie solchen unbehaglichen
Erwerb anders als zu den nächsten Zwecken des brennenden Kampfes benutzt.
Als sich — es sind jetzt mehr als hundert Jahre her — ein Utz
feindlicher Allianzen über König Friedrich II. von Preußen zusammenzog,
kam der König durch Bestechung in den Besitz diplomatischer Actenstücke und
ließ dieselben veröffentlichen, um seine Nothlage vor Europa zu constatiren
und die Schuld der Kriegseröffnung von sich ab auf seine Feinde zu werfen.
Unzweifelhaft handelte der König unter dem Einfluß der stärksten Motive,
welche einen Staatsmann bestimmen können; sein Staat war mit Vernich¬
tung bedroht, und er hatte wohl Ursache, auch verzweifelte Mittel der
Rettung zu suchen. Die Veröffentlichung der Actenstücke fand statt, als der
Krieg begann, also in einer Zeit, wo jede diplomatische Rücksicht suspendirt
wurde. Diese Veröffentlichung fand statt vor 113 Jahren, in einer Zeit, wo
die politische Moral der Cabinette weit geringer war, wo die Regierung
auch des freiesten und am meisten fortgeschrittenen Landes in Europa sich
nur durch massenhafte Bestechung der reichsten und wohlhabendsten Gentlemen
ihres eigenen Landes die Majorität im Parlament zu sichern wußte. Demunge-
achtet ist jener Eingriff des großen Königs in das sächsische Archiv bis zur Gegen¬
wart die diplomatische Handlung seiner Negierung gewesen, welche die abfällig¬
sten Urtheile der Gegner erfahren hat; sie regte nicht nur in einer Zeit, wo der¬
gleichen Aneignung von jeder Regierung mit größter Unbefangenheit und Dreistig¬
keit geübt wurde, die heftigsten Vorwürfe gegen ihn auf. sie ist noch jetzt ein Lieb¬
lingsthema für Angriffe auf den Charakter des Königs. Was hatten die öst¬
reichischen Staatsmänner nöthig, uns daran zu erinnern, daß ihre Ansichten
von politischer Redlichkeit und diplomatischer Sitte mehr als hundert Jahre
hinter den Forderungen der Gegenwart zurückgeblieben sind?
Doch in Wahrheit, wir erweisen ihnen zu viel Ehre, wenn wir ihnen
auch nur einen Augenblick gestatten, ihr Thun mit einer nicht vorwurfs¬
freien Handlung des großen Königs von Preußen zu vergleichen. Denn nicht
in der Noth des Krieges, sondern lange nach geschlossenem Frieden, nach
Wiedereintritt der offiziellen freundschaftlichen Beziehungen zu ihrem Nachbar,
lange nach Wiederherstellung des regelmäßigen diplomatischen Verkehrs haben
sie ein Schriftstück abdrucken lassen, zu dessen Veröffentlichung sie keinerlei
Recht hatten. Die Depesche war nicht für sie geschrieben, nicht an sie adressirt,
sie ist fremdes Eigenthum, und was bei dem unberechtigten Abdruck eines
discreten Privatbriefes als höchst ungentil verurtheilt, ja gerichtlich bestraft
werden würde, das gilt vor einer Gesandteninstruction der Diplomatie der
civilisirten Welt, deren Thätigkeit nur unter strengster Beobachtung würdiger
Form und bei größter Discretion überhaupt möglich ist, sür ein uner¬
hörtes Thun. Und wie groß das Befremden des Publicums über diese
Rücksichtslosigkeit war. weit strenger noch wird die Verurtheilung in der
gesammten Diplomatie sein. Eine Regierung, bei welcher solche Takt¬
losigkeiten möglich sind, scheidet sich selbst aus der Reihe der Staaten aus,
mit denen ein sicherer diplomatischer Verkehr möglich ist. Wenn sie in der
Verstimmung des Augenblicks im Stande ist, dergleichen Jndiscretionen zu be¬
gehen und vertrauliche Schriftstücke zu publiciren, an welche sie gar kein Recht
hat, welche Benutzung dürfen die Politiker eines anderen Staates von dis«
creten Mittheilungen erwarten, welche der kaiserlichen Regierung selbst einmal
gemacht worden sind? Selten ist die östreichische Politik seit der Thronbesteigung
des Hauses Lothringen in der glücklichen Lage gewesen, durch die Größe und
den Patriotismus ihrer Zielpunkte zu imponiren, aber sie hat durch viele Jahr¬
zehnte wenigstens den Vorzug einer sichern Formqewandtheit behauptet und
sie hat noch dadurch mehr als einmal eine Ueberlegenheit über andere Re¬
gierungen durchgesetzt. Jetzt ist auch dieser gute Schein verloren, und das
klug drapirte Gewand, welches manche Blöße zu decken wußte, flattert
zerrissen.
Endlich aber das Aergste. Die Depesche ist nicht einmal ehrlich abge¬
druckt, sie ist durch zweckvolles Auslassen eines Satzes gefälscht, und diese
Fälschung soll den Lesern beweisen, daß Preußen bei den Friedensverhand¬
lungen rücksichtslos gegen Italien verfahren sei. Eine unwahre Behauptung
soll durch einen Betrug des Publicums erwiesen werden. Für ein solches
Verfahren wissen wir in unserem Wörterbuche rücksichtsvoller Wendungen
gar keine Bezeichnung zu finden. Wenn eine — sehr unglücklich abgefaßte —
offizielle Entschuldigung in einem Wiener Blatt ausspricht, über die Art und
Weise, wie die Depesche in östreichische Hände und in das Archiv des Ge-
neralstabes gekommen sei, werde man keine Auskunft geben, so ist darauf zu
bemerken, daß wir diese Auskunft gar nicht verlangen. Es verschlägt wenig,
ob die östreichische oder ob die französische Regierung durch Geld, List, Verletzung
des Telegraphengeheimnisses oder auf irgend eine andere unsaubere Weise in
den Besitz der Depesche und des Schlüssels gelangt ist; wohl aber hat die
öffentliche Meinung des civilisirten Europa ein Recht, zu fordern, daß die k. k.
Regierung, wenn sie das vermag, sich wenigstens wegen der tendenziösen Verun¬
staltung dieser Depesche rechtfertigt, deren Veröffentlichung sie nicht beschönigen
kann. Daß sie eine unerhörte Indiscretion begangen, ist doch schon arg genug;
darüber, daß sie mit kaltem Vorbedacht unredlich gehandelt, kann ihr Verhör
und Verdict nicht erspart werden. Und wenn jene offizielle Erklärung am
Schlüsse zufügt, daß, keine weitere Vertheidigung der k. k. Regierung zu erwar¬
ten sei, so gleicht solche Naivetät völlig dem Benehmen eines Mannes, der
seinem Nachbar über den Zaun Schmähworte und Verleumdungen zuruft und
deshalb vor Gericht gestellt die Ansicht ausspricht, er wolle mit der unan¬
genehmen Sache nichts mehr zu thun haben.
Vergebens suchen wir bei diesem Vorfall nach einem klugen Zweck.
Zwar die arge Absicht ist klar genug, aber Gemüth, Bildung und Logik der
Urheber sind gewöhnlichem Urtheil nicht leicht verständlich. Wenn die preußi¬
schen Zeitungen behaupten, man habe dadurch die öffentliche Meinung in
Oestreich und Süddeutschland gegen Preußen erbittern wollen, so mußte, wer
jene Depesche unvollständig in das militärische Werk setzte, sich doch sagen,
daß eine Rücksichtslosigkeit Preußens gegen Italien bei jenem Kriege kein
großes Agitationsmittel gegenüber dem eigenen Volk und den Ultramontanen
Deutschlands sei. Man wollte vielleicht die Stimmung Italiens aufreizen?
Aber die Italiener gelten dafür, daß sie sehr lebhafte Empfindung für ge¬
selligen Anstand haben, und wenn sie durch ihre Zeitungen erfuhren, daß die
Behauptung der östreichischen Staatsschrift auf einer absichtlichen Täuschung
des Publicums beruhe, so war doch die entgegengesetzte Wirkung, d. h. eine
für die kaiserliche Regierung sehr ungünstige Schlußfolgerung nicht aufzu¬
halten. Wir glauben nicht, daß ein Soldat von Urtheil den Abdruck veranlaßt
hat, und wir glauben auch nicht, daß Graf Beust bei diesem Geschäft direct
betheiligt ist.
Wenn wir aber doch diesen Vorfall erklären sollen, so finden wir keine
andere Deutung, als die harmloseste, wie sie ja auch jene officielle Vertheidigung
ausspricht, und zugleich die traurigste von allen. Eine gewisse Stumpfheit des
Urtheils, eine kleine plumpe Schlauheit! Das Factum gilt in dem officiellen
Oestreich gar nicht für ein erwähnenswerthes Unrecht; es ist dort — nach jener
Vertheidigung — überhaupt nichts Besonderes und Auffallendes. Es ist dieselbe
Geschichte, wie mit jener Gußstahlkanone, welche einst der König von Preußen
dem Kaiser von Oestreich zum Geschenk gemacht hatte und welche während des
Krieges 1866 in den Straßen Wiens dem Volke gezeigt wurde als eine den
Preußen abgenommene Kriegsbeute. Und es ist eine ähnliche Geschichte, wie mit
jenem nie geschriebenen Briefe des Königs von Preußen, jenem Briefe, welcher
nachder Schlacht bei Solferino der östreichischen Staatsleitung die Ueberzeugung
gab, daß man mit Frankreich und Italien Frieden schließen müsse, weil
Preußen feindselig gegen Oestreich rüste, und welcher in denselben Tagen dem
östreichischen Volke denuncirt wurde, in denen die preußischen Truppen, um
Oestreich zu helfen, an den Rhein marschirten. Damals wollte man nachträglich
von Seiten Oestreichs die Schuld eines „Mißverständnisses" auf Frankreich
wälzen, und wenn wir nicht irren, verschwand der peinliche Zwischenfall von
der Tagesordnung erst mit dem Ausspruche König Wilhelm's: Kaiser Na¬
poleon sei nicht der Mann, einen falschen Brief vorzulegen.
Wenn noch heute viele wackere Männer in Oestreich uns Deutsche eines
Mangels an freundlicher Gesinnung und warmer Theilnahme mit ihrem
Schicksal zeihen und die schroffe Haltung des Nordens anklagen, so mögen
sie aus diesem Vorfall die Ueberzeugung gewinnen, daß nicht uns der gute
Wille fehlt, ihnen die Freundeshand über die Grenze zu reichen, son-
dern daß uns Etwas, was von ihrer Seite herkommt, immer wieder ab¬
stößt, und das ist die eigenthümliche Auffassung des Lebens, der Rechte,
Pflichten und Ansprüche, welche bei ihnen als Gemüthlichkeit umgeht.
Es ist immerhin mißlich, Biographien noch lebender Personen zu schreiben;
doppelt bedenklich wird die Sache, wenn die geschilderte Person noch in voller
Action auf der Bühne steht. So lange der lebende Mann noch im raschen
Laufe begriffen ist, kann man eben kein Bild von ihm machen, etwas Ab¬
geschlossenes muß vorliegen, ein Stillstand eingetreten sein, ehe wir den
Griffel ergreifen dürfen. Dieser Stillstand braucht nicht immer der leibliche
Tod zu sein; ein Feldherr, ein Staatsmann, ein Künstler, der seine Haupt¬
arbeit gethan hat, und zeitweise oder für immer von der Weltbühne abge¬
treten ist, mag sich wohl auch, wenn er noch als Lebender unter uns weilt,
der geschichtlichen Betrachtung bieten.
Beinahe unmöglich wird aber die Arbeit, wenn das Object der Schilde¬
rung ein Staatsmann ist, der erst die Hälfte seiner Aufgabe erfüllt hat, der
noch mitten unter uns steht, der dem Einen zu langsam, dem Andern zu
schnell, einem weit hinaus gesteckten Ziele zuschreitet, dessen Name, je nach
der Leidenschaft des Momentes und der Personen, von Dem gepriesen, von
Jenem verwünscht wird. Von der Parteien Gunst und Haß verwirrt, schwankt
eben noch sein Bild. Wir erhalten entweder einen leeren, werthlosen Pane-
gyrikus, oder eine feindselige Parteischrift, allenfalls einen Abriß der Zeit¬
geschichte, in welcher aber die menschliche Erscheinung, Charakter und Inhalt
der geschilderten Persönlichkeit eine unbefangene Würdigung nicht erhalten
konnte. Gerade diese aber uns nahe zu bringen, den Menschen, nicht blos den
Staatsmann in volle Beleuchtung zu rücken, das ist es. was Herr Hesekiel
beabsichtigt. Er geht noch einen Schritt weiter, er will ein sogenanntes
Volksbuch schreiben. Das zeigt schon der schwarz-weiß-rothe Umschlag und
die zahlreichen Illustrationen.
An sich hat diese Aufgabe etwas Verlockendes. Bismarck ist jetzt wohl,
trotz seiner wenig populären Vergangenheit, die bekannteste Persönlichkeit auf
dem Erdenrund. Kaiser Napoleon scheint bereits den Höhenpunkt seines
Populären Ruhmes überschritten zu haben. Garibaldt, der ihm vielleicht
diese allgemeine Theilnahme streitig machen konnte, vegetirt einsam auf seiner
Felseninsel. Graf Bismarck hat in Schätzung der Welt eine wunderbare,
beinah blitzartige Wandelung erfahren. Aus dem verhaßten Junker, dem
reaetionairen Minister wurde mit einemmal eine so leuchtende Eescheinung
daß Aller Augen geblendet waren. Die Thatkraft ist es, welche Augen und
Herz der Menschen am leichtesten gefangen nimmt. Das kecke Wagniß des
Krieges, die zündenden Wetterschläge in Böhmen, der rasche Siegesmarsch
bis vor die Thore Wiens, und nach dem Frieden der kühne Griff über die
alten Grenzen hin, wo, statt der bisherigen ltthographirten Pariser, einmal
eine wirkliche Revision der Karte von Europa stattfand, und bei dieser Ge¬
legenheit einige Throne und Thrönchen zu Falle kamen — in alle dem sah
die Menge, das Volk, das staunende Ausland den Griff eines gewaltigen
Willens, und mit einemmal war Graf Bismarck der populärste Mann dies¬
seits und jenseits des Oceans. Seine früheren Sünden waren momentan
vergessen; als Mann der That und des Rathes vereinigte er gewissermaßen
nach der allgemeinen Schätzung Cavour und Garibaldi in einer Person.
Nach dem Siegesrausch kam nun freilich wieder die harte Arbeit des
Tages, es galt, das Gewonnene sicher zu stellen, es galt auch, den Boden
unermüdet umzubrechen zu neuer Ernte.
Nun ist die Thätigkeit eines Staatsmannes in gewöhnlichen ruhigen
Zeiten. dem hastigen Drängen der Menge gegenüber, wenigstens soweit sie
auf der Oberfläche der Dinge sichtbar wird, in der Regel eine retardirende.
Er arbeitet im Verborgenen, er bereitet vielleicht Neues vor; aber das, was
uns vor Augen liegt, ist leicht ein Zurückhalten der schneller nach dem Ziele
hin treibenden Parteien. Da tritt bald eine Enttäuschung bei dem schau¬
lustigen Publicum ein, Kein es. besonders nach großen unerhörten Dingen
niemals schnell genug geht. Diese Art von Wirksamkeit ist also immer in
Gefahr weniger populär sein. Die stille, geräuschlose Arbeit des Politikers
entzieht sich der Werthschätzung der Menge, deren Gunst der raschen That
zufällt. — So weit sich der Ruhm nach der Zahl der Bewunderer mißt,
wird der Feldherr stets den Minister schlagen, das hat Cavour bitter er¬
fahren gegenüber dem Helden von Marsala; und immer wird Blücher popu-
lärer bleiben als Stein. Das Leben des Letzteren als Volksbuch zu bearbeiten
ist eine weit schwierigere Aufgabe, als ein „Bild des Marschall Vorwärts für
das deutsche Volk" zu zeichnen.
Wir haben also unsere großen Bedenken, daß man den Grafen Bis-
marck überhaupt schon zu einem Gegenstande populärer Darstellung macht.
Vor Allem wollen wir, was sich freilich von selbst versteht, die Bemerkung
nicht unterdrücken, daß wir diese ganze lange Betrachtung nur im Interesse
unseres deutschen Staatsmannes angestellt haben, durchaus nicht um die Be¬
fähigung des Herrn Hesekiel zu prüfen, dessen anderweitige literarische Ge¬
schäftigkeit uns vollkommen gleichgültig gelassen hat. Die Novellen, märki¬
schen Rittergeschichten, Wappensagen und dergleichen — denn, wie wir sehen,
treibt seine Thätigkeit wohl vorzugsweise nach dieser Richtung hin ihre Blüthen
— stehen nicht auf dem Niveau, welches zur Lectüre lockt und Anspruch auf
eingehende Kritik gibt. Aber nicht gleichgültig ist es uns, daß Graf Bis-
marck, der Schöpfer unserer staatlichen Gegenwart, die leitende Kraft des
deutschen Staates, in solche Hände gefallen ist. Das Buch tritt mit einer
gewissen Prätension auf, es fällt in die Augen, es ist wahrscheinlich sehr
verbreitet. Und das ist uns leid; denn trotz manchem Neuen und Interessan¬
ten, das es bringt, ist seine Wirkung jedenfalls eine schädliche; es verbreitet
falsche Meinungen über unsern nationalen Staatsmann.
Sehen wir uns das Buch genauer an. Wir beginnen mit dem Aeußer-
lichen, der Schale. Des zierlich geschwungenen Schwarz - Weiß-Roth auf
dem Deckel gedachten wir schon, und haben nichts dagegen einzuwenden,
Graf Bismarck ist ja doch der eigentliche Vater der neuen Nationalfarben,
er erscheine denn auch in diesem Schmucke. — Herausfordernd klingt aber
der Titel: „Das Buch vom Grafen Bismarck", das heißt doch ein Buch,
das Alles zusammenfaßt, was sich nur über den Helden desselben sagen und
denken läßt. Das wird schwerlich ein Schriftsteller der Gegenwart fertig
bringen. Hat man die ersten Seiten gelesen, so wirkt der Contrast zwischen
Titel und Inhalt durchaus komisch. Das große Format ist dem großen
Namen entsprechend; das Papier elegant und weiß, wie die loyale Seele des
Herrn Hesekiel; der Druck nicht überall correct.
Zunächst fallen die zahlreichen Illustrationen in die Augen; das Buch
soll nicht nur ein Lesebuch, auch ein Bilderbuch für das Volk sein. Eine
Anzahl bildlicher Darstellungen wäre nun jedenfalls ganz willkommen, Gras
Bismarck selbst in verschiedenen Lebensaltern, die Bilder seiner Eltern, allen¬
falls auch Großeltern, das väterliche Haus u. s. w.; aber in der Auswahl
der meisten anderen hat die Geschmacklosigkeit der Zeichner das Möglichste
geleistet. Wir sprechen hier narürlich nur von der Wahl der Gegenstände;
das Künstlerische oder Unkünstlerische der Form berührt uns nicht. Da sehen wir
z. B. S. 13. Frau Bellin, gewiß eine recht brave Frau und treue Diene¬
rin des Hauses, aber interessirt es das ganze deutsche Volk, zu wissen, wie
sie aussieht? S. 47. Ein schmollendes Ehepaar im Costüm, des 16. Jahr¬
hunderts. Der Text lehrt uns, es seien die alten Bismarcke, die sich grä-
wen, weil sie der Kurprinz auf gute Manier von Haus und Hof jagen will.
Der Kreuzzeitungsmann Hesekiel kann sich nicht enthalten, uns zu versichern,
daß das etwas eigenmächtige Verfahren des Landesfürsten ihrem loyalen
Sinne keinen Eintrag gethan habe. S. 73. Eine nicht mehr jugendliche
Magd oder so etwas, vom Rücken gesehen, mit gefalteten Händen vor einem
offenen Schranke stehend. Uns bliebe das geheimnißvolle Bild wohl auf
ewig, wie Don Karlos der Prinzessin Eboli. ein verschlossener Schrank; auch
der scharfsinnigste Keilschriftleser, Hieroglyphendeuter, Vasenbilderklärer würde
nicht im Stande sein, einen Zusammenhang zu entdecken zwischen dieser aller¬
dings bekleideten Kallipygos und dem Grafen Bismarck. Wir nehmen also
den Text zu Hülfe und erfahren, daß wir wiederum eine treue Dienerin vor
uns haben, Trine Neumann aus Schönhausen, die eben die Entdeckung eines
Diebstahls macht. Wir bedauern nun um so mehr, den Eindruck dieser
Greuelthat nicht in ihren Zügen lesen zu können, da sie uns, wie schon be¬
merkt, die verkehrte Fronte zudreht, trösten uns jedoch einigermaßen, wenn
wir lesen, daß Trine Neumann noch lebt, und also für die zweite Auflage
mit Hülfe der Photographie die Möglichkeit einer Ansicht von vorn gegeben
ist. S. 102. Wieder eine Rückenansicht, welche also der Künstler zu lieben
scheint. Diesmal ist es eine ebenfalls bekleidete männliche Figur. Hoher
Hut, langer Rock, Stulpenstiefel; daneben ein hünenhafter Hund. Räthsel-
Hafte Unterschrift: Melancholie. Der Text sagt uns, es sei die sogenannte
„Premierlieutenants-Melancholie" ! Auf dieses Kunstwerk scheint sein Schöpfer
besonderes Gewicht zu legen; denn, obgleich von kleinem Format, ist es nicht
in den Text eingedruckt, sondern erscheint auf einem besonderen Blatte.
S. 144. Der trotzige „Junker" Bismarck auf einer Straße Berlins im tollen
Jahre. S. 176 heißt es: „Vor Tisch pflegte er auszureiten". Daneben er¬
scheint ein Herr zu Pferde. Ein Grenzstein zeigt die Inschrift: Herzogthum
Nassau. Geistreiche Anspielung, daß während des Frankfurter Aufenthaltes
Bismarck zuerst auf die Idee kam, es sei nothwendig, an verschiedenen Orten
in Deutschland die Grenzsteine ein wenig zu verrücken. S. 249. Sehen wir
nochmals einen Reiter, Illustration zu den Worten eines Briefes: „Die
Fuchsstute ist meine tägliche Freude im Thiergarten". Leider ist das Bild
nicht colorire und das Pferd erscheint mehr von vorn, so daß gerade das
Charakteristische des Gegenstandes, Stute und Fuchs, bildlich nicht auszu¬
drücken war. — Es sei genug mit diesen Proben; man durchblättere das
Buch und wird eine ganze Blumenlese höchst gewöhnlicher Illustrationen
finden. Es ist fast, als habe der Verleger eine Anzahl schon vielfach ver¬
wendeter Clicris zusammengekauft und hier und da eines eindrucken lassen.
Ist dergleichen ein würdiger Bilderschmuck für das Buch vom Grafen
Bismarck?!
Doch betrachten wir näher, was Herr Hesekiel selbst gemacht hat. Wir
denken uns, wenn Jemand die Feder ansetzt, ein Buch über Graf Bismarck
zu schreiben, wenn er unternimmt, mit dem reichsten Material in den Hän-
den, ein Bild seiner äußeren Schicksale, seiner inneren Entwickelung zu geben,
auch ein unbedeutender Schriftsteller müßte sich von dem großen Gegenstand
seiner Darstellung gehoben fühlen und von würdigen Dingen auch würdig
reden. Wie beginnt Herr Hesekiel? Wir schlagen die erste Seite auf und
trauen kaum unsern Augen, wenn wir lesen: „In Genthin verließen wir die
Eisenbahn".
Dieses geistreiche Eintreten lo insäiam rem erinnert uns an den Anfang
einer höchst trübseligen Novelle, die wir einst in vormärzlicher Zeit in einem
Journal fanden; dieselbe begann: „Clärchen hieß sie" — ein Paukenschlag,
wie in der Oberon-Ouverture. Auf den Rang eines solchen obscurer No¬
vellisten müssen wir den Schriftsteller setzen, der es unternimmt, das Leben
des bekanntesten Staatsmannes der Gegenwart zu schreiben!
Es geht im gleichen Tone weiter; halb liest sich der Text wie eine No¬
velle, halb wie ein Reisebild, etwa aus der „Gartenlaube", oder sagen wir
lieber, da der conservative Versasser das übel deuten könnte, wie im „Da¬
heim". Nachdem uns versichert worden ist, daß die Plotho und die Gänse
zu Putlitz noch von den alten wendischen Fürsten abstammen, wird berichtet,
daß der Landrath v. Brauchitsch die älteste Tochter des Ministers v. Roon
zwei Tage vorher heimgeführt habe, nämlich vor dem historischen Tage, an
welchem Herr Hesekiel die Eisenbahn verließ. Dann wird ein lyrischer Ton
angeschlagen: „Juni-Nachmittag — grünes Land — Lindenblüthenduft —
Heugeruch". Auch die Romantik kommt nicht zu kurz: die Haide „trat an
unseren Weg." „Scheu und neugierig" schaute das Damwild herüber.
Noch einmal werden wir in die Gegenwart versetzt. „Abendgesellschaft in
Tangermünde mit frischen Damentoiletten und glänzenden Uniformen" (4. Es¬
cadron des westfälischen Dragonerregiments) u. f. w. u. f. w. Wir wollen
nicht ermüden mit langen Auszügen; sie sind auch nicht des Abschreibens
werth. Nur noch ein paar Proben, wie hier das Leben des Grafen Bis¬
marck erzählt wird, können wir den Lesern nicht vorenthalten: S. 17. „Frau
Inspectorin Bellin erquickte uns hier mit Erdbeeren, und es machte uns einen
fast historischen (!) Eindruck, Erdbeeren aus Bismarck's Garten in Bis-
marck's Bibliothekzimmer zu essen." S. 18 werden einige ziemlich harmlose
Spukgeschichten erzählt. „Uevrigens wäre Schönhausen gar kein rechter
altmärkischer Edelsitz. wenn es nicht seine gehörigen Spukgeschichten hätte."
Auch Bismarck habe einmal „etwas gehört". S. 84 wird berichtet, daß die
Freuden der Ferienzeit einen besonderen Reiz erhielten durch eine Art Käse¬
kuchen, der bei den Blankenburg in Zimmerhausen „in ganz hervorragender
Weise" bereitet werde. S. 162. Die Geschichte mit dem Bierglas bliebe
wohl besser weg. S. 163. Wen in aller Welt interessirt es, daß Herr Hesekiel
im Jahre 1830 einen gelben Ueberrock getragen hat? Diese Geschichte von
den drei Ueberröcken ist einfach albern. S. 166. Das mitgetheilte Jagd¬
abenteuer in dieser Weise erzählt, ist unwürdig. — So ließen sich noch viele
Beispiele geben von der Art und Weise, wie man das Leben eines Staats-
Mannes nicht erzählen soll.
Doch ein solcher Anekdotenkram ist doch am Ende nur geschmacklos.
Weit bedenklicher erscheint uns der Parteistandpunkt des Verfassers, der es
unternimmt, das Leben des Grafen Bismarck dem deutschen Volke zu er¬
zählen. Das ist nun reine Kreuzzeitung und Herrenhaus.
Wir sind nicht der Meinung, ein Biograph Bismarck's solle Das, was
wir in seiner politischen Vergangenheit tadelnswerth finden, verschweigen,
oder auch nur beschönigen. Graf Bismarck war durch seine Herkunft und
Erziehung nicht so günstig gestellt wie Cavour, der groß wurde in den libe¬
ralen Ideen der Neuzeit. Der preußische Junker mußte erst eine lange
.Schule durchmachen und viele Schalen abstreifen, ehe er ein sicheres Ver¬
ständniß der Gegenwart erhielt. Ist er auch jetzt noch nicht ganz frei von
den Eindrücken, die seine Erziehung und Umgebung ihm ausprägten, keines¬
wegs gehört er doch gegenwärtig noch der alten Kreuzzeitungspartet an.
und wir müssen wegen Ehre und Interessen der Deutschen im In- und Aus¬
lande uns feierlich dagegen erklären, wenn ihn diese Art noch als den Ihrigen
reclamirt. Gerade sein Werden und Wachsen zu schildern, ist die große Auf¬
gabe des Geschichtschreibers, denn vielleicht noch niemals hat sich Schiller's
Wort so bewährt, wie bei diesem Manne: „Es wächst der Mensch mit sei¬
nen größern Zwecken". Aus dem märkischen Junker ist jetzt wirklich nicht
ein preußischer, sondern ein deutscher Staatsmann geworden. Mehr und
mehr überwindet er die alten aristokratischen Vorurtheile und formt sich zu
dem schöpferischen Staatslenker, der auf der Höhe der modernen Zeit steht.
Wie stellt sich nun zu dieser Wandelung eines bedeutenden Mannes sein
Biograph? Er bemüht sich, zu zeigen, daß Bismarck eigentlich immer noch
der märkische Junker ist. Zahlreiche Stellen wären hier anzuführen. Man
vergleiche S. 123. „Die letzte Grundlage, auf welcher Bismarck's politisches
Wirken beruht, ist seine persönliche Stellung als altmärkischer Vasall und
Edelmann zu seinem Lehnsherrn, dem Markgrafen von Brandenburg, dem
Könige von Preußen." Die darauf folgende Einschränkung macht die Sache
nicht anders. — Und S. 124: Und nun betrachte man von diesem Stand-
Punkte aus das ganze politische Leben Bismarcks . . . überall wird man den
loyalen brandenburgischen Edelmann finden . . Wir haben auf solche
Thorheit keine Entgegnung. Wir schätzen den Grafen Bismarck x>g,s paroeque,
wAis quoique! Aber es will uns fast scheinen. Herr Hesekiel habe mehr für
den märkischen Adel, als für das deutsche Volk geschrieben. Denn der Ver¬
sasser hat für den Adel eine ungemessene Vorliebe, schwärmt für alte Schlösser.
Wappen und Stammbäume, erzählt mit Behagen alte Geschlechts- und Erb¬
schaftsgeschichten. Er ereifert sich sich S. 31 sehr über Riedel. der die Mei¬
nung aufgestellt hat. die Vorfahren Bismarcks wären wohl eigentlich, da sie
der Gilde der Gewandschneider in Stendal angehört hätten , bürgerlichen
Standes gewesen; er nennt das Bestreben. Bismarck für den Bürgerstand
zu erobern, pueril und macht den unglücklichen Vergleich S. 32: Darum,
weil Blücher von der Schneidergilde in London zum Mitgliede aufgenommen
worden sei, könne man eben doch nicht den Geburtsadel absprechen! Er wird
es wohl auch „pueril" nennen, wenn seine Leser ihre Freude aussprechen,
daß Bismarck's Mutter eine Bürgerliche war. — Auch den Adel früherer Zeit
in seinem mannhaften Trotze gegen die Uebergriffe des Landesherrn faßt
Hesekiel in beschränkter Weise auf, vom Standpunkte des heutigen Hofadels;
auch darum ist seine Geschichte der alten Bismarcke gänzlich kritik- und
werthlos. Die lange Abhandlung über das Bismarck'sche Wappen paßt
schwerlich in ein Volksbuch, so wie es durchaus nicht interessant ist. zu er¬
fahren, wie die pommerschen Güter in den Besitz der Familie gekommen sind.
Der politische Standpunkt des Verfassers ist also noch ganz der der
alten Kreuzzeitungspartei. Er macht allerdings hier und da. der Wandelung
seines Helden wegen, einige kleine Concessionen; aber er spricht doch mit
einer gewissen Andacht von dem „idealen Konservatismus Gerlach's", greift
(im Jahre 1869!) noch nachträglich die Opposition des Vereinigten Landtags
an. während es doch jetzt einem Blinden sonnenklar ist. daß, wenn man da¬
mals der Opposition gefolgt wäre, man wahrscheinlich die Revolution ver¬
mieden hätte. Zuweilen scheint es kaum glaublich, daß in unseren Tagen
noch dergleichen Unsinn gesagt wird; man vergleiche S. 129 u, folg. —
Herr Hesekiel spricht von dem edlen Patriotismus, der Manteuffel den schwe¬
ren Gang nach Ollmütz thun ließ (S. 170 eines Buches, das zum Preise
des Grafen Bismarck geschrieben ist!). Es ist nicht nur lustig, es ist auch
tief widerwärtig, durch den begünstigten Biographen des Grafen unablässig
daran erinnert zu werden, daß er der Partei des seligen Stahl angehört,
einer Partei, die bekanntlich Preußen nicht groß gemacht hat.
Er theilt auch einige Reden Bismarck's mit. die sehr interessant sind,
um den weiten Weg zu überschauen, den Bismarck zurücklegen mußte, ehe er
zu seinem jetzigen Standpunkte gelangte, die ihn aber bei der großen Zahl
der Leser, für die das Buch geschrieben ist, schwerlich populär machen wer¬
den. Man könnte bei manchen Anführungen von Bismarck's Worten aus
früherer Zeit fast glauben, ein Feind habe das Buch verfaßt, so schneidend
Widersprechen sie den liberalen und nationalen Bestrebungen der Gegenwart,
zu denen sich Graf Bismarck heute selbst bekennt. Man vergleiche S. 165,
171 u. a.
Das Einzige in dem Buch, was man loben kann, das aber nicht von
Herrn Hesekiel herrührt, um dessen willen allein es sich lohnt, das Werk zu
lesen; das sind die mitgetheilten zahlreichen Briefe Bismarcks. Mit Ausnahme
weniger, so viel uns bekannt schon früher gedruckter, sind fast alle Familien¬
briefe. Es wird selten vorkommen, daß schon bei Lebzeiten eines Mannes,
der noch an der Spitze eines großen Staates steht, dergleichen vertrauliche
Herzensergüsse veröffentlicht werden. Die Freunde und Verehrer des Grafen
Bismarck empfinden, daß dies ganz seinem offenen Charakter entspreche,
der gestattete, daß das mit seinem Wissen und Willen geschah; seine Gegner
werden nicht loben, daß er solche zweckvolle Redaction privater Correspon-
denz vornahm oder gar Herrn Hesekiel gestattete. Wir freuen uns aufrichtig
an vielem menschlich Ansprechenden, das darin geboten wird. Im Allgemeinen
ist nicht zu verschweigen, daß vielleicht auch hier eine strengere Auswahl zu
wünschen gewesen wäre; manche der abgedruckten Zettel sind doch zu unbe¬
deutend, auch wenn sie vom Grafen Bismarck herrühren. Aber die meisten
Briefe sind werthvoll, und ganz geeignet, einen Blick in das Innere dieses
merkwürdigen Mannes zu thun. Man findet die geistvolle Sprache, die be¬
zeichnenden Bilder wieder, die ihm auch in seinen Reden zu Gebote stehen;
man findet aber auch ein reiches Gemüthsleben, das Viele nicht in dem
trotzigen Kämpfer gesucht hätten.
Insbesondere hat Bismarck ein außerordentlich lebhaftes Naturgefühl;
seine Briefe enthalten eine ganze Reihe von Schilderungen aus Nord und
Süd, die ungemein anschaulich sind. Wir können hier keine Proben geben;
man muß die Briefe selbst lesen. Er sagt selbst von sich, er sei ein Natur¬
schwärmer; er liebe das Meer wie eine Geliebte u. s. w.; aber es ist mehr
als das; er hat ein feines landschaftliches Gefühl, und gibt uns eine Anzahl
höchst charakteristischer Bilder von fesselnden Reiz, die warm empfunden, auch
einen poetischen Eindruck machen. Wir übertreiben nicht. Man lese nur die
Briefe aus Ofen, aus der ungarischen Steppe, aus Rotterdam, aus der
nordischen Gevirgswildniß, aus Peterhof; ferner aus Frankreich, Schloß
Chambord, S. Sebastian, Pyrenäen u. a.
Durch alle Briefe zieht sich ein Hang zum Landleben, und ein aus¬
geprägtes Familiengefühl. Auf seinen Kreuz- und Querfahrten sehnt sich
der Schreiber gleich Odysseus nach Weib und Kind und nach dem stillen
Schönhausen. — Sehr schön ist der Trostbries an seinen Schwager S. 241;
die religiöse Saite wird überhaupt öfters angeschlagen. Eine sehr merkwür¬
dige Stelle findet sich in dem Briefe aus Frankfurt v. 3. Juli 1851, S. 261,
die wir doch hier wiedergeben wollen. Bismarck war damals 33 Jahre alt,
und schreibt von seiner „21jährigen Jugend": „Wie hat meine Weltan¬
schauung doch in den 14 Jahren seitdem so viele Verwandlungen durch¬
gemacht, von denen ich immer die gerade gegenwärtige für die rechte Ge¬
staltung hielt, und wie vieles ist mir jetzt klein, was damals groß erschien,
wie vieles jetzt ehrwürdig, was ich damals verspottete! Wie manches Laub
mag noch an unserm innern Menschen ausgrünen, schatten, rauschen und
werthlos welken, bis wieder 14 Jahre vorüber sind, bis 1865, wenn wirs
erleben."
In die Briefe aus der Petersburger Zeit fallen bisweilen dunkele Streif¬
lichter einer düsteren Weltanschauung. Körperliches Mißbefinden, sowie der
Kampf und Streit des Lebens scheinen den bisher so frischen Muth des
starken Mannes getrübt zu haben. —
Doch enden wir diese über Gebühr ausgedehnte Besprechung. Die mit¬
getheilten Briefe sind in ihrer Mehrzahl nicht nur eine werthvolle Zugabe,
sie sind der eigentliche Kern und Inhalt und, wohl auch der Zweck des
Buches. Sie sollen uns in den Stand setzen, noch bei Lebzeiten des Mannes,
in dessen Hände die Geschichte unseres Vaterlandes gelegt sind, menschlich
mit ihm zu empfinden, uns an seinen Herd zu setzen, in die weite Welt mit
ihm zu streifen. Hoffnungen und Befürchtungen mit ihm zu theilen.
Immerhin ist es schwer begreiflich, daß Graf Bismarck dies werthvolle
Material in solche Hände legen konnte. Denn zum Schluß müssen wir es
noch einmal sagen: Es ergreift uns in Wahrheit ein patriotischer Zorn,
wenn wir den deutschen Staatsmann in dieser Weise mißhandelt sehen. Be¬
schränkter Parteistandpunkt hat sein Bild getrübt; das Ganze ist ein faber
belletristischer Flitterkram; darunter glänzen die Briefe wie echte Perlen. —
Nur über Eines sind wir sicher. Es werden dereinst Andere kommen, die
von dem Starken auch ein großes Bild entwerfen.
Während im Norden Deutschlands die öffentliche Aufmerksamkeit durch
die Verhandlungen des Reichstages in Anspruch genommen wird, ist man
im Süden vorzugsweise mit den MißHelligkeiten beschäftigt, welche neuer¬
dings in die Beziehungen der katholischen Kirche zu den Staatsregierungen
von Bayern und Württemberg eine bemerkenswerthe Spannung gebracht
haben, Baden aber schon seit Jahren zum Schauplatze eines erbitterten
Kampfes machen. Dank der nahezu zwanzigjährigen Dauer dieses Streites
hat man sich hier in den Kriegszustand so eingelebt, daß eine plötzliche fried>
liebe Beilegung auf beiden Seiten, wie das Aufhören einer liebgewordenen,
wenn auch beschwerlichen Thätigkeit das Gefühl einer empfindlichen Lücke
und Leere hervorrufen würde. Eine der zahlreichen Episoden des langen
Streites, die auch außerhalb Badens Aufmerksamkeit erregte, hat so eben
ihren Abschluß gefunden, indem die gegen Bisthumsverweser Kübel wegen
Amtsmißbrauchs erhobene Anklage, nachdem sie das Kreisgericht Freiburg
bereits zur mündlichen Verhandlung verwiesen hatte, durch das Oberhof¬
gericht in Mannheim als unbegründet verworfen wurde. Bekanntlich hatte
Bürgermeister Stromeyer in Constanz durch seine mit Erfolg gekrönten Be¬
mühungen, die Verwaltung der reichen Spitalstiftung der Gemeindebehörde
wieder zu verschaffen und eine gemischte Schule für beide christliche Confessio-
nen einzuführen, den Unwillen des Ordinariats in Freiburg in so hohem
Maße erregt, daß er nach vergeblichen Mahnungen, denen er jedes Gehör
versagte, durch Verhängung der Excommunication von den kirchlichen Ge¬
meinschaftsrechten ausgeschlossen wurde, „bis er in sich gehen und seine kirch¬
lichen Pflichten erfüllen werde." Eine solche Anwendung der kirchlichen Straf¬
gewalt scheint das Ministerium Lamey, als im Jahre 1860 nach glücklicher
Beseitigung des Concordates der Grundsatz der Selbständigkeit der katho¬
lischen Kirche gegenüber dem Staat gesetzlich festgestellt wurde, für besonders
staatsgefährlich erachtet zu haben und in den damals gegen jeden Mißbrauch
des geistlichen Amtes erlassenen Strafgesetzen wurde der Versuch durch An¬
drohung oder Vollzug kirchlicher Strafen eine obrigkeitliche Person zu Amts¬
handlungen zu nöthigen oder von solchen abzuhalten, mit strenger Strafe be¬
droht. Man mag vielleicht in Zweifel ziehen, ob ein derartiges Geltend¬
machen der kirchlichen Disciplin mit Recht als Widersetzlichkeit und Aufleh¬
nung gegen die Staatsregierung strafrechtlich zu ahnden sei, und ob es nicht
genügend und wirksamer wäre, wenn der Bekanntmachung einer gegen öffent¬
liche Diener mit Bezug auf ihren Dienst verhängten Kirchenstrafe mit be¬
trächtlichen polizeilichen Geldbußen begegnet würde, jedenfalls war nach dem
Vorgehen des Ordinariats, welches eine offene Verletzung jenes Strafgesetzes
zu enthalten schien, für die Staatsregierung unerläßlich, die Entscheidung
über die Strafbarkeit den Gerichten zu unterbreiten. Die Märtyrerkrone ist
nun freilich Herrn Kübel durch eigenes Verschulden entgangen, denn er be¬
theuerte, er habe nicht den Bürgermeister wegen dessen amtlicher Thätigkett,
vielmehr nur den Katholiken Stromeyer wegen Mißachtung der oberhirt-
licher Ermahnungen zur Verantwortung ziehen wollen, und das nur zur
Prüfung der Rechtsfrage berufene Oberhofgericht hat dann in der von vielen
Seiten als unzulässig bezeichneten Herbeiziehung der Beweisfrage das Mittel
gefunden, die weitere Verhandlung der Anklage abzuschneiden. Natürlich
hat im clericalen Lager diese Entscheidung großen Jubel erregt, wenn man
daselbst auch an dem günstigen Ausgang des Processes nie gezweifelt, und
im Voraus den höchsten Gerichtshof als den Felsen bezeichnet hatte, an dem
auch diese Anklage, wie im Laufe von zwei Jahren acht andere von der
Regierung eingeleitete Processe, scheitern werde. Die in diesen Processen
unter der Leitung des Oberhofrichters von Marschall, der plötzlich aus der
Mitte des weiland Bundestages an die Spitze des höchsten Gerichtshofes
berufen wurde, gefällten Urtheile konnten allerdings zu den kühnsten Hoff¬
nungen berechtigen, denn sit hatten u. A. festgestellt, daß die Regierung,
wenn sie auch das Recht habe ein angeblich unkatholisches Lesebuch in allen
Volksschulen des Landes einzuführen, doch nicht befugt sei, eine locale Schul¬
behörde zu der Einführung zu ermächtigen, sie hatten der katholischen Kirche
einen „privat-rechtlichen" Anspruch auf die Aufsicht über die Verwaltung
aller kirchlichen Stiftungen zugesprochen, andererseits in dem der zweiten
Kammer gemachten Vorwurf, durch Bewilligung erhöhter Steuern das Volk
in Wahrheit „vertreten" zu haben, nur eine injurig. Isvis, aber keine grobe
Schmähung erblickt, und die gegen die Regierung erhobene Beschuldigung
einer Gewaltthätigkeit benigng, indol-pretg-livre dahin ausgelegt, daß damit
wohl nur die Anwendung der Regierungsgewalt gemeint gewesen.
Diese freundlichen Sympathien zwischen Freiburg und Mannheim hatten
sich auch jetzt wieder so wirksam erwiesen, daß schon sechs Tage vor Eröff¬
nung des Erkenntnisses Herr Kübel Gratulationen wegen der glücklichen Er¬
ledigung der Anklage entgegen nehmen konnte. So fest begründet das An¬
sehen des Gerichtshofes hiernach bet der ultramontanen Partei sein mag,
so sind die Ansichten über seine Thätigkeit auf der entgegengesetzten Seite
um so unfreundlicher, zumal die Sorge für eine ungehemmte Wirksamkeit
der Presse gegen Angeklagte aus der demokratischen und liberalen Partei
sich keineswegs zu erkennen gab.
Die Abweisung der Anklage wird unter diesen Verhältnissen dem An¬
sehen der Regierung keinen erheblichen Abbruch thun, sie wird aber immer¬
hin der Agitation der ultramontanen Partei Vorschub leisten, da diese die
Straflosigkeit aller Ausschreitungen für gesichert ansieht und jede zurückge¬
wiesene Anklage als eine Bekräftigung der Beschuldigungen verwerthet, welche
sie gegen die Willkür und Parteilichkeit der Regierung täglich erhebt. Diese
Umtriebe finden aber — und darüber vermag sich Niemand mehr zu täu¬
schen — ein geneigtes Ohr in den weitesten Kreisen der Landbevölkerung,
unter welcher die Erhöhung der Steuern, die durch die Vermehrung des Armee¬
corps, die Besserstellung der Volksschullehrer und eine nicht sehr geschickt
ausgeführte Abwälzung des Aufwandes für den Straßenbau auf die Ge-
meinte- und Kreiscassen nothwendig wurde, einige Verstimmung hervor¬
gerufen hat.
Diese Verstimmung möchte nun auch die großdeutsche Demokratie aus¬
beuten, um sich den verlorenen Einfluß wieder zu, erobern, und der Bund
der Ultramontanen mit diesen Herren ist dieser Tage unter Assistenz des
früheren Ministers von Edelsheim, dessen Thätigkeit in erster Reihe Baden
verdankt, daß es 1866 als Bundesgenosse Oestreichs in die allgemeine Nieder-
lage verwickelt wurde, zum förmlichen Abschluß gelangt. In jener Ver¬
stimmung ist aber auch die eigentliche Ursache des Zwiespaltes zu suchen, der
durch die bekannten Offenburger Vorgänge plötzlich innerhalb der national¬
liberalen Partei entstanden und nur nothdürftig beigelegt ist. Das Schwinden
der Popularität, welches bei den Zollparlamentswahlen einen so überraschen¬
den Ausdruck fand, mußte die Führer der liberalen Kammermehrheit zudem
Versuche drängen, eine lebhaftere Fühlung mit der Bevölkerung zu gewinnen,
leider hat man aber dieses wünschenswerthe Ziel nicht durch eine lebhafte
Agitation im nationalen Sinne, durch eine Aufklärung des Volkes über die
großen Aufgaben, welche Regierung und Stände verfolgt hatten, sondern
durch die überraschende Behauptung zu erreichen gesucht, die Regierung sei
im Grunde gar nicht liberal, sondern ein verkappter Bundesgenosse der
Herren von Eulenburg und Muster, und nur die Führer der Kammer seien
ebenso bereit wie befähigt, die durch den Anschluß an Norddeutschland den
badtschen Freiheiten drohende Schmälerung abzuwenden. Die Bevölkerung
hatte aber weit weniger einen Drang nach größeren Freiheiten als eine Ab¬
neigung gegen die größeren Steuerzettel empfunden und man wird sich in
Offenburg sehr bald überzeugt haben, daß auf dem eingeschlagenen Wege
ungeachtet der gelegentlichen Ausfälle,'gegen das preußische Junkerthum die
ersehnte Popularität den erwünschten Aufschwung nicht nehmen wollte. Was
liegt näher, als daß man schließlich dem wirklichen Verlangen der Massen
entgegenkommt, und mit einstimmt in den Ruf nach Ermäßigung der Steuer¬
last und Reduction der militatrischen Leistungen auf den bescheidenen Ma߬
stab unserer süddeutschen Nachbaren. Zweijährige Präsenzzeit! hat hierfür
nicht die ganze liberale Partei in Preußen lange Jahre gekämpft und ist es
nicht verlockend mit Hülfe der stenographischen Kammerberichte diesen Kampf
zunächst einmal in Baden aufzunehmen und schon den nächsten Winter dem
norddeutschen Reichstage mit rühmlichem Beispiel voranzugehen? Die Ver¬
suchung ist groß, ich fürchte zu groß. Gibt aber die liberale Partei das erst
vor zwei Jahren geschaffene We>k, die an die norddeutsche Heeresverfassung
sich anschließende Organisation unserer Division auf, so werden sich Demo¬
kraten. Ultramontane, Großdeutsche, Conservative, Particularisten jeder
Schattirung so eifrig anschließen, daß die Stellung des jetzigen Ministeriums,
das zwar zu allen thunltchen Ersparnissen beredt zu sein scheint, eine Aende¬
rung der Militairorganisation aber niemals zugeben kann, eine äußerst
schwierige werden wird. Dann dürfte aber auch die Gefahr nahe treten,
daß das Ruder der Regierung der unsichern und schwankenden Hand der
Liberalen, deren nationale Begeisterung so rasch erschöpft zu sein scheint,
entgleiten, und mit Hülfe von Persönlichkeiten, die den bisherigen Partei¬
kämpfen ferner stehen, ein neuer Versuch gemacht werde, ob auf dem Boden
der bestehenden Gesetzgebung eine Beschwichtigung der Gemüther und die
Aufrechthaltung der nationalen Verbindung mit den Norden in dem bisher
gewonnenen Umfange zu erreichen ist.
Obgleich mit Recht längst vergessen, hatten doch in der Zeit vor 1830
und noch einige Jahre nachher der sogenannte Dresdner Liederkreis und
das Organ desselben, die „Abendzeitung", eine jetzt kaum begreifliche
Bedeutung in Dresden selbst und in einem großen Theile Deutschlands.
Zwar hat von jeher in Dresden, dem Wallfahrtsort so vieler Fremder, die
eine behagliche und mäßige Zerstreuung suchen, die Mittelmäßigkeit sich brei¬
ter gemacht als irgendwo, aber niemals ist sie zu solchem Ansehen und Ein¬
fluß gekommen, wie damals hier in der schönen Literatur.
Schon vor der Besetzung Sachsens durch die Franzosen hatten Fr. Laun
und Theodor Hell ein ästhetisches Kränzchen gegründet. Aber erst nach Be¬
endigung des Kriegs kam es zu Kräften, wucherte in der nächsten Zeit üppig
während der schlaffen Reactionsperiode und blühte noch nach dem Jahre 1830
einige Zeit fort, bis das neue Leben allmälig auch die Dresdener Luft so
afficirte, daß jener Verein zu kränkeln begann und abstarb. Es war aller¬
dings ursprünglich eine ganz harmlose Beschäftigung, diese Thätigkeit für
Poesie und ästhetische Unterhaltung durch Dilettanten, die im bürgerlichen
Leben ganz achtbar waren. Da sie sich aber in gegenseitiger Lobhudelei
bald für bedeutende Dichter und Aesthetiker hielten, da sie mit ihrer oft sehr
geschmacklosen Toleranz auch in größeren Kreisen erschlaffend und verwirrend
wirkten und dem auftauchenden Besseren in der Heimath wie auswärts Jahre
lang mit Erfolg entgegenarbeiteten, so hat die Literaturgeschichte mit vollem
Rechte ein strenges Urtheil über ihr Treiben gefällt. Der eigentliche Her-
bergsvater der damaligen Dresdener Literaten war Theodor Hell, der
Hofrath Winkler, ein bei der Dresdener Bühne und in der Kunstakademie
beschäftigter, umsichtiger und coulanter Beamter vom besten Rufe, von großer
uneigennütziger Gefälligkeit, ausgezeichneter Arbeitskraft und geselliger Lie¬
benswürdigkeit, der Heber und Leger beim Liederkreise wie bet der „Abend¬
zeitung". Nur war er trotz seiner vielen formgewandten Verse ernsten und
heiteren Inhalts kein Dichter und ohne Kraft und Energie, so daß er in
der Literatur nur für das Neue empfänglich blieb, was nicht über das
Niveau der alltäglichen Trivialität hervorragte, und trotz seiner Stil¬
gewandtheit dem Geschmacklosesten leichtfertig zugänglich wurde. Neben
ihm wirkten in dem Liederkreise außer dem Mitgründer der „Abendzeitung"
Fr. Kind, der aber theilweise seine eigenen Wege ging, als ernste lyrische
Dichter Arthur von Nordstern (Minister Nostiz und Jänkendorf). der viel
beschäftigte Rechtsanwalt Fr. Kühn. Prof. K. Förster. Legationsrath Breuer,
der Advocat und spätere Censor Ed. Gehe, der sich sogar bis zum Drama
verstieg, der Archäolog Böttiger u. a. in. Daneben auch einige Frauen¬
zimmer, ehrbare Hausfrauen, wohl meist als passive Theilnehmerinnen. Die
genannten Dichter sind als solche sämmtlich vergessen. Neben dem feinsinni¬
gen Förster, dem Uebersetzer des Petrarca, hatte jedenfalls der vielseitig ge¬
bildete Breuer, ein junger Staatsbeamter von weitem, feinem Blick, relativ
die meiste Begabung; seine Poesien wurden nach seinem frühzeitigen Tode
nur als Manuscript für Freunde gedruckt. Das größte Original in diesem
Kreise war Hofrath Böttiger, der wohlgenährte, meist mit geschlossenen
Augen schmunzelnde, lobselige, doch nicht uneigennützige Protector guter und
schlechter Literaten und Künstler, welcher leider sein bedeutendes Talent und
seine noch viel bedeutendere Gelehrsamkeit in allerlei, manchmal recht anmuthigen,
Nippes durch Wort und Schrift so verzettelte, daß den jetzigen Archäologen
auch in seinen wissenschaftlichen Productionen neben dem aufgespeicherten
Material nur noch Einzelnes als brauchbar erscheint. Aber auch Verse machte
er. besonders lateinische Gelegenheitsgedichte mit metrischer Uebersetzung, oft
von seltsamer Naivetät, wie er denn ein sittsames Mädchen, die Tochter
eines befreundeten Staatsbeamten, welche die Kind>>r einer Verwandten ge¬
pflegt hatte, in dem öffentlich gedruckten Hochzeitsgedichte ohne weitere Auf¬
klärung mit den Worten pries: „Du weißt, was Kinder sind."
Das Hauptorgan dieses literarischen Vereins war die erwähnte „Abend¬
zeitung", die „Vespertina", wie sie von den Betheiligten öfters mit großem
Selbstgefühl genannt wurde, von der jeden Wochentag ein Quartbogen er¬
schien. Auch hier fällt der Anfang unter Anregung Fr. Laun's. der nachher
bald Dresden verließ, in das Jahr 1803. doch die Kriegsunruhen vernichte¬
ten schon im zweiten Jahre dieses Unternehmen des jungen strebsamen Buch-
Händlers Arnold, dessen Firma über der bedeutendsten Dresdener Sortiments¬
handlung noch jetzt besteht. Nach dem Kriege 1817 tauchte diese Zeitschrift
zunächst unter Fr. Kind's und Theodor Hell's Leitung wieder auf. wurde
allmälig durch die Industrie Hell's und Arnold's eines der bekanntesten
ästhetischen Blätter und hielt sich, obgleich nach den dreißiger Jahren immer
mehr zurückgehend, nachdem sie Hell noch rechtzeitig 1843 unter sehr günsti¬
gen Bedingungen verkauft hatte, nur noch ein paar Jahre über 1848").
Das verhältnißmäßig Beste, was das Blatt bot, waren die Erzählungen von
van der Velde. G.Schilling. Weißflog. Tromlitz (Oberst v. Witzleben), diese
verschafften ihm in der guten Zeit seine meisten Abonnenten. Fast alles
Andere, was die Zeitschrift enthielt, war sehr mittelmäßig, trivial und ge¬
schmacklos. Neben den Gedichten der Liederkreisler findet man z. B. in den
Jahrgängen 1823 ff. die ernste Poesie vorzugsweise von Ad. v. Hohlfeld und
dem Pastor Trautschold mit religiös-moralischen Liedern, von Fanny Tarnow,
Dr. Nürnberger, das komische Genre von dem um die sächsische Vaterlands¬
kunde sonst verdienten Richard Roos (Engelhardt), von Castelli, dem Han¬
noveraner Harrys u. A. meist fade und spießbürgerlich vertreten. Als Bei¬
spiel, was aus diesem Gebiete möglich war, mag hier der Anfang des
Gedichtes eines sächsischen Patrioten stehen, der seine Rückreise aus Schlesien
in die Heimath beschreibt:
„Sei mir freundlich gegrüßt, du herrliches, freundliches Dresden,
O wie wird mir so wohl, wenn ich bei Reichenbach les' den
Ersten ^uZustug Kex siebzehnhundert und fünfundzwanzig.
Schnell aus dem Wagen heraus, dann sing' ich. dann spring' ich, ^>ann tanz' ich,
Dann umhals' ich den Mann der weiß und grünen Barriere" :c.
wobei man sich erinnern mag. daß Klopstock bereits 1748 in Hexametern ge¬
dichtet hatte. — Außerdem lieferte Vespertina Anekdoten, Aphorismen und
Räthsel, z. B. „der Verleumder ist ein Dieb, der Schwätzer ein Sieb", „die
wohlfeilsten Verwandten sind die nienen" :c., serner flache Theaterberichte
über die Dresdner Bühne von Hell und Böttiger, welche letztere mit gleicher
breiter lobetrunkener Behaglichkeit und gleicher antiquarischer Gelehrsamkeit
bald über Goethe's Iphigenie, Staberls Hochzeit und die damals beliebten
französischen Verbrecherdramen, bald über Kunstreiter, Seiltänzer und Jongleurs
schwatzte; dann brachte das Blatt viele inhaltslose Correspondenzen, Ueber¬
setzungen aus fremder Literatur, farblose Literaturberichte u. s. w., endlich
Kunstbesprechungen, wieder fast durchweg von dem noch in einer Menge an-
Hell und Kindlich ertönt das Geklapper auf ledige Fässer.
Und der Böttiger lobt, was der Geselle geschafft.
derer Zeitschriften und Almanachs vom verschiedensten Genre thätigen Bötti¬
ger, welche wenigstens das Verdienst hatten, das Interesse für Kunstwerke
unter dem Publicum anzuregen, das ohne eigene Anstrengung von der Kunst
unterhalten werden will. Das Bedeutendste, was in dieser Zeit die „Abend-
Zeitung" enthielt, waren die geistreichen dramaturgischen Aufsätze von Tieck
in den Jahrgängen 1823 und 1824, wohl die einzigen Spenden der Zeit¬
schrift, welche jetzt noch nicht antiquirt sind. Es nahm sich ganz seltsam aus
und charakterisirte die Harmlosigkeit der Redaction, daß in derselben Zeit¬
schrift, in welcher Clauren, der Verfasser der Mimili und anderer höchst fri¬
voler Erzählungen, fortwährend — nach seinem Tode in einem durch vier
Nummern sich hinziehenden Nekrologe — Weihrauch gestreut erhielt. Tieck eine
vernichtende Kritik der Claurenschen Dramen veröffentlichen durfte, in welcher
er sagte, ebenso wie das Drama allmälig von Sophokles zu Jffland herunter¬
gekommen, in demselben Verhältniß sei es in kürzerer Zeit von Jffland auf
Clauren herabgesunken. War nun auch der größtentheils triviale Inhalt der
»Abendzeitung" das Product einer Periode stagnirender Volkskraft, so boten doch
ähnliche Unternehmungen derselben Zeit andere Produktionen, z. B. „die elegante
Zeitung in Leipzig", „der Freimüthige" und „der Gesellschafter in Berlin",
vor Allem das „Morgenblatt in Stuttgart". In letzterem findet man z. B.
Poetische Spenden von Matthisson. Uhland, G. Schwab, Wilh. Müller. Sim-
rock. Mich. Beer. Just. Kerner, Wilh. Hauff, Börne, Heine und Wolfgang
Menzels Kritiken seit 1825 — kurz viele Namen, die in der Literatur¬
geschichte noch jetzt einen guten Klang haben. —
Ein zweiter ästhetischer. Kreis, welcher zu derselben Zeit in Dresden
Einfluß hatte, war von anderer Art, der Kreis der Verehrer Tiedge's, wel¬
chen die Gräfin Elise von der Recke in ihr Haus aufgenommen hatte und
verhätschelte. Hier war kein Zusammenwirken einander ebenbürtiger Literatur-
sreunde, sondern nur Bewunderung des lichtspendenden Hauptes von Seiten
Derer, welche sich von ihm erleuchten und erwärmen lassen wollten. Aller¬
dings war Tiedge von größerer Bedeutung, als die vorgenannten Dichter,
theils durch seine entschiedene Lebensauffassung, theils durch sein Formtalent.
Auch ist es begreiflich, daß sein ehrlicher und dabei sentimentaler Rationa¬
lismus manchen Stimmungen jener Zeit zusagte, daß namentlich „Edelfrauen
und edle Frauen" in seiner Urania auf eine bequeme und anziehende Weise
ihrer Unsterblichkeit gewiß werden wollten. Dennoch hat Goethe mit seinem
strengen Urtheil über ihn (Eckermann's Gespräche mit Goethe I., S. 120 ff.)
Recht behalten, und abgesehen von der Urania, die noch lange ihr sym¬
pathisches Publicum haben wird, war er wenigstens in seinen älteren Tagen
Persönlich so langweilig und so wenig liebenswürdig, daß die damalige Be¬
liebtheit der Tiedge'schen Gesellschaftsabende in Dresden als ein seltsames
Phänomen betrachtet werden muß. Die sich stets bescheiden unterordnende
Gräfin war immer anmuthig und entgegenkommend, der verwöhnte Schütz¬
ling oft trivial, anspruchsvoll und in seinen Stimmungen unduldsam. Res.
erinnert sich noch eines Abends, wo Tiedge aus populair - philosophischen
Betrachtungen seines Leibphilosophen Krug, welcher damals die Leipziger
Musensöhne langweilte, nicht nur das platteste Zeug vorlas, sondern auch
die kurzen Pausen mit Erläuterungen der sehr klaren Entwickelung seines
Meisters und mit Ausrufen der Bewunderung ausfüllte, z. B. bei Be¬
trachtung des Seeadlers, der die Schildkröte, welche er in die Luft geführt
und verspeisen will, aus großer Höhe herabfallen läßt. Und wie strengten
sich die Zuhörer, namentlich die Frauen und Fräulein, an, dem dabei herum¬
schauenden Vorleser ihre begeisterte Zustimmung kund zu geben. Und wie
fuhr er gereizt alle Discussion abschneidend durch, als ein Fremder, durch
die Gräfin aufgefordert von den schönen Stunden zu sprechen, die er
kurz vorher vor dem Katheder des philosophischen Meisters durchlebt habe,
in aller Bescheidenheit und mit aller Anerkennung dessen, was er von Krug
gelernt, auf andere philosophische Richtungen jener Zeit hindeutete. — Aus
diesem Kreise entwickelte sich in Dresden ein förmlicher Tiedgeeultus. dem
— und wer wollte dies nicht dem Andenken des Dichters gönnen — beson¬
ders durch die aufopfernde Thätigkeit des Major Serre eine Stiftung ihr
Dasein verdankt, welche seit längerer Zeit ausgezeichneten Künstlern Ehren¬
gaben und ihren Hinterlassenen Unterstützungen in reicher Fülle zu Theil
werden läßt. Uebrigens braucht wohl kaum erwähnt zu werden, daß die
Verehrer der beiden Richtungen, welche in mancher Beziehung von gleicher
Stimmung waren, mit einander in Frieden lebten.
Nun lebte aber zu derselben Zeit in Dresden — man kann dies sagen,
ohne für die romantische Schule zu schwärmen — ein Dichter von Gottes
Gnaden, der diesen Kreisen fern blieb, Ludwig Tieck. Zwar hatte er,
nachdem schon 1821 auf seinen Betrieb der Prinz von Homburg mit günsti¬
gem Erfolge auf der Dresdner Bühne versucht worden war, 1823 und 1824
Kritiken der Dresdener Bühnendarstellungen dem Redacteur der „Abend¬
zeitung" überlassen. Aber eine solche Gemeinschaft konnte nicht von langer
Dauer sein*). Tieck wurde von dem verdienstvollen Intendanten v. Lüttichau
1825 als Dramaturg an der Dresdner Bühne angestellt, welche sich während
seiner Theilnahme zu einer Blüthe entwickelte, deren sie sich auch nach
Tieck's Rücktritt noch unter Gutzkow's und Ed. Devrient's Einwirkung er¬
freute. Bald bildete sich um Tieck ein besonderer Kreis von Verehrern und
sein Salon wurde durch seine musterhaften Vorlesungen berühmt. Hier konnte
Einem wohl werden, denn abgesehen von der merkwürdigen Persönlichkeit
des Dichters mit den wunderbaren Augen, welche Niemand vergessen wird,
der in dieselben hineingeblickt hat, lauschte man gern den herrlichen Vorträgen
und es herrschte hier im Widerspruch mit den von Tieck's Gegnern aufgespreng¬
ten Gerüchten ein ungezwungener Ton anmuthiger und geistvoller Unterhal¬
tung. Je mehr Tieck's Einfluß und Bedeutung wuchs, desto verstimmter
und verbitterter wurde sein Verhältniß zu der immer ohnmächtiger wer¬
denden literarischen Coterie, welche früher Alles bestimmt und beherrscht
hatte. Auf beiden Seiten mochte, namentlich von den Anhängern mit Kritik
und Klatscherei harmlos und böswillig gesündigt worden sein. Da ließ sich
Tieck, vielfach gereizt, 1835 zur Veröffentlichung einer Märchennovelle, „die
Vogelscheuche", hinreißen, in der er das ganze Treiben des Liederkreises per-
stfflirte. Hell wurde darin arg mißhandelt; der Legationsrath Ledebrinna
war eine chargirte Caricatur, welche ihn bei denen, die ihn nicht kannten,
in ein falsches Licht stellen mußte. Der Hofrath Böttiger aber war als Ma¬
gister Ubique mit köstlichem Humor nach dem Leben gezeichnet. Man be¬
trachte nur die demselben in den Mund gelegten Worte, mit denen er sich
gegen eine Dame wegen übertriebenen Lobes rechtfertigt, welches dieselbe für
boshafte Ironie zu nehmen geneigt war: „Mein Fräulein, verdammen Sie
mich nicht, wenn Sie mich auch tadeln. Oft. da man mich überall um mein
Urtheil fragt, bin ich in großer Verlegenheit, und wenn ich mich nicht jener
Vielseitigkeit beflissen hätte, durch welche man allen Dingen eine gewisse
Seite abgewinnen lernt, die man zur Noth loben kann, so wüßte ich mir
gar nicht zu helfen. Nun klingt mein Lob oft für den Kenner ironisch,
wenn ich es auch ursprünglich nicht so gemeint habe, theils durch eine ge¬
wisse Uebertreibung, in die ich leicht verfalle, theils weil ich leider die Gabe
besitze, daß mir jetzt etwas tadelnswerth und im nächsten Momente preis¬
würdig erscheint. So bin ich denn Satyrikus und doch ehrlich, ein Schalk,
ohne mein Gewissen zu verletzen, und ein enthusiastischer Lobredner, ohne mir
viel dabei zu denken" —', hier hat man ein treues Bild der Eigenthümlich¬
keit dieses originellen Gelehrten. Böttiger hätte nach gewöhnlicher Menschen¬
art diesen Schimpf dem Tieck nie vergeben dürfen. Er war aber von der
Weimarischen Zeit her daran gewöhnt, sich'mit den bittersten Feinden, wie
damals mit Goethe und Schiller, möglichst gut zu stellen, und so wurde er
in Kurzem mit Tieck versöhnt und erschien vor seinem bald darauf erfolgen¬
den Tode mehrmals in dessen Salon. Darum konnte auch Prof. Vogel
von Vogelstein, der 1836 ein Bild ausstellte, wie Tieck in Gegenwart von
Hausgenossen und Gästen in seinem Zimmer von David modellirt wird, die
charakteristische Figur des alten schmunzelnden Herrn mit anbringen.
Doch zu Ausgang der dreißiger Jahre traten die alten Strebungen
und Richtungen immer mehr zurück. Es machte sich allmälig das junge
Leben energisch geltend, Gutzkow, Mosen, Auerbach, Rüge u. a. in. wurden
nach und nach heimisch, und im literarischen Leben Dresdens trat eine völlige
Revolution ein; aber in manchem Gesicht und Gemüth des lebenden Dresdens
ist eine Verwandtschaft mit der seligen Abendzeitung noch heut zu erkennen.
Das rein seemännische Personal hat vor Allem die Aufgabe, das
Schiff selbst zu dirigiren, indem die Seeofficiere den Curs nach ihren Be¬
rechnungen bestimmen, und die zur Einhaltung dieses Curses nöthigen Segel¬
manöver u. s. w. durch die Matrosen ausführen lassen, denen auch alle
übrigen seemännischen Arbeiten: Handhabung der Boote, der Anker, Reini¬
gung des Schiffs u. f. w. zufallen. Allerdings ist die Wichtigkeit der Segel¬
manöver gegen früher sehr vermindert, da im Gefecht und sonst bei schwierigen
Lagen, im Sturm, in engen Hafeneinfahrten, unter Dampf gefahren
wird, das Segeln nur hei größeren Reisen der Kohlenersparniß wegen in
Anwendung kommt. Insofern haben auch die Matrosen nicht so entscheidende
Wichtigkeit wie früher. Aber was sie durch Einführung der Maschine ver¬
loren, das haben sie dadurch wieder gewonnen, daß die Wirksamkeit der Ge¬
schütze neuerdings von ihnen ausschließlich abhängt. Maaten (Matrosenunter-
officiere) fungiren als Geschützcommandeure, Matrosen unter ihnen als Bedie¬
nung der Geschütze, die Seeofficiere sind die einzigen Artillerieofficiere des Schiffs,
indem sie seemännisch wie artilleristisch vollkommen ausgebildet sein müssen.
Die Rangstufen der Seeofficiere sind entsprechend denen der Land¬
armee gegliedert. Der Generalität der Landarmee entsprechen die Flagg-
offieiere oder Admiräle, und zwar der eigentliche Admiral mit dem Rang
eines Generals der Infanterie oder Cavallerie, der Viceadmiral mit General¬
lieutenantsrang und der Contreadmiral mit Generalmajorsrang. Die ent¬
sprechenden Chargen heißen bei den Franzosen amiral as ?ranee, vice-amiral,
eovtre-amiral; bei den Engländern «.ämiral, vies aämiral und rsar aämiral,
weil dem letzteren früher in größeren Flotten das Commando der Arriere-
garde zufiel, wie dem Viceadmiral das Commando der vauguarä, der Avant¬
garde — bet den Holländern heißt der Contreadmiral Schout bij Nacht,
(syr. Schaut bet Nacht). Von Flaggofficieren besitzt die norddeutsche Marine
gegenwärtig 1 Admiral (Prinz Adalbert), 1 Viceadmiral (Jachmann). 2 Contre-
admirale (Kühn und Heide), während der Flottenentwickelungsplan 1 Admiral,
2 Vice- und 2 Contreadmirale in Aussicht nimmt. An Gehalt bezieht der
Admiral 4600 (früher 5000 Thlr.) und an Repräsentationskosten als Chef des
Ooercommandos der Marine 2400 (früher 2000 Thlr.), der Viceadmiral
4400 Thlr, (der gegenwärtige zugleich als Director des Marinedepartements
im Ganzen 6100 Thlr.) und der Contreadmiral 3300 Thlr. — Dasjenige
Schiff, welches einen Flaggofficier an Bord hat. führt eine kleine weiße
Flagge mit großem schwarzem Kreuz, die Commandoflagge, am Top des
Großmasts, des Fockmasts oder des hintersten, des Kreuzmasts. je nachdem
der betreffende Officier Admiral, Vice- oder Contreadmiral ist, genau wie
bei allen anderen seefahrenden Nationen.
Als Stabsofficiere folgen in der norddeutschen Marine die Capitains
zur See mit Oberstenrang*), nach dem diesjährigen (1869) Etat 7, im Flotten¬
entwickelungsplan 16. von denen nur 11 nicht in Verwaltungsstellen ver¬
wandt erscheinen; und die Corvettencapitains mit Oberstlieutenants- oder
jetzt nur Majorsrang, gegenwärtig 17, und im Flottenentwickelungsplan
33, von denen nur 24 nicht in Verwaltungsstellen Dienst thun. Diese
Officiersclassen. welche im Range hinter dem Admiralen folgen, heißen in
den verschiedenen Flotten verschieden: in England carMius (Ro^s-I 5sg,vz?)
und commimäers, in Frankreich eaxitaink-z of-isseau und as trs-
Mtw, in Oestreich Linienschiffscapitaine u. f. w. Uebrigens sind, was im
Publicum nicht durchweg bekannt ist, diese Benennungen nur Bezeichnung
der Charge, nicht der Function: der Corvettencapitain commandirt keines¬
wegs immer eine Corvette, sondern er kann ebensogut ein Panzerfahrzeug,
eine Kanonenbootdivision oder eine Fregatte befehligen, und eine gedeckte
Corvette wird wieder meist von einem höheren Officier commandirt.
Als dritte Rangstufe der Seeofficiere folgen in der norddeutschen Marine
die Capitainlieutenants mit Hauptmannsrang, gegenwärtig 39, im Flotten¬
entwickelungsplan 60, wovon 44 im unmittelbaren Flottendienst und 6 in
Verwaltungsstellen, dann die Lieutenants zur See mit Premierlieutenantsrang,
gegenwärtig 61, und im Flotlenentwickelungsplan 86, wovon 75 im un¬
mittelbaren Flottendienst und die Unterlieutenants zur See mit Seconde-
lieutenantsrang. gegenwärtig 61, und im Flottenentwickelungsplan 66. Es
zählt also das ganze Seeosficiercorps gegenwärtig 168 Officiere im Flot¬
tenentwickelungsplan 256; wozu jetzt noch 100 „Seecadetten" treten, etwa
den Fähnrichs der Landarmee entsprechend, 80 im Floltenentwickelungsplan,
während die „Cadetten" der Marine den „Avantageurs" der Landarmee d. h.
den auf Beförderung zum Officier dienenden Gemeinen entsprechen.
Obwohl nun auf die Benennung der Chargen im Allgemeinen nicht
viel ankommt, so halten wir doch für zweckmäßig, daß man analog der Ein¬
richtung der dänischen Marine für die Seeofficiere von Hauptmannsrang die
Benennung Capitainlieutenant eingeführt hat, wie wir früher vorschlugen,
während dieselben vorher Lieutenants I. Classe hießen, und die Officiere von
Premierlieutenants- und Secondelieutenantsrang, Lieutenants II. Classe und
Fähnrichs zur See genannt wurden.
Die gemeinsame Uniform der Seeofficiere aller Classen besteht in wei߬
leinenem oder dunkelblauen Tuchbeinkleidern, in Gala mit goldener Treffe
oder weißen Casimirbeinkleidern mit goldener Tresse; dunkelblauer, in Gala
weißer Weste mit einer Reihe goldener Knöpfe und dunkelblauem Rock mit
zwei Reihen Goldknöpfen nach Civilschnitt. Zur Parade wird ein dunkel¬
blauer Frack in englischem Civilschnilt, mit zwei Reihen Goldknöpfen und
schwedischen Aufschlägen getragen, der bei Gala noch weiße Revers mit Gold¬
tressen und Goldtressen an einem Stehkragen zeigt, während bei kalter
Witterung ein dunkelblauer Ueberzieher mit zwei Reihen Goldknöpfen oder
ein dunkelblauer weißgefütterter Radmantel angelegt wird, und an Bord
auch das Tragen einer kurzen dunkelblauen Jacke gestattet ist. Kopfbedeckung
ist eine dunkelblaue Mütze mit schwarzem Schirm und breiter Goldtnsse, bei
Gala ein niedriger schwarzer dreieckiger Hut mit Goldagraffe und Silber¬
cordon, und bei den Admiralen noch mit einer breiten Goldtresse; Waffe der
krumme Marine.Schleppsäbel in Lederscheide, Schärpen existiren nicht. Als
Rangabzeichen dienen am Parade - wie am (Äalafrack gleichmäßig bei allen
Seeolficieren außer den Unterlieutenants, die auch keinen Galafrack haben,
goldene Epauletten mit Silberhaltern, gestickten Goldmond, Goldfeld und
Goldfranzen (dicken bei Flagg- und Stabsojficieren, dünnen Candillen bei
den Subalternen); im Felde ist ein unklarer Silberanker, mit einem Silber-
adler darüber bei den Admiralen, ohne einen solchen bei den Stabs- und
anderen Officieren, und die drei Classen jeder Kategorie sind wieder durch
2, 1 oder keinen Stern im Epaulettfelde unterschieden, währ'end die Capitain-
lieutenants zwei Sterne, die Lieutenants zur See keinen Stern, die Unter¬
lieutenants aber überhaupt keine Epauletten, sondern blos silbern-schwarze
Dragons und rechts goldene Fangschnüre am Paradefrack haben. Außer aus
den Schultern ist der Rangunterschied noch an den Aermelaufschlägen angegeben,
diese haben bei den Admiralen goldene Eichenlaubstickerei bez. eine sehr breite
Goldtresse, bei den Capitains zur See drei, beiden Corvettencapitains zwei,
bei den Capitainlieutenants und Lieutenants zur See eine schmale rundum¬
laufende Goldtresse, die den Unterlieutenants fehlt. Während die bisher
angegebenen Rangabzeichen nur am Frack getragen werden, haben Ueberrock
und Jacke auf den Schultern silbernschwarze Raupen bei den Admiralen, und
silbernschwarze geflochtene Achselstücke bei den übrigen, breite bei den Stabs-,
schmale bei den anderen Officieren. mit Goldsternen genau entsprechend den
Achselstücken der Husarenosficiere gleichen Rangs, während die Aermelab-
zeichen ebenso wie am Frack sind.
Die Deckofsiciere haben, um dies mit anzuführen, dieselbe Uniform
wie die Seeofficiere, doch nur mit einer schmalen Goldtresse um die Mütze,
und ohne Schulterabzeichen, während sie am Kragen das Emblem ihres
Faches, wie es früher beschrieben wurde, in Gold tragen; auch haben sie keine
Galauniform und keine Hüte.
Die Seeeadetten endlich tragen dunkelblaue Jacken wie die Matrosen,
doch mit kleinen Goldknöpfen, schwedischen Aufschlägen und einem Anker«
tropf nebst silbernschwarzer Schnur am Kragen. In Parade haben sie den
Officiersfrack, aber mit Knopf und Schnur und ohne Achselstücke und Aermel-
tressen. wie auch Weste, Beinkleider und der kurze Ueberzieher der kleinen
Officiersuniform gleich sind; die Mütze hat eine Goldtresse von halber Breite,
der Hut fehlt, und statt des Säbels führen sie einen langen sehr schmalen
Dolch mit Elfenbein griff in Messingscheide an langer Hängekoppel.
Im Allgemeinen erscheint uns die Uniform der norddeutschen Marine
allzu viellältig, zu theuer und nicht im Verhältniß zum Preise kleidsam, sie
ist der Officiersuniform fremder Flotten sehr ähnlich; nur sind die Gold¬
tressen horizontal gestreift, während sie bei der östreichischen Marine in Zick¬
zack gestreift, bei den Franzosen in den unteren Graden durch schmale Gold-
streifchen völlig analog den Mützen und Mäntelaufschlägen der Landofficiere
oder den Jacken der Zuavenosficiere ersetzt, und bei den Engländern in den
unteren Cdargen durch einfache schwarze Streifen mit Goldemblem (Eichen¬
laub) an der Cocarde vertreten sind.
Auch die Uniform der Matrosen und Matrosenunterofficiere, die wir
früher bei der Weiftdivision beschrieben, ist der in den fremden Flotten
überaus ähnlich: die dunkelblaue Jacke mit dem schwarzen, losen, vorn
verknoteten Halstuch, dem breit übergeschlagenen hellblauen Hemdkragen
und den dunkelblauen oder weißen Beinkleidern, das P6g.-Melöe. ein kurzer
dunkelblauer Flausrock (Paletot) oder Ueberzieher ohne Gradabzeichen für
schlechtes Wetter, die dunkelblaue schirmlose Mütze mit schwarzem, den Strei¬
fen deckenden Seitenhaut, das hinten in zwei Schleifen herunteiflattert und
vorn in goldenen Buchstaben den Namen des Schiffs trägt, zu dem der Ma¬
trose gehört, oder falls er bei der Flottenstammdivision ist die Goldinschrift
»Königliche Marine" führt, endlich der niedrige runde schwarzlackirte Hut
mit breiter Krempe und gleicher Inschrift auf dem Bande — Alles dies ist
auf fremden Flotten beinahe ebenso und die Unterscheidungen sind nur sehr
unbedeutend, wie z. B. der Stern in den Hemdkragenecken der Amerikaner
und der Holländer, der rothwollene Streifen um die Mützen der französischen
matelots eavollMkrs u. f. w. Daß die Marineuniform der verschiedenen
Flotten so gar ähnlich ist, während die Landarmeen zweckmäßige Verschieden¬
heit erstreben, hat offenbar seinen Grund darin, daß alle Nationen der eng¬
lischen Flotte als dem Mustertypus nicht nur in wesentlichen Stücken nach¬
eifern, sondern auch in Aeußerlichkeiten gleichzukommen suchen. Wir würden
aber im Gegentheil angemessen finden, wenn man in allen Stücken, wo nicht
Zweckmäßigkeitsgründe zur Nachahmung fremder wesentlicher Einrichtungen
zwingen, der eigenen Flotte auch ein eigenthümliches Gepräge aufzu¬
drücken wüßte, das entweder auf vorhandenen nationalen Gewohnheiten
beruht oder sich von selbst zu einer nationalen Eigenthümlichkeit macht.
So ist z. B. die vielbesprochene Pickelhaube in der Uniformirung der Land¬
armee zum preußischen Nationaltypus geworden. Auch die norddeutschen Ma¬
trosen mag man in Farbe und Schnitt von andern lieber unterscheiden, als
sie zu Copien machen. Zwar sein geliebtes Blau wird sich der Seemann
nicht gern nehmen lassen, es ist auch uns altnational und im Wetter die
dauerhafteste Farbe. Aber Anderes könnte uns eigen sein. So ist ein prak¬
tischer Vorschlag, den Matrosen einen Rettungsgürtel zu geben, etwa wie
ihn die Berliner Feuerwehr trägt, d. h. einen breiten starken Gurt um den
Leib mit einem Stahlhaken, welcher sich bei Arbeiten in der Takelage leicht
einhaken läßt und sicheren Halt gibt; dieser Gurt ließe sich dann durch rothen
Besatz zu einem ferneren augenfälligen Unterscheidungszeichen verwenden,
ähnlich wie der italienische Matrose seinen breiten rothen Shawl um den
Leib trägt. Gerade die norddeutsche Marine hätte bei der ihr innewohnen¬
den besonderen Tüchtigkeit am wenigsten Anlaß, sich durch Annahme englischer
Aeußerlichkeiten als bloße Nachahmung der englischen Flotte hinzustellen
und ihre Selbständigkeit zu verdecken. Es versteht sich indessen von selbst,
daß wir auf solche Uniforwunterschiede kein besonderes Gewicht legen.
Hauptsache ist. daß wir in allen wesentlichen Stücken das Zweck¬
mäßigste einführen.
Der Kriegsschiffmatrose führt kein Seitengewehr, während auf den
Handelsschiffen die meisten Matrosen ein langes Messer tragen, und obwohl
der Kriegsschiffmatrose mit dem Gewehr ausgebildet ist, trägt er dasselbe
doch nie. außer wenn er auf Wache steht, oder bei Landungen. Enterungen
u. s. w. Die Waffe des Seemanns: Gewehr. Enterbeil, Entersäbel u. s. w.
wird überhaupt nicht als zu seiner Person gekörig betrachtet, wie bei der
Landarmee, sondern als ein ausschließlich zum Schiff gehöriges Jnventarien-
stück, dessen sich der Mann nur im Schiffsdienst bedienen soll. Als Gewehr dient
das kurze Zündnadelgewehr, wie es die Füsilierregimenter der Landarmee
führen, und dasselbe kann gerade hier bei der Marine als jedem Gewehr
fremder Flotten (Chassepotgewehr der französischen Marineinfanterie, Snider-
gewehr auf den englischen und den holländischen Schiffen) überlegen betrachtet
werden. Denn hier kommt der einzige Nachtheil der Zündnadelgewehre, das
große Caliber und die daraus folgende geringe Rasanz der Flughahn des
Geschosses nicht in Betracht, während der geniale konische Verschluß, welcher
bei solider ausschließlicher Eiseneonstruction gegenüber dem Kautschukverschluß
des Chassepot und der unsicheren Feder des Snidergewehrs ganz sicher ist
und eben wegen des konischen Princips auch nach starker Abnutzung immer
wieder fest schließt, seine ganze Vorzüglichkeit zur Geltung bringen kann.
Die Matrosen mit ihren Unterofficieren und in gewissem Sinne auch das Deck-
officiercorps gehören, wie oben erwähnt, sämmtlich zur Flottenstammdivision.
In welcher Weise aus dem gesammten Flottenpersonal, einschließlich der
Werftdivision und der Beamten, die Besatzung der einzelnen Schiffe gebildet
werden soll, wird man am Besten aus der folgenden Zusammenstellung ersehen.
Ebenso wird man von der Stärke des Personals in ihren einzelnen
Kategorien und Chargen, wie sie im letzten Jahre (Etat 1868) wirk¬
lich war und wie sie (im Plan 1865) intendirt ist, am Besten eine Ueber¬
sicht aus folgender Tabelle gewinnen, in der wir die intendirten Zahlen der
Effectivstärke in Klammer beigefügt und die gleich hohen Chargen der ver¬
schiedenen Kategorien auf dieselbe Zeile gesetzt haben. Es hatte also wirklch
im Beginn dieses Jahres das Marinepersonal folgende Stärke:
Im Jahre 1861 war der active Personalbestarid 'in' de^ preußischen
Marine 78 Officiere, 257 Unterofficiere und 1415 Gemeine einschließlich der
Schiffsjungen: er hat sich also in 8 Jahren fast um.das dreifache, vermehrt.
Das neue Baumlaub entfaltet sich fröhlich in warmer Frühlingsluft
und die großen Blüthentrauben des Flieders senden ihren Wohlgeruch bis
an das Portal, durch welches die Reichstagsabgeordneten ehrbar zu ihrer
Arbeit schreiten. Sonnenlicht und frisches Grün kommt auch der Stimmung
zu gute, in welcher der Reichstag die Gesetze des neuen Staates beräth.
Denn leichter wird dem Deutschen aller Erdenkampf in der Maienzeit; wäh¬
rend dem Dunkel des kalten Winters lastet Ernst und grämliche Sorge
schwerer auf unserem Geschlecht. Im preußischen Landtag wird man auch
deshalb stets bärbeißiger sein, als im Reichstag. Wir gönnen den Boten
des Deutschen Reiches von Herzen die kurzen Ferien, welche ihnen zum Feste
zugetheilt sind, und möchten dankbar für ihre gute Arbeit ihnen allen das An¬
genehmste in Küche und Keller leiten, was nur der heimische Boden erzeugt.
Die Acte der Gesetzgebung, bei denen sie thätig sind, haben diesmal die
segensvolle Bedeutung, daß sie fast auf jedem Gebiete des deutschen Binnen¬
verkehrs die Einheit des neuen Staates zur Wahrheit machen werden. Glückt
ihr Werk auf Grundlage liberaler Compromisse mit den Regierungen, so dürfen
wir mit Recht sagen, daß der neue Bund seine Probe abgelegt hat und daß
unser Staat jetzt eine Befestigung erhält, welche die Stämme untrennbar an
einander bindet, der Nation das Gefühl freier Bewegung und die Bürgschaft
des Gedeihens giebt. Verleihen die guten Geister der Natur uns noch eine
gute Ernte, dann sind wir, im dritten Jahre nach 1866, in Wahrheit eine
geeinigte Nation und aller Widerspruch ist ohnmächtig geworden.
Auch der weitere Ausbau des Bundes ist nicht mehr aufzuhalten; es
wird dabei noch manche Stöße geben, aber der Reichstag hat einen Bundes¬
genossen, der zuletzt unwiderstehlich wirkt, das Deficit. Zur Zeit des preußi¬
schen Militairconflicts waren die Cassen voll, die Regierung brauchte den Land¬
tag nicht, und wo ihr einmal Geld fehlte, schaltete sie als Herr mit Sicherheit
über alten festgefügten Besitz. Jetzt singen die Schwalben dem neuen Haus¬
halt ein anderes Lied, die Kisten sind leer, jetzt hat unser oberster Hausherr
ganz andere Rücksichten zu nehmen auf die öffentliche Meinung, aus die ver¬
bündeten Regierungen, auf die gesteigerten Bedürfnisse. welche nicht wieder
beschränkt werden können. Schon jetzt ist eingetroffen, was man im
Jahre 1866 voraussagen konnte, der Reichstag ohne verantwortliche Minister
hat die Schnüre des Geldbeutels viel sicherer in der Hand als der preußische
Landtag trotz seiner verfassungsmäßigen Rechte, und auch die höchste Staats¬
leitung wird sich, so hoffen wir, diesen Consequenzen eines großen nationalen
Fortschritts nicht verschließen, welcher der Krone Preußen und der deutschen
Nation eine so mächtige Stellung unter den Völkern der Erde bereitet hat.
Auch außerhalb des Bundes ist das Bedürfniß des Friedens weit
obenan; fast alle Großstaaten sind durch ernste Verwickelungen in An¬
spruch genommen, am unbequemsten für uns ist, daß der alte Zwist zwi¬
schen England und den Vereinigten Staaten gerade jetzt wieder aufleben
mußte. In Wahrheit kommt uns die leidige Alabama-Frage fast ebenso
unbequem, als unsern Vettern in England. Denn es ist klar, daß
jene heftig aufgeregte und maßlose Entschädigungsforderung, welche
amerikanische Staatsmänner erheben, die Wachsamkeit zu vermindern droht,
mit welcher England die Interessen Belgiens gegen die Einfälle des kaiser¬
lichen Frankreichs vertrat. Nun werden zwar zu Washington alle politischen
Gerichte mit mehr Aufwand von Feuer und Rauch zubereitet, als anderswo,
man schätzt dort lautes Geräusch vor den Verhandlungen, um den Gegner
zu Concessionen bereit zu machen. Aber die Hoffnung ist vergeblich, daß
der neue Präsident selbständige Meinung und Mäßigung dem aufbrennenden
Eifer entgegenstellen werde. General Grant ist kein Fürst einer festgewurzel¬
ten Dynastie, er ist zudem neuer Präsident, welcher, wie die Verhältnisse
dort sind, seine ganze Popularität und alle Hoffnung auf gedeihliche Wirk¬
samkeit in die Schanze schlagen würde, wenn er jetzt eigenwillig den ent¬
stehenden Brand zu tilgen suchte. Dergleichen aufgehende Fragen werden
in Amerika wie ein Naturproceß, vielleicht wie eine Krankheit betrachtet,
welchen man bis zu einem gewissen Grade ihren Verlauf lassen muß. Was
der Präsident thun kann, wenn er ein weiser Staatsmann ist, wird er nur durch
nüchterne Beobachtung der Symptome erweisen und durch geschicktes Abwarten
des rechten Zeitpunktes, wo die wiederkehrende Besonnenheit seiner Wähler
ihm die Möglichkeit eigener Entscheidung gewährt. Und deshalb wird diese
Frage wahrscheinlich noch viel Glut und Dampf aufregen und in England
den Whigs noch eine Weile das Herz schwer machen, denen kein gefährliche¬
rer Einbruch des Auslandes kommen konnte, um ihre Siege in der irischen
Frage zu verstören.
Wir finden keinen Beweis für den bereits geäußerten Argwohn, daß
Kaiser Napoleon diesen Sturm gegen England erregt habe. Aber willkommen
ist er ihm ohne Zweifel. Glücklicherweise bedrängen ihn selbst die Wahlen,
denn seit dem Staatsstreich war das Antlitz, welches Frankreich ihm bot,
noch niemals so voll Mißvergnügen und Aufregung als jetzt. Demungeachtet
wurzelt er weit fester in dem französischen Boden, als seine Gegner meinen,
und nichts berechtigt zu der Annahme, daß seine umsichtige Klugheit vermin¬
dert ist. Das große Buch der Renten, die Freihandelspolttik und die neue
Heeresverfassung haben Frankreich in seiner neuen Aera zu etwas ganz An¬
derem gemacht, als es vorher war, und die Rechnung auf die regelmäßige
Wiederkehr eines Revolutionsjahres dürfte sich weit unsicherer erweisen, als
die Hoffnung auf Wiederkehr eines großen Cometen. Denn der Kaiser hat vor
Jedem, der auf dem Thron geboren ist, einen Vortheil voraus, denselben
Vortheil, welcher einst die eherne Kraft Cromwell's in ähnlichen Gefahren
sicherte: er weiß seinen eigenen Herrensitz mit dem kritischen Blick eines alten
Verschwörers zu betrachten. Selten war ein Fürst so frei von Illusionen,
und so lange in ihm etwas von dem Urtheil und der Willenskraft dauert,
welche mehr als einmal die Bewunderung Europa's erzwungen haben, vermag
er im Nothfall Principien und Personen zu opfern und — in französischem
Sinne — ein größerer Fortschrittsmann zu sein als alle Franzosen. Für
das freilich, was der Kaiser uns gegenüber thun wird, wenn feindselige
Wahlen ihn zu einer Ableitung nach außen drängen, vermag niemand ein¬
zustehen. Aber wir wissen, daß seine Gegner in Frankreich so wenig kriegs¬
lustig sind, als er selbst.
So bedrohen die Wolken im Westen wenigstens nicht gefährlich unseren Ho¬
rizont. Die großen Staaten im Süden und Osten aber, Italien, Oestreich, Ru߬
land haben eher Grund nach den Wolken zu schauen, welche von uns her
ihnen aufsteigen können, als uns zu überziehen. Es ist nicht unsere Schuld,
daß Oestreich noch immer nicht die Ruhe und Klugheit gewonnen hat, dem
Nordbund ein sicherer und zuverlässiger Bundesgenosse zu werden. Denn in
der That haben wir jetzt dieselben Gegner, und eine größere Gemeinsamkeit
der höchsten Staatsinteressen, als je seit jenem Tage des Wiener Congresses,
wo ein Wiener Tapezier aus freiem Platz den Monarchen und Diplomaten die
Capelle zusammenleimte, in welcher sie vor dem Allerheiligsten für ihre brü¬
derliche Eintracht Gebete darzubringen hatten.
Unterdeß denken wir. alle Wünsche für die Zukunft im geprüften Herzen
bewahrend, unter Festgeläut und Blüthen dankbar an großes Gut, das uns
Die Geister der Erde und die Kobolde, welche in altem Gemäuer Hausen,
sind während der letzten Monate in freundlicher Gebelaune gewesen und haben
uns Deutschen manchen schönen Schatz, den sie lange in sicherer Hut hielten,
an das Tageslicht gefördert. Dem Hildesheimer Fund folgte der Fund
bronzener römischer Alterthümer: Krater, Kessel, Eimer und kleines Geräth,
welche zu Häven bei Brück in Mecklenburg an alter Grabstätte gefunden
wurden, dann die Kiste in einem alten Hause zu Regensburg, welche in
wundervoller Erhaltung silbernes und vergoldetes Tafelgeräth und kleine
Privatalterthümer aus dem 16. und 17. Jahrhundert umschloß und zur Zeit
des 30 jährigen Krieges verborgen wurde. Noch steckt den Deutschen etwas
von der alten Schatzfreude im Blut, jeder solche Fund regt einen kleinen
Wirbel von neuen Hoffnungen auf, und wir könnten uns recht behaglich
der Ueberzeugung hingeben, daß in unserm Lande noch ungeheuer viel Werth¬
volles und Lehrreiches aus alten Jahrhunderten der Hebung harrt, wenn
nur nicht bei diesem unterirdischen Besitz unseres Volkes ein Uebelstand zu
beklagen wäre, daß man ihn in der Regel nicht findet, wenn man ihn sucht.
In d. Bl. ist seinerzeit über den Hildesheimer Fund von antikem Silber-
geräth berichtet worden, Der Kunstwerth und der antiquarische Werth des¬
selben erweisen sich immer größer, je eingehender die Betrachtung wird. Der¬
selbe ist jetzt nach Berlin in das große Museum geschafft, wo er in einem
Raume neben der Vasensammlung vorläufig aufgestellt ist; der gute Ent¬
scheid ist getroffen, daß er dem Museum zu Berlin verbleiben soll, und es
ist nach definitiver Feststellung des Bestandes zuverlässig eine ausführliche
archäologische Würdigung — wie wir annehmen, von Dr. Friederichs — zu
hoffen. Unterdeß hat nähere Betrachtung bereits einige vorläufige Resultate
gezogen, das letzte Heft des Hermes bringt eine antiquarische Abhandlung
von Theodor Mommsen und Richard Schöne, in welcher auf Grund
der Goldschmiedmarken die römische Methode der Gewichtsangaben und der
betreffenden Zeichen geprüft wird. Die gelegentlichen Bemerkungen Schöne's
über Beschaffenheit und Alter des Schatzes drücken die beste Ansicht aus, welche
man bis jetzt von der Zeit und den Umständen der Eingrabung gewonnen hat. —
Die einzelnen Tafelgercithe des großes Fundes sind nämlich nicht nur von sehr
verschiedenem Kunstwerth, wahrscheinlich auch aus verschiedenen Jahrhunderten
des römischen Alterthums. Der große Mischkessel, das schönste und am meisten
imponirende der uns erhaltenen Stücke, und die Minervaschale gehören höchst
wahrscheinlich der besten Zeit römischer Kunst, der ersten Zeit der jütischen
Kaiser, an; andere Stücke möchte man nach dem antiken Zopf der Deco-
ration und wohl auch aus epigraphischen Gründen bis in das Ende des
zweiten Jahrhunderts setzen; mehrere Geräthe waren offenbar in langem Ge¬
brauch, an Trinkschalen waren Füße von weniger kunstvoller Arbeit angelörhet,
ein und das andere Stück war bereits, als man es eingrub, ausgebessert, so
ein großes trichterförmiges Trinkgefäß von seltsamer unrömischer Arbeit, nach
seinem Ursprünge das räthselhafteste der erhaltenen Stücke, welches ein ganz
ähnliches Seitenstück hatte, dessen dünnes Silber aber beim Auffinden völlig
zerbrochen wurde und nur in Trümmern vorhanden ist. Die verschiedenen
Fabriken, aus denen die Gefäße hervorgegangen, die großen Unterschiede in
Kunstwerth und Stil und die Ausbesserungen einzelner Stücke lassen er¬
kennen, daß dies Geräth theilweise lange Zeit, vielleicht durch Generationen,
in Gebrauch war und nur allmälig zusammengebracht wurde. Wie bedeutend
uns dieser Silberschatz nach dem Maße moderner Silberverwendung in Pri¬
vathäusern erscheint, er war schwerlich des Prachtgeräth eines besonders vor¬
nehmen Römers; er war auch, so wie er deponirt worden ist. nicht officielles
römisches Geschenk an einen Barbarenhäuptling, und es ist wohl möglich,
daß er das Besitzthum eines römischen Agenten oder eines deutschen Haus¬
herrn vorstellte in einer Zeit, wo die Germanen bereits für die Reize römischen
Tafelschmucks empfänglich geworden waren. Dabei an Varus und die teuto-
burger Schlacht zu denken, ist gar kein Grund; es sind in den ersten Jahr¬
hunderten nach Chr. sehr viele Möglichkeiten denkbar, durch die er in die
Erde gekommen sein mag.
Da das Silber mehrerer Geräthe sehr dünn und durch den langen Auf¬
enthalt in der Erde mit aschgrauem Ueberzuge bedeckt und brüchig geworden
ist, so war eine Beschädigung Und Zerstörung einzelner Gefäße bei dem zu¬
fälligen Auffinden natürlich; und obgleich der Schatz mit einer gewissen
Sorgfalt in einem Haufen zusammengestellt gefunden wurde, so ist doch nicht
unmöglich, daß an derselben Stelle oder in der Nähe noch mehr vergraben
wurde; die UnVollständigkeit der Trümmerstücke und einzelne fehlende Stücke,
welche man als correspondirende der vorhandenen erwarten möchte, legen
diese Vermuthung nahe. In jedem Fall war es bei der großen wissenschaftli¬
chen und Kunstbedeutung des Gefundenen eine Pflicht, die erste zufällige
und ziemlich tumultuarische Ausgrabung dadurch zu controliren, daß man.
noch einmal die Schneemasse und die nächste Umgebung einer sorgfältigen
Durchforschung unterzog. Auch in d. Bl. wurde bereits die Bitte, daß
dies geschehen möge, an die Staatsregierung gerichtet.
Die Erfüllung wurde dem Vernehmen nach dadurch aufgehalten, daß
das Kriegsministerium, auf dessen Grund und Boden der Fund gemacht
ist, sich zwar zu weiterer Nachforschung bereit erklärte, aber von dem Cultus¬
ministerium die wissenschaftliche Leitung verlangte. Dadurch wurde eine Ver¬
handlung herbeigeführt, und wir constatiren mit erstaunter Befriedigung, daß
zuletzt doch einem Militair die Sorge für weitere Untersuchungen über¬
wiesen wurde.
In der That ist Oberst von Cohausen, welcher jetzt mit Fortsetzung der
Ausgrabungen betraut ist, vorzüglich für diese Prüfung geeignet. Jngenieur-
officier, ein geborener Rheinländer, längere Zeit in militairischer Stellung
am Bundestage zu Frankfurt, einige Zeit auch Vorsteher einer Fabrik, hat
er das wärmste Interesse und nicht gemeine Kenntniß der militairischen
und Privatalterthümer bewährt, hat mehrfach Ausgrabungen geleitet und
gilt für eine Autorität in den militairischen Zweigen der Alterthumswissen¬
schaft. Die Sache ist also in so guten Händen, als sich irgend hoffen ließ.
Sollte Oberst v. Cohausen etwa in die Lage kommen, für das archäologische
Kunstinteresse einen Bundesgenossen zu suchen, so würde er denselben ganz
in der Nähe in Dr. Benndorf, Universitätslehrer zu Göttingen, finden. dem
wir in der „Kölnischen Zeitung" den ersten guten Bericht über den Hildes-
heimer Fund verdanken und der selbst in Italien und Griechenland erfolg¬
reiche Ausgrabungen geleitet hat.
Die Hoffnung. daß etwas wesentliches Neues gefunden wird, ist allerdings
gering, wohl aber ist möglich, ja wahrscheinlich, daß noch einzelne Trümmer¬
stücke zu Tage kommen, welche gestatten, gefundene Fragmente zu einer Form
zusammenzusetzen. In jedem Falle werden wir das Mögliche gethan haben,
um durch locale Untersuchung den Bestand des Schatzes sicher zu stellen.
Bei dieser Gelegenheit möge die Bemerkung Raum finden, daß der Ort,
an welchem der Schatz gefunden wurde, der Galgenberg bei Hildesheim, nicht
ganz zufällig war. Wenn der heidnische Germane einen Schatz in die Erde
grub, so suchte er nicht nur einen Platz, der ihm möglichste Sicherheit gegen
Nachforschungen Anderer gab, sondern auch eine Stelle, in welcher er seinen
Schatz von dem Neid und der schädlichen Einwirkung feindlicher Gewalten,
welche ihn verrücken oder einen bösen Zauber darein legen konnten, fernhielt.
Er deponirte ihn also wahrscheinlich an solchen Lagen, welche unter dem beson¬
deren Schirme guter Mächte, seiner Götter oder der geisterhaften Wesen
seines Stammes und Geschlechtes, standen, bei Heiligthümern und Cultus¬
stätten oder Gräbern, sämmtlich Stätten, denen die Lebenden mit Ehrfurcht
nahten. Das neue Christenthum errichtete häufig seine Heiligthümer auf dem¬
selben Grunde, wo die teuflischen Schlupfwinkel der Heidengötter zerstört waren.
Es benutzte, so lange es schwach war, die alte Ehrfurcht, welche an dem Raume
hing, für sich selbst, und ebenso suchte frommer Eifer der Neubekehrten die
Stätte, wo heidnische Dämonen hausten, zu weihen und zu beruhigen. War
aber nicht in der Zeit des beginnenden Christenthums eine solche Stätte
neu geweiht worden, so wurde sie bald unheimlich und verrufen. Dies galt
zumeist von den Begräbnißplätzen des Heidenthums, die den Christen als
Aufenthalt verdammter Geister verhaßt waren. Wenn man deshalb im
christlichen Mittelalter eine Stelle suchte, um Verbrecher zu bestatten, die
nicht in geweihter Erde liegen durften, so wählte man selbstverständlich der¬
gleichen übel beleumdete Stellen der Flur und errichtete Galgen und Rad
über den Grabhügeln der heidnischen Geschlechter. Es ist deshalb einiger
Grund, anzunehmen, daß die Richtstätten alter Ortschaften, welche schon zur
Heidenzeit besiedelt waren, gerade an Hügeln eingerichtet worden sind, welche
den Christen besonders verdächtig erschienen, weil sie den Heiden eine sacrale
Bedeutung gehabt hatten, und solche Stätten gewähren deshalb für das
Finden von heidnischen Grabalterthümern besondere Aussicht. Die Züricher
antiquarische Gesellschaft verdankt die ersten nicht unbedeutenden Resultate
ihrer Nachgrabungen dem Umstand, daß der Scharfsinn des Professor Keller
die sogenannten Galgenhügel und Richtstätten in seinem Bereich durchforschre.
Freilich kommt über dem heidnischen Grabfund dann wohl auch anderes,
weniger interessantes Gebein zu Tage. Endlich aber geschah es auch, daß
das Volk in späterer Zeit von den Stätten, an denen es heidnische Grab¬
alterthümer und menschliches Gebein bei irgend einer Gelegenheit auf¬
fand, annahm, daß dieselben als ungeweihte Orte früher Bestattungsplätze
für Verbrecher gewesen seien, und mancher Galgen- oder Richthügel in den
Dorffluren hat wahrscheinlich diesen Namen nur darum erhalten, weil er in
der Vorzeit ein sacraler Platz der Heiden gewesen war. Wir dürfen also
wenigstens annehmen, daß der Galgenberg bei Hildesheim, wenn auch nicht
römische Schätze, doch Erinnerungen an die deutsche Heidenzeit birgt. Freilich
ist der Werth dieser Funde für Wissenschaft und Kunst in der Regel weit
geringer.
Der folgende, bisher ungedruckte Brief Goethe's, welchen Herr Dr. Hirzel
aus seiner Goethebibliothek mittheilt, ist ein anmuthiger Beleg für das warme
Interesse, welches der große Dichter den jungen Talenten seiner Bühne zu
Theil werden ließ. Der Schauspieler, über welchen Goethe hier an die
Mutter desselben, die berühmte Schauspielerin Unzelmann-Bethmann, be¬
richtet, war eines von den reichen Talenten, denen nach glänzendem Auf¬
gange durch die eigene Charakterschwäche kräftiges Schaffen verkümmert wird,
er ist wohl bekannt in unserer Theatergeschichte durch seine unübertrefflichen
Naturgaben, glänzende Laune und drollige Komik, aber auch durch die boden¬
lose Unordnung seines Lebens und durch sein klägliches Ende. Er war von
1802 bis 1825 in Weimar, wo er zuletzt mit Mühe gehalten wurde, trieb
dann unstät sich herum, starb 1845 körperlich und geistig versallen, im Elend.
Die vorsichtige Hoffnung, welche Goethe auf ihn setzte, wurde wenigstens durch
sein Talent nicht getäuscht. Goethe selbst erzählt in seinen Tag- und Jahres¬
heften zum Jahr 1802 über ihn: „Am 29. November machten wir abermals
eine hoffnungsvolle Acquisition. Aus Achtung für Madame Unzelmann, aus
Neigung zu derselben, als einer allerliebsten Künstlerin, nahm ich ihren zwölf¬
jährigen Sohn auf gut Glück nach Weimar. Zufällig prüfte ich ihn auf
eine ganz eigene Weise. Er mochte sich eingerichtet haben, mir mancherlei
vorzutragen; allein ich gab ihm ein zur Hand liegendes orientalisches Mär¬
chenbuch, woraus er auf der Stelle ein heiteres Geschichtchen las, mit so viel
natürlichem Humor, Charakteristik im Ausdruck beim Personen- und Situa¬
tionswechsel, daß ich nun weiter keinen Zweifel an ihm hegte. Er trat in
der Rolle als Gorge in den beiden Billets mit Beifall auf und zeigte sich
besonders in natürlich humoristischen Rollen aufs wünschenswertheste.
Es folgt Goethe's eigenhändiger Brief, dessen artiger Schluß besonderer
Beachtung empfohlen wird:
Ihr Söhnlein, meine liebe kleine Freundin, ist, wie Sie aus beyliegen¬
dem Zettel sehen werden, nunmehr aufgetreten und hat sich dabey als einen
wakren Sohn gezeigt. Er besiyt von Natur gar manches, was durch keine
Mühe erworben wird, bildet er das aus, und sucht zu überwinden was ihm
etwa entgegensteht; so können Sie Freude an ihm erleben.
Nachdem ich sein Talent hie und da versucht hatte, kam ich auf den
einfachen Gedanken ihm den Gürge in den beyden Billets zu geben, den
soll er nun auch im Stammbaum und im Bürgergeneral machen,
wobey manches zu lernen ist. Das erstemal übereilte er die Rolle zu sehr;
weil aber jederman das Stück gleichsam auswendig weiß und er sich sehr
dreist, gewandt und artig benahm, auch einige naive Hauptstellen glücklich
heraushob; so gewann er sich Gunst und Beyfall, die sich, hoffe ich, nicht
vermindern sollen.
Er hat Lust zu dem Bruder des Mädchens von Marienburg bewiesen,
eine Rolle die ihm unser Becker abtritt, mit dem er überhaupt in gutem
Verhältniß steht, dessen Dauer ich wünsche. Ich werde, ehe er auftritt,
jedesmal seine Rolle, es sey auf dem Theater, oder im Zimmer, hören, um
zu sehen, wo es hinaus geht. An fortdauernden Erinnerungen, besonders,
anfangs, wegen des technischen, soll es nicht fehlen. Uebrigens kann man
bey seinem Talent dem Glück und der Routine viel überlassen.
Bey einer Theaterdirecktion ist, wie Sie wissen, wenig Freude und Trost
zu erleben, indessen hoffe und wünsche ich daß er mir die Zufriedenheit, die
ich mir, in der Folge, von Ihm verspreche, nicht verkümmern werde.
Gegen Weihnachten will ich mit seinem Hausvater, dem Professor Kast¬
rier, ein ausführliches Gespräch halten, der bis dahin schon mehr Gelegenheit
hat ihn kennen zu lernen.
Theilen Sie meinen Brief Ihrem werthen Gatten, nebst vielen Empfeh¬
lungen, mit. Jedermann will den Vater in diesem Sprößling sehen, möge
er doch bey uns recht wohl gedeihen!
Ich drücke Ihnen die Hand und küsse Ihre freundlichen Augen.
W. d. 2. Dez. 1802.
Wenn wir es versuchen, die große Reformfrage des Orients vor einem
deutschen Leserkreise zu behandeln, so sind wir uns wohl bewußt, daß wir
zuerst die entgegenkommende Theilnahme der Leser zu erbitten haben. Nach
unserer Meinung hat die deutsche Nation alle Ursache, ihre zahllosen Ange¬
hörigen, welche durch Fleiß und Geschick eine so überaus ansehnliche nommer«
nickte Stellung in jedem Welttheile erworben haben, fester und einheitlicher
an sich zu knüpfen. Aegypten ist für uns nicht nur von hoher geschichtli¬
cher, sondern ebenso von politisch - commercieller Wichtigkeit. Der deutsch-
östreichische Handel mit Aegypten bildet, nach dem englischen und französi¬
schen, den bedeutendsten Bruchtheil des ganzen ägyptischen Verkehrs und eine
zahlreiche und sehr geachtete Colonie Deutscher lebt im Lande selbst. Eng¬
land und Frankreich nehmen an Allem, was in Aegypten geschieht, den innig¬
sten Antheil; auch die Angelegenheit, welche in Ueberschrift dieser Zeilen ge¬
nannt wird, hat die französische und englische Presse seit einer Reihe von
Monaten beschäftigt, da sie in der That eine Lebensfrage für die in Aegypten
lebenden fremden Nationalitäten ist*). Nur in Deutschland schenkt man,den
Plänen der ägyptischen Regierung zu geringe Aufmerksamkeit.
Es ist bekannt, daß in Aegypten, wie in der gesammten Türkei, eine
Einrichtung besteht, die außerdem nur noch in wenigen entlegenen Colonien
existirt: die eigene Gerichtsbarkeit der Konsulate über die Angehörigen ihrer
Nation. Kein Unterthan einer fremden Macht darf in der Türkei von ein¬
heimischen Gerichten verurtheilt, der Proceß gegen ihn muß stets vor dem
Consulatgericht seiner Nationalität angestrengt werden, ^.oror Le-zMur
korum ren.
Diese auffallende, allen in Europa geltenden Rechtsanschauungen wider¬
sprechende Ausnahmestellung fremder Nationalität hat in der Türkei ihre ge¬
schichtliche Begründung in dem Umstände, daß zu der Zeit, als sie vertrags¬
mäßig festgesetzt wurde, die Türkei sich in einem Culturzustande befand, wel¬
cher den fremden Regierungen einen solchen Schutz ihrer Unterthanen zur
Pflicht machte. Die Verträge, unter dem Namen „Capitulationen" bekannt,
wurden um die Mitte des 16. bis zum Ende des 17. Jahrhunderts abge¬
schlossen, resp, erneuert, und noch in diesem Jahrhundert wurden sie aufs
Neue in allem Wesentlichen bestätigt. Auch diese Verträge fand man unge¬
nügend und ging in praxi weiter. Auf diese Weise bildete sich ein Usus aus,
dem vielleicht der Charakter völliger Legalität fehlte, der aber, als nothwen¬
dig, bis zur Stunde von beiden Seiten anerkannt wurde, so daß selbst die
ägyptische Negierung, so sehr sie auch bemüht ist, jene Verträge zu beseiti¬
gen, doch aus der zweifelhaften Legalität derselben kein Argument gezogen
hat. Die Frage nach der theoretischen Berechtigung der jetzt ausgeübten
Consulatsgerichtsbarkeit ist deshalb ohne Erheblichkeit; genug, daß eine aller¬
seits zugegebene Nothwendigkeit zu dem geltenden Usus führte. Gegen die¬
sen hat die ägyptische Negierung seit etwa 1^/, Jahren einen Feldzug eröff¬
net, in welchem sie ihre besten Kräfte einsetzt, und wenn nicht Alles trügt,
auch ihre letzten Kräfte einzusetzen entschlossen ist. Auch diese Agitation hat
bereits eine Geschichte. Sie ward zum ersten Male ruchbar auf dem Pariser
Congresse von 1856, auf welchem angeregt durch Lord Clarendon die Noth¬
wendigkeit einer Reform der Cvnsulatgerichtsbarkeit anerkannt und der Wunsch
ausgesprochen wurde, daß nach dem Frieden in Konstantinopel sich eine Con-
ferenz zur Reform der Verträge und zur Anbahnung eines einheitlichen Ge¬
richtsverfahrens versammeln möge. Eine Conferenz trat denn auch zusammen,
aber sie ließ die Consulatgerichtsbarkeit ganz unberührt und beschäftigte sich
nur mit der Abfassung eines Handelsgesetzbuchs für die Türkei, das aber in
Aegypten nicht eingeführt wurde.
So blieb in Aegypten, von dem wir hier allein reden, Alles beim Alten.
Auch eine Anregung im Jahre 1862 im Institut as 1'^Moth durch den
Advocaten Calabi blieb ohne Nachwirkung. Dagegen scheint Ismael-Pascha,
der regierende Vicekönig, gleich bei seinem Regierungsantritt die Angelegenheit
ins Auge gesaßt zu haben. Wenigstens ließ er im August 1864 ein Me-
moire darüber ausarbeiten. Dessen Vorschläge aber fanden Gegner und die
Sache blieb wiederum auf sich beruhen. Erst im Jahre 1867, während der
Reise des Vicekönigs nach Frankreich, tauchte sie plötzlich wieder auf. Das
Journal der Suez-Canal-Compagnie hatte die Antwort bekannt gemacht,
welche der Vicekönig auf das Verlangen der Compagnie, zur Schlichtung der
schwebenden Streitigkeiten zwischen ihr und ihm ein Schiedsgericht anzuneh-
wen, gegeben hatte. Er hatte erklärt, auf ein Schiedsgericht nur eingehen
zu wollen, wenn die europäischen Mächte in eine Abänderung der Consulat-
gerichtsbarkeit einwilligten. Die Unklarheit dieser Erklärung, die man aufs
Schlimmste deutete, erregte allgemeine Unruhe, die durch das Bekanntwerden
eines Memoire Nubar-Pascha's. des Ministers des Auswärtigen, an den
Vicekönig nicht gemildert wurde. Diese Note, Grundlage aller weiteren Ope¬
rationen der ägyptischen Regierung, sagte ungefähr Folgendes*):
Die Kapitulationen existiren nur dem Namen nach, in Folge der Pression
der Konsuln und der Nachgiebigkeit der Regierung, nicht rechtlich. Dieser
Zustand nützt nur denjenigen, welche die Regierung ausbeuten wollen. Seit
vier Jahren hat die Regierung 72 Millionen Fras. Entschädigungen an
Europäer zahlen müssen, meist in Folge von Concessionen und Contracten
zu öffentlichen Arbeiten, welche zum Besten des Landes unternommen wur¬
den. Der Eingeborene findet keine Gerechtigkeit bei den Consulatsgerichten,
er wird demoralisirt, indem er den Mißbrauch sieht, den der Europäer offen
begeht, und er verliert alles Vertrauen zu seiner Regierung, deren Schwäche
er wahrnimmt. Nur ein gutes Justizsystem, mit Garantien für den Euro¬
päer, welcher diese zu fordern berechtigt ist, kann hier helfen. Diese Garantien
sind: Unabhängigkeit der Justiz. Das competente, d. h. das fremde Element,
muß hier, wie in der Armee, bei der Eisenbahn u. s. w. die Bildung des
einheimischen bewirken. Es werden zu Alexandria und Cairo gemischte Gerichte
für Civil-, Handels - und Criminalsachen errichtet, welche alle Processe zwischen
Eingeborenen und Europäern, ohne Unterschied ob diese Kläger oder Ver¬
klagte, entscheiden. Sowohl das Handels- als das Civilgericht bestehen aus
zwei europäischen und drei ägyptischen Mitgliedern, unter letzteren der Prä¬
sident. Auch ein Correctionsgericht wird, doch nur andeutungsweise, vorge¬
schlagen. Ueber allen diesen Gerichten aber steht ein Appellhof, bestehend
aus drei in Europa ausgebildeten ägyptischen und drei europäischen, mit
Hülfe der betreffenden Regierungen gewählten Richtern. auch unter ägypti¬
scher Präsidentschaft.
Die Immobilien-Sachen bleiben nach wie vor dem Mehkemeh (einem
ganz muhamedanischen, nach dem Koran urtheilenden Gerichte).
Die Richter sind nicht unabsetzbar, aber sie werden auf fünf Jahre er¬
nannt. Eine vom Vicekönig zu berufende Commission europäischer Rechts-
gelehrter soll in Verbindung mit ägyptischen die Bestimmungen des eoäs
^pol^on mit denen des Landesrechts in Uebereinstimmung bringen.
Ehe wir zur Discussion dieser Vorschläge übergehen, theilen wir in
Kurzem noch den weiteren Verlauf der Entwickelung mit. Die Note wurde
von Nubar-Pascha zur Kenntniß der Großmächte gebracht. Das französi¬
sche Ministerium des Auswärtigen ernannte darauf eine Commission, welche
die ganze Frage der Reform der Consulatjurisdiction und speciell die ge¬
machten Vorschläge der ägyptischen Regierung prüfen sollte. Dieser Com¬
mission übergab Nubar Pascha eine Reihe von Modifikationen seiner ur¬
sprünglichen Vorschläge, des Inhalts : Die Majorität der Gerichte soll von
europäischen Richtern gebildet werden, welche der Vicekönig aus in Europa
functionirenden Beamten wählt. Die betreffende europäische Regierung hat
das Recht jenen Beamten die Annahme dieses Amtes zu gewähren, oder zu
verweigern. Unabsetzbarkeit der Richter von Anfang, oder von einem be¬
stimmten Zeitpunkt an. Oeffentliche Debatte, freie Vertheidigung. Die Ge-
richtspartei oder ihr Consul hat das Recht einen der Richter abzulehnen,
ohne Angabe der Motive. Die Greffiers und Huissiers werden in Europa
unter Personen dieses Amtes gewählt. Das Gericht ist competent für Pro¬
cesse zwischen Privaten und der Regierung, für Execution von Contracten
und für Angelegenheiten der Administration der Domainen des Vicekönigs
und der Prinzen. Die Beamten des Gerichts werden mit der Ausführung
der Urtheile beauftragt. Ein Hypothekengesetz, analog dem französischen, wird
gegeben, die Anwendung desselben dem Civilgerichte übertragen. —
Der Bericht, welchen die Commission am 3. December 1867 abstattete,
wurde nicht veröffentlicht. Man versichert aber, die Commission habe alle
Garantien Nubar-Pascha's acceptirt: Europäische Majorität, Recht der Ab¬
lehnung, Ausführung der Urtheile durch ein Gericht selbst ernannter Be¬
amten u. f. w. Außerdem aber habe sie Errichtung von zwei gemischten
Civil- (anstatt Handels-) Gerichten verlangt, welche nur für Processe compe¬
tent sein sollten, in welchen die Eingeborenen als Verklagte auftraten. Nur
Miethverträge gehören alle ohne Ausnahme vor die gemischten Gerichte. —
Von den Antworten der Großmächte auf Nubar-Pascha's Note ist nur die¬
jenige Englands bekannt geworden. Lord Stanley versicherte die ägyptische
Regierung der Unterstützung Englands in dieser Reform, ja er ging noch
weiter als Nubar-Pascha selbst: er war bereit ganz und gar auf die Consu-
lotgerichtsbarkeit zu verzichten: ,,wenn man dem Fremden genügende Garan¬
tien gäbe, daß er bei der Klage vor einem ägyptischen Gerichte nicht Ver-
tauflickkeit, Unwissenheit oder Fanatismus seiner Richter zu fürchten habe,
wenn das Gesetz, welches angewandt werde, für Alle gleich sei, und wenn
die Form des Processes, besonders in Sacken der Zeugenschcift genau be¬
stimmt sei. so daß nicht gestattet werde, davon willkürlich, gleichviel unter
welchem Vorwande, sich zu befreien."
Die Antwort Lord Stanley's erregte der englischen Colonie in Aegyp-
ten wahren Schrecken, und dieselbe richtete eine Adresse an den Minister, in
welchem sie die Gefährdung ihrer Interessen darlegte und um den Schutz der
Regierung bat. Die Vorstellung wurde von Lord Stanley mit der Be¬
merkung angenommen, daß die Regierung die Rechte ihrer Angehörigen nicht
außer Acht lassen werde. Aber fast gleichzeitig brachte Mr. Layard die Sache
im Parlament zur Sprache und zwar in einer für die ägyptische Regierung
äußerst günstigen Darstellung, die leider voll von Unrichtigkeiten ist, wie sich
im Folgenden zeigen wird.
Nubar-Pascha hat seitdem die Höfe der Großmächte besucht und neue¬
ster Zeit seinem Gebieter persönlich Bericht abgestattet; der Zusammen¬
tritt einer europäischen Commission in dieser Sache bald als nahe bevor¬
stehend, bald als zweifelhaft erklärt.
Sicher ist es durchaus kein normaler Zustand eines Landes, wenn in
demselben sechszehnerlei verschiedene Gerichtsbarkeiten bestehen und sechs-
zehnerlei Rechte gelten. Denn in der That, jede der in Aegypten vertrete¬
nen Nationen hat ihren eigenen Consulatgerichtshof und ihr eigenes Ge¬
setzbuch. Allein es fragt sich, ob nicht die beabsichtigte Reform, wenn sie
nach den Vorschlägen der ägyptischen Regierung erfolgte, Uebelstände herbei¬
führen würde, welche weit größer wären, als die jetzt bestehenden?
Die ägyptische Regierung klagt darüber, daß sie innerhalb weniger Jahre
an Europäer 72000.000 Fras. Entschädigungen habe zahlen müssen. Es ist
ihr wahrlich nicht zu verdenken, daß sie Abhülfe dieser Calamität sucht. Sie
sieht den Grund ihrer Opfer in dem Umstände, daß die Forderung um
Schadenersatz, willkürlich aufgestellt, aber von den Consuln der fremden
Mächte unterstützt, aus einer Privatangelegenheit sofort eine diplomatische
werde; weshalb die Negierung sich meistens zur Zahlung entschließe, um
Verwickelungen vorzubeugen.
In dieser Klage ist noch heut einige Wahrheit, sie war noch in neuer
Zeit sehr gerechtfertigt. Bis vor wenigen Jahren konnte dem Europäer
kaum etwas Besseres zustoßen, als eine kleine Vergewaltigung seitens der
ägyptischen Behörden, oder ein Unglück, wofür er unter irgend einem Vor-
wande Schadenersatz forderte. Man pflegte in diesem Punkte nicht blöde
zu sein, und bewegte sich mit Vorliebe in großen Summen. Allein die
Zeiten haben sich geändert, heute sind diese Ersatzforderungen nicht mehr
eine Goldgrube, vielmehr meist eine Quelle unendlicher Quälerei und es
hält z. B. oft sehr schwer, den rückständigen Gehalt eines Europäers ein¬
zutreiben, eine contractwidrige Absetzung rückgängig zu machen oder Ersatz
dafür zu erhalten. Auch sind die Consulate sehr viel vorsichtiger in der Be¬
rücksichtigung von Forderungen geworden: die gerechteren weisen gar manche
Sache ab, die vor einigen Jahren ihre Unterstützung gefunden hätte. Trotz¬
dem gibt jeder Billigdenkende zu, daß auch jetzt manche unbillige Forderung
an die Regierung gestellt und durchgesetzt wird. Denn leider finden sich
unter den Vertretern fremder Nationen unsaubere Subjecte, deren sich die
bessern ihrer Collegen selber schämen; wie denn z. B. Consulate für Staaten
bestehen, die weder Unterthanen in Aegypten haben, noch auch Handel dahin
treiben. Dies ist eine Schuld und zuweilen eine Schmach der Christen und
nur durch die Staaten Europas zu bessern.
Wir gestehen übrigens unsere Zweifel, ob die genannten 72 Mill. wirk¬
lich alle für diplomatisch vertretene Entschädigungsforderungen gezahlt
wurden. Die Negierung oder der Vicekönig — zwischen welchen eine feste
Grenze zu ziehen absolute Unmöglichkeit ist — sind, nach jahrzehntelanger
Tradition, unzählige Mal das Opfer von Betrügereien Privater. Hierüber
ließen sich Bücher schreiben. Der Vicekönig oder die Regierung lassen sich
von einem europäischen Schwindler übertölpeln und bezahlen für Leistungen,
Waaren, Schiffe, Anlagen, einen dreifach höheren Preis, als recht; sie
werden durch Bestechung ihrer eigenen Douane mit den Passirscheinen von
Waarenmcissen betrogen, welche die Douane von Alexandria oder Port Sai'd
nie passirt haben. Die Regierung zählt dergleichen Fälle, die sie in der
Regel viel zu spät erkennt, vermuthlich mit zu jenen 72 Millionen. Sie
unterläßt aber zu erwähnen, daß sie selbst ihre Beamten oft halbe und ganze
Jahre nicht bezahlt, und dadurch der Bestechung, für welche der Eingeborene
ohnehin sehr empfänglich ist, vollends Thür und Thor öffnet, daß sie sich
gern und immer wieder mit hergelaufenen Abenteurern einläßt, anstatt sich
an solide und bekannte Geschäftshäuser zu halten. Sie erwähnt endlich nicht,
daß die Bestechung bis in die höchsten Kreise ihrer Beamten dringt, ja daß
größere Geschäfte in den allermeisten Fällen ohne Bestechung überhaupt nicht
zu machen sind, und daß daher selbst die solidesten Firmen, wenn sie nicht
zu Grunde gehen wollen, in vielen Fällen zur Anwendung dieses Mittels
im Kleinen oder Großen, schreiten müssen. Wir erinnern nur an einen
Fall, den in Aegypten jeder Geschäftsmann kennt, wo man, um die Bei¬
hülfe der Negierung zur Rückzahlung sehr beträchtlicher Aufstände bei Ein¬
geborenen zu erlangen, 10,000 Pfd. sert. als Bakschisch gab. Der betreffende
Beamte steckte die Summe ein, die Compagnie, welche das große Trinkgeld
gegeben Halle, erreichte ihren Zweck aber doch nicht. Diese Art von Unehr-
lichkeit entrüstete hier, Russen und Türken fühlten sich als die bessern Leute.
Die ägyptische Regierung klagt, daß der Eingeborene kein Recht bei den
Consulatsgenchten fände, und daß er durch die Mißbräuche, die er bei den
Europäern wahrnehme, demoralisirt werde. Nubar-Pascha führt als Beispiel
an, daß bei Miethstreitigkeiten der einheimische Hausbesitzer es oft vorziehe,
sein Haus dem Europäer ganz zu überlassen, als daß er sich an die Con-
sulatsgerichte wende, um den Fremden zu verklagen. Bekannt war uns
Europäern allerdings, daß der Araber sehr demoralisirt ist, aber auch, daß
niemand mehr Schuld daran hat, als seine eigene Regierung. Wie die
letztere mit der Wahrheit umspringt, mag daraus hervorgehen, daß. nach
officieller Erhebung, auf dem französischen Consulatgericht in Alexandria
im Laufe mehrerer Jahre im Ganzen 64 Klagen von Eingeborenen gegen
Franzosen, die in großer Zahl hier leben, vorkamen, und daß davon nicht
Weniger als 48 zu Gunsten der Eingeborenen entschieden wurden,
darunter 5 zu Gunsten Nubar-Pascha's selbst, der großer Grundeigenthümer
ist. Erhebungen bei dem norddeutschen, englischen, östreichischen Konsulate
würden sicher dieselben, bei den andern europäischen Konsulaten schwerlich
viel ungünstigere Ergebnisse haben.
Die Behauptung Nubar-Puscha's, daß der Eingeborene bei den Consulat-
gerichten kein Recht finde, kann man in ihr contradictorisches Gegentheil umwan¬
deln, um der Wahrheit nahe zu kommen: der Eingeborene findet fast nirgends
Recht, als vor den Consulatgerichtcn, am allerwenigsten vor den Landesgerichten.
Und das ist der Kernpunkt der Sache: die ägyptische Regierung ver¬
schweigt ganz und gar den Zustand ihrer einheimischen Gerichte.
Es giebt in Aegypten außer den Consulatgerichten einheimische Civil¬
gerichte und ein tribrmiü mixte as eommerco, vor welches die Handels¬
streitigkeiten gehören, in welchem Eingeborene Verklagte sind. Dieses
Handelsgericht besteht aus zwei Europäern (Kaufleuten) und drei Arabern,
unter letzteren der Präsident. Endlich existirt für Jmmobiliensachen der
Mehkemeh, ein für Europäer fast unzugängliches Gericht, welches auch heute
noch ausschließlich nach den Bestimmungen des Koran urtheilt, und von
dem durch Abbas-Pascha eingeführten Gesetzbuch nicht berührt wird.
Spricht man schon von den gemischten Handelsgerichten nur mit mit¬
leidigem Lächeln, so schenkt der Europäer den einheimischen Civilgerichten
überhaupt keinerlei Beachtung. Denn es ist bekannt, daß sie im Grunde
gar keine Gerichte, sondern Verwaltungsbehörden sind. Sie geben nur Gut¬
achten und Berichte, die sofort der Entscheidung der Verwaltung unterbreitet
werden. Bei ihnen Recht zu finden und zu hoffen, fällt keinem Europäer ein.
Ist er so unglücklich, einen Proceß vor denselben zu beginnen — den er
vermeiden wird, wenn es nur irgend angeht, selbst mit beträchtlicher Ein¬
buße — so ist seine Sache verloren, wenn er nicht des Wohlwollens der
Regierung gewiß ist, oder mehr Mittel als der Gegner aufwenden kann.
Auch die gemischten Handelsgerichte, deren Majorität arabisch ist, haben
keinerlei Kenntniß des Rechts, und sind ganz und gar auf die praktische
Erfahrung ihres Greffiers (Gerichtsactuar) angewiesen. Besser als mit
vielen Worten werden sie durch die Thatsache charakterisirt, daß zu ihrem
Präsident ein Admiral und ein Zollbeamter gemacht worden sind.
Der völlige Mangel an richterlicher Bildung ist in diesem Lande natürlich.
Der Koran ist bei den Muhamedanern einzige Quelle des Rechts. Unglück¬
licherweise enthält derselbe nur sehr ungenügende Rechtsbestimmungen, und
so machte sich von Anfang an das Bedürfniß nach Auslegung und Ergänzung
seiner Bestimmungen geltend. Die unmittelbar vom Propheten oder dessen
Jüngern herstammenden Ueberlieferungen (Sunneh) ergänzen zunächst. Wo
auch sie nicht ausreichen, gelten die Aussprüche der vier großen Imaus, der
Stifter der vier orthodoxen Seelen des Islam. Allein auch dies genügte
nicht. Da jede Systematik in den Rechtsbestimmungen des Islam fehlt, und
keinerlei Gesetzbuch existirt, dessen Sätze eine unabänderliche Richtschnur der
Beurtheilung gäben, so entstanden unaufhörlich sachkundige Auslegungen;
unzählige Bücher wurden geschrieben und Entscheidungen angesehener Rechts¬
kundiger gesammelt, sodaß die arabische Literatur viele Hunderte von Bänden
solcher Rechtsbücher aufweist. Auch hier fehlt Systematik und Methode.
Zwar sucht ein Theil derselben die Rechtssätze nach den Anschauungen des
Korans in eine gewisse Ordnung zu bringen. Aber das System des Korans
ist das einer absoluten Theokratie, welches eine rationelle Methode des Rechts
gar nicht zuläßt. Der weitaus größere Theil jener Literatur besteht aus
Betrachtungen einzelner Rechtsfälle und aus Rechtssprüchen angesehener
Richter. Diese Rechtssprüche auf ähnliche Fälle anzuwenden, ist das Ge¬
schäft des Richters. Da aber natürlich fast nie ein Fall identisch mit einem
früheren ist, überdies bei völlig veränderten Zuständen unvorhergesehene Fälle
häufig sind, so ist es unvermeidlich, daß selbst bei gewissenhaften Richtern
die unrichtigsten Urtheile massenhaft vorkommen müssen. — Endlich ist nach
dem Geist des Koran jede Gesetzgebung, welche nicht aus dem letzteren fließt,
unerlaubt. Die in diesem Jahrhundert 1839 in der Türkei (Tanzimati,
Fernau von Gülhaneh) und 1855 in Aegypten nothgedrungen eingeführten
Gesetzbücher sind daher eigentlich Verletzungen der muhamedanischen Religion.
Das ägyptische Strafgesetz (von 1855) zeichnet sich überdies durch größte
Unvollständigkeit und Willkür seiner Bestimmungen aus.
Eine Folge des elenden Zustandes arabischer Rechtsverhältnisse ist, daß
in den Rechtsschulen irgend ein Theil dieser Bücher vorgenommen und mehr
oder weniger auswendig gelernt wird. Natürlich ist es ganz unmöglich, auch
nur einen mäßigen Theil dieses endlosen Materials in sich aufzunehmen.
Denn die Systemlosigkeit dieser Literatur verhindert auch jede Methode des
Unterrichts. Ohne Vorbereitung beginnt der Schüler damit, alle Lehren
und Entscheidungen über einzelne Punkte, z. B. Verkauf. Miethe, Gesell¬
schaft u. f. w., einzeln auswendig zu lernen. Die Studirenden sind meistens
schlecht unterrichtet, oft ohne genügende Kenntniß des Schristarcibischen, in
welchem alle jene Bücher abgefaßt sind. In der That fehlt alle elementari¬
sche Grundlage für eine juristische Ausbildung im europäischen Sinne.
Allein die Entwickelung der Islamitischen Rechtspflege wird noch durch
andere Leiden gehindert. Zunächst durch die Heiligkeit des Eides. Er ist
zwar, nebst der Zeugenschaft, ein Hauptbeweismittel des muhamedanischen
Rechts. Allein der Koran selbst sagt: „Gott wird euch nicht zur Verant¬
wortung ziehen wegen eines irrigen Wortes in euern Schwüren; aber zur
Verantwortung wird er euch ziehen für das, was eure Herzen verdienten,
und Gott ist allverzeihend und allmilde." Dem verschlagenen Araber gilt
dieser Passus als Absolution für alle falschen Schwüre, deren unzählige ge¬
schworen werden. Christen gegenüber wirkt als erschwerender Umstand das
religiöse Gebot, die Ungläubigen zu verfolgen. Wie gering die Bedeu¬
tung des Eides erachtet wird, geht auch daraus hervor, daß in keinem mu¬
hamedanischen Staate eine Strafe für Meineid besteht; eben weil sie dem
Koran garnicht entsprechen würde. Endlich ist anzuführen, daß alle pro-
cessualische Vorschriften vollständig fehlen, so daß auch nur die Aufnahme
des Thatbestandes, die Aufsetzung eines Protocolles bei muhamedanischen
Gerichten fast unmöglich, das gerichtliche Verfahren aber ganz in der Willkür
des Richters (Kadi) oder des Verwaltungsbeamten (Mudir, Wekll oder Po¬
lizeivorstandes) liegt.
Man wendet vielleicht ein, die ägyptische Regierung sei ja bereit, durch
Ausbildung junger Leute auf deutschen und französischen Universitäten diese
Uebelstände zu beseitigen. Was aber aus jenen in Jurisprudenz oder Me¬
dicin ausgebildeten Aegyptern wird, wenn sie zurückgekehrt sind, davon er¬
fährt die Welt nichts. Natürlich glaubt Jedermann in Europa, daß sie in
dem Fache verwendet werden, für welches sie ausgebildet wurden. Die
Wahrheit ist, daß selten einer so glücklich wird, als Jurist oder Mediciner
wirken zu können. In den meisten Fällen verwendet man sie unbedenklich,
wo man eben gerade Leute braucht; an der Douane oder der Eisenbahn
findet man sie, nicht bei Gerichten oder in der Sanität; und die niedrigsten
Posten werden nicht zu g-ering geachtet, um sie mit den Aermsten unter jenen
Studenten zu besetzen.
Es ist schwierig, denen, welche diese orientalische Willkür nicht an Ort
und Stelle gesehen haben, einen Begriff von der Bodenlosigkeit hiesigen Re¬
giments beizubringen. Das ägyptische Volk ist als Volk sicherlich eines der
depravirtesten; daß die Individuen nicht nach jeder Richtung demoralisirt
sind, haben sie nur einer natürlichen glücklichen Anlage zu verdanken, welche
selbst Chalifen, Mameluken und Paschas nicht ganz auszutilgen vermoch-
ten. Seit den Zeiten, da der Islam das Land eroberte und die unteren Classen
der Eroberer sich allmälig mit den alten Bewohnern vermischten, ist das Volk
geknechtet worden fast ohne Aufhören. Nur die ungemeine Genügsamkeit
der Menschen und die außerordentliche Fruchtbarkeit des Landes ermöglichten,
daß diese unglückliche Masse überhaupt auf die Dauer ihr Dasein fristen
konnte. Kein Wechsel der Herrschaft brachte ihm Erleichterung. Erst Mehemed
Ali, welcher als der tyrannischste seiner Herrscher verrufen ist. hatte an diesem
Zustand geändert. Durch ihn war zum ersten Male eine gewisse Rücksicht auf
Landeswohl in den Staat der Orientalen eingeführt worden. Aber seit dem Tode
Ibrahim-Pascha's, des ebenbürtigen Sohnes von Mehemed Ali, der leider
nur wenige Monate den Vater überlebte, hat kein Vicekönig mehr jenem
Beispiel zu folgen vermocht. Pflichten und Rechte der Regierung und der
Staatsangehörigen — das sind Begriffe, die der Orientale heute noch nicht
kennt. Kaum die bedeutendsten Köpfe unter den Türken haben eine Vor¬
stellung vom modernen Staatsleben und seinen Bedingungen; unter den
Arabern in Aeghpten möchte kein einziger so weit gekommen sein. Trotzdem
hat das ägyptische Volk Eigenschaften bewahrt, deren Entwickelung eine ge¬
deihliche Zukunft bieten könnten. Eine unverwüstliche Gutherzigkeit, Talente
der Nachahmung, z. B. für fremde Sprachen, in ungewöhnlichem Grade,
Sinn für Humor und eine Behendigkeit des Verstandes, die sehr an die ita¬
lienische Volksart erinnern. Die Laster: Feigheit, häufige, aber durchaus nicht
durchgängige Unaufrichtigkeit und Unzuverlässigkeit und Geldgier sind dem
nicht zu verdenken, dem die eigene Negierung unaufhörlich abnimmt, was er
besitzt, der die Peitsche seit unvordenklichen Zeiten über sich geschwungen
sieht, dem List und Lüge die einzigen Waffen gegen eine Tyrannei sind, die
ohne Unterlaß auf ihn drückt.
Ein Volk von solcher Naturanlage und Vergangenheit kann unter un¬
seren klimatischen und socialen Verhältnissen schlechterdings nicht aus sich selbst
von unten auf regenerirt werden, wohl aber kann man es erziehen. Nur
die Regierung hat die Macht dazu, die volle Macht, wenn sie den guten
Willen mitbringt. Ihren Zustand und ihre Fähigkeiten zu betrachten, muß
daher unsere, nächste Aufgabe sein.
Die Regierung des gegenwärtigen Vicekönigs Ismael-Pascha, hat sich
in den Augen Europa's das Ansehen zu geben gewußt, als sei Aegypten
unter fhrem Scepter auf dem Wege europäischer Civilisation mit Riesen¬
schritten herangeeilt. Wir haben Panzerfregatten. Chassepotgewehre und
Armstrongkanonen, Eisenbahnen und Telegraphen, Hofceremoniell und Cour¬
toisie gegen Reisende, Theater und Circus. Offenbachsche Opern, ja Kammer¬
sitzungen, Thronreden und Attentate, wenn diese auch nach dem alten Sprüch¬
lein arrangirt sind: „Flut'se du kein's, so mach' dir eins". Europa sieht
aus einer Entfernung von über 400 Meilen herüber auf Aegypten und die
Ferne verdeckt und verschönt. Reisende von Rang, oder die irgend eine
Rolle in der Diplomatie oder im öffentlichen Leben spielen, werden von dem
Vicekönig mit nie ausbleibender Huld empfangen. Er stellt ihnen Dampf¬
schiffe für die Unreife zur Verfügung, behandelt sie auf der ganzen Reise als
Gäste, gibt ihnen wol auch Begleiter mit — wer sollte da nicht mit guter
Meinung von den Absichten der Regierung und mit einer noch besseren von
der Liebenswürdigkeit, der Uneigennützigkeit und dem hohen Sinne des
Herrschers zurückkehren? Der gewöhnliche Reisende aber hat kaum Mittel,
sich genügend über die politisch-socialen Zustände eines Landes aufzuklären,
dessen wundersame Natur, großartige Alterthümer, dessen fremdartige und
seltsame Bevölkerung ihn völlig in Anspruch nehmen. Auch der im Lande
lebende Europäer widmet sehr selten seine Zeit einer eindringenden Betrachtung
des Landes, dessen Boden er fast immer nur betreten hat, um Vermögen zu
erwerben oder ein Amt zu übernehmen.
Anfang und Ende in Aegypten ist der Wille des Vicekönigs, des abso¬
lutesten aller Herrscher. Der Sultan hat in seinem Reiche aus eine Menge
verschiedenartiger Stämme Rücksicht zu nehmen, er hat an der überwiegend
griechischen Bevölkerung einen gefährlichen Gegner, mit dem er nicht ganz
nach Willkür verfahren darf. Der Vicekönig von Aegypten hat keinen inne¬
ren Widerstand zu befürchten. Die Bevölkerung ist eine einheitliche, von
seltener Harmlosigkeit und seit Jahrhunderten jeder Regung von Muth bar.
Seine Aegypter werden nur heimlich murren und wie ein zu Tode gejagtes
Wild schweigend verenden, wenn das Maß ihrer Kräfte erschöpft ist; aber
zu fürchten hat der Fürst dieses Volk nicht; auch seine Verzweiflung nicht.
Die ägyptische Regierung ist sich dieser Eigenthümlichkeit ihrer Unter¬
thanen vollständig bewußt. Sie scheut auch vor den äußersten Schritten nicht
zurück, und saugt die Bevölkerung aus bis aufs Blut. Denn nicht einmal
der Gedanke an die Nothwendigkeit, sich die Kräfte des Volks zu fernerer
Ausnutzung zu erhalten, setzt der Willkür eine Grenze; ganz im Geiste
jener kurzathmiger orientalischen Staatsweisheit, eher die Fundamente des
eigenen Hauses abzubrechen, als seine Bausteine zehn Schritte weiter zu suchen.
Dergleichen hatte eine gewisse Begveiflichkeit, so lange noch die ursprüng¬
liche muhamedanische Erbfolgeordnung bestand, nach welcher der Aelteste
der Familie succedirt. Der Vicekönig hat aber bekanntlich mit unge¬
heuern Opfern die Zustimmung der Pforte zur Umwandlung der orientali¬
schen in die europäische Nachfolge des ältesten Sohnes erkauft. Es läge
demnach doch in seinem eigensten Interesse, das Land nicht so auszusaugen.
daß seinem Sohne nur der Bankerott übrig bleiben kann. In seiner vor we¬
nigen Wochen gehaltenen Thronrede führt er wiederholt aus, wie günstig
die Lage des Landes, und wie sehr er für das Wohl dess^"'en besorgt sei.
In Wahrheit waren die Steuern noch zu keiner Zeit so über all.? Maß ge-
steigert, als jetzt. Die regelmäßigen sind um 40 Procent erhöht, außer¬
ordentliche Steuern aller Art neu aufgelegt worden*). Außer Geflügel,
Hunden und Katzen — beide letzteren sind hier herrenlos — ist jedes Haus¬
und Nutzthier. Esel, Pferd, Kameel. Büffel, Rind, Ziege hoch besteuert.
Dies Alles sechs Monate nach dem Abschluß der neuen Anleihe, welche
der Regierung 8,000,000 Pfd. sert. (53 Mill. Thaler) verschafft hat. Von
dieser enormen Summe ist aber schon jetzt nur wenig übrig, und bei den unge¬
heueren Zinsen und Amortisationskosten, und den Ausgaben sür das Militair
in Kurzem nichts. Unaufhörlich macht der Vicekönig die größten Ausgaben.
Ein zahlreiches Heer wird seit den griechisch-türkischen Streitigkeiten unter den
Waffen gehalten; die Marine wird verstärkt und neu bewaffnet, während doch
niemand begreift, was beide. Heer und Flotte, diesem Lande nützen sollen,
wenn man nicht etwa auf gelegentliche Annexionen einiger Inseln rechnet.
Bälle und Gesellschaften, bei welchen die Geladenen nach Tausenden zählen,
drängen sich. Straßen werden in Cairo durchgebrochen, Häuser niedergerissen
g, ig, Hiiussinanri; von den Summen, die unter der Hand nach Konstantinopel
und anderswohin, oder in die Taschen von Schwindlern fließen, ganz zu
schweigen.
Bei diesen Ausgaben ist aber doch einige Berechnung, Es gilt die
Europäer des Wohlwollens Seiner Hoheit zu versichern; zu zeigen, daß Aegyp-
ten civilisirt sei. Dies drückte das Regierungsblatt All" recht elegant
aus bei Gelegenheit eines Tanzfestes, das der Vicekönig mit außer¬
ordentlichem Glänze am 18. Januar in seinem neuerbauten Palaste gab, und
wozu mindestens 2000 Personen, meist Europäer, geladen waren:, „pez 1s
xuisZaues civiliLU-krich, ami 6ma,us Zu, Louvöriurr as l'^Z^pes, et alone 1ö
tM ä«z Lre^irolr restera,, 6a,us I'esprit as tous, eommo uns ach plus «zeig-
tiuites MÄnifiZstativus. An den Händen die Glacehandschuhe, hinten im Frack
die Peitsche.
Ein Hauptgrund für diese Beweise unzweifelhafter Civilisation und
Bonhommie ist, die europäischen Mächte dem Justizreform-Project geneigter
zu machen. Denn diese Forderung ist hier eine Machtfrage.
Denn wäre es der Regierung, welche vor Europa sich so besorgt um die
Rechtssicherheit ihrer Unterthanen stellt, damit wirtlich Ernst, so müßte sie an¬
fangen, den Augiasstall ihrer einheimischen Gerichts- und Negierungszustände zu
fegen. Unter den Europäern Aegyptens giebt es keinen einzigen, unter den Ein-
geborenen schwerlich auch nur eine mäßigere Anzahl, die nicht von der kläg¬
lichen Beschaffenheit und von der absoluten Unzuverlässigkeit der einheimischen
Gerichte überzeugt wären. Jedermann hier weiß, daß Rechtssicherheit ein
Begriff ist. den in Aegypten einzig und allein die Europäer, und zwar in
ihren Consulatsgerichten haben, daß Recht dagegen überall, wo die Macht
der Consuln nicht hinreicht, ganz und gar sehlt. Die Regierung spricht
von einheimischen Gerichten. Aber es ist schlechterdings noch kein Fall vor-
gekommen, daß ein Eingeborener in einem Processe mit der Regierung, dem
Vicekönig, oder auch nur einem der höheren Beamten oder Paschas, Recht
gefunden hätte. Ja, der Betroffene giebt lieber freiwillig her. so lange er
etwas besitzt, wenn er es nicht verbergen kann, als daß er eine Klage vor¬
brachte — weil in letzterem Falle nicht nur sein Hab und Gut sicherlich,
sondern auch seine bürgerliche Existenz, sehr wahrscheinlich sein Leben ver¬
loren sind.
Völlig rechtslos würde auch der Europäer, wenn die Pläne Ismael.
Pescha's durchgeführt würden — man täusche sich darüber nicht. Die
Negierung hat die Majorität des europäischen Elementes nachträglich in
ihren Gerichten zugegeben, weil sie einsah, daß ohne dieselbe keine Großmacht
auf ihre Vorschläge eingegangen sein würde. Aber was bedeutet diese
Majorität? Eine einzige Stimme der europäischen Richter gewonnen — und
alle Processe werden unweigerlich nach den Wünschen der Regierung ent¬
schieden. Denn die ägyptischen Mitglieder der Gerichte sind nichts als
Werkzeuge des Vicekönigs. Nationalcharakter und sociale Zustände machen
diesen eingeborenen Richtern ein selbstständiges Einstehen für eine rechtliche
Ueberzeugung unmöglich. Die eingeborene Bevölkerung hat zur Zeit schwerlich
auch nur einen einzigen Mann aufzuweisen, der nur den Muth hätte, gegen
den Willen seiner Regierung zu stimmen. Denn der Unglückliche, welcher es
wagte, selbstständig zu sein, riskirte Vermögen und bürgerliche Existenz und
wenn diese durch irgend welche Garantien der Unabsetzbarkeit gesichert werden
könnten, so hätte er mit Wahrscheinlichkeit ein „zufälliges Unglück" zu er¬
warten, das ihn über alle Schmerzen hinwegsetzte. Im besten Falle würde
ein widerspenstiger eingeborener Richter in kürzester Frist dahin gebracht sein,
freiwillig sein dornenvolles Amt aufzugeben. Aber bei dem Charakter dieses
Volkes ist es ganz undenkbar, daß er nicht vorziehen sollte, sich dem Willen
der Regierung zu fügen, anstatt Ungemach über sich ergehen zu lassen.
Wie leicht es aber gelingt, eine einzige Stimme eines Collegs zu diffe-
rirender Ansicht zu bestimmen, weiß Jeder. Der Fall kann eintreten bei
einer ganz ehrlichen Verschiedenheit der Ansichten über eine Sache. Er kann
auch durch andere Mittel herbeigeführt werden. Die emopäischen Richter
werden aus den verschiedensten Nationalitäten gewählt werden. Nicht alle
besitzen die angeborene Gewissenhaftigkeit der germanischen Race. Das Leben
in Aegypten ist enorm theuer, der Gehalt eines deutschen Ministers ist hier
keine große Sache. Es werden sich Ante finden, die ein großes Haus machen,
nicht nur bequem und gut, sondern auch gesellig leben, eine Rolle spielen
wollen. Es ist ganz undenkbar, daß der Gehalt jener Beamten so zugemessen
werde, daß derselbe nicht im Mißverhältniß zu solchen Wünschen und Be¬
dürfnissen stünde. An Versuchungen wird es nicht, fehlen. Nirgends sind
sie größer als in Aegypten, nirgends ist die öffentliche Meinung in diesem
Punkte nachsichtiger als hier. Genug, wer die Verhältnisse kennt, wird auf
die von einer einzigen Stimme abhängende Majorität nicht das Mindeste
geben.
Man wird einwenden, bei Streitigkeiten Privater habe die Regierung
keinerlei Interesse die Entscheidung zu beeinflussen. Dies dürfte an sich nicht
richtig sein, denn das Interesse von Regierungsmitgliedern kann durch Geld
gewonnen werden. Allein die Hauptsache ist. daß Streitigkeiten Privater
überhaupt nicht die wichtigen Fälle bilden. Händel von Europäern verschie¬
dener Nationalität unter einander können nichts gewinnen durch die Theil¬
nahme eingeborner Richter, der sie bis jetzt entrückt waren. Oder es sind
Streitigkeiten zwischen Eingeborenen und Europäern, und zwar Eingeborne
als Kläger oder als Verklagte. Der erstere dieser Fälle ist verhältnißmäßig
selten. Obgleich auf dem Markt von Alexandria jährlich 3—400 Millionen
Francs in Landesproducten von Arabien an Europäer verkauft werden,
kommen fast niemals Processe vor: der Europäer bezahlt fast ohne Ausnahme
baar, der Araber hat selten Grund zu klagen. Umgekehrt ist es beim Import.
Hier herrscht ein ausgedehntes Creditirungssystem, und der Importeur hat
unaufhörlich mit nicht bezahlenden Schuldnern zu kämpfen; betrügerische
Bankerotte sind sehr häufig. Der Araber hat keinen Begriff von kauf¬
männischer Coulanz: er hängt sich leicht an eine Kleinigkeit und sieht nicht,
daß darüber oft große Vortheile verloren gehen. So ist er zu kleinlichen
Abhandeln und Betrügen sehr geneigt, er wird nie daran denken, durch mä¬
ßigen Verdienst aber großen Umschlag seinen Vortheil zu suchen, er ist in
besonderer Gefahr^ um einer geringfügigen Summe willen einen guten Kunden
zu betrügen oder von sich gehen zu lassen. In den hieraus entstehenden
Processen kann der Europäer fast niemals Vortheil ziehen: meist büßt er auch
im günstigen Falle etwas ein. ganz ungerechnet die unaufhörlichen Störungen
und Quälereien, die ihm daraus erwachsen. Die Entscheidung dieser Processe
war bisher den gemischten Handelsgerichten in Alexandria und Cairo über¬
tragen. Die beabsichtigte Justiz-Reform würde, hierin vielleicht eine Ver¬
besserung schaffen, die schwerlich von großer Bedeutung sein wird.
Es bleiben aber andere Streitfälle, ohne Zweifel der beträchtlichste Theil
des Ganzen: die Streitigkeiten zwischen Europäern und dem Vicekönig oder
der Regierung. Es besteht keine gesetzliche Unterscheidung zwischen vice-
bürgerlichem Privat- und Staatseigenthum. Dies ist ein Uebelstand von
größter Tragweite. Denn in Aegypten liegt der einzige Fall vor, daß der
Herrscher des Landes zugleich dessen größter Grundbesitzer und Kaufmann ist.
Fast die Hälfte des Landes gehört Ismael-Pascha, der bekanntlich auf jede
denkbare Weise theils seinen Verwandten Mustcipha-, Hallen-, Tusfim-Pascha
und andern, theils der unglücklichen Bevölkerung Ländereien abgewonnen hat,
ersteren meist in der Form von Verkäufen, zu denen er sie durch Abschnei¬
dung der Canäle oder Vertreibung aus dem Lande u. s. w. gezwungen hatte.
Und die natürlich zu Schleuderpreisen ausgeführt wurden. Einen jährlichen
beträchtlichen Zuwachs erhält dieser sein Besitz durch Ländereien, welche von
requirirten Bauern neu urbar gemacht worden, oder welche dem Vicekönig
"ach islamitisch-ägyptischem Recht und Gebrauch heimfallen, wenn der rui-
nirte Bauer die Steuern nicht mehr erschwingen kann.
Die Früchte dieser Privat-Ländereien. die in Folge der bessern Bewirth¬
schaftung die reichsten Erträge geben, verkauft der Vicekönig. So steht er
in unaufhörlichen Beziehungen zu den Europäern, die den ganzen Export
wie Import ausschließlich in Händen haben. Denn auch am Verbrauch des
Imports nimmt der Vicekönig vermöge seines Grundbesitzes, seiner Fabriken
Und seiner Bedürfnisse großen Antheil.
Bei so ausgedehnten Beziehungen entstehen Differenzen und Streitig¬
keiten genug, und zunächst wegen diesen, beantragt die Regierung die Justiz-
Reform. Sie hofft die zu creirenden gemischten Gerichte weit mehr zu beein-
flussen, als die Consulate, vor welche dergleichen Fälle bisher gehörten,
^ut ihre Rechnung ist richtig. Gelänge die Reform in der beabsichtigten
Weise, sie wäre auch finanziell ein gutes Resultat für die Regierung. Geld
aber braucht diese Regierung immer und dringend. Daß sie, um diesen
Zweck zu erreichen, dies gesuchte Geld mit vollen Händen hinauswirft, die
Ungeheuersten Ausgaben macht, ohne nur halbwegs sicher zu sein, ob sie
auch ihren Zweck erreichen werde — das ist ganz im Geiste ihrer kurzlebigen
Staatsklugheit, die immer nur von der Hand zum Munde lebt, und je theurer
ste das Geld bezahlen muß, nur um so leichtfertiger verschwendet. Allein in
Wahrheit ist die finanzielle Seite der Sache für die ägyptische Regierung
nur von untergeordnetem Werthe. Das wichtigste Moment ist ihr das
politische.
Gelingt es der Regierung des Vicekönigs, die Großmächte zu einer Re¬
form der Consulatsgerichtsbarkeit zu bewegen, so hat sie einen Act voller
Souverainetät ausgeübt, wie sie bis jetzt noch in keinem Falle vermocht hat.
Zwar hat der Sultan in einem seiner letzten Fermane das Recht voller
Selbständigkeit im Innern, auch in der Justizreform, dem Vicekönrg aus¬
drücklich zuerkannt. Allein es ist in politischen Dingen ein großer Unter¬
schied, ein Recht der Souverainetät nur dem Titel nach zu besitzen, oder es
durch offenkundige bekannte Handlungen wirklich zu bethätigen. Die geheime
Triebfeder des Vicekönigs ist, die volle Souverainetät über Aegypten zu erreichen.
Für die directe Erblichkeit seiner Würde, die Ernennung zum höheren Range
des Khedive (Fürst) hat er ungeheuere Summen an die Pforte und an ein¬
zelne einflußreiche Paschas in Konstantinopel bezahlt*). Aber all seine Opfer
würden unerheblich sein gegenüber dem Erfolg, wenn er nicht nur in directe
diplomatische Unterhandlung mit den Großmächten, ohne Dreinreden oder
Vermittelung der Pforte, eingetreten wäre, sondern die Mächte sogar zur
Ausgabe jahrhundertelang eifersüchtig bewachter Rechte gebracht und dadurch
das Verhältniß der europäischen Staaten zu seinem Lande von Grund aus
umgeändert hätte. Ein Erfolg, der wohl die gebrachten Opfer werth wäre.
Und welche Folgen hätte dieser Sieg sür den Vicekönig! Die letzte Fessel
wäre zerrissen, die letzte Schranke gefallen, die seinen absoluten Willen noch
gebunden halten. Die Consuln der europäischen Mächte, die ganze euro¬
päische Colonie, die er bis zur Stunde als rwli ins tÄvZsre scheut und
fürchtet — sie wären ihm nicht mehr furchterweckende Gewalten. Die Rolle
der ersteren wäre ausgespielt, die unbezwingliche Schutzmauer der letzteren
durchbrochen. Hinter dem Schild seiner neugeschaffenen Gerichte wäre er ge¬
deckt gegen alle Angriffe, die nicht mehr ihn, sondern jene unter europäischem
Schutze eingesetzten Gerichtshöfe träfen. Die Consuln aber würde er eben
darauf verweisen, daß nicht er, sondern die Gerichte entscheiden, und sie
hätten kein Recht, ihn ferner zu belästigen.
Wer diesen Zustand für wünschenswert!) hält, der möge für ihn Plaidiren.
Uns scheint er kein Fortschritt im Sinne der Civilisation, wie die ägyptische
Regierung uns glauben machen will, sondern ein Rückfall in die Barbarei
vergangener Jahrhunderte.
Wäre es ihr wirklich Ernst mit ihren Bestrebungen für Civilisation, sie
hätte ein unendliches Gebiet, um sie zu documentiren. An ihren Schulen,
in ihrer Verwaltung sollte sie anfangen zu bessern; in Wahrheit, nicht nur
zum Schein sollte sie die Frohndienste aufheben. Nach den officiellen An¬
gaben der ägyptischen Regierung zur Zeit der Pariser Ausstellung 1867
und in der letzten Thronrede, Jan. 1869, hat sich die Zahl der Schüler von
3100 in 1867 auf 2100 in 1869 vermindert. — Welcher Art die Sorge
der Negierung für diese Schulen ist, geht daraus hervor, daß in der Zeichnen-
Schule des Generalstabs kürzlich für 25 Schüler nur S Bleistifte. 4 Reiß.
febern und 1 Meßtisch vorhanden waren. — Nur beim Suezcanal ist die Krohn-
arbeit abgeschafft. Wer so gutmüthig sein sollte, den Versicherungen der
ägyptischen Regierung, daß sie überhaupt abgeschafft sei, zu glauben, hätte
im verflossenen Jahre Gelegenheit gehabt, bei den 30,000 Arbeitern, welche
die Eisenbahn von Benda nach Suez durch das Wadi Tumeilat in außer¬
ordentlicher Schnelligkeit erbauten, sich eines bessern zu belehren. Sie wurden,
damit man dem Buchstaben nach sie nicht umsonst arbeiten ließ, mit einigen
Kupserstückchen abgelohnt, in Wahrheit aber arbeiteten sie als gepreßte Leib¬
eigene. In dem vorjährigen ägyptischen Budget waren für öffentliche Ar¬
beiten ca. 130,000 Fras. ausgesetzt. Wenn die Regierung es fertig brachte,
mit dieser Summe so große Erfolge zu schaffen, so muß man an Hexerei
oder Unwahrheit glauben. — Bei dem Bundes-Palaste auf Gezireh, der ca.
10,000,000 Fras. kostet, hatten die Bauführer die Weisung, im Falle eines
Mangels an niederen Arbeitern sich an die Polizei in Cairo zu wenden.
Was das auf gut deutsch heißt, begreift Jeder. —
Wie wenig die Regierung durch ehrliche Absichten geleitet wird, geht
daraus hervor, daß sie, obgleich im Besitz einer Anzahl abhängiger Zeitungen,
doch nicht den leisesten Versuch gemacht hat, mittels der Presse die Vortheile
der beabsichtigten Reform auseinander zu setzen und die Europäer im Lande
dafür zu gewinnen. Im Auslande hat sie sich Blätter erkauft, welche für
sie sprechen mußten; im Inlande einen Versuch zu machen, wäre hoffnungslos.
Je weniger man im Lande von der Sache erfuhr, um so besser. Denn
um so eher konnte man hoffen, sein Ziel in der Stille zu erreichen und
mit einer vollendeten Thatsache, gegen die es keine Instanz gibt, hervor¬
zutreten.
Darf man den Andeutungen der Thronrede dieses Jahres Glauben
schenken, so wäre die Mehrzahl der Großmächte für die Reform gewonnen
und nur Frankreich hinderte das Zustandekommen einer vorberathenden Com¬
mission. Hoffen wir, daß diese Behauptung ebenso unwahr sei, wie die in
derselben Thronrede wiederholt ausgesprochene Versicherung von der blühen¬
den Finanzlage Aegyptens, sowie daß Seine Hoheit sich mit ängstlicher Sorg¬
falt an eine bestimmte Civilliste gehalten habe — Versicherungen, denen auch
das loyalste Gemüth zu glauben sich vergeblich bemüht.
Zum Schluß sei mir ein kurzer Nachweis gestattet, in welcher Weise
eine heilsame Reform unserer Gerichte nothwendig und ausführbar sein würde.
Daß eine Refoim der ägyptisch > europäischen Gerichtsbarkeit wünschens¬
wert!) sei. kann kein billig Denkender ableugnen. — Dies aber müßte eine
Reform sein, die wenig mit den Ausstellungen der ägyptischen Regierung
gemein hat.
Die Nachtheile von 16 Gerichtshöfen und einem sechszehnfachen Gerichts-
verfahren leuchten ein. Unter diesen Consulatgerichtshöfen sind, wie oben
erwähnt, einzelne, auf welche man kein Vertrauen setzen kann. Wir haben
Konsuln, welche der Nation, die sie vertreten, weder angehören, noch nähere
Beziehungen zu derselben haben, Leute, welche als Privatpersonen wenig
geachtet sind, als Beamte gar nichts taugen, und ihre Stellung Konnexionen
oder noch schlimmeren Dingen verdanken. Es gibt außerdem in Aegypten
Nationalitäten, deren raufsüchtiger, gewalthätiger und vor keinem Verbrechen
zurückschreckender Charakter in den untern Schichten, den Consuln äußerst
schwer und ost lebensgefährlich macht, mit rücksichtsloser Gerechtigkeit durch¬
zugreifen. Deshalb geschehen besonders in Alexandria eine Menge von Ver¬
brechen, Rauferei, Raub, Todtschlag, Mord u. s. w., die meistens unbestraft
bleiben. Es gehört z. B. ein ungewöhnlicher Muth dazu, um sich der Rache
eines bestraften Griechen aus der unteren Classe oder seiner Genossen blo߬
zustellen. Und da Jedermann weiß, daß ohne Einwilligung des Consuls
keine kriminelle Klage oder Verfolgung anhängig gemacht werden und das
Urtheil wieder nur von den Consulaten gefällt werden darf, so concentrirt
sich Haß und Recht der Verfolgten ausschließlich auf jene.
Daß die ägyptische Regierung ein Recht habe, Schutz gegen den Mi߬
brauch diplomatischer Eingriffe und Pressionen bei privaten Angelegenheiten
zu verlangen, ist selbstverständlich. Nicht nur unter den 15 Consulaten
fremder Nationen trifft manche der Verdacht, ungesetzlichen Einflüssen Zu¬
gang zu gestatten. Auch unter den Europäern in Aegypten sind sehr be¬
denkliche Elemente, Glücksritter, Schwindler, Schurken jeder Art. Daß solche
Menschen in der rücksichtslosen Ausnutzung ihrer Privilegien dem Vicekönig
und dem Lande empfindlichen Schaden zufügen können, ist nicht zu leugnen.
Auch stehen wir nicht auf Seiten derer, die nur die Privilegien ihrer Stel¬
lung als Europäer genießen, aber gar nichts von den Lasten und Pflichten
des Landes tragen wollen, das doch die Basis ihrer materiellen Existenz und
eine Quelle großer Vortheile für sie ist. Leider ist selbst unter den besseren
Elementen der Europäer die Rechtsanschauung sehr wenig verbreitet, daß
jedem Recht eine Pflicht, jedem Gewinn eine Leistung entsprechen müsse
und daß sie sich nicht gegen Maßregeln sträuben dürfen, in welchen die Re¬
gierung vor dem Urtheile jedes Billig- und Rechtlichdenkenden im Rechte ist
— wenn auch nicht nach dem Buchstaben der Verträge. Das Widerstreben
der Europäer gegen billige und gerechte Reformen schadet ihnen in den
Augen Europa's und gibt der ägyptischen Regierung eine nicht zu unter¬
schätzende Waffe.
Damit nicht genug! In Folge der Consulatgerichtsbarkeit ist es den
einheimischen Behörden und ihren Agenten untersagt, irgend einen Menschen
fremder Nationalität zu verhaften, wenn nicht ein Beamter oder Kawaß
(Polizeidiener) des betreff. Consulats dabei zugegen ist. Da letzteres natürlich
fast nie der Fall ist und die Sache in den meisten Fällen vorüber wäre, bis man
auf das betreffende Consulat geschickt hätte, so verlaufen fast alle Gewalt¬
thaten und daraus entspringende Verbrechen ohne Intervention der Polizei
und demgemäß meistens ohne Verfolgung und Bestrafung der Thäter. Die
einheimische Bevölkerung begeht äußerst selten Verbrechen gegen die Sicherheit
oder das Leben Anderer, selbst nicht in Trunkenheit, weil der Eingeborene
fast ohne Ausnahme mäßig ist. Massenhaft dagegen kommen solche Ver¬
gehen und Verbrechen unter den niederen Classen der Europäer vor. Bei
der fast sichern Aussicht auf Straflosigkeit ist es natürlich, daß diese Zustände
sich nicht gründlich bessern können, solange die einheimische Polizei nicht die
Befugniß hat, gegen diese Elemente einzuschreiten.
Allein man darf über dieser Seite der Sache nicht, wie Mr. Layard im
englischen Parlament gethan, die andere Seite übersehen. Die ägyptische
Polizei ist keineswegs auf einen Fuß gebracht, der dem Europäer irgend
welche Sicherheit gewährt, daß ihre Organe mit Besonnenheit und Gerechtig¬
keit verführen. Der Kurbatsch, die Peitsche aus Nilpferdhaut, von Sai'd-
Pascha officiell abgeschafft, regiert selbst in Alerandria und Cairo täglich auf
der Polizei. Die Locale, in welchen die Verhafteten oder in Untersuchung
Befindlichen eingeschlossen werden, sind fast ohne Ausnahme von so entsetz¬
licher Beschaffenheit, daß nur ein Araber, der von Kind auf in dem für
Europäer völlig unerträglichen Qualm, Gestank und Schmutz arabischer
Hütten gelebt hat, es darin aushalten kann — ein Europäer in den selten¬
sten Fällen ohne bleibenden Nachtheil daraus zurückkehrt. Die höchsten Be¬
amten der Polizei sind oft nicht weniger gesetzlos in ihrem Verfahren, als
die niederen. Fälle, daß selbst sehr angesehene Eingeborene, weil sie sich nicht
schweigend gegen ihr gutes Recht vergewaltigen lassen, gepeitscht werden,
kommen auch heute noch vor. Die Unwissenheit endlich unter den niederen
Polizeibeamten (Kawassen) würde unablässig wenigstens vorübergehende
Rechtsverletzungen bei Verhaftungen zur Folge haben. Ist doch kürzlich erst
der Fall vorgekommen, daß zwei bewaffnete Soldaten einen einzelnen Euro¬
päer, der Abends durch eine Hauptstraße Alexandria's nach Hause ging, über¬
fielen und verhaften wollten; offenbar nur um ein Lösegeld zu erpressen.
Wenn dies jetzt vorkommt, wo jeder Eingeborene weiß, daß der Europäer
unantastbar ist; wie sollte es gehen, wenn dieser Schutz aufgehoben und der
Europäer dem Eingeborenen gleichgestellt wäre!
Wie die Dinge in Aegypten liegen, ist es ein weit geringeres Unglück,
wenn die Regierung von den Europäern da und dort übervortheilt wird,
als wenn umgekehrt die Europäer den Schutz verlieren, der sie vor den Ueber-
griffen der Negierung sichert. Denn die Europäer sind trotz vieler zweifel-
hafter Elemente immerhin die Vertreter wahrer Civilisation gegenüber einer
übertünchten Barbarei.
Allein die Dinge stehen nicht so, daß nur eine der beiden Alternativen ge¬
wähltwerden muß. Alle Uebelstände würden fast gänzlich gehoben, wenn an die
Stelle der fünfzehn Consulatgerichte ein einziger Consulatgerichtshof träte.
Es gäbe alsdann nur ein Tribunal, nur ein Gesetzbuch. Es wäre nicht mehr
nöthig, sich bei der Verfolgung eines von mehreren Personen begangenen
Vergehens an verschiedene Gerichte zu wenden und in derselben Sache da
Bestrafung, dort Freisprechung zu erleben. Der Regierung wäre ein wesent¬
licher Schutz gegen unberechtigte Ansprüche von Europäern gegeben. Denn
wenn einzelne Vertreter fremder Nationalitäten ihre Stellung direct oder
indirect zu Geschäften und Erpressungen mißbrauchten — so wäre dies
von einem Collegialgerichte nicht zu erwarten; selbst wenn zweifelhafte Ele¬
mente hineinkämen, würde die collegiale Entscheidung ihnen die selb¬
ständige Macht zu schaden beschränken.
Natürlich müßte das Mögliche geschehen, um dieses Collegium aus
charaktervoller Männern zu bilden, welche durch eine hohe Besoldung auch
äußerlich unabhängig gestellt werden. Wenn England, Frankreich. Preußen,
Oestreich, Rußland, und etwa Italien und Nordamerika die Mitglieder
dieses Gerichtes wählen, so könnte man in Uebereinstimmung mit der ägyp¬
tischen Regierung den übrigen Staaten die Alternative stellen, entweder sich
diesem Gerichtshofe zu unterwerfen, oder der ägyptischen Justiz anheimzu¬
fallen. Daß hierbei ein oder das andere weitergehende Recht verletzt werden
könnte, läßt sich nicht in Abrede stellen. Allein jede Reform, welcher Art
sie auch sei. wird solche vorübergehende Nachtheile in ihrem Gefolge haben,
und jedenfalls würde das hier befürwortete Project ungleich größere Rechts¬
sicherheit gewähren, als jedes andere. Denn es würde die Vortheile der
jetzigen Zustände festhalten, während es gleichzeitig beträchtliche Nachtheile
derselben beseitigte.
An dieses Gericht werden nicht nur die Streitigkeiten verschiedener Na¬
tionalitäten untereinander, sowie sämmtliche Processe, in welchen Euro¬
päer*) als Verklagte auftreten, verwiesen, sondern auch alle Streitigkeiten
von Parteien gleicher Nationalität, sobald der Gegenstand ein? gewisse
von juristischer Seite näher festzusetzende Erheblichkeit hätte. Es dürften also
den einzelnen Consulaten nur die weniger erheblichen Processe zwischen Par¬
teien ihrer eigenen Nationalität überlassen bleiben. Alle übrigen Processe
von Europäern unter einander oder gegen Europäer als Verklagte seitens
der Eingeborenen, der Negierung. des Vicekönigs gehören vor den gemein¬
samen Gerichtshof.
Die Execution der Urtheile muß, von Beamten des Gerichts genau
überwacht, der ägyptischen Regierung überlassen bleiben, insofern nicht die
Regierung des Verurtheilten die Ausführung des Urtheils selbst übernehmen
sollte — die natürlich mit derselben Strenge wie bei dem Urtheile eines ein¬
heimischen Gerichts erfolgen müßte.
Zugleich mit dieser Reform der Justiz müßte aber nothwendig eine
Reform der einheimischen Polizei gehen. Denn nur dadurch wird die Straf¬
losigkeit vieler Verbrechen beseitigt.
So lange die Polizei in dem jetzigen Zustande ist, darf man ihr nicht
Macht über die Europäer geben. Es gilt also, sie derart umzubilden, daß
sie den Anforderungen der Gerechtigkeit und Menschlichkeit näher käme.
Dies wird die größte Schwierigkeit sein. Vielleicht ließe sich dem aber da¬
durch näher kommen, daß man eine gewisse Anzahl von Polizeibeamten
besserer Qualität, etwa von dem Range eines Sergeanten ab, auswählte
und heranbildete, welche einer europäischen Sprache mächtig und nicht von
der Unwissenheit und Roheit der meisten Kawassen wären. Diesen müßte
unter steter Controle der Beamten des europäischen Gerichtshofs, das Recht,
gegen Europäer im Falle gesetzwidrigen Benehmens einzuschreiten, sie zu
verhaften u, f. w. zuertheilt werden. Alsdann aber ist auch unumgänglich
nöthig, ein Polizei- resp. Untersuchungsgefängniß einzurichten, welches euro¬
päischen Begriffen entspricht.
Jedermann sieht ein, daß das Wenige, was wir fordern, immerhin
noch sehr viel ist unter den bestehenden Verhältnissen Aegyptens. Alle be¬
antragten Verbesserungen erfordern bedeutende Ausgaben. Die Culturver-
hältnisse Aegyptens stehen so weit unter den europäischen, daß man. bei prakti¬
scher Durchführung an Schwierigkeiten stößt, die man aus der Ferne nicht ahnt.
Der dargestellte Plan aber ist im Lande selbst durchführbar, wenn man mit
Energie und Umsicht verführe — die erste große Schwierigkeit bleibt, die Gro߬
mächte zu einheitlichem Handeln zu bringen und ein Gesetzbuch auszuarbeiten,
welches berechtigten Anforderungen entspräche und allgemeine Gültigkeit er¬
langte. Allein diese letztere Schwierigkeit wird jede Reform zu überwinden
haben, sie ist also keine besondere unsers Vorschlags. Und es ist immerhin
denkbar, daß in unserem Zeitalter der Conferenzen, Verhandlungen und Asso¬
ciationen auch ein solches Werk zu Stande käme.
Die Mitwirkung der ägyptischen Regierung zu diesem Werke kann in
ihrem eigenen wohlverstandenen Interesse nicht verweigert werden. Denn
sie selbst würde unzweifelhafte Vortheile davon ernten. — Die Würde des
Gerichtshofes würde sie vor mancher Willkür schützen und die Trennung der
Justiz und Diplomatie in zwei auch äußerlich getrennte Körperschaften wäre
ein entschiedener Fortschritt, wenn auch die Pläne des Vicekönigs in ein be¬
scheideneres Maaß zurückgeführt werden.
Nicht der kleinste Gewinn wäre endlich, daß durch einen solchen Ge¬
richtshof dem Lande ein Bild der Würde von Recht und Gerechtigkeit ge¬
geben würde, dessen Anblick und segensreiche Folgen auf die Dauer unmög¬
lich ohne Einfluß auf die einheimische Rechtspflege bleiben könnten. Der Ein¬
geborene würde die Rechtsfähigkeit als ein höchst schätzenswerthes Gut an¬
sehen lernen und die Regierung könnte auf die Dauer den elenden Zustand
ihrer Landesgerichte nicht fortbestehen lassen.
Sollten die hier angedeuteten Reformen keine Beachtung finden oder
undurchführbar sein, so müssen wir als das Resultat einer eingehenden
Würdigung aller in Betracht kommenden Verhältnisse aussprechen, daß es
weit besser sein würde, die jetzigen Zustände, trotz aller ihrer Mängel be¬
stehen zu lassen, als auf eine Reform einzugehen, wie sie die ägyptische Re¬
gierung vorgeschlagen hat.
Denn die Durchführung ihrer Reformpläne wäre gleichbedeutend mit
völliger Vertreibung der Civilisation aus dern Lande.
Ich entspreche gern Ihrer Aufforderung. Ihnen einige Berichte über „die
Zustände und Stimmungen" Kurhesseus zu schreiben. Denn wenn dieselben
auch nicht derartig sind, wie wir in dem Interesse der Sache, der wir die¬
nen, wünschen möchten, so ist es doch besser, wenn die nationale Partei
Uebelstände und Mißstimmungen in den neuen Provinzen beleuchtet und zu¬
gibt, als wenn sie dieselben zu vertuschen und wegzuleugnen sucht. Hier
zu Lande wenigstens, und ich glaube, daß dasselbe für alle neuen Provinzen
gilt — würde sich unsere Partei sehr rasch verbrauchen und um allen politischen
Einfluß bringen, wenn sie nicht die Mißgriffe und die tendenziöse innere
Parteipolitik unserer neuen Regierung aufs Entschiedenste verurtheilte und
angriffe. Denn der Einfluß, den die nationale Partei hat, beruht doch ledig-
lich auf einer idealen Basis: auf ihrem Verhältniß zur Wahrheit, d. h. den
Wirklichen Interessen unseres Volkes. Werden diese nun geschädigt und
wir wollten aus allzu lebhafter Abneigung gegen die particularistischen
Bestrebungen die Regierungsmaßregeln blos deshalb vertheidigen, weil sie
eben von den Particularisten angegriffen würden, so würde es nicht lange
Zeit dauern, und die große Menge des Volkes, die keinen allzu lebhaften
Antheil an den nationalen Fragen des Tages nimmt, würde unmerklich, aber
nur um so sicherer sich der gewohnten Führerschaft entziehen. Denn machen
wir uns nur darüber keine Illusionen, daß die große Masse auch bei uns
bei einem lang dauernden Conflict zwischen den Anforderungen, die im
Namen einer nationalen, d. h. in diesem Falle idealen Politik an sie ge¬
stellt werden, und den nächsten praktischen Interessen des täglichen Lebens
sehr rasch jene Anforderungen als unberechtigt ansehen und sich auf Seite
derer stellen wird, die ihr gegen Steuerüberbürdung, schlechte Justiz
u. tgi. Hülfe zu bringen versprechen. Das ist aber eben die Schwierigkeit
in unserer Situation, daß dieser Widerspruch, der an sich durch nichts begrün¬
det ist, durch unsere Regierung nicht nur nicht weggeschafft, sondern gleich¬
sam als eine für die Existenz des Ganzen wohlthätige Einrichtung offen ge¬
halten wird. Denn so und nicht anders können wir bei ruhiger Betrach¬
tung die Sachlage beurtheilen. Und es ist das nicht unsere Privatmeinung.
Der nationale Gedanke war hier zu Lande so tief in die Ge¬
müther aller derer eingepflanzt, die sich über die vorübergehenden Stim¬
mungen des Tages und die allerprimitivsten Interessen des Lebens zu er¬
heben im Stande sind, und so viel hatte man doch auch seit 1848 von den
Wegen, ihn zu verwirklichen, kennen gelernt, daß die verkehrte Entgegen¬
setzung von kleinstaatlicher Freiheit und großstaatlicher Knechtschaft, die thö¬
richte Trennung von Einheit und Freiheit überhaupt, früher nicht den min¬
desten Eindruck mehr machte. Aber jetzt fragen sich doch Manche, die nichts
weniger als Particularisten sind, ob man nicht doch die Anfänge der deut¬
schen Einheit mit zu großen Opfern erkauft habe, und nur die Erwägung
vermag sie von pessimistischen Speculationen abzuhalten, daß der erlittene
Verlust mit dem großen Gewinn nicht innerlich und nothwendig verbunden
war, sondern daß nur eine unglückliche Complication von Verhältnissen uns
jene an sich nicht nothwendigen Nachtheile gebracht hat, die uns die Freude
an den großen nationalen Erfolgen allzusehr vergällen. Ist aber hiermit
die Stimmung des größten Theiles der intelligenten Bevölkerung Hessens
richtig gezeichnet, und ich glaube dieses versichern zu können, so steht es mit
der wirklichen Einverleibung des hessischen Stammes in den preußischen
Staatskörper nicht allzu günstig. Denn das wenigstens bleibt wahr, daß
Hessen 1866 preußischer gesinnt war, als man 1869 ist. Die Erklärung die¬
ser Thatsache soll den Gegenstand meiner Briefe bilden.
Die Zustände Hessens vor 1866 sind bekannt genug. Wir besaßen eine
Verfassung, die nicht als Product einer revolutionairen Bewegung, son¬
dern durch freie Vereinbarung von Fürst und Volk zu Stande gekommen
war. Unser Beamtenstand war aus größtentheils tüchtig gebildeten, ehren¬
haften Männern zusammengesetzt, die durch alle ihre persönlichen Interessen
darauf hingewiesen waren, die Verfassung aufrecht zu erhalten und zu schützen.
Unser Volk ist nichts weniger als neuerungssüchtig und von revolutionairen
Leidenschaften erfüllt. Viel eher kann man es eines Mangels an Initiative
in allen politischen und socialen Fragen zeihen. Der jetzt verstorbene Literar¬
historiker A. Vilmar, der Hessen und seine Geschichte wie wenige gekannt hat,
bemerkte einmal in früherer Zeit, wo ihn sein religiöser und polirischer Fa¬
natismus noch nicht ganz unempfindlich gegen die Wahrheit gemacht hatte,
über die Hessen in dieser Beziehung: „Wenige Stämme unseres Volkes hallen
längere Zeit in größerer Abgeschiedenheit verharrt, als der hessische, so daß
dieselben Charakrerzüge, die wir an den Hessen des fünfzehnten und sechszehn¬
ten Jahrhunderts finden, im Wesentlichen auch an den Hessen des neunzehn¬
ten Jahrhunderts wahrgenommen werden." Wollte man nur die zwei Er¬
eignisse aus dem Leben des hessischen Volkes im sechszehnten und neunzehn¬
ten Jahrhunderts herausgreifen/ die die tiefste Bewegung seiner Seele in
diesen Jahrhunderten hervorgerufen hatten, so müßte man die Rückkehr
Philipp's des Großmüthigen aus der Gefangenschaft Karl's V. und den Ein¬
zug Kurfürst Wilhelm's I. nach den sieben Jahren der im Ganzen den ma¬
teriellen Interessen des Landes nicht schädlichen Regierung König Jerome's
von Westphalen nennen. Und wie innig die Hessen an ihren heimathlichen
Bergen hängen, hat wohl am rührendsten I. Grimm in jenen einfachen
Worten ausgesprochen, in denen er mitten in einer trockenen wissenschaftlichen
Auseinandersetzung es als ganz selbstverständlich bezeichnet, daß, wenn er
aus Hessen und Hessisches zu sprechen komme, er weitläufiger werden müsse
und wohl auch eine lebhaftere Bewegung sein Gemüth ergreife.
Aber was war seit 18S0 aus diesem hessischen Patriotismus geworden?
Die Liebe zu den Bergen und Wäldern, den schmalen Wiesengründen mit
den murmelnden Bächen war so wenig verschwunden, wie die Freude an
alten Sagen, Märchen und Geschichten, die sich hier wie kaum irgendwo
anders in Deutschland aus der Urzeit unseres stets an demselben Orte se߬
haften Volkes unversehrt erhalten haben. Die alten hessischen Krieger er¬
zählten ihren Enkeln und Urenkeln von ihren tapferen Thaten in Schottland,
Amerika, im siebenjährigen Kriege, in Spanien und Rußland und Frankreich
und von den noch größeren ihrer Väter in aller Herren Länder. Von der
Strenge, mit der Recht und Gerechtigkeit hier zu allen Zeiten gehandhabt
worden sei, wie wenig man seit den ältesten Zeiten hier geneigt gewesen,
Pfaffen und Pfaffenregiment zu ertragen, davon wurden gleichfalls nicht we¬
nige Beispiele berichtet. Aber die jüngere, seit 1815 ungefähr geborene Ge¬
neration wurde dem hessischen Staatsparticularismus entfremdet. Die
Mißregierungen von Vater, Sohn und Enkel hatten denselben allmälig. aber
darum um so unrettbarer erstickt. Gerade aber auch als hätte das „Haus
Brabant" es darauf abgesehen, alle die vielen und zarten Bande zu zer¬
reißen, die es seit sechs Jahrhunderten mit dem hessischen Volke verbanden,
gerirten sich seine Söhne in vier aufeinander folgenden Regierungen von
jenem Menschenhändler an bis auf den letzten Kurfürsten, der alle an klein¬
licher Bosheit und Eigensinn übertraf. Und wenn man in die Zukunft
blickte, um sich mit ihr für die Misere der Gegenwart zu trösten, so eröffne-
ten sich noch unerfreulichere Perspectiven. Der Landgraf Friedrich von Hessen-
Rumpenheim, welcher, da die mit der separirten Frau des Lieutenants Leh-
mann, Gertruds geb. Falkenberg, erzeugten Söhne des regierenden Kur¬
fürsten nicht successionsfähig waren, als legitimer Nachfolger uns in sicherer
Aussicht stand, erschien Allen, die ihn kennen zu lernen Gelegenheit hatten,
als ein zur Regierung eines auch noch so kleinen Staates ganz untauglicher
Herr. Sein ganz kopfloses kindisches Benehmen in der Krisis vor dem Aus¬
bruch des Krieges von 1866 hat denn auch dieses Urtheil völlig gerecht¬
fertigt und die Meinung derer bestätigt, die da behaupteten, daß, seien die
Hessen von Kurfürst Friedrich Wilhelm mit Ruthen gestrichen worden, Kur¬
fürst Friedrich sie mit Scorpionen züchtigen werde. — Die unerträglichen,
friedlosen Zustände während einer mehr als fünfundzwanzigjährigen Regie¬
rung und die trostlose Aussicht auf eine noch unerquicklichere Zukunft hatten
in Hessen nach und nach alle Gemüther dem Fürstenhause in dem Maße ent¬
fremdet, daß seine Entfernung im Jahre 1866 bei dem größten Theil aller
politisch Zurechnungsfähigen das Gefühl einer Erlösung, nicht das einer
schmerzlichen Trennung verbreitete. Nur wenige Hofschranzen und die An¬
hänger jener auch bei uns „kleinen aber mächtigen Partei", die das Fürsten¬
haus seinem Volke hatte entfremden helfen und dasselbe in eine Politik ge¬
trieben hatte, die seinen besten, Jahrhunderte lang aufrecht erhaltenen Tra¬
ditionen schnurstracks zuwiderlief, gaben Beweise einer Anhänglichkeit an den
Vertriebenen, die sich jedoch mehr in Verwünschungen gegen den „Kronen¬
räuber", als in aufopferungsfähiger Hingabe aussprachen.
Und doch, als es nun sicher feststand, daß unser kleines aber altes,
häufig verklagtes aber doch geliebtes Staatswesen dem Untergang verfallen
sei, war die Stimmung ganz im Allgemeinen nichts weniger als eine ge¬
hobene und freudige. Ganz von denen abgesehen, die hier durch den Verlust
eines Hofhaltes Schaden zu erleiden fürchteten, oder die mit einer alter-
thümelnden Anhänglichkeit an Formen klebten, denen jeder lebensvolle In¬
halt längst abhanden gekommen war, schauten doch auch nicht wenige von
den kräftigen und vorurtheilsfreien Männern, die in Opposition mit der
bisherigen Regierung gelebt hatten, besorgnißvoll in die Zukunft, Die
Proklamationen, mit denen die preußischen Heerführer in Hessen eingerückt
waren, und die eine Heilung aller Schäden und die Wegräumung alles
Streites zwischen Regierung und Volk versprochen hatten, waren doch nur
im Stande gewesen, Sanguiniker zu täuschen. Was man fürchtete, war der
Verlust alles dessen, was man in Hessen in Jahrzehnte langen Kämpfen der
Negierung abgewonnen hatte, und um das in Preußen immer noch zwischen
Regierung und Kammer unentschieden gestritten wurde, der Umsturz unserer
Justizorganisationen, die den preußischen voraus waren und die Fortsetzung
der Herrschaft einer Partei in Kirche und Schule, die unserer bisherigen
Negierungsclique zum Verwechseln ähnlich war. Wer die entscheidenden
Monate des Jahres 1866 in Cassel erlebt hat, der wird sich gar vieler
Gespräche erinnern, die damals gerade über diesen, letzten Punkt geführt
wurden. Siege Oestreich schließlich, so wurde damals raisonnirt, fo werden
wir, die wir von unseren Sympathieen mit Preußen kein Hehl gemacht
haben, übel wegkommen; siegt Preußen, nun so werden mit mehr oder ge¬
ringern Ausnahmen dieselben Herren gar bald wieder am Regieren sein, die
uns bisher so vortrefflich behandelt haben; und wenn uns nicht genau die¬
selben Personen fernerhin regieren sollten, so werden es doch sicher solche sein,
die in demselben Geiste, der bisher herrschte, die Staatsinteressen wahrzuneh¬
men entschlossen sind. Denn welcher principielle Unterschied besteht denn zwischen
der Vilmar'schen Partei und der der Kreuzzeitung, die in Berlin am Ruder
ist? Hat nicht die feudale Partei in Preußen 1850 unsere Verfassung um¬
stürzen helfen und war etwa die Wiederherstellung derselben durch Preußen
aus Wohlgefallen an dieser Verfassung selbst erfolgt? Die Herren, welche 1860
die Hessen Revolutionäre in Schlafrock und Pantoffeln nannten, waren jetzt
mächtiger denn je. Und war etwa das Cultusministerium in Berlin von
anderen Intentionen erfüllt als die hessische Ministertalabtheilung für Kirchen-
und Schulangelegenheiten? Sind nicht z. B. die Regulative lediglich ein
Abklatsch Vilmar'scher Weishnt? Und wird es nicht schlimmer werden wie
früher, wenn die Reaction nicht mehr wie bisher in den Kleinstaaten an den
persönlichen Beziehungen eine Schranke findet? Ein Regierungspräsident
aus Gumbinnen, der gegen niemanden in Hessen persönliche Rücksichten zu
nehmen hat, wird doch noch ganz anders dazwischen fahren können, wie der
„Dreschflegel von der Schwalm", und wenn sich so ein Herr in Hessen un¬
möglich gemacht hat, so setzt man ihn nach Liegnitz oder Stettin, während
er früher von Cassel der allgemeinen Verachtung nur bis Rinteln oder
Hanau entrinnen konnte, — Aus allen diesen Gründen wäre es 1866 den
Hessen am liebsten gewesen, wenn ihr Land nur durch Personalunion mit
Preußen vereinigt worden wäre. Die Unerfüllbarkeit dieses Wunsches stellte
sich aber nur zu bald heraus. Als man dieselbe begriffen hatte, war man
auch nichts weniger als unglücklich über die neue Situation. Denn die
Anerkennung wird niemand den Hessen versagen können, daß sie niemals
und nirgends etwas für sich verlangt haben, was sie nicht auch allen
Andern gegönnt hätten, daß sie niemals und nirgends eine Befreiung von
Staatslasten begehrt haben, die sie den Anderen gegenüber in Vortheil gesetzt
hätte. Nur das haben sie geglaubt beanspruchen zu dürfen, daß man ihnen
das belassen werde, was sie vor anderen Theilen des preußischen Staates
voraus hatten, ohne daß dasselbe für das große Ganze irgendwie schädlich
wäre, daß man Einrichtungen, an die sich das Volk gewöhnt hatte, nicht
blos deshalb umwerfen werde, weil sie einigen wenigen preußischen Bureau¬
kraten nicht gefielen. Aber das Eine wie das Andere ist ihnen versagt worden.
Unzweifelhaft gure Einrichtungen unseres alten Staatswesens hat man um«
gestoßen und schlechtere an die Stelle gesetzt; Einrichtungen, über deren
Werth sich streiten läßt, die aber unserem Volk lieb waren, weil es mit
ihnen aufgewachsen war, hat man durch andere vertauscht, die nicht besser
find, aber den zweifelhaften Vorzug hatten, daß sie in Preußen eingebürgert
waren. Dazu kommt dann noch, daß man sich bei Herstellung von Institu¬
tionen , wie sie die veränderten Umstände mit sich brachten, nicht von den
Bedürfnissen und den gegebenen Zuständen unseres Landes hat bestimmen
lassen, sondern von feudalen und kirchlichen Theorien, wie sie in den Mini¬
sterien des Innern und des Cultus in Berlin eben die herrschenden sind.
Wäre eine wahrhaft conservative Partei in Preußen im Besitze der Negie-
rungsgewalr. so würde dieselbe ganz anders hier haben verfahren müssen, um
nicht in dem niederen Volke den Glauben immer weiter um sich greifen zu
lassen, daß alle Einrichtungen des Staates lediglich von dem Gutdünken der
augenblicklich herrschenden Partei abhängig seien, ein Glauben, der die Vor¬
bedingung aller Revolutionen ist.
Gab es doch außerdem noch Veranlassungen genug. die diesen Glauben
zu verbreiten und zu fördern im Stande waren. Freilich der erste und auch
jetzt noch nicht erloschene Eindruck, den die neue Regierung im Gegensatz zur
alten ganz im Allgemeinen machte, war in mancher Beziehung eine jener
Wahrnehmung ganz entgegengesetzte. Man fühlte instinctniäßig aus allen
Regierungsmarimen und Maßregeln heraus, daß in Preußen der ganze
Staat von einem viel monarchischeren Geiste durchdrungen ist, als er bei uns
war. Hatten sich die Hessen nach und nach daran gewöhnen müssen, in ihren
Fürsten nur die Bedränger und Aufhänger des Landes zu sehen, die seit
lange darauf ausgingen, die heilsamen Ordnungen umzustoßen, die
zum Schutze des Staates und seines Vermögens getroffen waren, so war
schon damit die Entgegensetzung von Fürst und Staat gegeben. Aber ganz
hiervon abgesehen, war man in Hessen auch officiell nicht so kurfürstlich als
in Preußen königlich. Man nannte z. B. die Forsten. Domainen des
Staates nicht wie in Preußen königliche Waldungen u. s. w., sondern
Staatswaldungen u. s. w., von anderen Titulaturen, denen in Preußen der
Name königlich bis zum Uebermaß vorgesetzt wird, ganz abgesehen. Und diesen
kleinen Äußerlichkeiten entsprach auch die Sache. Wie der König hoch über
Allen steht und gegen seine Rechte und seine Macht selbst verfassungsmäßige
Staatsgesetze an Bedeutung und Geltung zu verlieren scheinen, so schien sich
auch dieser monarchische, vor Allem persönlichen Willen zur Geltung bringende
Geist des preußischen Staates den einzelnen Beamten mitgetheilt zu haben.
So eifrig man jeden höheren Willen respectirte und zur Ausführung brachte,
so wenig schien der preußische Beamte es ertragen zu können, daß in
dem ihm unterstehenden Wirkungskreise ein anderer Wille als der seinige sich
geltend mache. Vorstellungen gegen diese oder jene Anordnung wurden nur
sehr schwer ertragen, motivirte Einwürfe untergeordneter Beamten gegen Be¬
fehle höher stehender als Insubordination aufgefaßt. Militärische Disciplin
herrschte auch in der Civilverwaltung. Die Anforderungen, die man an die
Arbeitskraft der Beamten niederer Kategorien stellte, waren viel bedeutender
als früher, während der Gehalt derselben wo möglich geschmälert wurde.
Die Spitzen der Behörden erfreuten sich dagegen einer desto reichlicheren Be¬
soldung und was sie nicht fix erhielten, wurde durch große Diäten sür dies
und das nachgeholt. Wie sich erwarten ließ, hat die preußische Regie¬
rung alle wichtigen Directorialstellen mit Altpreußen besetzt. Waren unter
ihnen, wie von allen Seiten gern zugestanden wird, vortreffliche Beamte,
Beamte, denen es wie namentlich dem allgemein verehrten und hochgeschätzten
Oberpräsidenten von Möller nur auf das Wohl der seiner Leitung Anver¬
trauten ankommt, so fand man doch auch bald solche, die in demselben Maß, als
sie ihre Ansprüche steigerten, billigen an sie selbst gestellten Forderungen nicht
entsprachen. Die Uebelstände, die jedes persönliche Regiment mit sich bringt,
traten sofort hervor. Durch Protection in den Berliner Geheimerathskreisen,
oder um früher erworbener Verdienste willen, die wir hier nicht entdecken
konnten, kamen eine Anzahl von Männern aus Altpreußen hierher und occu-
pirten Aemter, für die in Hessen selbst unzweifelhaft viel bessere Candidaten
vorhanden waren. Es verbreitete sich allmälig immer mehr die Ueberzeu¬
gung, daß, wenn man in Berlin gute Fürsprecher und Verwandte habe, schon
das Beste geschehen sei. um befördert zu werden, namentlich wenn es sich um
Sinecuren handele. Wir wollen nicht behaupten, daß diese Volksmeinung
begründet war. obwohl wirklich merkwürdige Belege für sie angeführt werden
könnten, sondern nur constatiren. daß sie vorhanden ist. Für ihre Ent¬
stehung dürfte jedoch noch ein besonderer Umstand mitgewirkt haben, der hier
angeführt werden muß. So wenig unter der früheren Regierung Alles
gesetzmäßig zuging, so wenig hatte man sich doch im Allgemeinen über Ne¬
potismus zu beklagen. Der letzte Kurfürst war hierin ganz unerbittlich, ja
zuweilen sogar ungerecht. Hatte er herausgewittert, daß ein Minister Jeman¬
dem zu einer Stelle verhelfen wollte, weil derselbe ein Verwandter des Mi¬
nisters war, so konnte man sicher sein, daß der Betreffende das ihm zuge¬
dachte Amt nicht erhalten werde. In einem Großstaate, in dem kein Mi¬
nister, geschweige denn der Fürst die Beziehungen der einzelnen Familien zu
einander kennt, ist dagegen der Nepotismus kaum zu beseitigen. Das Beispiel,
das im modernen Preußen außerdem noch einige hochstehende Familien in
dieser Beziehung gegeben haben, hat dann noch factisch dazu beigetragen, die
Sache im Ganzen schlimmer erscheinen zu lassen, als sie vielleicht in Wirk¬
lichkeit ist.
Und noch einen durchgreifenden Unterschied gegen früher glaubte man
zu bemerken. In einem kleinen Staate kennen sich leicht fast alle Beamte,
Wenigstens die. welche einer und derselben Kategorie angehören, persönlich
oder doch dem Rufe nach, den sie genießen. Die Folge davon ist die, daß
hier eine ganz gleichmäßig strenge Ueberwachung der Beamten nicht so
nöthig ist, als in einem Großstaate. Wenn Jemand persönlich übel beleu¬
mundet war, so war seine Oberbehörde ihm gegenüber gewiß aufmerksamer,
als wenn sie es mit einem Manne zu thun hatte, der allgemein als Ehren¬
mann bekannt war. Dazu kam noch für uns speciell, daß in Kurhessen sich
keine große Stadt befindet, in der sich leichter Diebsraffinement und catili-
narische Existenzen ausbilden als in mittleren und kleinen Städten. Der
Luxus war im Allgemeinen nicht sehr gesteigert, die Beamten streckten sich,
wie man hier zu sagen Pflegt, nach ihrer Decke. Es kamen daher in der
That wenig Veruntreuungen im öffentlichen Dienst vor, und wenn eine solche
constatirt wurde, erregte dieselbe allgemeines Aufsehen im,Lande, ein Auf¬
sehen, das sich während unserer Reactionsperiode nur dann minderte, wenn
man hörte, der Betreffende gehöre dem „Treubünde" an.
So sehr hatte sich durch wiederholte Betrügereien der Schweif des Herrn
Hassenpflug-Vilmar in der öffentlichen Meinung discreditirt. Jene persönliche
Rücksichtnahme und ein allzu großes Vertrauen auf die Ehrlichkeit und
Zuverlässigkeit der Beamten kann der Natur der Dinge nach in einem
Großstaat nicht in demselben Maaße geübt werden, als in kleineren Ver¬
hältnissen. Die Controle muß hier strenger und gleichmäßiger arbeiten.
Das verspürten denn in Hessen die Beamten sehr rasch, und auch die
steuerzahlenden wußten etwas davon zu erzählen. Denn ganz abgesehen von
der Vervielfältigung der Schreiberei, durch die in allen Bureaux die genauere
Controle angeblich nöthig gemacht wurde, fanden sich viel alte Beamte, die
in Ehren grau geworden waren, durch das Mißtrauen, das man ihnen, wie
sie meinten, persönlich entgegensetzte, gekränkt und verstimmt. „In Preußen",
so raisonnirte man. „wird jeder Mensch officiell als Spitzbube angesehen,
und wenn er gar ein Beamter ist, als ein ganz gefährlicher. Wozu die un¬
endlichen Schreibereien und Revisionen? Es ist früher bei uns nicht viel
gestohlen und betrogen worden, wenigstens entschieden nicht mehr als in
Preußen. Entweder ist also der ganze Ueberwachungsmechanismus nicht
nöthig, oder in Preußen sind die Beamten unzuverlässiger als bei uns/'
Andere meinten wieder, in dem Verlangen des unbedingten Gehorsams,
das manche Oberbeamte ihren Untergebenen gegenüber besonders streng geltend
machten, so wie in dem Mißtrauen, das man officiell jedem Unterthanen
gegenüber zur Schau trage, zeige sich der slavische Zug in dem Charakter
des preußischen Staates. Den unordentlichen, pflichtvergessenen Slaven
gegenüber sei eine solche stramme Zucht nöthig gewesen und noch nöthig.
Den ersten Anforderungen an ein für Deutsche bestimmtes Regiment, daß
es der persönlichen Ueberzeugung, dem Individualismus Rechnung trage und
an das Pflichtgefühl des Einzelnen appellire. entspreche es nicht. Man sieht, die
phrasenhaften Anklagen, die namentlich in Süddeutschland gegen den preußischen
Staat und preußisches Wesen überhaupt gerichtet zu werden pflegen, fanden hier
Beistimmung, und zwar eine um so lebhaftere, als man sich glaubte auf Er¬
fahrungen berufen zu können, die man am eigenen Leibe gemacht habe.
Und doch, waren diese Erfahrungen exact beobachtet und auf ihren rechten
Ausgangspunkt zurückgeführt? Nach unserer Ueberzeugung mischt sich in
diesen Anklagen und Beschwerden Wahres und Falsches. Den kleinstaatlichen
Beamten war der Staatsbegriff vielfach ganz abhanden gekommen. Sie
waren und sind häusig ganz unfähig zu unterscheiden, ob irgend ein Gesetz
sür einen Kreis oder einen Großstaat passend ist oder nicht. Ihr Ge¬
sichtskreis war und ist eben ein zu enger. Der merkwürdige Widerspruch,
welcher bei der großen Masse unseres Volkes sich gar häufig findet, und
der sich nur aus der Jahrhunderte langen Entwöhnung von activer
Theilnahme an wirklichen, nationalen Staatsgeschäften erklären läßt, jene
Geltendmachung der beschränktesten Kirchthurmsinteressen auf der einen, und
die Hervorhebung und Anpreisung eines von allen gegebenen Verhältnissen
absehenden Staatsideals auf der anderen Seite, erschwerte auch bei uns
eine gerechte Beurtheilung der neuen Regierung. Doch darf auch nicht
geleugnet werden, daß von preußischer Seite gar manches hätte unterlassen
werden können, und Vieles in seiner bisherigen Ordnung hätte belassen
werden sollen, was die Lösung der Aufgaben des neuen deutschen Staats
nichts weniger als gefördert hat, beziehungsweise nicht im Geringsten be-
einträchtigt haben würde.
Ehe wir jedoch dieses in einzelnen Branchen der Staatsthätigkeit nach¬
weisen, müssen wir auf besondere Umstände aufmerksam machen, die für
die specifisch hessischen Verhältnisse von der größten Wichtigkeit geworden
sind und wirklich eine den allgemeinen und localen Interessen bequeme
Einfügung unseres Staates in die preußische Monarchie wesentlich er¬
schwert haben. In Preußen ist doch ohne Zweifel der Adel von ganz
besonderem Einfluß auf die Regierung des Landes. Einem Herrn von Adel
leiht man in dem Hofkreisen williger sein Ohr als einem Bürgerlichen, und
selbst nach der „Kölnischen Zeitung" haben wir gegenwärtig ein feudales
Ministerium. Hätten wir nun in Hessen einen Adel besessen, der die Inter¬
essen unseres Landes in Berlin hätte vertreten wollen und können, so wäre
unzweifelhaft seine Stimme von viel größerem Gewicht gewesen, als die
mancher bürgerlichen Patrioten, gegen die man als der liberalen, constitu-
tionellen Partei angehörig von vornherein Abneigung empfand, selbst wenn
sie lediglich im konservativen Interesse ihre Stimmen erhoben. Aber unser
hessischer Landadel hat weder durch seine staatsmännische Bildung noch durch
großen Grundbesitz und Reichthum irgend welche Berechtigung im Staats¬
leben eine bevorzugte Stellung einzunehmen. Derselbe machte daher im
Gefühl seiner Abhängigkeit von der Krone rasch seinen Frieden mit Preußen
und suchte seine Privilegien zu retten und zu erweitern. Das allgemeine
Interesse lag ihm fern. Mehrere Mitglieder desselben wurden zu Mitgliedern
des Herrenhauses ernannt, aber von ihrer Anwesenheit, geschweige denn von
ihrer Thätigkeit in demselben ist sehr wenig im Lande kund geworden. Die
Negierung war also zunächst, wenn sie Vertrauenspersonen consultiren wollte,
aus die Beamten angewiesen. Wären nun unter den höheren und höchsten
Kategorien derselben Männer gewesen, deren Einsicht und Charakterfestigkeit
der neuen Regierung sofort Vertrauen eingeflößt hätte, und die darum auch
manchen Maßregeln derselben hätten motivirten und erfolgreichen Widerstand
entgegensetzen können, wenn sie Widerstand im allseitigen Interesse geboten
erachtet hätten, so würde gar manches gewiß anders gekommen sein.
Denn mag man auch noch sehr die Arbeitskraft unseres Oberpräsidenten be¬
wundern und herrscht im ganzen Lande über seinen guten Willen nicht der
geringste Zweifel, so weiß man doch auch, daß seine Bemühungen für unser
Land mit ganz anderem Erfolg gekrönt worden wären, wenn sie von ein¬
flußreichen Privaten oder tüchtigen althessischem Beamten in Berlin selbst
nachdrücklich wären unterstützt worden. Aber was waren die hessischen Mi-
nister der letzten Jahrzehnte für Männer? Ganz unbedeutende, charakterlose
Größen, die nur darnach trachteten, sich auf ihrem Posten zu behaupten, und
nur von ihm wichen, wenn Seine königliche Hoheit sie in allzu nahe Be¬
rührung mit seinem Tintenfasse gebracht, oder mit einem handgreiflichem
Instrument auf eine Repositurleiter hinauf getrieben hatte. Politisch und
kirchlich gehörten sie fast sämmtlich der reactionairen Partei an, ohne irgend
welches achtungswerthes Talent zu besitzen. Männer von ausgeprägter Persön¬
lichkeit und starkem Willen, wie Hassenpflug und Vilmar, konnte unser
Autokrat auf die Dauer nicht ertragen, selbst nachdem dieselben ihm Alles, bis
auf gewisse persönliche Ueberzeugungen, geopfert hatten. Die neue preußische
Verwaltung mußte daher alle diese früheren Staatsräthe u. s. w. beseitigen und
aus Kurhessen wurde niemand in das Ministerium nach Berlin gezogen,
wie z, B. aus Hannover geschah. Aber selbst die vortragenden Räthe in
den einzelnen Ministerien, die Herr von Möller ursprünglich auch sämmtlich
durch andere Beamte hatte ersetzen wollen, waren kaum geeignet, für die
Ueberleitung der alten Verwaltung in die neue dem Lande Dienste zu leisten.
Hatten sie früher ihre Stellungen nur dadurch erlangen und behaupten können,
daß sie sich dem herrschenden Willen anbequemten und demselben als mehr
oder weniger geschickte Werkzeuge dienten, so glaubten sie jetzt auch nur zu
allen Wünschen und allen Forderungen des Ministeriums Ja und Amen
sagen zu müssen. Jeder Widerspruch schien ihre persönliche Stellung zu ge¬
fährden, und statt die Regierung auf dieses oder jenes aufmerksam zu machen,
das mit ihren Plänen nicht in Uebereinstimmung zu bringen sei. arbeiteten
sie in der ihnen einmal gegebenen Direktion weiter, um das Ende ganz un¬
bekümmert. Namentlich hat der frühere Referent im Justizministerium, ein
Herr Etienne, sich in dieser Beziehung der schwersten Sünden gegen das
Land schuldig gemacht, bis dieses gefügige Werkzeug des Grafen Lippe von
dessen Nachfolger aus seiner Stellung entfernt und zum Vizepräsidenten eines
hannöverschen Obergerichtes ernannt wurde.
Und noch weiter die büreaukratische Rangordnung hinab hatte man
früher alle nur einigermaßen wichtigen Stellen mit politischen und kirchlichen
Anhängern des Systems besetzt. Ein großer Theil der höheren Verwaltungs¬
beamten, die Landräthe u. s. w., hatten früher der juristischen Branche ange¬
hört. Gänzlicher Mangel an Einsicht in die Grundsätze und Fortschritte der
modernen Volkswirthschaftslehre und nur Ueberfluß an Gesinnungstüchtigkeit
hatte sie zu den wichtigsten Stellen empfohlen. Ebenso gehörten sast alle
höheren Schulbeamten dieser Richtung an. Wie sollten diese Herren dazu
kommen, die Interessen des Landes zu wahren? Die gesinnungstüchtigeren
und ehrenwertheren von ihnen wandten sich der neuen Regierung nicht
sofort zu, die große Majorität ging so rasch als möglich ins preußische
Lager über, d. h. sie überbot sich in Unterwürfigkeit gegen das neue Regime,
fand alle seine Maßregeln vortrefflich und sah es als höchst bedauernswerth
an. daß wir nicht schon längst preußisch geworden seien, während sie noch
wenige Monate vorher gegen die „Räuber" und die deutschen Piemontesen
geeifert hatte. Alle persönliche Würde war bei diesen Leuten abhanden ge¬
kommen, die sich stets nur den „Rücken decken" wollten und sich und ihre
Untergebenen zu Gehorsamsbezeugungen und willfähriger Ausführung aller
ihnen angesonnenen Neuerungen anzufeuern nicht müde wurden. Noch vor
Kurzem kam es vor, daß einer der kläglichsten dieser Herren, auf einen bloßen
Witz in einer Zeitung hin, sich und seine Untergebenen durch eine officielle
Erklärung von dem Verdachte reinigen zu müssen glaubte, daß Jemand von
ihnen an dem Witz betheiligt und mit seinen neuen Vorgesetzten nicht ganz
vollkommen zufrieden sei. Der Mann hatte offenbar nicht bedacht, daß es ganz
unschicklich sei. wenn untergeordnete Beamte über ihren Chef in Zeitungen
sich irgend ein Urtheil erlauben.
Wenn daher in Hessen jetzt vielfach darüber Klage geführt wird, daß
die Hannoveraner, welche sich durch ihre antipreußische Gesinnung vor den
Hessen hervorgethan hatten, im Ganzen doch viel besser behandelt worden
seien als ihr Land, so ist. wenn wir auch zugeben wollten, daß diese Klage
begründet ist, der Grund derselben viel mehr in den hessischen Verhältnissen
selbst zu suchen als in dem Willen der neuen Regierung. Nach dem Ver¬
schwinden der alten Regierung hat sie die Erbschaft derselben antreten müssen,
ohne von der Rechtswohlthat des Inventars Gebrauch machen zu können
und zu wollen.
Auswärtige Zeitungen brachten vor einigen Wochen das Gerücht, die
niederländische Regierung habe in der französisch-belgischen Eisenbahnfrage
Partei genommen. Obschon eine solche Nachricht geeignet war ein fried¬
liches Volk zu beunruhigen, so nahm man sie bei uns doch sehr ruhig auf,
da man die Unwahrscheinlichkeit derselben sogleich einsah. Der ganze Be¬
richt hat wohl seine Entstehung einer mangelhaften Kenntniß unserer Ver¬
hältnisse zu danken. Die folgende Darstellung mag beweisen, wie leicht¬
sinnig man zuweilen Neuigkeiten fabricirt.
Nachdem unter dem Ministerium van Hall der Bau eines Eisenbahnnetzes
über das ganze Land auf Staatskosten beschlossen war, wurde der Betrieb
derselben einer Actikngesellschast unter dem Namen: „UaatseKkp^ we exploi-
tatis <Zer Le^tsspoorveMn" (Gesellschaft für den Betrieb der Staatseisen-
bahnen) übertragen. Um dem aus den Zeiten der Republik herübergebrachten
Provinzialismus zu genügen, mußte die Regierung mit dem Bau auf ver¬
schiedenen Punkten anfangen, so daß überall kurze Strecken ohne Zusammen¬
hang sertig wurden, die in Erwartung des späteren Anschlusses durch obige
Gesellschaft in Betrieb genommen wurden. was natürlich ungünstige finan¬
zielle Resultate lieferte. Bei Errichtung der Gesellschaft, die in eine Zeit
fiel, wo verschiedene finanzielle Unternehmungen, die jetzt ihren frühen Tod
gefunden haben, wie über Nacht entstanden, war man unvorsichtig genug,
nur die Hälfte des Grundcapitals in Actien zu emittiren, da das ganze
Capital doch erst bei herannahender Vollständigkeit des Bahnnetzes nöthig
würde. Dieser Fall ist nun seit ungefähr zwei Jahren eingetreten, aber An¬
gesichts der bisherigen schlechten Resultate und des Mißtrauens, das sich im
Publicum gegen Actiengesellschaften festgesetzt hat, war die Gesellschaft nicht
im Stande ihre weiteren Actien auszugeben. Sie wandte sich deshalb um
Hülfe an die Regierung, da ihr Interesse mit dem des Staates eng ver¬
bunden ist.
Das Ministerium brachte demgemäß eine Vorlage in die zweite Kammer,
um die Gesellschaft zu unterstützen; die Kammer war zur Hülfe bereit, wollte
die Hülfe aber nicht in Form der Regierungsvorlage leisten. Sie beklagte sich
sehr über einige Maßnahmen der Eisenbahnverwaltung, hauptsächlich über
die Betriebsübernahme zweier Privatbahnen, der Linie Almelo-Salzbergen
und Lüttich-Limburg, die jährlich großen Verlust brachten, welcher in keinem
Verhältniß zu dem Vortheil des erlangten Anschlusses stand. — Die Ver¬
handlungen zwischen Regierung und Gesellschaft, um zu einer besseren Ueber-
einkunft zu gelangen, wurden fortgesetzt und schweben noch. Von Seiten
der Regierung wurde auf Lösung des Contracts mit den beiden Privat¬
bahnen, vorzüglich mit der Lüttich-Limburger Linie, gedrungen, was natürlich
wegen der geringen Ertragsfähigkeit der Bahn doppelt schwierig ist. Diesem
Druck der Regierung auf die Betriebsgesellschaft, der schon seit ungefähr
einem Jahr ausgeübt wird und hier eine allgemein bekannte Sache ist, hat
man ganz mit Unrecht politische Triebfedern untergeschoben. Die Ueberein-
kunft zwischen der französischen Ostbahn und der Lüttich-Limburger Bahn,
wodurch der Contract mit der holländischen Gesellschaft gelöst, resp, dieser
die französische substituirt wird, ist jedenfalls dem Wunsche des hiesigen Gou-
vernements gemäß; aus Vorhergehendem ist. aber deutlich, daß dabei rein
ökonomische Motive zu Grunde liegen. Für die Niederlande kommt bei dieser
beabsichtigten Uebereinkunft kein politisches, wohl ein commercielles Interesse
ins Spiel; denn was könnte uns daran liegen, ob wir die Verbindung eine
kleine Strecke über unsere Grenze auf nachbarliches Gebiet in Händen haben,
oder ein Anderer? Maastricht hat für uns durchaus keinen strategischen Werth:
seine Festungswerke sind theilweise schon demolirt. Dagegen würden wir
beim Zustandekommen der Uebereinkunft eine neue directe Verbindung mit der
Schweiz und dem östlichen Frankreich erhalten haben.
Unsere Regierung hat sich durchaus nicht in den Conflict Belgiens mit
Frankreich gemischt, und kann also von einer Parteistellung derselben in diesem
Sinne nicht die Rede sein; ein solcher Act würde zudem eine heftige Oppo-
sition im LanVe hervorrufen, da unsere auswärtige Politik sich zweifelsohne
ganz neutral verhalten muß. Einige schwache Versuche, von diesem Wege
abzuweichen, sind mit so schlechtem Erfolg gekrönt worden, daß man künftig
wohl vorsichtiger sein wird. Eine leise Fürsprache für das unglückliche Polen
und die Einmischung in die luxemburger Frage haben uns nur kurze Ab¬
weisung von Seiten Rußlands und Preußens gebracht. Die Händel über
Luxemburg haben außerdem einen andern Nachtheil gehabt. Man ist aus¬
wärts in der irrigen Meinung bestärkt worden, daß das Königreich der
Niederlande mit dem Großherzogthum Luxemburg in irgend einem Zusammen¬
hang stehe. Letzteres ist uns ganz fremd, und ob unser König nebenbei auch
Großherzog ist, geht uns gar nichts an. Im Uebrigen kennt man die luxem¬
burgischen Zustände in Deutschland besser als hier.
Die Ereignisse der letzten Jahre haben uns zu deutlich gezeigt, daß die
Aufmerksamkeit kleiner Staaten nur auf die Erhaltung ihrer Selbständigkeit
gerichtet sein muß, und daß sie dieselbe nicht auf ihre eigene Kraft, sondern
auf die Freundschaft ihrer Nachbaren gründen müssen. Daß auch wir jeden
Eingriff auf diese Selbständigkeit abwehren, hat das Verhalten unserer Re-
gierung bei den Verhandlungen über die Rheinschifffahrtsacte bewiesen, wo
wir den Anspruch Deutschlands, Bauten, die wir an den Rheinmündungen
ausführen, zu überwachen, hartnäckig zurückwiesen. Das Widerstreben Bel¬
giens gegen die französischen Ansprüche müssen wir darum für ganz berechtigt
halten, so daß wir hier in eine Lage gerathen, wo unsere Sympathie unserm
finanziellen Interesse entgegensteht.
Aber die Frage über das künftige Loos unserer Unabhängigkeit schneidet
tief ins Herz jedes Bürgers und wird nur mit einer gewissen Furcht be¬
handelt. Das Gespenst der Annexion, das sich vor drei Jahren so urplötz¬
lich erhob, ist noch nicht verschwunden und wird, obschon sehr erblichen,
noch lange umgehen. Kann man auch als Kosmopolit mit kaltem, ruhigem
Verstand das Nattonalgefühl gewissermaßen als überflüssig oder gar hinder¬
lich abschütteln, so ist es doch sehr unangenehm, aus Verhältnissen, die man
durch lange Gewohnheit lieb gewonnen, hinausgetrieben zu werden, um in
neue einzutreten, die in mancher Beziehung besser sein mögen, jedenfalls aber
auch Mängel haben. Herrschen wir doch lieber in unserm Hause allein und
wünschen nicht, daß unser Nachbar darin schaltet und waltet, selbst wenn er
Verbesserungen anbringen wollte. Man kann also begreifen, mit welchem
Schrecken die Nachrichten von den Eroberungen Preußens die Niederländer
erfüllte, und welche Sympathie dieselben bei ihnen für Hannoveraner. Hessen
und Frankfurter hervorriefen. Schon der dänische Krieg hatte eine heftige
Ungunst gegen Preußen erweckt, und der Conflict des Ministeriums Bismarck
mit der liberalen Partei in der Militairfrage konnte dieselbe nur erhöhen.
Obgleich man — ungern — zugeben mußte, daß der Sieg Preußens ein
Schritt zur Einigung Deutschlands war, und die gefallenen Dynastien eben
nicht Mitgefühl beanspruchen konnten, so war auf der anderen Seite das
Rechtsgefühl der Niederländer, das in der Annexion nichts Anderes als das
Recht des Stärkeren sah, zu sehr gekränkt.' Der Liberalismus, das Recht der
Selbstbestimmung, die so tief im Holländer gewurzelt sind, lehnen sich auf
gegen jede Zwangsmaßregel von Seiten einer Regierung, und man nahm
an, daß die annectirten Länder freiwillig nicht so leicht unter das Scepter
Preußens gekommen wären.
Der Herbst des Jahres 1866 brachte uns auch hier viel Waffengeklirr
und kriegerische Stimmung. Ueberall wurden Freiwilligencorps errichtet,
und das Ministerium von Zuylen erhielt von den Kammern für die Armee
und Marine bedeutend höhere Summen als früher. Unzählige Schriften
über die militärischen Zustände erschienen, und die Frage über die Möglich¬
keit einer Vertheidigung des Landes gegen einen übermächtigen Angriff wurde
zur brennenden Frage. Es war. als ob schon eine preußische Armee an der
Grenze stände, und der allgemeinen Aufregung, die von oben herab noch
dazu angefacht wurde, konnten sich nur wenige Unbefangene entziehen. Eine
Schrift des Prof. Bosscha, die mit Ruhe darlegte, daß die Niederlande von
den preußischen Tendenzen vorläufig nichts zu fürchten hätten, rief mehr
Unmuth als Befriedigung hervor.
Die darauf eintretende luxemburger Frage, die unvorsichtige Einmischung
unserer Regierung und die dadurch entstandene Animosität in Deutschland
waren nicht geeignet die Gemüther zu beruhigen, und gerade der damals
drohende Krieg zwischen Frankreich und Preußen, dessen Tragweite unüber¬
sehbar gewesen sein würde, brachte nun zu der Furcht vor Preußen auch
die vor Frankreich. Zwar kam es nicht zu einer Parteibildung; gegenüber
der Aeußerung: „Lieber französisch als preußisch", hörte man auch die: „Wir
passen besser zu Deutschland als zu Frankreich." Alle aber wünschten, daß diese
Alternative niemals gestellt werden möchte. Einzelne Pessimisten warnten wohl
vor den hohen Ausgaben für Militairzwecke, in der nicht ganz unbegründeten
Meinung, gegen eine Invasion eines übermächtigen Feindes könne man sich
doch nicht vertheidigen, jedoch die allgemeine Ueberzeugung war. wenn man
auch unterliegen müsse, so müsse es doch nach ehrenvollen Kampfe geschehen,
und so lange könne man sich vielleicht vertheidigen, bis Hülfe von einem
mächtigeren Bundesgenossen kommen werde, da ein Angriff auf die Nieder¬
lande nur in einem allgemeinen europäischen Kriege stattfinden, oder doch
denselben hervorrufen würde. Charakteristisch ist jedoch, daß bei allen in der
letzten Zeit besprochenen Vertheidigungsplänen ein Angriff von Osten her
angenommen ist.
Die Kriegswolken, die schwarzen Punkte am Horizont verzogen sich
langsam, aber die allgemeine Malaise, man möchte fast sagen, ein passiver
Widerstand gegen die neuen Zustände in Deutschland blieb bestehen, obwohl
die Gemüther sich langsam beruhigten. Je mehr man sah. daß Preußen mit
den neuerworbenen Provinzen alle Hände voll Arbeit hatte, je größer die
Schwierigkeiten wurden, die sich einem Anschluß von Süddeutschland an den
norddeutschen Bund entgegenstellten, desto mehr begriff man, daß eine Annexion
von Seiten Preußens noch, in langen Jahrn nicht zu fürchten sei. Ja, auf
die allgemeine Erregtheit kam eine kleine Reaction, die ihren Ursprung in
finanziellen Rücksichten hatte, die beim Holländer immer schwer wiegen.
Die Budgets sür Kriegswesen und Marine waren seit dem Jahre 1866
um ungefähr zwei Fünftel erhöht und eine jährliche Mehrausgabe von acht
Millionen Gulden ohne vermehrte Einnahme drohte die Staatsfinanzen zu
zerrütten. Wohl waren diese in den letzten zehn Jahren vor dem deutschen
Kriege sehr blühend gewesen, man konnte Eisenbahnen bauen, die Sclaverei
in Westindien aufheben, ja selbst noch Schulden tilgen; als aber im Jahre 1866
zu den früher eingegangenen Verpflichtungen auch noch größere Summen für
die Landesvertheidigung beansprucht wurden, da mußte man alle Kräfte an¬
wenden, um den Abgrund einer neuen Anleihe zu vermeiden. Einschränkungen
in den Staatsausgaben wurden nöthig, und, wie leicht begreiflich, suchte man
solche zuerst bei Marine und Armee, was jedoch mit dem besten Willen nicht
sofort auszuführen ist.
Man kam langsam zu der Ueberzeugung, daß man sich nach dem Kriege
in Deutschland durch eine übertriebene Preußenangst zu weit hatte treiben
lassen; man wandte wieder ins ruhige Gleis und fing an, über den Eifer
der Freiwilligencorps zu spotten, denen zuerst selbst in den Kammern leb¬
hafter Beifall gezollt worden war.
Die Abneigung gegen Preußen besteht inzwischen nicht erst seit einigen
Jahren, sondern hat einen älteren Ursprung. Die Holländer erinnern sich
noch immer der preußischen Invasion des Jahres 1787, welche dem Statt¬
halter Wilhelm V. Hülfe gegen das aufständische Volk leistete. Die Preußen
sind den Holländern seit jener Zeit, wo sie ihnen die Reaction brachten,
bis zum heutigen Tage die Repräsentanten politischer Unfreiheit geblieben.
Der Beruf Preußens zur Einigung Deutschlands gilt hier als Anmaßung,
jede That zur Erreichung dieses Zieles als ein Act der Vergewaltigung,
und in den Zeitungen gibt sich diese Gesinnung dadurch kund, daß nur
antipreußische Berichte aufgenommen werden. Nur die liberale Partei in
Preußen erfreut sich einiger Sympathie; aber man wirst ihr Schwäche vor,
weil sie sich vor dem Succeß der Politik des Herrn von Bismarck beugt.
Den Standpunkt, worauf sich diese Partei vor dem Kriege gestellt hatte,
erkannte man als richtig an, und man meinte, selbst höhere Interessen
dürften nicht die Ursache zum Verlassen desselben sein. Unser Staatsleben
gründet sich ausschließlich auf das Gesetz und die Gewohnheit, so daß der
Holländer sich kein Recht zu denken vermag, daß sich nickt auf einen be¬
stimmten Rechtstitel stützt. Durch die lange Enthaltung von der allgemeinen
europäischen Politik, zu welcher die Niederländer schon seit einem Jahrhundert
gezwungen sind, ist ihnen auch das richtige Verständniß für dieselbe abhanden
gekommen, und es ist häufig ergötzlich Raisonnements unserer Tagespresse
über auswärtige Zustände zu lesen. Uebrigens — wir stehen in dieser
Frage so ziemlich mit den Belgiern gleich, die. wenn ich nicht irre, über
die deutschen Zustände ebenso urtheilen, wie wir. Bei unsern südlichen
Nochbarcn sowohl wie bei uns ist der Volkswille zuletzt entscheidend, und
bei einer wirklich constitutionellen Regierungsform sind gewaltsame Annexionen
so ziemlich unmöglich. Wäre in Preußen und in Frankreich eine parlamen¬
tarische Regierung eingeführt, dann würden die kleineren Staaten nicht
nöthig haben sich zu fürchten, und eine Annäherung der Niederlande an
Preußen würde möglich sein, da man hier sehr gut fühlt, daß ein gutes
Einvernehmen mit unserm östlichen Nachbar einen unberechenbaren materiellen
Vortheil bietet, und ein näherer Anschluß an denselben in dieser Beziehung
nur erwünscht sein kann.
Aber schon der Gedanke eines Druckes von Außen würde das National¬
gefühl der Holländer so sehr kränken, daß jede Annäherung den größten
Widerspruch hervorrufen und die entgegengesetzte Wirkung haben würde.
Von Seiten Frankreichs ließe man sich wahrscheinlich eher eine Anmaßung
gefallen als von Seiten Deutschlands. Es scheint als ob Völker verschiedener
Race sich besser mit einander vertragen, als Völker gleicher Race; an Belgien.
Polen, Amerika und Dänemark haben wir Beweise hierfür. Von Seiten
Preußens sind noch keine Schritte gethan. die feindselig gegen uns waren,
und wir stehen im besten diplomatischen Einvernehmen mit diesem Staate.
In Berlin wird man wohl einsehen, daß dieser Zustand Wünschenswerther
ist, als kleine Zänkereien, die keinen nennenswerthen Vortheil bringen und
nur das kaum wieder einschlummernde Mißtrauen wach rufen würden.
Könnte die deutsche Presse sich nur entschließen, von solchen Prätensionen,
wie die Grenzregulirung resp. Ausbreitung der preußischen Grenze bis zur ^,
Maas, gänzlich zu schweigen.
Die achtungsvolle Ruhe, mit welcher wir das ruhmreiche und eigen¬
thümlich entwickelte Staatsleben unserer fränkischen und friesischen Vettern in
den Niederlanden betrachten, wird von ihrer Seite nicht durch das ent¬
sprechende Behagen an unserem Hauswesen erwiedert.
Wir könnten wohl als verwandtschaftliches Recht beanspruchen, daß die
Niederländer unsere inneren Verhältnisse mit Unbefangenheit und Theilnahme
würdigten; sie würden dann vielleicht finden, daß die persönliche Freiheit bei
uns größer, das Recht sicherer und die Zumuthungen des Staates an die
Einzelnen keineswegs so tyrannisch sind, als sie meinen. Uns Deutsche hat
das Unglück betroffen, daß in demselben Jahrhundert, in welchem die
Niederlande der reichste und einer der mächtigsten Staaten wurde, wir durch
dreißigjährigen Krieg den größten Theil unserer Volkskraft einbüßten, und
daß wir als Nation nur in kleinen despotisch organisirten Territorien unter
zahlreichen Landesherren dauerten. Langsam, durch hatte Arbeit und harte
Entbehrungen haben wir uns in zwei Jahrhunderten wieder herausgebracht;
wir verdanken der kriegerischen Zucht und administrativen Sparsamkeit der
Hohenzollern. daß wir in dieser Zeit nicht russisch oder französisch wur¬
den, daß wir allmälig zu einer Verkehrseinheit zusammenwuchsen, end¬
lich daß der lähmende Widerstand, welchen die Doppelherrschaft Oestreichs
und Preußens im deutschen Bunde ausübte, zerbrochen wurde, und daß wir
jetzt in der Lage sind, mit einer noch unvollkommenen, aber doch lebens¬
fähigen Staatsform eine anständige Stellung unter den Mächten der Erde
zu behaupten. Noch sind bei uns in Verwaltung und in Gesetzgebung hier
und da Trümmer des alten Polizeistaates stehen geblieben, wir sind gerade
jetzt in recht angestrengter Thätigkeit, dieselben zu beseitigen.
Wir gelten in Holland sür eroberungslustig, noch jetzt, wo nicht mehr
die Fürsten, sondern die Völker erobern. Wo haben wir Preußen dieser
Untugend nachgegeben? Wir haben Neuenburg der Schweiz ohne Widerstand
überlassen, als das politische Bedürfniß die Alpenrepubliken zu festerer Ver¬
einigung trieb. Wir haben dagegen Schleswig-Holstein von den Dänen
gelöst, wahrlich nicht in aufflackernder Ländergier, sondern weil die Lage der
Deutschen dort unerträglich geworden war. Eine sehr große Majorität der
Einwohner dieser Landschaft hatte sich zum bewaffneten Widerstand gegen
die dänische Tyrannei erhoben, durch Jahrzehnte dauerte Kampf und Wider¬
stand, nur zögernd und zuweilen widerwillig nahmen sich die deutschen Re¬
gierungen des unterdrückten Volkes an. Was würden die Niederländer dazu
gesagt haben, wenn in jener Zeit, wo sie noch mit dem deutschen Reiche
zusammenhingen, oder in den Jahren, wo sie unter ihrem Statthalter, König
Wilhelm, durch eine Art Personalunion mit dem englischen Staate verbunden
Waren, ein deutscher oder englischer Fürst gewagt hätte ihre alten verfassungs¬
mäßigen Freiheiten zu zerreißen, ihnen Geistliche und Lehrer von fremder
Sprache zu setzen und felle Beamte über ihr Land zu schicken? Doch, wir
wissen, was sie in ähnlichem Falle thaten; sie selbst haben uns das glor¬
reiche Beispiel gegeben, wie ein Volk bis zum Tode seine Nationalität gegen
fremden Despotismus vertheidigt. Wenn wir die Verschiedenheit der Zeit¬
cultur in Rechnung bringen, so war die Lage Schleswig-Holsteins in den
letzten 20 Jahren dänischer Herrschaft genau so. wie die der Niederlande
unter Philipp II. von Spanien und der Unterschied nur der, daß die Be¬
freiung der Schleswig-Holsteiner zuletzt nicht durch ihre eignen Waffen, sondern
durch andere Truppen des deutschen Bundes erfolgte. Wenn die Nieder¬
länder jetzt vernehmen, daß etwa der fünfte Theil der Schleswig-Holsteiner
die dänische Herrschaft zurückwünsche, weil er in Sprache und Lebensgewohn¬
heiten den Dänen nahe steht, so dürfen wir wieder ein Beispiel aus der
niederländischen Geschichte nachahmen; auch in der Zeit des niederländischen
Freiheitskampfes gab es unter ihnen eine wälsche Partei, und noch lange
nachher eine französische, aber jeder Staatsmann oder Politiker wäre bei ihnen
gerichtet oder getödtet worden, der eine Aushändigung der Dörfer und Städte
mit überwiegend wälscher Bevölkerung betrieben hätte. Denn jeder wackere
Niederländer fühlte als Ehrensache, die eroberten Grenzen zu behaupten und
die Patrioten vor Gewaltthat zu schützen, welche in den lauen oder abge¬
neigten Gemeinden wohnten.
Am allerwenigsten aber soll man in den Niederlanden die Annexionen
von 1866 als Eroberung fremder Länder betrachten. Denn die Gebiete,
welche damals in den preußischen Staatsverband eingeschlossen wurden, waren
halb souveraine Landschaften unter alten Territorialherren gewesen, ohne eige¬
nes Recht über Krieg und Frieden, auch in manchem ihrer inneren Gesetz¬
gebung von dem alten Bunde abhängig, durch den Zollverein an Preußen
gebunden, durch ihre Lage innerhalb preußischem Gebiet vor den Eroberungs-
gelüsten des Auslandes geschützt, durch die preußischen Regimenter am Rhein
und an der Weichsel behütet. Als Preußen im Jahre 1866 die alten Re¬
gierungen dieser Gebiete entfernte, that es genau dasselbe, was 1747 und 48
in den Niederlanden geschehen ist, als die bewaffnete Partei der Oranier die
Rathhäuser stürmte, die Bürgermeister verjagte, die Souverainetät der Stadt¬
republiken aufhob und Wilhelm IV. zum ersten Oberhaupt der sieben Pro¬
vinzen machte. Noch lange nachher sahen die Holländer auf jene Gewalt¬
thaten mit Trauer und Abneigung, weil liebgewordene Freiheiten der Staats¬
theile dadurch vermindert worden sind, aber schwerlich leugnet jetzt ein Leben¬
der, daß jene alte Verletzung localer Rechte für die Gesammtheit nothwendig
war. Ferner, genau, was 1847 durch die Schweiz und 1864 durch die Union in
Amerika geschah, das haben 1866 die Preußen in Deutschland gethan. In
der Schweiz wurde nach blutigem Siege die Verfassung geändert und 22
Länder in einen Staat zusammengebunden; in den Vereinigten Staaten wurden
nach dem größten Kriege der Neuzeit die Führer der Gegenpartei eingeker¬
kert, die Verfassung der besiegten Gebiete suspendirt und das Land unter
Militairgouverneure gestellt, um eine straffere Einheit des Staats hervor¬
zubringen. In Deutschland, wo alte Landdynasten die Führer der Rebellion
gegen die nationalen Interessen waren, wurden nur die Dynasten ausgetrie«
ben. Sonst sind diese inneren <staatsproeesse in allen Hauptsachen gleich und
mit gleicher Naturnothwendigkeit erfolgt; es galt in allen Fällen ein vor¬
handenes, auf gleicher Nationalität und gleichen Interessen ruhendes Staats¬
wesen, dessen Uebelstände unerträglich geworden waren und die Existenz der
Nation bedrohten, so weit umzubilden, daß die Bürger desselben nach den Er¬
fordernissen der Zeit darin leben konnten. Wer hat jemals Eroberung ge¬
nannt, als die Republik Amsterdam das Recht verlor, durch ihren Einspruch
Krieg und Frieden der Niederlande zu verhindern? wer hat der Majorität
der Schweizer Eroberungsgelüste zugeschrieben, als sie jene Behauptung Frank¬
reichs, daß die Welt nur 22 schweizer Cantone, nicht eine Schweiz anerkenne,
zur Unwahrheit machte? wem ist eingefallen, die Occupcttion und Unter¬
werfung von Florida und Virginien eine Eroberung fremden Landes zu
nennen? Genau ebensowenig Recht hat man, uns als Eroberer zu betrachten.
Aber wir vermögen den Niederländern die sicherste Garantie unserer
friedlichen Gesinnung zu geben: unseren gemeinsamen Vortheil. Wir haben auf
unserer Westgrenze' kein größeres, werthvolleres Interesse, als die Nieder¬
länder in ihrer staatlichen Unabhängigkeit zu erhalten. Ja, wir würden es
für ein nationales Unglück halten, wenn jemals der — wie wir hoffen, un¬
denkbare — Tag herankäme, wo die Niederländer selbst, durch irgend eine
Noth gedrängt, den Eintritt bei uns begehrten. Mühsam sind in den letzten
Jahrhunderten zwischen Deutschland und Frankreich trennende Staatskörper ein¬
gerichtet, und zum Theil in ihrer Existenz besonders feierlich garantirt: die
Schweiz, Belgien und die Niederlande. Wir wissen, wie sehr die Ruhe Euro¬
pas, Friede und Gedeihen unserer Landschaften davon abhängt, daß diese na¬
türlichen Festungen zwischen uns und den Franzosen erhalten werden. Wir
fühlen durchaus keine Sehnsucht, Frankreich zu erobern und die Franzosen zu
Deutschen zu machen, und wir sind völlig überzeugt, daß eine Ausdehnung des
deutschen Staates über die Rheinmündungen uns zu diesem verzweifelten und
widerwärtigen Kampf nöthigen würde. Und deshalb fühlen wir fast so warm
sür holländische Unabhängigkeit, als die Holländer selbst.
Die Rede, welche Mr. Summer im Senat der Vereinigten Staaten
über die Verwerfung der von Neverdy Johnson abgeschlossene Convention
zur Beilegung der Alabama-Ansprüche gehalten, hat die größte Bewegung
in der ganzen Welt erregt und das Schreckbild eines Krieges zwischen Eng¬
land und Amerika näher gerückt, als es jemals seit den Sorgen der Trent-
Affaire gewesen ist. Auch beruhen diese Befürchtungen keineswegs auf bloßer
Einbildung. Goldwin Smith z. B., einer der vorgeschrittensten englischen Radi-
calen, welcher vor kurzem europamüde nach Amerika übersiedelte, hat einem
Freunde in London geschrieben, daß er nicht wisse, wie lange ihm die gegen
England herrschende feindselige Stimmung noch erlauben werde, in den Ver¬
einigten Staaten zu bleiben und der ungemein nüchterne Newyorker Cor-
respondent der „Daily News" hält die Lage für recht bedenklich. Es ver¬
lohnt sich daher wohl, etwas näher auf die Sache einzugehen, zumal «in
wirklich ausbrechender Conflict zwischen beiden Reichen schwerlich ein Duell
bleiben könnte und jedenfalls den weitreichendsten Einfluß auf Europa
haben würde.
Es muß von vornherein zugegeben werden, daß wenn jetzt Englands
Interessen ernstlich bedroht sind, der Staat dies lediglich seiner verkehrten Politik
zu danken hat und vor Allem Lord Russell welcher es Amerika gegenüber ebenso
verstand, sich zwischen zwei Stühle zu setzen, wie in der polnischen, der Schles-
wig-holsteinischen und anderen Fragen. Bei Ausbruch des Bürgerkriegs
hatte England nur eine Alternative, entweder es benutzte denselben, die Re¬
publik der Vereinigten Staaten, deren reißenden Wachsthum es lange mit
Unbehagen zugesehen, zu sprengen, indem es sür den Süden Partei nahm,
sobald derselbe sich constituirt hatte, oder es stellte sich auf die Seite der
Union, indem es eine dem Norden freundliche Neutralität beobachtete.
Lord Russell that keines von beiden, er lehnte die wiederholten Aufforderungen
Napoleons, die Südstaaten anzuerkennen, ab, aber er trat niemals den Sym¬
pathien, welche die regierenden Classen Englands für den Süden zeigten,
entgegen, er ließ es ohne Widerspruch hingehen, daß ein Mitglied seines Cabi-
nets im Parlament erklärte: Jefferson Davis habe eine Nation geschaffen,
und zeigte dem Norden ein so unfreundliches Gesicht, als es nur möglich
war, ohne direct zu brechen. Die Folge war eine Erbitterung Amerika's
gegen England: die weit größer war als gegen Frankreich, welches die Ini¬
tiative eines direct feindseligen Vorgehens genommen. Das Cabinet von
Washington setzte zur Demüthigung Napoleons die Räumung Mexiko's durch,
aber damit war auch die Rechnung liquidirt, umgekehrt mußte es in der
Trentfrage England nachgeben, aber es blieb eine Bitterkeit, welche bekun¬
dete, daß man die Abrechnung auf gelegene Zeit verschiebe. Diese umgekehrte
Stellung zu den Westmächten erklärt sich auch dadurch, daß in Frankreich
die Presse und öffentliche Meinung mit großer Einmüthigkeit die Partei der
Union als einer alten Verbündeten ergriff und die Fortdauer des Sklaven¬
halterregiments bekämpfte, während die diplomatischen Schritte des Kaisers in
London auf Anerkennung des Südens der Masse des amerikanischen Volkes
meist unbekannt blieben. In England dagegen nahmen Presse und Parlament
mit ebenso großer Entschiedenheit die Partei des Südens, Bright stand mit
seinen Sympathien für die Union fast allein. Aber die Amerikaner hatten
concretere Beschwerden gegen die englische Regierung, als deren Sympathien
mit ihren Gegnern, England zeigte seine Connivenz für den Süden durch die
laxe Ausführung der Neutralitätsgesetze, speciell hinsichtlich der Ausrüstung
südstaatlicher Kaper in seinen Häfen. An den schreiendsten Fall, den der
Alabama, knüpft sich die gegenwärtige Differenz. Die Alabama war in
Liverpool heimlich gebaut; kurz vor ihrem Auslaufen erhielt der dortige
amerikanische Consul Gewißheit über ihre Bestimmung und verlangte von
den englischen Behörden die Beschlagnahme. Dieselben telegraphirten um
Verhaltungsbefehle an das Auswärtige Amt, aber als die Depesche an einem
Sonnabend Morgen eintraf, war Lord Russell aufs Land gegangen. Sein
Vertreter, der permanente Unterstaatssecretair Mr. Hammond, ein enger Bu¬
reaukrat, wagte keine Entscheidung zu treffen, und als am Montag der Mi¬
nister wieder anlangte, war die Alabama auf hoher See. Es ist bekannt,
welchen ungeheuren Schaden dieser Kaper dem amerikanischen Handel zuge¬
fügt. Nach Beendigung des Bürgerkriegs forderte Amerika hierfür Ersatz,
dessen Betrag durch ein Schiedsgericht festgestellt werden sollte. Lord Russell
wies dies Verlangen kurzer Hand ab. Lord Stanley, der ihm im Juni 1866
im Auswärtigen Amte folgte und durch keine Antecedentien gebunden war,
brachte den aufrichtigen Wunsch mit, die Differenz auszugleichen, und erklärte
sich bereit, das Schiedsgericht anzunehmen, ein Entschluß, der in England
mit ungetheiltem Beifall begrüßt wird. Aber Mr. Seward änderte jetzt
plötzlich seinen Standpunkt, er, der ein Schiedsgericht gefordert mit der aus-
drücklichen Bestimmung, über die Alabamaansprüche zu entscheiden, verlangte
jetzt plötzlich, daß demselben auch die Frage unterbreitet werde, ob England
berechtigt gewesen, die Südstaaten als kriegführende Macht anzuerkennen, ob¬
wohl dies von fast allen Regierungen geschehen war. den gefeierten Freund
der Union, den Kaiser von Rußland nicht ausgenommen. Lord Stanley
blieb nur übrig, eine solche Forderung bestimmt abzuweisen, weil eine der¬
artige Entscheidung die Sache jedes souverainen Staates sei und der Norden
diese Anerkennung selbst implicite dadurch ausgesprochen, daß er die Aner¬
kennung seiner Blocade gegen die Südhäfen verlangte. Mr. Adams aber,
der amerikanische Gesandte aus London, welcher die Sache der Union unter
den schwierigsten Umständen mit Geschick und Energie vertreten, fand sich
durch diese 'plötzliche Schwenkung seines Chefs in eine so unbequeme Stel¬
lung versetzt, daß er seine Entlassung einreichte. Einen Augenblick schien es,
als ob man in Washington fühlte, daß man zu weit gegangen; der Nach¬
folger von Adams, Reverdy Johnson, traf im Sommer 1868 mit versöhn¬
lichen Jnstructionen ein, verkündigte in zahlreichen Tischreden Friede und
Freundschaft und beim Lordmayors - Bankett konnte Lord Stanley den Ab¬
schluß einer Convention mit Amerika auf befriedigenden Grundlagen ver¬
künden. Auf Seward's Wunsch ward dieselbe noch zwischen Johnson und
dem inzwischen als Ministet eingetretenen Lord Clarendon in einigen Punkten
abgeändert und ging dann nach Washington zurück, um dem Senat zur
Ratification vorgelegt zu werden.
Dazu aber kam es nicht sofort, denn inzwischen hatte die Präsidenten¬
wahl stattgefunden und vor dem Amtsantritt eines gewählten Präsidenten
werden vom Congreß keine wichtigen Fragen entschieden. Kaum aber hatte
Grant das weiße Haus bezogen, als der Senat die auf den von der ameri¬
kanischen Regierung selbst vorgeschlagenen Bedingungen abgeschlossene Con¬
vention verwarf und Mr. Summer als osficiöser Vertreter der Regierung in
einer Heftigen-Rede Ansprüche von wirklich fabelhafter Art erhob. Als Er¬
klärung läßt sich nur die Alternative finden, daß entweder die Sprache der
Regierungspartei merkwürdig zusammenhangslos und unverständlich ist, oder
daß Grant es auf einen Bruch mit England abgesehen hat.
Ersteres passirt nun gerade in Amerika oft, man nimmt den Mund
zuerst sehr voll und zieht hernach die Hörner ein, so war es früher beim
Trentfall, so neuerlich bei Cuba. Das Repräsentantenhaus hat eine Reso¬
lution zu Gunsten der Anerkennung der Unabhängigkeit jener Colonie be¬
schlossen, aber die Regierung wagt doch nicht darauf hin selbst mit dem
schwachen Spanien zu brechen. Wahrscheinlich ist der Glaube in den Ver¬
einigten Staaten sehr verbreitet, daß man England ungestraft reizen oder
beleidigen könne. Die schwächliche Politik Russell's hat dieser Ansicht starken
Vorschub geleistet. Lord Stanley erhob die Nichtintervention zum Princip
und verkündete auf dem Liverpooler Bankett vom 22. Oct. 1868 als Eng¬
lands Politik der Zukunft: „streng die Rechte der Schwachen wie der Starken
zu respectiren, sich nicht zu beeilen erlittenes Unrecht zu rächen, sondern sich
dem leidenschaftslosen Schiedsrichterspruch irgend eines competenten Tribunals
zu unterwerfen." Darauf folgte nun schließlich ein Ministerium, in dem
John Bright, die personificirte Nichtintervention als Mitglied sitzt, und so
ist es wohl erklärlich, daß die Uankees, von denen England sich schon so viel
hat gefallen lassen, glaubten, sie brauchten nur recht grob zu drohen, um
noch mehr zu erreichen. Indeß wäre dies doch kein geringerer Irrthum, als
der des Kaisers Nicolaus, welcher die entschiedene Abneigung des Aberdeen-
schen Cabinettes, sich auf Feindseligkeiten einzulassen, als Unfähigkeit auslegte,
zu denselben zu schreiten. Schon die Aufnahme, welche die Sumnersche
Rede selbst bei den radicalsten Blättern gefunden, sollte hinreichen, die
Washingtoner Regierungsleute darüber aufzuklären, England befinde sich keines¬
wegs in nachgiebiger Stimmung, sondern vielmehr in der eines Mannes, der
fühlt, daß er bis an die Grenzen jedes möglichen Entgegenkommens gegangen
und dafür nur Undank geerntet hat. Lord Clarendon wird nach wie vor
zum Ausgleich auf der früheren Basis bereit sein, aber er wird die Unter¬
handlung über die Alabamafrage nicht wieder eröffnen, ehe er sicher ist, daß
auf amerikanischer Seite der ehrliche Wunsch besteht, wirklich zur Verständi¬
gung zu gelangen und am wenigsten dürfte Amerika etwas durch hoch¬
fahrenden Ton erreichen. Es ist deshalb zweifelhaft, ob die Wahl Motlch's
zum Gesandten in London eine glückliche heißen kann; er wird sich zwar
Nicht um feinen Hals reden wie Reverdy Johnson, der sich in kurzer Zeit
lächerlich gemacht hat, und ist in England als Geschichtsschreiber hochgeschätzt,
aber seine politischen Ansichten sind schroff, sein Temperament heftig und ver¬
letzlich und er hat aus seinem tiefen Groll über Englands Haltung während
des Bürgerkriegs nie ein Geheimniß gemacht. Es konnte daher nicht fehlen,
daß auf diese Wahl, welche schon an sich bedenklich angesehen ward, ein noch
ernsteres Licht durch die Rede Sumners fiel, dessen vertraute Beziehungen
zum Präsidenten bekannt sind. Man fragt sich also, will Grant den Bruch?
kann er ihn wollen? Nach aller vernünftigen Berechnung gewiß nicht, die
Vereinigten Staaten sind noch vom Bürgerkrieg tief erschüttert, in der Mehr¬
zahl der Südstaaten herrschen Militairgouverneure. Alle Classen fühlen sich
gedrückt von den fast unerschwinglichen Steuern, welche nöthig sind, um die
Zinsen der Staatsschuld zu bestreiten, ein Krieg mit England müßte letztere
so steigern, daß der Bankerott fast unvermeidlich würde, während England,
welches seine gewaltige Schuld mit Leichtigkeit trägt, dieselbe um 100 Mill.
Pfd. sert. vermehren könnte, ohne seinem Budget ernste Unbequemlichkeiten
zuzumuthen. Ebenso überlegen ist England militairisch. allerdings müßte
Canada preisgegeben werden, obwohl dasselbe unzweifelhaft Alles aufbieten
würde, sich der Annexion zu erwehren, aber damit verlöre England nichts,
welches längst seine amerikanischen Besitzungen gerne los wäre, wenn dies
mit Ehren geschehen könnte. Ebenso wäre Amerika im Stande eine Rebellion
in Irland hervorzurufen, aber wenn dieselbe auch England einen ernsten
Kampf kosten würde, so wäre ihre Unterdrückung doch zweifellos und würde
nur neues Elend über das bethörte Volk bringen, welches sich dazu verleiten
ließe. Canada und Irland aber sind die beiden einzigen verwundbaren Punkte
Englands Amerika gegenüber. Denn zur See vermag die amerikanische
Marine wenig gegen die englische, selbst wenn sie das Meer mit Kapern bedeckte.
Man sollte glauben, solche Gründe seien hinreichend einen Krieg
zu vermeiden, für den kein vernünftiger Grund vorliegt, aber man darf
andererseits nicht außer Augen lassen, daß die Regierung der Vereinigten
Staaten in letzter Instanz von einer wankelmüthigen und erregbaren Volks¬
masse abhängt. Dazu kommt, daß Grant. wie man bereits sagen darf, die
Erwartungen, welche man ihm entgegenbrachte, nicht erfüllt; er war ein guter
General und benahm sich bei der Wahl mit klugem Tact, aber den schwierigen
Obliegenheiten der obersten politischen Leitung zeigt er sich nicht gewachsen.
Sein erstes Cabinet ging ihm in Stücke noch ehe es gebildet war, seine
Wahlen für die großen Gesandtenposten werden entschieden getadelt, nament¬
lich die Washburnes für Paris und er verliert bei seiner eigenen Partei rasch
an Credit, während die Angriffe der Gegner sich verdoppeln. Man legt
ihm deshalb den Gedanken unter, durch einen großen Krieg eine Ableitung
nach außen zu suchen, welche ihn als General wieder auf die Höhe der Be¬
wegung bringen würde. Mit der Ankunft Motley's in London wird es sich
bald zeigen, ob diese Conjecturen Grund haben; sicher ist nur. daß er mit
Drohungen nichts erreichen wird. — Wir erlauben uns schließlich einen Passus
zu citiren, womit wir Anfang November vorigen Jahres in diesen Blättern
S. 326 eine Besprechung der auswärtigen Politik Englands beschlossen:
„Trotz der allgemeinen Stimmung für die Nichtintervention sind wir über¬
zeugt, daß sie auf die Länge nicht dauern kann, selbst die Mehrheit, welche
sie jetzt vertheidigt, fühlt das Demüthigende, das in ihr liegt; es wird sich
über kurz oder lang eine Grenze zeigen, an der das passive Zusehen auf¬
hören muß. England erinnert freilich jetzt in mancher Beziehung an das
Holland des 18. Jahrhunderts, welches damals auch ängstlich jeder Ver¬
wickelung aus dem Wege ging; es ist zu reich, zu satt und so verletzlich in
seinen weitverzweigten Interessen geworden, daß es jeden Streit vermeidet.
Aber andere Staaten befinden sich nicht in derselben Gemüthsverfassung und
si« werden seine Geduld über kurz oder lang auf solche Proben stellen, daß
es nicht mehr Schiedsrichterspruche suchen, sondern sich genöthigt sehen wird,
der Welt zu zeigen, daß es eventuell seine Interessen, seine Ehre und seinen
Einfluß mit den Waffen zu vertheidigen weiß."
Wir ahnten damals nicht, daß jene Probe sobald kommen werde, aber
wir sind überzeugt, sie würde so mannhaft bestanden werden, wie wir damals
voraussagten.
Der Tag für den Zusammentritt des Zollparlaments ist bestimmt. Wir
setzen unter den gegenwärtigen Verhältnissen auf die Verhandlungen dieser
dritten parlamentarischen Körperschaft Deutschlands keinerlei sanguinische Hoff¬
nungen. Wir im Norden sind im letzten Jahre trotz aller Hindernisse viel
weiter gekommen. Hat auch die Stimmung des Südens im Vergleich zum
vorigen Jahre Fortschritte gemacht?
Nicht die Preußen, sondern die Süddeutschen waren es, welche die Main¬
linie überschritten — als es zur ersten Versammlung des Zollparlaments
ging. Mit kriegerischem Zorn kamen die Abgeordneten für Reutlingen,
Mergenthcim, Regensburg und Landshut, sie zogen dem Norden zu, wie
einst die Helden der Burgunder? zu dem Hofhalt des großen Hunnenkönigs
Attila, finster, trotzig, in schwerem Muthe. Nun, die süddeutsche Schaar hat
König Wilhelm's Schloß nicht in Brand gesteckt, noch ist sie unter den Linden
oder auf dem Dönhofsplatz feindlich belagert worden, wie die Nibelungen
im Hunnenlande, obgleich Moritz Mohl, der finstere Hagen, und Dr. Sepp,
der Fiedler, wetteifernd Trotz boten. Bayern und Schwaben, Franken und
Alemannen sind glücklich heimgekehrt aus dem Bereich des schwarzen Adlers.
Viele gaben sich die Miene, als wenn die Fahrt ins Zollparlament mehr
Verdruß- als Vergnügungszug gewesen wäre; Professor Schäffle hatte
nicht Theil genommen am Gabelfrühstück in der Börse und Edmund Joerg
schloß sich aus vom Besuch des Kieler Hafens. Aber Edmund Joerg sann
schon auf seinen Bericht an die „Historisch-politischen Blätter für das katho¬
lische Deutschland" und Albert Schäffle hatte längst die Berufung an die
Universität zu Wien im Sinn.
Die Preußen werden im vergangenen Jahr von den Ankömmlingen aus
dem Donau-, Main - und Neckarthal, vom Nesenbach, von der Wertach, der
Jsar, Jaxt und Murr nicht erwartet haben, daß sie Land und Menschen an
der Spree bewundernd anstaunten. Aber auch die Süddeutschen fanden den
Unterschied zwischen märkischer und süddeutscher Flachlandschaft nicht zum
Befremden groß. Wer durch Sandstellen der Mark fährt, mag daran
denken, daß es zwischen München und Augsburg ebenfalls eine weite
Strecke gibt, wo Brombeeren und Nudeln von Nannhofen als Südfrüchte
gelten müssen, Der Welsheimer und Löwensteiner Wald sind auch kein Land
der Glückseligkeit. Dagegen fand man die Rehberge und selbst die Breiten
von Köpenick und Teltow schon sehr anständig von der Cultur beleckt.
Statt der Firnen des Südens wies der Norden die See, „die silbergraue,
von Schiffen durchfurchte, Länder verbindende".
Was Berlin angeht, so haben die Hohenzollern, durch welche die Stadt
groß geworden, allerdings bis zum Jahre 1848 immer nur als preußische
Könige gebaut und cultivirt. Sie haben nie auf das deutsche Kaiserthum
speculirt. drum ist das alte Berlin nur auf preußische Hauptstadt, nicht auf
norddeutsche, nicht auf deutsche Hauptstadt eingerichtet; und Berlin als Welt¬
stadt wurde erst neuerdings auf dem Wallner-Theater vorgeführt. Daß
die königlichen Schlösser Berlins nicht übermäßig prunkvoll sind, wird man
doch in Süddeutschland nicht bedauern. Daß die Kirchen, Theater, Museen
Berlins sich nicht überwältigend hervorthun, kann politische Männer nicht
stören. Sind bayerische Curaten und württembergische Bürger-Volksvertreter,
den Hut in die Stirn gedrückt und ohne aufzusehen, an Berlins Stolz, dem
Standbilde des alten Fritz vorübergeeilt, so haben nur sie dabei verloren.
Wer den Eroberer Schlesiens und den Philosophen von Sanssouci nicht gel¬
ten lassen will, darf wenigstens den Schöpfer prompter Justiz und muster¬
gültiger Finanzen anerkennen; und am Sockel des Königsdenkmals befinden
sich die Gestalten von Immanuel Kant und Gotthold Ephraim Lessing.
Vielleicht werden die süddeutschen Gegner auch bemerkt haben, daß das
heutige Berlin nicht den Eindruck macht, als wenn der königliche Hof und
das Militair, wie man draußen voraussetzt, alles übrige Leben niederdrückten.
Größer als die Casernen sind die Fabriken und einzelnen Bahnhofsgebäude.
Ein recht absprechender Herr aus Tübingen hat wenigstens (im dritten Heft
der deutschen Vierteljahresschrift von 1868) auf das Droschkenwesen und die
Feuerwehr Berlins als mustergültig hingewiesen. — Ein Glück freilich, daß
die süddeutschen Demokraten das Wappen Berlin's am neuen Rathhause, den
Bären an der Kette, nicht bemerkt haben; denn wie würden sie diesen
Kettenbär gegen Berlin und ganz Preußen verwerthet haben!
Leiderwaren die meisten Abgeordneten Süddeutschlands im vorigen Jahre
nicht gekommen, um sich aufrichtig zu freuen, daß endlich einmal wieder Vertre¬
ter Deutschlands am Bodensee wie von der Nordsee, vom Rhein wie von der
Weichsel versammelt waren, um gemeinsamen Rath zu pflegen. Für eine
That hat man es schließlich ausgeben wollen, daß man die Petroleumsteuer
abgelehnt und die Tabaksteuer bis nahe auf den Nullpunkt herabgemindert
hat. Denn was z. B. die geschilderte Noth betrifft, in welche Tabakspflanzer
und Cigarrendreher durch die Tabaksteuer gestürzt werden sollten, so sprach ein
süddeutscher Kenner der Zustände das wahre Sachverhältniß aus. als er trocken
erklärte: wenn die Cigarren theurer werden, so ist unser Entschluß gesaßt,
dann rauchen wir täglich eine Cigarre mehr.
Gleich beim Eintritt in den Sitzungssaal des Zollparlaments klagte
Herr Edmund Joerg von der Trausnitz bei Landshut mit unverkennbarem
Sinn sür das Nebensächliche über die unansehnlichen Räume, in welchen er,
durch das Ständehaus an der Prannergasse verwöhnt, berathen sollte. Nach
der lieblichen Glocke des bayerischen Kammerpräsidenten, Herrn Pözls, sich
sehnend, tönte ihm die Glocke des Dr. Simson als wie Heerdengeläut. Er ver»
mißte ein würdiges Gebäude sür den norddeutschen Reichstag und das Zollpar¬
lament; und wäre das Haus stattlicher gewesen und hätte die preußische Re¬
gierung od«r das norddeutsche Kanzleramt umfassende Einrichtungen getroffen
gehabt, so würde derselbe Mann ohne Zweifel über Verschwendung, be¬
stechenden Glanz und Voreiligkeit geklagt haben. — Sind die Süddeutschen
so unschuldig daran, daß nicht schon im Jahr 1848 die Baugerüste eines
würdigen deutschen Parlamentspalastes in Frankfurt a. M. emporstiegen?
Erst neunzehn Jahre später haben sie sich bequemt, mit beschränktem Mandat
in Berlin zu erscheinen. Noch immer verdrossen, noch immer unschlüssig
hatten sie sich eingestellt und doch sollte Alles sogleich behaglich und bequem
sein? Wozu sollen die Gehäuse für einheitliche Volksvertretung von 40 Millio¬
nen Deutschen schon jetzt ragen; wir verzichten auf die Symbole so lange
uns die Sache selbst fehlt.
Indeß hat es bei allem Widerstreben unserer süddeutschen Stammes¬
genossen nicht an guten Momenten und gediegenen Worten im Verlauf der
ersten Zollparlamentsverhandlungen gefehlt, an welche wir heute wohl er¬
innern dürfen. Auf süddeutscher Seite wurde anerkannt*), daß die preußische
Regierung das Zollparlament mit viel Tact eröffnet habe. Es wurde von
derselben Seite als ein erhebender Augenblick bezeichnet, daß das Manuseript
der Rede, mit welcher der König von Preußen die Versammlung eröffnen
wollte, aus bayerischer Hand, der des bayerischen Mitglieds des Zollbundes¬
raths, in die Hand des preußischen Ministerpräsidenten überging, um dem
Könige überreicht zu werden. Es wurde mit Genugthuung hervorgehoben,
daß König Wilhelm nicht als Monarch auftrat, sondern einsach als Präsi¬
dent des Zollvireins. Mit schlichter Würde wies derselbe in seiner Eröff¬
nungsrede am 27. April v. I. darauf hin. daß der vor vierzig Jahren aus
kleinem Anfange hervorgegangene Zollverein sich vermöge der Macht des
nationalen Gedankens allmälig über Deutschland ausgedehnt und zwischen
seinen Gliedern eine Gemeinschaft der Interessen geschaffen habe, welche ihn
schwere Proben siegreich bestehen ließ und im Weltverkehr eine Stelle ver¬
schaffte, auf welche jeder Deutsche mit Befriedigung blickt. Die Worte: „es
ist die Frucht einer naturgemäßen Entwickelung, wenn heute Vertreter der
ganzen Nation sich zur Berathung der gemeinsamen wirthschaftlichen Interessen
Deutschlands versammeln", werden, wenn sie auch jetzt nach einem Jahr noch
wenig Beachtung finden, nach abermals vierzig Jahren als die Einleitung
eines neuen Abschnitts der deutschen Geschichte bezeichnet werden.
Ohne Selbstüberhebung haben die Norddeutschen im letzten Jahr darauf
hingewiesen, daß es nach den Jahren der völligen Zersplitterung doch schon
etwas werth sei, 30 Millionen Deutscher unter einer Verfassung, in einem
Parlament, unter einer Führung vereinigt zu sehen. Ohne irgend einen Zwang
üben zu wollen, luden sie die noch draußen stehenden sieben Millionen —
von denen nur die Bayern und Württemberger, nicht die Badener und Hessen
ernstlich widerstrebten — ein, sichs zu überlegen: ob es nicht rathsamer er¬
scheine, schon jetzt zu kommen und über die Weiterführung des nationalen
Werks mitzuberathen und mitzubeschließen, als beständig mißtrauend, selber
in Meinungen zersplittert und nicht vom Fleck kommend, fern zu bleiben.
Die Antwort lautete vor einem Jahre ablehnend, dennoch waren die Worte,
welche der bayerische Reichsrath Freiherr v. Thüngen als Führer der „süd¬
deutschen Fraction" sprach, die eines Vaterlandsgenossen und sie verdeckten die
trennende Kluft. Herr v. Thüngen wünschte auf eine Weiterbildung der Verträge
nicht einzugehen. Aber das deutsche Herz des Mannes sagte mehr als die
bayerischen Gewöhnungen desselben eigentlich gestatten wollten. Diese Ueoer-
Wältigung der kühlen Reflexion durch den Ausbruch der Vaterlandsliebe war
auch ein guter Moment in den Verhandlungen des Zollparlamenls. „Wir
sind dem Anschluß des Südens an den Norden abgeneigt", sprach Herr v.
Thüngen, „aus Liebe zu unseren Einrichtungen und zu unseren Dynastien."
„Aber wir stehen auf dem Boden der Verträge", setzte der Redner recht¬
schaffen hinzu. „Jeder Schlag, welchen Preußen erhält, trifft uns vielleicht
noch schärfer als dieses selbst. Wir werden gemeinschaftlich mit dem Norden
kämpfen und bluten." Auf allen Seiten des Hauses fanden diese Worte
Beifall.
Als der Nachkomme der fränkischen Ritter des gemeinsamen Kampfes für
das Vaterland gedachte, war er auch über den Main zwischen Süd und Nord
hinweggelangt. Von Grund der Seele mußte der norddeutsche beipflichten, als
Dr. Joseph Volk von Augsburg, Vertreter des im Alpenvorsprung des Allgaus
gelegenen, gewerblich rüstigen politisch geweckten Wahlbezirks Innenstadt,
einen Schritt weiter ging, alles Zweifeln und Zaudern verwarf und denen
gegenüber, welche sich im bayerisch-schwäbischen Schmollwinkel zusammendräng¬
ten, im Namen einer muthigen süddeutschen Minorität den einzigen Weg bezeich¬
nete, welche jene beglückende große deutsche Gemeinschaft herzustellen vermag.
Mit richtigem Blick erklärte er es für wahrhaft conservativ, wenn seine
Landsleute sich entschlössen, theure Einrichtungen und geliebte Fürsten unter
das von befreundeten mächtigen Händen bereits aufgerichtete Schirmdach zu
stellen, damit der Bestand der süddeutschen Verfassungen und Throne um so
unerschütterlicher verbürgt werde. Zuversichtlich fügte er hinzu, der große
Neubau sei selbst Oestreich zu Statten gekommen. Unverkennbar habe der
östreichische Kaiserstaat erst durch die gewaltige Erschütterung von 1866 die
Freiheit der inneren Gestaltung erlangt. Sobald Deutschland seine Neu¬
begründung vollendet habe, -biete sich auch den Deutschen Oestreichs eine Zu¬
fluchtsstätte, welche sie im Fall der Noth als Freunde und Brüder auf¬
nehmen werde.
Haben solche Ueberlegungen in der Jahresfrist, welche zwischen der ersten
und zweiten Zusammenkunft des Zollparlaments liegt, Eingang in die Ge¬
müther unserer Nachbaren gefunden? Hält die Majorität der süddeutschen Ab¬
geordneten sich noch der Einsicht verschlossen, daß, je länger sie die deutsche
Frage unter sich allein, oder vielmehr die Bayern besonders und die Württem¬
berger besonders, wenden und drehen, sie nur mehr und mehr in Meinungs¬
verschiedenheit zerfallen? Lediglich der Norden ist ihr Sammelplatz und Aus¬
gangspunkt für Neubildung. Von Turin, von Sardinien ging die Einheit
Italiens aus. Neapel und Sicilien zögerten nicht so lange mit dem An¬
schluß und brachten größere Opfer an Selbständigkeit, als den Süddeutschen
zugemuthet worden, um die Kräfte Italiens in einem Parlament, für eine
Exekutivgewalt zu sammeln.
Recht gut wies der Abgeordnete von Innenstadt in seiner Rede vom
18. Mai v. I. auf die Erfahrung hin, welche^, unsere deutschen Landsleute
vor Gericht machen und in größeren Verhältnissen der Nutzanwendung wegen
wiederholen zu wollen scheinen. So lange die Parteien ihren Zorn nicht
gegen einander ausgeschüttet haben, bleibt es vergebliches Bemühen sie zum
Vergleich einzuladen. Erst wenn sie einmal tüchtig auf einander geplatzt
sind, stellt sich die ruhigere Ueberlegung, die Erkenntniß ein, sich nicht ganz
im Recht zu befinden, den Anderen verkannt, ihm ein wenig Unrecht gethan
zu haben. Von da an sind die Gemüther zur Verständigung, zum Ausgleich,
zur Errichtung eines neuen Vertrags, zur Besiegelung neuer Freundschaft
und zur Anerkennung vergessener Familienbande bereit. Man wundert sich,
wie man doch so lange hadern konnte. Nachbarn, welche bei dem Zwist
zu gewinnen hofften, brauchen nicht mehr schadenfroh drein zu schauen. Von
einem mageren Vergleich statt eines fetten Processes ist keine Rede. „Der
Proceß unter den Stammesgenossen ist nicht fett und ihr Vergleich nicht
mager". Bei der Vereinbarung, welche im Leben unseres Volkes sieben
Millionen mit dreißig Millionen schließen sollen, gewinnen ohne Zweifel
beide Theile, da mit vereinten Kräften in Rath und That mehr auszurich¬
ten ist, als mit getrennten und im Gegensatz befindlichen.
Wir rechnen, daß die zweite Sitzungsperiode des Zollparlaments viel
unbefangener, leidenschaftsloser, auf die praktischen Aufgaben des Zollvereins
bedacht verlaufen werde. Keineswegs soll das wiederversammelte Zollparla¬
ment darauf ausgehen, seine Competenz zu erweitern. Freilich vermögen die
Zölle, welche. aus dem Zusammenhange mit dem Steuerwesen und dem
Staatshaushalt der verbündeten Länder gerückt, sind, selbst bei größtem Ver¬
trauen in die zusammenwirkenden Regierungen nicht leicht die richtige Wür¬
digung und Veranschlagung zu finden. Das nationale Feld der politischen
Oekonomie kann erst durch das Vollparlament zu einem organischen Gan¬
zen gemacht und zu einem geschlossenen System erhoben werden. Erst ein
Vollparlament kann in Gemeinschaft mit einer Centralbundesbehörde das
ganze Wirthschaftsgebiet der Nation übersehen, zweckmäßig eintheilen und
gleichmäßig pflegen.
Nach den Erfahrungen der letzten Wochen wissen wir nicht, ob die preußischen
Minister nicht vielleicht auch den Süddeutschen eine Klage über die zerrütteten
Finanzverhältnisse Preußens zustellen werden und die freundnachbarliche Zu-
muthung, daß auch sie dazu helfen mögen, den preußischen Staatshaushalt aus
seiner neuentdeckten üblen Finanzlage zu befreien. Wir möchten die Süddeutschen
aber im voraus bedeuten, daß wir solche Hülfe von ihnen gar nicht begehren.
Wie ein Hagelwetter über die grünende Flur zogen die Verhandlungen
um die Finanzvorlagen über unseren Reichstag. Die Stimmung, welche durch
die Denkschrift des Finanzministers und die Debatten zweier Tage hervor¬
gerufen ist. steht außer allem Verhältniß zu der Bedeutung des Deficits, um
dessen Deckung es sich handelt. Seit dem Frühjahr 1866 hat die preußische
Regierung in ihren Vertretern keine so große Niederlage erlitten, als
in den wenigen verhängnißvollen Stunden, in denen Graf Bismarck und
v. d. Heydt sich vergebens bemühten, gegenüber den Erklärungen der Abge¬
ordneten Laster und v. Bennigsen aus der üblen Lage herauszukommen,
in welche sie sich selbst versetzt hatten. Wie der einzelne Mensch Augenblicke
hat. in denen seine Schwächen und Fehler, sonst klug verhüllt, so zu Tage
kommen, daß sie seine Umgebung erschrecken, so hat das preußische Ministe-
rium mit unbegreiflicher Kurzsichtigkeit vor dem Reichstage und der Welt eine
Blöße so enthüllt, daß der peinliche Eindruck nur schwer überwunden werden
wird.
Schon der Ausspruch des Grafen Bismarck vor Pfingsten, er werde
Geld nehmen, wo er es finde, brachte eine störende Dissonanz. Ihm wenig¬
stens kommt jetzt bei nicht gehörig erwogenen Aeußerungen zu gute, daß
die Nation unter dem Eindruck steht, ihm großen Dank schuldig zu sein.
Wie aber-war möglich, daß er als Reichskanzler darein willigen konnte, die
flüchtige, auf eine Wirkung für Kinder berechnete Klageschrist über die Zer«
rüttung der preußischen Finanzen dem deutschen Reichstag zu übergeben?
Vor den Bundesgenossen, die man vor zwei Jahren durch das Schwert und
die Gewalt der Thatsachen in den Nordbund zusammengebunden hat, denen
man dictatorisch die Matricularbeiträge auflegte — was damals ganz in
der Ordnung war — vor diesen jetzt offen auszusprechen, daß Preußen selbst
bei dem Stande seiner Besteuerung nicht mehr in der Lage sei. seinen Bun¬
despflichten nachzukommen! Was von Braunschweig und Oldenburg gefordert
wird, was Mecklenburg leistet, was das Königreich Sachsen mit Leichtigkeit
erträgt, dies wird jetzt den Sachsen, Mecklenburgern, Braunschweigern und
Oldenburgern als eine für den preußischen Staatshaushalt zur Zeit uner¬
trägliche Last denuncirt. Ein schönes Mittel, die Bundesgenossen von der
Festigkeit und Dauerhaftigkeit des Bundes zu überzeugen! Und welcher Mangel
an fester Haltung bei den Ministern eines großen Staates! Die Sachsen und die
Abgeordneten der kleinen Staaten werden als vertraute Helfer erbeten, um
preußischen Finanzen neue Einnahmequellen zu öffnen. Wenn Graf Bismarck
der Opposition entgegenrief: Ich fordere Brod und Sie geben mir Steine, so
lag die Antwort nahe: Wie darf Preußen beim Reichstag um Brod betteln!
Aber was die Verhandlung so peinlich machte, war nicht diese einzelne Takt¬
losigkeit, sondern eine Eigenthümlichkeit im gegenwärtigen System, deren mil¬
deste Bezeichnung Mangel an gleichmäßiger Haltung ist. Noch klingen die würde¬
losen Worte eines Vertreters der Regierung in den Ohren: „Wir haben helden¬
mäßig viel Geld", und kurz darauf wird wieder nur nach dem Bedürfniß
des Augenblicks die Finanzlage des Staates als gut, der Nothstand als
vorübergehend, die Solidität des Steuersystems als musterhaft, und gleich
darnach die Situation als gefährlich dargestellt, ein mehrjähriges Deficit, der
preußische Staat als unfähig, seinen Verpflichtungen nachzukommen. Immer
nur ist's um die augenblickliche Wirkung zu thun; und diese Wirkung wird nicht
erreicht, weil man die Menschen für kleiner und urtheilsloser hält, als sie sind.
Wir vermögen nicht genau zu übersehen, welche Fortschritte das Be¬
dürfniß nach politischer Einheit in den Seelen der süddeutschen Abgeordneten
gemacht hat, nur eins dürfen wir ihnen ehrlich sagen: wir werden uns jeder
neuen Aufforderung zu näherer Vereinigung enthalten. Wir haben ihnen
im vorigen Jahre sehr freundlich unsere Thür geöffnet und sie mit warmen
Worten zu uns geladen; es ist gar nicht unsere Absicht, das wieder zu thun.
Auch wir haben im letzten Jahre einige Ersahrungen gesammelt. Wir haben
alle Hände voll mit Ordnung unserer eigenen häuslichen Angelegenheiten zu
thun, und wir wünschen in unserem Interesse nicht die Verwickelung unserer
Interessen durch Hinzutritt der Süddeutschen bis zur Confusion gesteigert
zu sehen. Unser verwandtschaftliches Gefühl ist für sie dasselbe, und ebenso
unverändert die Erkenntniß, daß das Zollparlament noch weit mehr als
unser Reichstag an dem Uebelstand krankt, eine halbe Maßregel zu sein, daß
es vorläufig ebenso destructiv auf die Einzelstaaten, als vereinigend und
stärkend für das gemeinsame Leben wirkt, und daß auch darum die politische
Einheit der deutschen Völker für die völlige Gesundheit und ein sicheres Ge¬
deihen der Theile nothwendig ist. Und wenn einmal der Fall eintreten sollte,
daß die Süddeutschen selbst entschlossen den Zutritt zu uns fordern, so wissen
wir wohl, daß wir ihn nicht verweigern dürfen. Unser eigener Wunsch aber muß
jetzt sein, erst mit der übergroßen Unordnung in unserem eigenen Hause fertig zu
werden. Auch wir wollen die Verträge, welche den Süden und Norden ver¬
binden, treulich erfüllen, wir haben in diesem Jahre bereits Gelegenheit ge¬
habt, zu erkennen, daß wir dabei nicht weniger geben, als wir empfangen.
Und deshalb wollen wir mit ihnen recht nüchtern und gewissenhaft die kurze
Parlamentarische Arbeit unserer Zollangelegenheiten besorgen, und im übrigen
ihre demokratische und ultramontane Presse fortfahren lassen, Lügen über uns
zu verbreiten.
Dieses Blatt hat vermieden, die herausfordernde Schrift Wagner's „das
Judenthum in der Musik" und die zahlreichen Entgegnungen seiner gekränk¬
ten Bewunderer und Gegner zu besprechen, obgleich beide Parteien Ver¬
anlassung zu heiterer Kritik gaben. Wir halten aber gegenwärtig einen
ernsten Angriff auf das jüdische Wesen unter uns nach keiner Richtung für
zeitgemäß, nicht in Politik, nicht in Gesellschaft, nicht in Wissenschaft und
Kunst; denn auf allen diesen Gebieten find unsere Mitbürger israelitischen
Glaubens werthe Bundesgenossen nach guten Zielen, auf keinem Gebiete
sind sie vorzugsweise Vertreter einer Richtung, welche wir für gemeinschäd-
lich halten müssen. Es hat Jahre gegeben, in denen die Stimmführer einer
wüsten Demokratie zum großen Theile junge Männer jüdischen Glaubens
waren — wir wissen wohl warum —, jetzt bilden weit andere Elemente die
äußerste Linke, welche aus den arbeitenden Classen der christlichen Bevölkerung
heraufdringt. In Handel und Verkehr galten lange Zeit die Juden für die
Hauptspeculanten bei gewagten Börsengeschäften und einem großartigen Geld-
Wucher; sie haben auch diesen Ruhm an Christen abtreten müssen, es sind
bei uns.jetzt Fürsten und Häupter alter Land-Gentry, welche unsolide Geld¬
geschäfte protegiren, den Unternehmergewinn einziehen und die Actionaire
durch ihren Namen verlocken; die Rothschilde sind beinahe auf das Niveau
altfränkischer Geschäftsleute zurückgedrängt und angesehene jüdische Firmen
unserer Hauptstädte gehören zu den ehrbarsten Gegnern des modernen Actien-
schwindels. In unserer Poesie und Literatur war an den Nachtretern von
Börne und Heine eine Richtung zu bekämpfen, welche in dem Bestreben,
witzig zu sein, frivol gegen die Kunst und unsere sociale Lebensordnung
wurde; auch diese Verirrung einer schwachen und begehrlichen Zeit ist durch
den politischen Ernst der Gegenwart überwunden. Auch der kleine unartige
„Kladderadatsch" hat seine großen Augenblicke, wo er sich patriotischer Wärme
nicht entschlage.
Es sind jetzt ungefähr hundert Jahre her, seit Moses Mendelssohn in Ber¬
lin nur darum geduldet wurde, weil er im Manufacturgeschäft des reichen Schutz¬
juden und Seidenfabrikanten Bernard beschäftigt wurde, und wo Abba Glozk.
der jüdische Philosoph aus Polen, auf der Landstraße vor Hunger umkam,
weil ihn die orthodoxen Juden verflucht, gebannt, gegeißelt und seiner ge¬
schriebenen Werke beraubt hatten. Wer mit erhebenden Gefühl die Fort¬
schritte unserer Nation in den letzten hundert Jahren betrachten will, der
möge vor Allem auf die Wandlungen blicken, welche unsere jüdischen Mit¬
bürger unter der befreienden Einwirkung moderner Bildung gemacht haben.
Sie selbst haben jedes Recht, sich ihrer energischen Lebenskraft und Bildungs-
fähigkeit zu freuen; auch wir dürfen mit einiger Befriedigung sagen, daß nur
noch die letzten Ueberreste alter Tradition und Intoleranz zu überwinden
sind, um die Herzen und Geister der deutschen Juden völlig in unser Volks-
thum einzuschließen. Es ist natürlich, daß während dieser Usbergangszeit in
ihrem Wesen hie und da noch Auffallendes oder nicht Löbliches zu Tage
kommt, und sie müssen es sich gefallen lassen, wenn solche Schwächen und
Verkehrtheiten aus der Zeit der Unfreiheit gelegentlich einmal mit und ohne
Laune als jüdische Eigenthümlichkeiten besprochen werden. Wir werden frei¬
lich auch natürlich finden , wenn sie gegen solche Besprechung besonders em¬
pfindlich sind, denn sie ringen immer noch nach Sicherheit ihrer socialen
Stellung und suhlen immer noch die Nachwehen des harten Druckes, welcher
zur Zeit unserer Großväter auf ihnen lag.
Die Juden haben'auch in der Zeit ihrer Unfreiheit unserer Wissenschaft
und Kunst unter sehr ungünstigen Verhältnissen eine merkwürdig große Zahl
bedeutender Namen geliefert. Wenn wir nur bis aus Baruch Spinoza
zurückblicken, wie lang die Reihe starker Talente aus ihren alten Familien!
Es ist nicht schwer, an einer großen Anzahl derselben gewisse gemeinsame
Eigenthümlichkeiten zu erkennen, sowohl an den Vorzügen, welche sie besitzen,
als an dem, was sie entbehren, und die Versuchung liegt nahe, dies Beson¬
dere als jüdische Art gegenüber der germanischen zu fassen. Aber wir haben
Ursache, mit Mißtrauen auch auf solche Schlüsse zu sehen, welche eine vor-
urtheilsfreie Betrachtung dieser Eigenthümlichkeiten nahe legt, denn es ist
menschlicher Einsicht unmöglich, zu entscheiden, was dem Wesen der Juden an
sich, immer und für alle Zeit von Vorzügen und Schwächen zugetheilt ist, und
was nur deshalb häufig an ihrem Geschlecht zu Tage kommt, weil sie sich
alle aus einer unsicheren politischen und socialen Existenz und aus einem
Bildungswege, der noch nicht ganz der unsrige ist, heraufgearbeitet haben.
Es liegt nahe, eine häusig wiederkehrende übergroße Freude an Wort¬
witz und sophistischer Beweisführung als letzten Ueberrest einer Geistesrich¬
tung aufzufassen, welche durch die tausendjährige Beschäftigung und durch
massenhaftes Memoriren der spitzfindigen Dialectik alter Religionslehrer in
die Seelen der Juden gekommen ist; aber die scholastische Weisheit des
Talmud ist keineswegs eine Blüthe specifisch jüdischen Wesens, die Pedanterie
der Byzantiner und die hölzerne Scholastik mittelalterlicher Klöster haben
fast genau dieselbe Methode der Erörterung, der Beweisführung, der Defi¬
nitionen hervorgebracht und diese wunderliche Bildung dauerte bei den Juden
nur länger und einflußreicher; sie wurde ebenso sehr durch den Haß der
Christen conservirt, als durch ihre enge Verbindung mit dem jüdischen Cultus.
— Es ist ferner leicht zu beobachten, daß auch dem warmen und ehrlichen
Gefühl unserer jüdischen Landsleute sehr häufig der reiche und schöne Ausdruck
fehlt, und daß sie. gemüthlich erregt, zwar herbes leidenschaftliches Pathos
finden, daß ihnen aber der Ausdruck inniger und schöngewogener Empfindung in
Worten und Tönen, in plastischem Ausdruck, in mimischer Gestaltung besonders
schwer wird, und daß sie aus der Befangenheit solcher Situation sich durch einen
störenden Witz, eine kalte Reflexion zu befreien lieben. Dem armen Davison
gelang nie. als Carlos im Clavigo die letzten beiden Worte seiner Rolle,
die große Probe für Charakterspieler, gut herauszubringen, und Heine, der
so meisterhaft verstand, die herzinnigen Klänge des deutschen Volksliedes in
moderne Empfindungsweise umzusetzen, verdarb sich oft die reinen Wirkungen
durch die abgeschmackten Dissonanzen, welche ihm für originell galten. Es ist
endlich keine neue Beobachtung, daß der Tiefsinn und der Scherz unserer jüdi¬
schen Freunde echter Fröhlichkeit und des befreienden Humors häufig ermangeln.
Aber wer darf sagen, daß voller Ausdruck schöner Empfindung ihrer natio¬
nalen Anlage versagt ist, da ihr hartes Erdenschicksal sie bis zur Gegenwart
zwang, ihr ganzes kräftiges Gemüthsleben vor Haß und Spott heimlich
im verschlossenen Hause zu bergen, und wie sollte die heitere Liebe zum Leben
und das kräftige sichere Behagen, die Grundlagen alles Humors, in einem
gedrückten und verfolgten Geschlechte gedeihen? Uns scheint, daß es ehrlicher
und christlicher wäre, die tüchtigen Seiten des jüdischen Wesens, welche sich
in einem langen Jahrtausend der Unfreiheit und Jsolirung ausgebildet haben,
auf Rechnung ihrer nationalen Kraft zu- schreiben, als da eine nationale
Unkraft zu schelten, wo die werthvollen Leistungen Einzelner unter ihnen etwa
gemeinsame Mängel erweisen. Solche Behauptung beruht auf allzu unsicheren
Annahmen, um mit feierlichem Ernst öffentlich ausgesprochen zu werden, sie
kann jeden nächsten Tag durch eine imponirende Thatsache widerlegt werden.
Wir haben gar nicht die Absicht, zu untersuchen, ob jüdische Componisten
und Virtuosen, welche dem Zuge der Zeit ebenso folgten wie die Christen,
der modernen Musik mehr Segen oder Unsegen gebracht haben. Denn
wir Nichtjuden haben auch in der Musik das Recht verloren, unseren
jüdischen Künstlern Einseitigkeiten vorzuwerfen, und zwar befürchten wir,
daß gerade Herr Wagner in seinen eigenen Werken die Eigenthümlichkeiten
und Schwächen, welche nicht selten an jüdischen Künstlern getadelt worden
sind, in höchst ausgezeichneter Weise an den Tag gelegt hat, wenn er dieselben
auch ein wenig anders drapirt zeigt, als seine Vorgänger. Im Sinne seiner
Broschüre erscheint er selbst als der größte Jude. Die Effekthascherei, das
prätentiöse und kalt überlegte Streben nach Wirkungen, welche nicht durch
sicheren Kunstgeschmack regulirt werden, der Mangel an Fähigkeit, musikali¬
scher Empfindung ihren melodischen und harmonischen Ausdruck rein und
voll zu geben, die übergroße, nervöse Unruhe. Freude am seltsamen und Ge¬
suchten, das Bestreben, durch witzigen Einfall und äußerliche Kunstmittel die
gelegentliche Schwäche seiner musikalischen Erfindung zu decken, dazu selbst
das große Talent für raffinirte Regie der Effecte, endlich hinter Allem
statt eines sicheren, starken Künstlergemüths, in welchem die Form mit dem
Inhalt mühelos sich ausbildet, unerzogene Prätension eines eigenwilligen
Dilettanten, welcher begehrlich über die Grenzen seiner Kunst hinausfährt
und Gesetzen der Schönheit auch deshalb widerspricht, weil er ihnen zu folgen
außer Stande ist; ein abenteuerlicher Sinn, der im Ungeheuerlichen Befriedi¬
gung sucht, unbekümmert darum, ob durch seine Arbeit Sänger, Orchester und
der schöne Organismus des musikalischen Drama's verwüstet werden. Solche
Schwäche und Unart finden wir überall in seinen Werken neben Fragmenten
von wahrhaft schöner, zuweilen wahrhaft hinreißender Erfindung. Diese Be¬
schaffenheit seines merkwürdigen und für unsere Musik verhängnißvollen Ta¬
lentes scheint uns gerade eine solche zu sein, welche in seinem Sinne als eine
dem Judenthum eigenthümliche aufgefaßt werden müßte. Da nun Herr Wagner
keineswegs der Meinung sein wird, daß er selbst zu dem Judenthum in der
Musik gehöre, so haben wir Andern zuverlässig alles Recht verloren, von
Beschränktheiten der jüdischen Musiker zu sprechen. Und das scheint uns der
Die große Frage unserer Kriegsmarine ist gegenwärtig: in welcher Weise
soll aus dem vorhandenen Personal und aus dessen beabsichtigter Vermes.
rung der Bedarf der Flotte bei vollständiger Ausrüstung im Frieden und
im Krieg gedeckt werden. Für das Maschinenpersonal sind in d. Bl. bereits
Vorschläge gemacht, aber die Hauptschwierigkeit bereitet der Bedarf an
Matrosen.
Schon jetzt wäre, „König Wilhelm" und „Hansa" eingerechnet, bei Aus¬
rüstung der gesammten Flotte für Friedensübungen ein seemännisches Per¬
sonal von ca. 600 Maaten und 4100 Matrosen nothwendig*). Für den
Kriegsetat ist aber noch eine Verstärkung um ca. 20 Procent bei den grö¬
ßeren Schiffen vorzusehen, also um 120 Maate und gegen 900 Matrosen,
wie auch im dänischen Kriege „Arcona" statt 300 Mann 360, „Nymphe"
statt 153 Mann 190, die Kanonenboote I. Classe und „Loreley" statt 60 Mann
66. und die Kanonenboote II. Classe statt 43 Mann 45 an Bord hatten.
Allerdings haben wir die Segelfregatten und Briggs als vollbemannt ge-
rechnet, die voraussichtlich gar nicht,-oder doch nur als schwimmende Batte¬
rien für die Hafenvertheidigung mit sehr schwacher seemännischer Bemannung'
verwandt werden dürften; aber die auf diese Schiffe gerechneten 120 Maate
und 750 Matrosen wird man doch nicht entbehren können, da eine Reserve
von ca. 10 Procent der Flottenbesatzung nöthig ist, wie sie in einer Stärke
von 2—300 Mann während des dänischen Kriegs auf der „Niobe" einge¬
schifft war; da ferner die Ruderkanonenboote wie im dänischen Kriege mit
40 Mann zu besetzen sind, um die Binnengewässer Rügen's, die Schlei oder
manche Punkte der Nordsee zu vertheidigen, und da endlich vielleicht auch
einige Segelschiffe als schwimmende Batterien in Häfen verwandt werden.
Somit braucht schon jetzt die Flotte für einen Krieg etwa 720 Matrosen-
unterofficiere und 5000 Matrosen.
Weit bedeutender wird das Bedürfniß an Seeleuten, sobald erst der
Flottenerweiterungsplan vollständig ins Leben getreten sein wird. Dann
brauchen 16 Panzer-Schiffe und -Fahrzeuge 768 Maate und 4800 Matro¬
sen, die 21 Corvetten 462 und 3402, 3 Transportdampfer 15 und 111.
22 Schraubenkanonenboote wie jetzt 96 und 646, und endlich die 8 Avisos
32 und 184, sodaß sich die volle Friedensbesatzung auf ca. 1400 Maate und
9200 Matrosen beläuft. Mit der Kriegsverstärkung um 20 Procent beträgt
der Bedarf 1675 Maate und 11,800 Matrosen und mit der nöthigen Re¬
serve von ca. 10 Procent, da wir von den nach Ausführung des Flotten¬
entwickelungsplans wohl nicht mehr existirenden .Segelschiffen und Ruder¬
kanonenbooten absehen, etwa 1800 Maate und 11,000 Matrosen. (Der „Fach¬
mann" hatte sür das zukünftige Deutschland eine ähnliche Stärke von Schiffen
angenommen, statt der 16 Panzerschiffe indessen 20 Holzfregatten zu 50 Ka¬
nonen, also mit etwa 12,000 Mann verlangt. Hieran ist jedoch nicht zu
denken, da für den Handelsschutz unsere gedeckten Corvetten völlig genügen,
für Seegefechte aber nur Panzerschiffe etwas ausrichten können.)
Diese Completirung des Friedensetats bietet mannichfache Schwierig¬
keiten, da die Zahl der in Dienst gehaltenen Mannschaften selbstverständlich
in^siner Weise ausreicht.
^ ^ Auch bei den Seeoffi eieren ist die Zahl der unteren Stellen noch
knapp genug bemessen, aber die starke Zahl der Seecadetten, in welche die
aus der Handelsmarine übertretenden Aspiranten nicht einmal mitgerechnet
sind, läßt eine baldige AbHülse dieses Uebelstandes und eine genügende Zahl
von Officieren auch für eine bedeutende Erweiterung der Marine hoffen.
Eine solche Verstärkung thut aber dringend noth, denn für die höheren Stellen
ist in Kriegszeiten absolut kein Ersatz zu finden, und auch die Completirung
der unteren Stellen durch Officiere der Seewehr ist verhältnißmäßig spärli¬
cher als es beim Landheere möglich ist.
Analog der Landwehr ist nämlich sür die Seemacht eine Seewehr errichtet;
diese stand früher unter einem eigenen Commando oder Stab der Marine¬
reserve und -Seewehr, dieser wurde 1862 vom Abgeordnetenhause beanstan¬
det und 1863 und 1864 nicht wieder in den Etat aufgenommen. Sie steht
seitdem direct unter dem Stationscommando, welches die Geschäfte jenes
Stabes fortführt. Die Marinereserve und Seewehr besitzt wie die Landwehr
ein eigenes Officiercorps, das theils aus ehemaligen Officieren der Flotte
besteht, welche aus dem activen Dienst ausgeschieden sind, zum größeren
Theil aber aus Officieren der Handelsmarine (Schiffern, d. h. Capitainen,
und Steuerleuten) gebildet ist, welche ein Jahr aus der Kriegsflotte gedient
und das Quallficationszeugniß zum Unterlieutenant der Seewehr erworben
haben; zur letzteren Kategone haben Zutritt die „seedienstpflichtigen" Steuer-
lente der Handelsmarine, die einjährigen Freiwilligen, welche Seeleute von
Beruf sind, und endlich junge Männer, welche das Steuermannsexamen
abgelegt haben. Außer diesen Unterlieutenants der Seewehr, deren Vorbil¬
dung für den Kriegsdienst schon in Friedenszeiten durchaus nothwendig ist,
die auch zu Lieutenants und Cavitainlieutenants der Seewehr aufrücken können,
und denen außerdem nach einem besonderen Examen vor Erreichung des
24sten Lebensjahres der Uebertritt in das active Seeofficiercorvs freisteht,
stehen der Flotte zur Completirung des Officiercorps noch die aus früheren
Ernennungen vorhandenen Auxiliarofficiere oder Hülfsunterlieutenants
der Seewehr zu Gebote. So hatte man namentlich im Frühjahr 1864
einige hundert Schiffer, Kauffahrteicapitaine und Steuerleute der Handels¬
marine eingezogen, welche in Danzig ani dem Wachtschiff „Barbarossa" einen
zweimonatlichen praktischen und theoretischen Cursus durchmachten, und nach
ihren Fähigkeiten theils als Unterlieutenants, theils als Steuerleute (Deck-
officiere) der Seewehr in die Flotte eingereiht wurden. Zuletzt hatten noch,
wie 1865 der Contreadmiral Jachmann in der dahin einschlagenden Debatte
betonte. 18 junge Leute das Examen als Auxiliarofficiere bestanden und das
Seeofficiercorvs war so auf einmal durch 18 Steuerleute der Handelsmarine
vermehrt worden.
Da keine Flotte im Stande ist, ein so großes Seeofficiercorvs zu
erhalten, wie für den Kriegsetat nöthig ist, so hat man ähnliche Maßregeln
in allen Staaten getroffen, namentlich England zählt in seiner neugeschaffenen
RoM Nirvsl kLservs von etwa 16 — 20,000 Mann eine gute Anzahl solcher
Officiere aus der Handelsmarine, die sich gegen ein bestimmtes Aequivalent
zur Ableistung einer Dienstübung am Bord eines Kriegsschiffs und zur Stel¬
lung im Fall eines Krieges verpflichtet haben. Besonders sinnreich, aber mit
der socialen Stellung unseres Oificiercorps wohl nicht gut zu vereinigen ist
die Art, wie sich Dänemark geholfen hat. Der Etat der wirklichen Flotten-
officiere ist dort größer, als die Zahl, welche im Frieden verwandt und unter¬
halten werden kann, man bezahlt deshalb einem Theil der Officiere nicht die
volle Gage, sondern läßt sie die Dampfer von Passagierlinien führen, von
deren Directionen ihnen dann Zuschüsse gezahlt werden, so daß im Ganzen
die Officiere sich noch besser stehen als sonst. Zugleich bleiben sie in fort¬
währender Uebung und Seegewöhnung, und wenn sie im Fall eines Krieges
eingezogen werden, schadet dies den Dampferlinien wenig, weil diese im Kriege
ihren Betrieb ja doch einstellen müssen und ihre Dampfer noch dazu oft von
der Regierung gemiethet werden. Auch die englische Flotte hat in ähnlicher
Weise das Halbsold-System (Kaltxa?), das allerdings manche Verlegenheiten
bringt und dem wohl ein mäßig normirtes Gehalt für alle Officiere und
eine beträchtliche Activitätszulage für die Officiere an Bord oder in Ver-
waltungsstellen vorzuziehen wäre. Die norddeutsche Marine ist indessen vor¬
läufig noch nicht in der Lage, auf derartige Verwendungen überzähliger Offi-
ciere denken zu müssen, da sie noch gar nicht den nöthigen Bestand an Offi-
cieren besitzt. Auch hat sie die Classe der Seewehrofficiere. durch deren
Schaffung früheren Anträgen des Abgeordnetenhauses wegen Ausbildung der
freiwillig sich meldenden Steuerleute aus der Handelsmarine Rechnung ge¬
tragen ist.
Die Vorbildung der wirklichen Seeofficiere hat durch königliche Ver¬
ordnung vom 16. Juni 1864 eine bedeutende und durchaus zweckmäßige
Veränderung erfahren. Früher existirte nach dem Muster fremder Flotten
ein Seecadetteninstitut in Berlin, welches die Zöglinge in sehr jugendlichem
Alter (13—14 Jahre) aufnahm, weil man nur diesen Jahren die nöthige
Biegsamkeit zutraute, um an die neuen Verhältnisse der See sich zu gewöhnen.
Die Praxis zeigte jedoch, daß diese jungen Leute auf der Schule des Binnen¬
landes nicht die erforderliche praktische Uebung erhielten, daß sie nachher an
Bord kommend es den Erwachsenen in jeder Beziehung gleich thun wollten,
und sich oft Vergnügungen Hingaben, denen ihr Alter nicht gewachsen war,
und daß sie außerdem in so jugendlichem Alter nicht die nöthige Reife be¬
saßen, um den sehr selbständigen Matrosen mit Erfolg als Vorgesetzte gegen¬
überzutreten. Man hat sich überzeugt, daß der Jüngling im Alter von
17 Jahren viel schneller das Nöthige erlernt, als der unreife Knabe; daß
ferner für die nothwendige wissenschaftliche Ausbildung des Seeossiciers eine
längere allgemeine Schulvorbildung am Lande von den ersprießlichsten Folgen
ist, namentlich einen festen wissenschaftlichen Fond gibt, wie ihn die frühe¬
ren Cadetten nicht besitzen konnten, und daß endlich das früher so schwierige
und unangenehme Verhältniß der Cadetten zu den Matrosen, welche sich ni>er
die „während der ganzen Reise seekrank unter Deck liegenden Vorgesetzten"
moquirten, bei höherem Alter günstiger wird. Demgemäß hat man das
Cadetteninstitut glücklicherweise aufgehoben und die Ausbildung der Ofsiciers-
aspiranten, welche den englischen wiZsKixiuM entsprechen, folgendermaßen
geregelt.
Der Aspirant muß mit dem Zeugniß der Reife der Obersecunda An¬
fangs April sich auf der Marineschule in Kiel melden, und dort ein Examen
bestehen, dann wird er zunächst am Lande vorgeschult und darauf, von Mitte
Mai ab durch Seeofficiere als Lehrer theoretisch und praktisch auf dem Ca-
dettenschiff (jetzt „Niobe") ausgebildet, welches im Sommer in Nord- und
Ostsee, im Winter in südlichen Gewässern (Mittelmeer, Westindien) kreuzt,
und von dessen Takelage der kleinste, der Kreuznaht, ausschließlich von Ca¬
detten bedient wird. (Die „Cadetten" sind nicht Zöglinge wie bei der Land¬
armee, sondern, wie die sogenannten „Avantageurs" der letzteren, wirkliche
Combattanten). Dieses praktische Erlernen aller Arbeiten, welche die Cadetten
später zu commandiren haben, ist von unschätzbarem Werth, und auch für
die Officiere würden ähnliche, ihren Jahren entsprechende praktische Uebungen
großen Nutzen haben. In der östreichischen Marine hat Admiral Tegetthoff
erst neuerdings sich energisch dafür ausgesprochen, daß die Seeosficiere sich
an den schweren Geschützen neuen Calibers als ausschließliche Bedienung der¬
selben — natürlich getrennt von den Mannschaften — ausbilden sollen, wie er
auch in England an Bord des Kurmer^ My „Excellent" englische Comman-
ders und Captains sich im Schweiß ihres Angesichts an den neuen Ge¬
schützen hatte exerciren sehen. Gerade das Können ist sür den unschätzbar,
welcher als Commandirender die Sache richtig beurtheilen will. Nach ihrer
Heimkehr von der Kreuzfahrt bestehen die Cadetten ein zweites Examen in
Navigation (mathematische und astronomische Berechnung des Curses), See¬
mannschaft (alle praktischen Arbeiten zur Handhabung des Schiffs) und Ar¬
tillerie, und kommen darauf als Seecadetten an Bord regulärer in Dienst
gestellter Kriegsschiffe, wo sie zwei Jahre verbleiben. Nachdem sie dann noch
die Marineschule in Kiel ein Jahr besucht und außerdem somit drei Jahre
an Bord zugebracht haben, machen sie das Examen zum Seeofficier, werden
vom S e e o ffi ni ere o rp s gewählt, mit dem Zeugniß der Reife beim
König zum Unterlieutenant in Vorschlag gebracht, und bei Vacanzen zu
Unterlieutenants ernannt, wobei sie nicht unter fünf Jahren Gesammtdienst-
zeit haben dürfen. Die Unterlieutenants zur See machen dann noch'einen
Cursus an Bord des Arlillerieschiffs und erhalten bei besonders guten Kennt¬
nissen eine königliche Belobigung mit der Wirkung, daß sie vor allen anderen
gleichzeitig examinirten Seecadetten rangiren.
Indeß können auch Seeleute, die schon in der Handelsmarine gedient
haben, unter ihnen bequemeren Bedingungen in das Seeofsiciercorps ge¬
langen. Junge Matrosen mit der vor dem 22. Lebensjahr nachgewiesenen
Reife der Oversecünda und mit 48monatlicher (nach neuer Bestimmung nur
36monatlicher, durch Zeugniß der Schiffscapitaine nachzuweisender) auf Kauf¬
fahrern zurückgelegter Fahrzeit werden nach einer Prüfung als Matrosen II.
Gehaltsclasse eingestellt, dann zuerst am Lande vorgebildet und bis zum
Schluß der Sommerfahrzeit hier und auf dem Artillerieschiff ausgebildet.
Haben sie sich dabei gut geführt, so werden sie als Matrosen I. Classe, sonst
als solche II. Classe auf das Cadettenschiff versetzt, und nun wie die Ca¬
detten behandelt, blos mit stärkerer Betonung der militairischen Seite der
Ausbildung. Nach Rückkehr von der Kreuzfahrt und dem Examen zum See¬
cadetten, also frühestens nach einjährigen Dienst, werden sie nicht erst auf
Kriegsschiffe, sondern sogleich zur Marineschule überwiesen und sind von da
ab den übrigen Seecadetten völlig gleichgestellt. Gerade diese Eröffnung des
Avancements auch für weniger bemittelte, aber befähigte junge Leute aus
der Handelsmarine ist von competenten Autoritäten mit größter Freude be¬
grüßt werden, weil sie der Kriegsmarine praktisch sehr geschulte Officiere
zuführt. Der Andrang zur Seeossiciers-Carriere ist sehr groß, und es läßt
sich nicht leugnen, daß dieselbe bis jetzt wesentliche Vortheile bietet. Das
Avancement ist gerade in der Gründungsperiode einer Organisation am
schnellsten, weil fortwährend neue Stellen geschaffen werden müssen; der
junge Mann lernt fremde Länder und Städte kennen, und der Beruf ist
der einzige, welcher den Reiz bat, stets die Manneskraft mit starken Geg¬
nern, mit den gewaltigen Naturmächten in den Kampf zu führen, Kraft
und Willen zu stählen, Seele und Gemüth den verweichlichenden Einflüssen
der Cultur immer wieder zu entwinden. Darin ist dieser Beruf auch dem
militairischen überlegen, der doch nur in Kriegszeiten einen Feind und Ge¬
legenheit zu Heldenthaten bietet.
Den Nachtheil, daß Jeder sich dahin schicken lassen muß, wohin die Vor-
gesetzten bestimmen, auch auf unangenehme Posten, haben Beide gemein.
Auch die Schattenseite, daß der Seeofficier an Bord oft Jahre lang von
seiner Familie getrennt ist. verliert dadurch das Unerträgliche, daß die See¬
offiziere grundsätzlich immer abwechselnd am Bord und am Lande beschäftigt
werden, d. h. auf Werften, in Commandos der Flottenstammdivifion, im
Ministerium u. s. w. Wie man bei der Landarmee den heilsamen Grund¬
satz befolgt, die theoretische Beschäftigung der Officiere — im Generalstab,
am Cadettencorps u. s. w. — mit der praktischen — Führung von Com¬
pagnien und Bataillonen — alle paar Jahre wechseln zu lassen, was die
Persönlichkeit bildet und doch stets frisch und in Verbindung mit den realen
Aufgaben des Lebens erhält, so ist auch der Seeofficier bald Commandant
eines in Dienst gestellten Schiffes, bald Werftdirector. Decernent für Aus¬
rüstung oder dergleichen im Marineministerium :c. Dadurch wird auch den
Nachtheilen des „grünen Tisches" vorgebeugt, da die Anordnungen von Offi-
cieren ausgehen, die sie vielleicht nachher selbst zu befolgen haben, und beim
Dienst an Bord bleibt stets ein Interesse für das Ganze.
Ein Uebertritt von Landofficieren in das Seeosficiercorps wurde nur
im Anfang, als die disciplinirenden Officiere sehr fehlten. erstrebt; auch mel¬
deten sich nur wenig Officiere dazu. Die Befähigten sind sehr vorzügliche
Seeofficiere geworden, haben aber große Charakterstärke nöthig gehabt, um,
an Bord englischer Panzerschiffe zur Erlernung des Dienstes abcommandirt,
und dort völlig wie die unreifen Midshipmen als Lernende behandelt und
durchaus nicht geschont, diese äußeren wie die schlimmeren moralischen
Schwierigkeiten zu überwinden.
Die Bildung des Seeossiciers muß gegenwärtig vielseitig sein und die
Anforderungen sind in theoretischer wie praktischer Hinsicht viel größer als
an Capitaine der Handelsmarine, welche vor jenem nur eine größere Kenntniß
der commerciellen Verhältnisse voraus haben. Der Seeofficier muß ebenso
wie der Kauffahrteicapitain die Berechnungen für Führung des Schiffs und
die Leitung der Manöver des Schiffs versteh«, bei der größeren Schnellig.
keit derselben aber und bei der viel größeren Anzahl Leute mehr Uebersicht
entwickeln. Er muß, weil er nicht blos Seemann, sondern auch Militair ist,
die Handhabung der Disciplin in ganz anderer Weise verstehen; er muß ein
competentes Urtheil über die Artillerie des Schiffes besitzen, um Verwendung,
Vorzüge, Mängel und etwaige Aenderungsvorschläge richtig zu bestimmen;
er muß in der Seetactik wohl bewandert sein, die bei Handelsschiffen über¬
haupt nicht in Frage kommt, muß eine genügende mathematische und physi¬
kalische Bildung besitzen, um meteorologische Beobachtungen zu machen, Pei¬
lungen und hydrographische Aufnahmen vorzunehmen und durch seine See¬
karten den Kriegs- wie den Handelsschiffen die Wege zu zeigen; und endlich
muß seine allgemeine Bildung auf solcher Höhe stehen, daß er als Vertreter
seiner Regierung auch in politischen oder diplomatischen Fragen im Aus¬
lande aufzutreten befähigt ist, wie ja auch die Handhabung der Seepolizei
den Kriegsschiffscommandanten obliegt. Es soll in Wissenschaft wie in ge¬
sellschaftlicher Beziehung Lehrer und Vorbild der Cadetten und seiner anderen
Untergebenen sein, wie der Hauptmann des Landheeres Vater und Erzieher
seiner Compagnie ist; denn Seeofficiere commandiren die Deckosficierschule,
die Cadetten- und Jungenschiffe, die Marineschule wie die Flottenstamm-und
die Werftdivision, und fungiren als Lehrer an jenen Schulen, wie an Bord
beim wissenschaftlichen Unterricht der Cadetten. Man sieht, die Anforderungen
sind nicht gering, und es ist nicht ohne Grund, wenn neuerdings auf eine
tüchtige Vorbildung zum Seeofficier großes Gewicht gelegt wird. Man kann
dies thun, da gerade der Andrang gebildeter junger Leute groß genug ist.
Allerdings geben Examina an sich keinen Maßstab für die wirkliche Be¬
fähigung: aber sie geben doch die Garantie, daß ein gewisses Minimum
von Befähigung und Kenntnissen vorhanden ist. Der Andrang aber ist so
übermäßig, daß vor einigen Jahren von 80 sich Meldenden nur 10 als
Cadetten angenommen werden konnten: später wurde dieser Satz sehr ver¬
mehrt, und in einem Jahre 50, im nächsten sogar 90 Cadetten eingestellt.
Die Deckung des Kriegsbedarfs an Mannschaften erfolgte vor der
norddeutschen Bundesverfassung durch Einziehung der sogenannten „See¬
dienstpflichtigen". Früher waren auf Grund einer Bestimmung des
altpreußischen Cantonreglements von 1735, die sich durch alle Wandlungen
der Wehrverfassung erhalten hatte, diejenigen Matrosen von der Ableistung
der Wehrpflicht befreit, welche bis zu ihrem 20. Lebensjahr ein Jahr auf
der preußischen Handelsmarine gefahren hatten. Da nun fast alle Matrosen
dieser Bedingung genügt hatten, so fehlten der Marine für das einzustellende
Material gänzlich befahrene Matrosen, und wenn diese auch im Kriegsfall
herangezogen wurden, so fehlte ihnen wieder völlig die militairische Vor¬
bildung, namentlich in Disciplin, Gebrauch der Geschütze und Promptheit
der Manöver. Bei der ersten ernsten Probe zeigten sich natürlich arge Un¬
zuträglichkeiten; die „Vineta" in Danzig bedürfte sechs volle Wochen, um
die zugetheilte Mannschaft zum Dienst nothdürftig vorzurichten, ebenso fehlte der
Kanonenbootflottille eine seetüchtig ausgebildete Bemannung, was mehrfach Un¬
fälle zur Folge hatte, auch die Indienststellung der „Augusta" wurde dadurch
bis zum Ende der Feindseligkeiten verzögert. Etwas mehr mußte daher die
Handelsmarine herangezogen werden. Denn auch seit Errichtung der Kriegs¬
marine waren im Interesse der Handelsflotte, der man die Kräfte nicht ent¬
ziehen wollte, alle Seeleute, welche sich durch eine zweijährige Fahrzeit als
Seeleute von Beruf ausweisen konnten, nicht blos vom Dienst in der Land¬
armee gänzlich befreit, sondern selbst ihre Verpflichtung zum Dienst auf der
Flotte ruhte in Friedenszeiten und trat nur beim Ausbruch eines Krieges
in Wirksamkeit, wo sie auf Kriegsschiffen eingestellt werden sollten. Wenn
nun auch beim dänischen Kriege die Bemannung mit ungeübten Mannschaften
im Betrag von ^/z der ganzen Stärke keine ernsten Gefahren bereitete, so ist
doch nöthig, sich für künftige Zeiten in dieser Beziehung wirklich sicher zu
stellen. Diese Nothwendigkeit hat dazu geführt, daß die norddeutsche Bundes¬
verfassung das Institut der „Seedienstpflichtigen", welche im Frieden von
allem Dienst befreit waren, gänzlich aufgehoben hat und eine dreijährige
Dienstpflicht aller norddeutschen Seeleute auch für Friedenszeiten festsetzt.
Sie hat damit nichts Anderes gethan, als was außer England und Amerika,
deren Flotten bis jetzt nach dem Werbesystem bemannt werden, alle Kriegs¬
flotten thun, in erster Reihe Frankreich mit seiner iliserixtioa maritime, ja
auch England hat sich genöthigt gesehen, Seeleute aus der Handelsmarine —
in einer seinen Verhältnissen entsprechenden Form — wie erwähnt als Koz^l
Mval Reservö mit ca. 16—20,000 Mann —zur Completirung auf Kriegsfuß
heranzuziehen. Indessen wird man bei uns durch diese Dienstverpflichtung der
Handelsmarine nicht so drückende Fesseln auflegen dürfen, wie in Frankreich,
wo die Handelsmarine in denselben allmälig verkümmert; man wird nament¬
lich darauf sehen müssen, daß die factische Dienstzeit so viel als möglich
abgekürzt wird. Es war nöthig, in der Verfassung der Staatsgewalt vor¬
läufig ein Recht zu geben, wonach sie die Mannschaften drei Jahre lang in
Dienst behalten kann; denn wie sollte es sonst möglich sein. Kriegsschiffe,
welche nicht blos Stammmannschaften an Bord haben, zu Expeditionen in
Ostasien zu verwenden, bet denen oft die Hin- und Rückreise allein die
Hälfte des dreijährigen Zeitraums in Anspruch nimmt? Aber in diesem
Falle sollte man dahin wirken, der Besatzung solcher Schiffe einen mög-
lichst großen Procentsatz von Stammmannschaften zu geben, welche die Ma¬
rine sich selbst aus dem Schiffsjungeninstitut heranerzieht und deren Dienst¬
verpflichtung 12 Jahre beträgt. In allen anderen Fällen sollte man die
Ausbildung auf etwa Jahr festsetzen. Wir würden etwa folgendes
Verfahren vorschlagen. Die Seeleute aus der Handelsmarine werden am
Schluß der Schifffahrtsperiode, also im Anfang des Winters, wo die Fahrten
bis auf einen geringen Bruchtheil ganz ruhen und die meisten Handelsschiffe
unthätig im Hafen liegen, zur Flottenstammdivision eingezogen, dort am
Lande und an Bord des Casernenschiffs zunächst mit den Gewehrgriffen, nicht
im Marschiren, ausexercirt, weil die Griffe schneller als jedes andere Mittel
discipliniren, dann am Geschütz ausgebildet, und sobald die Schifffahrt offen
ist, auf Schiffe eines permanenten Uebungsgeschwaders gebracht. Dieses Ge¬
schwader kreuzt während des ganzen Frühjahrs, Sommers und Herbstes in
der Nord- oder Ostsee, geht vor Beginn der Aequinoctialstürme für den
Winter — wo der entlassene Matrose doch keine Beschäftigung finden könnte
— theils nach dem Mittelmeer, theils nach Westindien, da dort der Winter
die Kreuzfahrten nicht hindert und das Geschwader eine Flottenstation
zum Handelsschutz ersetzt. Zum Beginn der Schifffahrtsperiode bringt das
Geschwader die Leute wieder in die heimischen Häfen zurück, wo dieselben
entlassen werden und sogleich aus Handelsschiffen ein Unterkommen finden.
Das Uebungsgeschwader bleibt also permanent in Dienst, im Sommer in
den deutschen, im Winter in den mittelländischen oder westindischen Gewässern,
aus denen es im Nothfall schnell zurückgerufen werden kann, während selbst¬
verständlich ein allmäliges Auswechseln der Schiffe nicht ausgeschlossen ist.
Falls man das Artillerieschiff — Segelfregatte — nicht bloß zur Ausbildung
der Stammmannschaften benutzen will, kann es im Sommer dem Uebungs¬
geschwader beigegeben werden und nach und nach die eingezogenen Seeleute
an Lord bekommen. Die Schiffe der ostasiatischen Station erhalten in den
nächsten Jahren möglichst wenig eingezogene Matrosen und möglichst viel
Stammmannschaften, nach einigen Jahren aber, wo die aus allen Kräf¬
ten zu betreibende Vermehrung der Stammmannschaften weit genug vorge¬
schritten ist, nur noch Stammmannschaften. Wo Letzteres aus besonderen
Gründen nicht ausführbar ist, wird der Dienst der ostasiatischen Station so
geregelt, daß die dort stationirten Schiffe etwa vier Jahre in jenen Ge¬
wässern und fünf Jahre in Dienst bleiben (wie auf der englischen Flotte
bisher 3—4 Jahre, von jetzt ab auch 4 — 5 Jahre), und daß jedes Jahr ein
kleineres Schiff als Transportschiff die Reise dorthin und zurück macht, nur
um die aus der Handelsmarine eingezogenen Mannschaften nach einjährigen
Dienst auf jener Station abzulösen und durch neue zu ersetzen, so daß ein¬
schließlich der Hin- und Rückreise die Dienstzeit der eingezogenen Mann¬
schaften doch nur 2 Jahre beträgt. Diese Regelung des Dienstes ist viel¬
leicht für den ersten Blick etwas kostspieliger als das jetzige Verfahren; in
Wirklichkeit ist sie viel vortheilhafter. weil die Handelsmarine, die ja stets
Basis der Kriegsmarine ist, weniger beeinträchtigt wird, weil den Desertio¬
nen, wie sie in allen Flotten vorkommen, durch kurzen Dienst viel wirksamer
vorgebeugt wird als bisher, und weil der Marinedienst überhaupt viel be¬
liebter werden kann, wenn den Seeleuten eine gesetzlich fixirte Sicherheit ge¬
geben wird, daß sie nie länger als zwei Jahre im Dienst bleiben, abgesehen
von hindernd eingreifenden Naturereignissen.
Dr. Adolph Schmidt sagt in seinen „zeitgenössischen Geschichten" bei
der Behandlung der Reformanläufe Oestreichs (S. 691), ein Mitglied der
kaiserlichen Familie habe zur Beschwichtigung der Bewegung in den März¬
tagen des Jahres 1848 „die Octroyirung einer Gesammtstaatsverfassung ge¬
fordert, die man ja wohl, wenn Sturm und Rausch vorüber, wieder abzu¬
thun im Stande wäre". Die Geschichte der fünfziger Jahre hat wenigstens
bewiesen, daß die Verfassung in kurzem unerträglich erschien. An ihre Stelle
trat 18S6 das Concordat, der Episkopat sollte mit Hülse von Gesetzen
aus dem Mittelalter die alten Schäden der modernen Gesellschaft heilen, auch
die neue Organisirung des Heeres war hauptsächlich dazu bestimmt, eine
zweite Revolution unmöglich zu machen. Aber die mit ungeheuren Kosten
aufgestellte Heeresmacht war im Jahre 1859 nicht einmal im Stande, die
kleine Provinz Mailand zu schützen, die nachher geführten Cnminalunter-
suchungen zogen den Schleier von Zuständen, die sich nur durch den von
oben begünstigten Jesuitismus ausbilden konnten, und die Folge des über¬
mäßigen und schlecht angebrachten Aufwandes war eine tiefe Verschuldung;
man stand am Rande eines Staatsbankerottes Um diesen zu verhindern,
wurden anfangs Notable in den Rath der Krone berufen, und als diese sich
unkräftig erwiesen, erschienen im October 1860 die dehnbaren Grundzüge des
Goluchowsky'schen Patentes, dem die wunderlichen Statute von vier Kron¬
ländern als Empfehlungsbriefe bei der Bevölkerung folgten; es war im
Grunde nur eine neue Auflage des alten Feudalstaates. Die Entrüstung
darüber wurde groß, der Credit des Staates war gefährdeter als je; gleichwohl
vermochte man in Wien der beschränkten Auffassung des Octoberpatentes nicht
zu entsagen. Die Februarverfassung bewegte sich grundsätzlich innerhalb der¬
selben Linien, der schon früher vorgesehene, aber erst von ihr ins Leben ge¬
rufene Reichsrath hatte zunächst nur die Bestimmung eines Rechnungshofes,
ihm war weder ein Einfluß auf auswärtige Angelegenheiten, noch die Fest¬
stellung der zum Heere abzustellenden Mannschaftszahl, ja nicht einmal
die jährliche Bewilligung der einzusehenden Steuern eingeräumt, sein Wir¬
kungskreis in allen inneren Fragen lag zunächst in den Händen der Regie¬
rung und war noch außerdem durch die Competenz der Landtage, welche ihr
seudales Vorbild nicht verleugneten, vielfach beschränkt. Das Volk nahm aber
auch diese kargen Zugeständnisse mit dankbarer Anerkennung auf; einerseits
war es doch ein Gewinn gegen die polnische Ständewirthschaft Goluchowsky's,
andererseits vertraute man den einschmeichelnden Worten des neuen Staats¬
ministeriums Schmerling, das mit der schwungvollen Devise: „Wissenschaft ist
Macht" den Beginn einer neuen Aera verkündete. Leider erfüllten sich die
heißblütigen Hoffnungen nicht, der östreichische Bürger glaubte inne zu werden,
daß Schmerling in geheimem Einverständniß mit Cardinal Rauscher und an¬
deren Koryphäen der Reaction nicht die Freiheit selber, sondern nur den
Schein davon wollte, und nachdem er nach fünf Jahren unthätigen Zu-
wartens auch das Vertrauen der Freunde des gemäßigten Fortschrittes ver¬
loren, schien dem Hofe die Zeit gekommen, sich seiner ohne Gefahr eines irgend
nennbaren Widerspruchs zu entledigen und mit offenem Visir die Fahne der
entschiedensten Reaction aufzupflanzen. Das Septemberpatent seines Nachfolgers
Belcredi sistirte die Verfassung, um die Landtage als die einzigen gesetzlichen
Vertreter der Völker Oestreichs einzuführen; es beabsichtigte nichts Geringeres,
als mit der Februarverfassung völlig aufzuräumen. Selbst der nach langem
Zögern anfangs Januar 1867 octroyirte „außerordentliche" Reichsrath hatte
keinen anderen Zweck, als die factische Beseitigung des ordentlichen Reichs¬
tags durch neue auf allgemeines Commando aufgedrungene reactionaire
Volksvertreter noch vor aller Welt feierlich zu besiegeln. Und wieder war
es der tiefer als je gesunkene Staatscredit wie die Furcht vor dem Un¬
willen der deutschen Bevölkerung Oestreichs, die es dem Baron Beust er¬
möglichten, seinen schwachsinnigen Rivalen mit einem Male über Nacht aus
dem Amt zu entfernen. Man stand nun von neuem vor einem Anlauf zu
freisinnigen Reformen, die unter dem Einfluß der öffentlichen Entrüstung
über den von Belcredi versuchten Verfassungsbruch, den clericalen und
feudalen Hochmuth zu einer Erweiterung der Verfassung und endlich zur
Abschaffung des concordatlichen Ehegesetzes, Feststellung des Verhältnisses der
Kirche zur Schule und einigen Anordnungen über die interconfessionellen
Verhältnisse führten. Das ungestüme Drängen nach dem Bruche mit der
mächtigsten Schranke des Fortschritts, dem Concordat, wurde in den ma߬
gebenden Kreisen sehr übel vermerkt, man fügte sich aber endlich doch in das
Unvermeidliche mit dem guten Vorsatze, in der Nachgiebigkeit nicht zu weit
zu gehen. Das Concordat bestand noch fort als Vertrag, der nur durch die
Zeitumstände in einigen Punkten unerfüllbar geworden.
Die Folge davon war, daß sich der Trotz der rebellischen Bischöfe un¬
gestraft gegen das neue Ehe- und Schulgesetz erheben konnte, und ihre con-
cordatliche Immunität ohngeachtet einzelner das Strafverfahren einleitender
Entscheidungen nach wie vor gewahrt wurde. Die Anmaßung des Papstes, der
die östreichischen Staatsgesetze als ungültig und abscheulich erklärte, durfte
von clericalen Zeitungen, so wie auch in Rede und Schrift von den Bi¬
schöfen öffentlich als der endgültige Ausspruch der höchsten und unfehlbaren
Autorität auf Erden den Völkern Oestreichs verkündet und der Widerstand
gegen die Durchführung der Gesetze als Pflicht jedes ehrlichen Christen hingestellt
werden. Die Regierung ließ sich den Trotz bieten, daß die Ausstellung von
pfarramtlichen Zeugnissen behufs der Nothcivilehe oder Scheidung von Tisch
und Bett, und die Aushändigung der Ehegerichtsacten vom Episkopat ver¬
weigert wurde, und es ist nicht bekannt, daß dieses dafür eine wirkliche Buße
erleiden mußte. In Tirol steigerte sich die Widersetzlichkeit gegen die Schul¬
gesetze bis zum Hohne, so daß die Landtagsmajorität auf Antrieb des Brixener
Bischofs ein Schulgesetz beschloß, das den Landesbischöfen noch größere
Rechte einräumen sollte, als selbst das Concordat. Das Ministerium blieb
dabei monatelang unthätig, und als endlich am 10. Februar d. I. eine
provisorische Verordnung über die Durchführung der Schulaufsicht erschien
und die gottesfürchtigen Geistlichen die Religionsprüfungen allenthalben ab¬
gesondert für sich vornahmen, ließ man sie vollends gewähren, als ob eben
dies die neue Ordnung der Dinge sei, die das Schulgesetz eingeführt. Aber
auch mit der neuen Organisirung der Verwaltung der Justiz erging es nicht
besser, wiewohl der Staat bei der Handhabung der neuen Gesetze zumeist
auf die Unterstützung seiner Beamten angewiesen ist. und ein clericaler Be¬
amter nun und nimmermehr seine Ueberzeugung ändern wird. Wir wollen
uns hier der Genauigkeit halber nur an die Vorgänge in unserer nächsten
Nähe halten, wiewohl es auch anderswo nicht an ähnlichen Beispielen
fehlen dürfte.
Schon die Art und Weise, wie die Stellen in der unmittelbaren Umgebung
des Statthalters von Tirol besetzt wurden, mußte nicht geringe Verwunderung
erregen. Zu seinem Stellvertreter wurde ein Graf berufen, der zufällig seine
clericalen Sympathien verrieth, als er irrthümlich bei seinem ersten Besuche
den Vicebürgermeister für den ultramontanen, später abgetretenen Bürger-
Meister nahm. An diesen Adlatus reihten sich zwei neue Räthe, von
denen der eine, vorher Bezirksvorsteher in Schwaz, die Wahl seines ge¬
lehrten Freundes, des bekannten glaubensfrohen Wiener Professors Pater
Albert Jäger, durch einen ungesetzlichen Vorgang durchgesetzt, der andere
aber sich nicht lange vorher an die Spitze einer Deputation gestellt hatte,
die den Jesuiten für ihre in Innsbruck gehaltene Mission dankte, er hatte
auch sonst ganz offen das Streben der Ultramontanen Tirols nach Sonder¬
stellung vertheidigt. Das Referat für Volksschulen blieb in den Händen
eines jesuitischen Czechen, der sich außer vielen wunderlichen Einfällen, womit
er sich berühmt zu machen glaubte, durch nichts als seine servile Devotion
vor dem Clerus auszeichnete. Daß auch die Ernennung einiger Bezirks¬
hauptleute ebenso unglücklich ausfiel, zeigte sich in der Folge, und ist um
so mehr zu beklagen, als es ihnen an Gelegenheiten nicht fehlt, auf eigene
Faust clericale Politik zu treiben. Die Richterstellen wurden wenigstens zu
zwei Dritttheilen mit Leuten von schwarzer Farbe besetzt, wiewohl das Volk
bei dem großen Umfange der Sprengel der Bezirkshauptmannschaften in den
meisten Angelegenheiten zunächst an sie gewiesen, und sich bei ihnen Raths
zu erholen gewohnt ist. Finanzielle Rücksichten wegen der Uebersetzungs¬
kosten und Pensionirung sollen hierfür maßgebend gewesen sein. Was aber
noch mehr im Argen liegt, ist das k. k. Oberlandesgericht. Sein Präsident
benützt seine Berufung ins Herrenhaus, um den größten Theil des Jahres in
Wien zu verbringen, und kommt nur auf kurze Zeit nach Innsbruck. Er
zählt zwar schon mehr als vierzig Dienstjahre, würde aber seine Zulage ein¬
büßen, wenn er in den Ruhestand träte. Dessen Stellvertreter, einem hart¬
gesottenen Ultramontanen, wird vom Brixener Bischöfe die Bewilligung ver¬
sagt, sich seines Amtes zu entledigen. Alle übrigen Räthe zählen nachgerade
zur clericalen Innung, ihnen soll der wackere Mann, der nachgerade die
Stelle eines Oberstaatsanwalts vertritt, ein weißer Rabe unter den Krähen,
Urtheile und Entscheidungen abnöthigen, welche über ihre Herzensfreude und
Kampfgenossen in den katholischen Vereinen und über die Redacteure der jesui¬
tischen Tagesblätter, woran sie mitunter selbst als Actionäre betheiligt sind,
scharfe Strafen verhängen. Dies also die feste Stütze, deren sich die Re¬
gierung zur Aufrechthaltung der öffentlichen Ruhe und des Ansehens der
Gesetze versehen darf. Es ist in der That zu wundern, daß noch keiner der
konstitutionellen Vereine in Pön und Acht verfiel.
Die Staatsgesetze Oestreichs aus den letzten zwei Jahren sind, wer möchte
es leugnen, konstitutionell und freisinnig, aber die Executive fehlt Sie fehlt,
weil feudal-clericale Landtage sich ihrer Durchführung ungestraft widersetzen
dürfen, und die Aufwieglungsversuche des Clerus mit einer an Schwäche
grenzenden Nachsicht geduldet werden, ^le fehlt aber auch, weil die Organe,
die sie handhaben, großenteils aus dem clericalen Lager genommen sind
und in entgegengesetzter Richtung wirken. Auf dem Papier haben wir den
Fortschritt, im Leben aber sind wir um keinen Zoll weiter gekommen. Die
wackerm Herren machen auch aus ihrer Herzensmeinung nicht den geringsten
Hehl, sie sprechen es offen aus, daß sie in nächster Zeit auf den Umsturz
des gegenwärtigen Ministeriums rechnen, und arbeiten schon jetzt im Dienste
des kommenden. Auch sie meinen: „Wenn Sturm und Rausch vorüber, läßt
sich Alles abthun". Die Zukunft wird lehren, ob sie recht haben.
Anknüpfend an die Wiener Mittheilungen d. Bl. im November 1867
und Juni 1868 folgt hier ein Ueberblick der letztverflossenen Saison 1868/69
— dem Leser ein fortlaufendes Referat bietend von Wiens musikalischer
Thätigkeit, in der Absicht, den Freunden in Deutschland von dem zu be¬
richten, was uns mit ihnen vor Allem gemeinsam ist, von unserer Kunst.
Eine Uebersicht der jüngsten Leistungen der Hoho pernbühne ist im
Augenblick um so bedeutsamer, als die in wenig Tagen eintretende Ueber-
siedelung ins neue Opernhaus manche Veränderung in diesem Institute nach
sich ziehen wird. Die folgenden Zeilen haben den Zeitraum vom 1. Juli 1868
bis Mitte 1869 im Auge, also (die Ferienzeit mitgerechnet) fast ein volles
Theaterjahr. Im Laufe desselben hat das Personal der Bühne mehrfachen
Wechsel erfahren. Fräul. Jda Beuza, im Augenblick, wo sie sich zu ent¬
puppen begann, wurde fahnenflüchtig und weilt seitdem in Italien. Die
rasche Entwickelung ihres Talentes berechtigte zu bedeutenden Erwartungen,
die hoffentlich, wenn auch unter fremdem Himmel, erfüllt werden. Ein un¬
erwarteter Ersatz wurde der Oper durch den Gewinn der bisher im Karl¬
theater beschäftigten Frau Friedrich-Malern a. Der Sprung von Offen¬
bach zu Beethoven, so waghalsig er ist (die tapfere Frau trat bereits im
Fidelio auf), gelang ihr überraschend. Blickt auch überall mehr die glück¬
lich das Richtige treffende Naturalistin heraus und ist Vieles noch aus¬
zumerzen — der Wille ist da und die Mittel scheinen mit der Höhe der Auf¬
gabe zu wachsen. Nach drei Gastrollen wurde die Sängerin engagirt. Auch
ein ganz tüchtiger Baß,, Herr Hablawetz aus Graz, der als Gast gefiel
wurde vom Jahre 1870 an auf drei Jahre gewonnen. Für den abtretenden
Tenor Zottmayer trat Georg Müller aus Kassel ein, dessen frische, ramene-
lich in der Höhe geschmeidige Stimme sich besonders für die große Spieloper
eignet. Es ist um so mehr zu bedauern, daß sich derselbe so vorschnell an
aufreibende Partien, wie Vasco und Raoul wagte, denen er sich bis jetzt
noch nicht gewachsen zeigte. Das Gastspiel des Tenoristen Sontheim
schloß am 16. August mir dem Eleazar, seiner Glanzrolle, ab. Nicht
weniger epochemachend war das Auftreten des Tenoristen Niemann.
sang an neunzehn Abenden, machte Furore als Tannhäuser, gefiel
als Josef und Achilles (Iphigenie) und theilweise als Prophet, fand
als Lohengrin nur wenig Anklang, mißfiel aber gänzlich als Faust
Seine dramatische Gestaltung, sein durchgeistigtes Spiel fesselte die Menge,
die seine Leistung als Ganzes zu würdigen verstand und die es zum Theil
bei so großen Vorzügen willig in Kauf hinnahm, daß seinem wenig modu¬
lationsfähigen Organ der Schmelz, die Wärme, der sinnliche Reiz fehlte.
Trotz Transponiren reichte seine Stimme häufig kaum aus; im Distoniren
Namentlich hatte der Künstler manch unglücklichen Abend. Es ist bezeichnend,
daß er immer wieder zum Tannhäuser zurückgriff, mit dem er sich im 3. Act
auf der Höhe seiner Leistungen zeigte. — Einen anständigen Erfolg hatte
noch das Gastspiel der Damen Giovannina Stella, Helene Hausen, Bassist
^übsam; die übrigen bleiben besser ungenannt. — Das Gesangspersonal
ist im Augenblick folgendes — Sängerinnen: Fräul. Bertha Ehnn (als
Scuta, Gretchen, Mignon vorzugsweise beschäftigt), v. Rubatinsky (mit
Glück das Fach der Murska ausfüllend), Frau Wild (in der Gesangstechnik
Allen voran), Friedrich.Malern« (siehe oben), Dustmann, Tellheim,
Siegstädt und Gindele. Sänger: Walter (fast nur auf die Opern
Faust, Mignon, Romeo angewiesen), der.strebsame Tenor Adams, Müller
(siehe oben), der beliebte Baritonist v. Bignio, Beck (als Figaro, Tell,
Fueg. Holländer gefeiert), Meyerhofer der vielbeschäftigte, die stimmbegab-
ten Bässe Robitansky und Schmid und der Veteran Draxler.
Die Aufführungen seit 1. Juli 1868 bis 13. Mai 1869 vertheilen sich
auf 4 Italiener mit 11 Opern und 67 Abende; 8 Franzosen mit 12 Opern
und 109 Abende; 8 Deutsche mit 13 Opern und 57 Abende.
Es haben demnach den Italienern gegenüber die doppelte Anzahl Deutsche
gleiche Anzahl Abende (87); und Franzosen und Deutsche gleiche Anzahl,
^er für Erstere fast doppelt so viele Abende (109). Die einzelnen Kom¬
ponisten waren mit nachfolgender Anzahl Vorstellungen vertreten: Meyer-
beer 45. Gounot 29, Verdi 24. Donizetti 19, Thomas 16, Wagner 14,
Rossini und Mozart je 12, Flotow 8, Ander 7, Weber und Beethoven je 6,
Käßmayer 5. Nicolai und Adam je 4, Halevy und Mehul je 3, Grisard,
Bellini und Gluck je 2. — Zum erstenmal aufgeführt wurden „Mignon"
von Thomas und „das Landhaus" von Käßmayer. Orchestermitglied des
Operntheaters. Thomas, dessen „Sommernacht" im Jahre 1854 hier nicht
übel gefiel, hat mit Mignon einen guten Wurf gethan. Die gewandte
Mache, kecke Vaudeville-Gedanken, dankbarer Rollenzuschnitt werden die
Oper eine Zeit lang erhalten — in wenig Jahren wird niemand mehr dar¬
nach fragen. Wenigstens gab die Aufführung den Sängern Gelegenheit, sich
in der arg vernachlässigten Spieloper zu üben. Käßmayer's „Landhaus in
Meudon" wurde von der Kritik scharf mitgenommen. Es kann noch von
Glück sagen, daß es trotzdem wenigstens 5 Vorstellungen erlebte. Schade
um einzelnes Gute darin, das für die wenig graziöse und melodisch zu un¬
bedeutende größere Hälfte nicht entschädigen kann. Der Componist, dem man
eine gewisse vis comica nicht absprechen kann, scheint sich mehr mit musika¬
lischen Gelegenheitsspäßen abgegeben zu haben, die im kleinen Kreise wohl
sehr erheiternd wirken, aber sich schlecht mit dem großen Rahmen der Oper
vertragen. Neu in Scene gesetzt wurde die komische Operette „Gute Nacht.
Herr Pantalon" von Grisard. Man glaubte anfangs, die Direction wolle
damit den Versuch machen, dem Ballet wie früher einactige Operetten voran¬
gehen zu lassen. Doch blieb es bei nur zweimaliger Aufführung und zahl¬
reiche allerliebste Werke, eine treffliche Schule für die Spieloper, für Dar¬
steller und Componisten, sind damit auf lange Sicht verwiesen. Um nur
eines zu nennen, wurde Pergolese's „Serva Padrona" gerade vor hundert
Jahren nur in der verballhornisirten Verdeutschung des damaligen Hans¬
wurst Bernardon (Kurz) in Wien aufgeführt — ein Werk, das noch heute
die Pariser entzückt. — Aber auch die große Spieloper scheint auf dem Aus¬
sterbeetat zu stehen. Ander, der seit Jahren nur durch die „Stumme" ver¬
treten ist (auch seine „Ballnacht" ist durch die Verdi'sche verdrängt) verdient
wohl, zuweilen durch seinen „Maurer und Schlosser", „Fra Diavolo",
„schwarze Domino" vorgeführt zu werden. Boieldieu, dessen „weiße Frau" in
den 50er Jahren noch häufig gegeben wurde, scheint ebenfalls vergessen. Sein
„Johann von Paris", „Rothkäppchen", „Kirchgang im benachbarten Dorfe"
würden gern gehört werden. Am übelsten kommt Rossini mit seinem „Barbier
von Sevilla" weg. denn seit Jahren mangeln der Oper die nöthigen Kräfte zur
Aufführung dieses unverwüstlichen Meisterwerks. — Um auf die große Oper
überzugehen, muß vor Allem das Ueberhandnehmen der Opern von Meyer¬
beer und Verdi als bedenkliches Zeichen hingenommen werden. Erstere
namentlich werden noch immer zu Zugopern gestempelt, und obwohl auch
Mozart's Opern ein volles Haus finden, ist dennoch das Verhältniß der
Aufführungen von Meyerbeer, Verdi und Mozart gleich 45 — 24 — 12!
Und dazu Gluck mit 2 Abenden! Leipzig hat jüngst die Wiener Oper be¬
schämt, indem es „Idomeneo" aufführte, eine Oper, die der Wiener nur aus
den Noten kennt. — Schon einmal haben diese Blätter auch auf Eher»'
bini's „Medea" hingewiesen, eine Oper, die in London seit dem Jahre 1864
jährlich zahlreiche Vorstellungen erlebte. Für die Titelrolle hätte das neue
Opernhaus jetzt sogar zwei Repräsentantinnen. Und was hat Marschner
verschuldet, sein „Hans Helling" — „Templer und Jüdin" —. daß er bei
Seite geschoben ist — noch immer in Strafe wegen des vorlauten „Ora
pro nobis" ?
Die Eröffnung des neuen, mit Aufopferung von Millionen erbauten
Opernhauses steht in wenig Tagen bevor. Das Gebäude ist in großen Di¬
mensionen ausgeführt; die innere Ausstattung bietet eine wahre Augen¬
pracht. Möge der eigentliche Beruf des Hauses, die Pflege der wahren classi¬
schen Musik nicht unter der Ungunst neuer Verhältnisse allzusehr leiden und
prunkende Schaustücke die edleren, Herz und Gemüth befriedigenden Werke
älterer Meister verdrängen.
An Concerten bot die verflossene Saison eine Fülle von Genüssen.
Wir wenden uns zunächst den Vereinen zu, über deren Entwickelung die
vorjährigen Berichte in kurzen Umrissen bereits das Nöthige gesagt haben.
Die Gesellschaft der Musikfreunde (unter Mitwirkung des aufs
engste mit ihr verbundenen Singvereins) gab diesmal außer den vier ge¬
wöhnlichen Abonnements - noch drei außerordentlich Concerte. Aus ersteren
sind hervorzuheben: Der 42. Psalm von Mendelssohn; Ouvertüre und Vorspiel
zu „König Manfred" von Reinecke; Schumann's 3. Abtheilung zu „Faust's"
Verklärung; Violinconcert L-aur von Seb. Bach (von Hellmesberger gesp.);
Clavierconcert Ls-dur von Beethoven (Frl. Merker)); Hymne „die Nacht"
von Hiller; Beethoven's siebente und Mendelssohn Reformations-Sinfonie.
Reinecke und Heller, welche ihre Werke selbst dirigirten, wurden selbstver¬
ständlich sehr ehrenvoll hier begrüßt. Einen besonders durchgreifenden Erfolg
werden Beide mit dem Vorgeführten wohl selbst nicht beansprucht haben, man
anerkannte durch Beifall Mehr ihre Verdienste überhaupt in dem ihnen angewie¬
senen Wirkungskreis. Die Reformations-Sinfonie wurde hier weit besser auf¬
genommen, als man erwartet hatte. Als Ganzes steht sie anderen größeren
Schöpfungen des Meisters, der sich hier durch die Fesseln einer Gelegenheits-
Composition beengt fühlte, bedeutend nach. — Einen besonders brillanten
Appendix bildeten diesmal die drei außerordentlichen Concerte, in denen
Bach's „Johannes-Passion" und Liszt's „Legende von der heiligen Elisabeth"
(Text von Roquette) zweimal zur Aufführung kam. Die Aufführung der
Passionsmusik bot einen Hochgenuß für jeden Musikfreund, dem es gegeben
ist, dem Altmeister in seiner tiefernsten Schöpfung zu folgen. Das wunder¬
bare Werk wirkte gleich einem Evangelium auf die Zuhörer. In die Solo-
Partien theilten sich die Damen Magnus und Gindele, die Herren Stock¬
hausen, Walter und Kraus; am Clavier saß Nottebohm; Liszt's „Elisabeth"
wurde bekanntlich zuvor in Pest und Eisenach gegeben; erst hier aber sollte
es die eigentliche Weihe erhalten, obwohl der Componist sein Werk anfangs
etwas vornehm den Wienern vorenthalten hatte. Die Wiener jedoch nahmen
edle Rache und erdrückten den geistlichen Herrn mit Ehrenbezeugungen aller
Art. Im Hinblick auf seine bisherigen Compositionen muß man zugestehen,
daß Liszt seine eigenthümliche Schreibweise so viel wie möglich in besserem
Sinne gemildert hat. Das Werk hat unleugbare Schönheiten, obenan die
meisten Chöre. Auch die Orchestration zeigt eine Fülle geistreicher Einzel¬
heiten. Die eigentliche melodische Erfindung geht nun freilich nicht Hand in
Hand mit diesen Vorzügen. Am wenigsten findet sich der Componist mit
dem Sologesang zurecht; die ariosen Recitative ermüden nicht wenig. Der
Behelf, der Charakteristik jeder einzelnen Person mit sogenannten Leitmotiven
nachzuhelfen, wirkt fast komisch und erinnert an den Portier, der gewissen¬
haft Herrn H. und Frau N- ankündigt. Man hat allgemein die erste Ab¬
theilung als die bedeutendere hervorgehoben, doch enthält auch die zweite
Hälfte viel Schönes, das bei der zweiten gekürzten Ausführung auch mehr zur
Geltung kam. Liszt hat alle Ursache, mit der hiesigen Ausführung zufrieden
zu sein. Chor und Orchester unter Herbeck's energischer Führung leisteten
Vorzügliches und auch die Solisten (die Damen Ehnn und Gindele, die
Herren v. Bignio und Kraus) entledigten sich ihrer meist unerquicklichen Auf¬
gabe mit wahrer Aufopferung. — Die Gesellschaft hofft schon ihre nächste
Saison im neuerbauten Haus eröffnen zu können. Mit der gleichzeitigen Ueber-
siedelung des Conservatoriums dahin beginnt gleichsam eine neue Aera für
eine Anstalt, die durch Privatmittel gegründet und mit vielen Opfern bis
heute erhalten wurde. Wohl wäre es schon längst Pflicht des Staates ge¬
wesen, eine Anstalt, die so tief in alle Kreise eingreift — in Kirche, Concert
und Theater, in Schule und Haus — unter seinen unmittelbaren Schutz zu
nehmen. Durch den Bau des neuen Hauses ist die Anstalt nun wenigstens
dem jahraus verschleppten Universitätsbau zuvorgekommen.
Die philharmonischen Concerte boten viel Anregendes. Beethoven, die
Säule jeder Orchesterproduction, war mit den Sinfonien Ur. 4. 6. u. 8 ver¬
treten. Eine neue Sinfonie (H-moII) von Esser sprach durch die fleißige
Detailarbeit an; Volkmann's v-moll-Sinfonie nahm sich etwas herb aus;
Liszt's Pre'indes wurden besonders sorgfältig wiedergegeben; die hier zum
erstenmal aufgeführte Oxford-Sinfonie von Haydn (Partitur bei Rieter-Bieder¬
mann) fand in allen Theilen enthusiastische Aufnahme. Gern gehörte Be¬
kannte waren die Sinfonien L-aur von Schumann, ^,-molI von Mendels¬
sohn, Odur von Schubert. Von Ouvertüren sind Beethoven's Leonore
Ur. 2 und Wagner's Faust-Ouverture zu erwähnen. Drei Clavierconcerte
wurden, jedes in seiner Art vortrefflich ausgeführt. Mit Liszt's Ls-aur
Concert trat Frl. Sofie Merker zum erstenmal in Wien auf. Voller
runder Ton, vollendete Technik, kernige Auffassung machten sie rasch zum
Liebling der Saison. Nur einer Unpäßlichkeit des Violinisten Laub hatte man
es zu danken, daß man Frau Schumann wenigstens einmal mit einem
orchestrieren Werk hören konnte. Sie spielte Mendelssohn's 6-inoU Concert
vollendet schön. Auch Frau Auguste Kolär verdient für die klare Wieder,
gäbe des Schumann'schen Concerts Anerkennung. Die beiden Concertmeister
Hellmesberger und Grün spielten ein Concert für zwei Violinen von
S. Bach. Letzterer hatte sich vorher mit Mendelssohn's Concert hier ein¬
geführt. Große Fertigkeit, reine Intonation, verständige Auffassung sprachen
für seine Gediegenheit; der Ton ist etwas klein, auch wirkt sein Vortrag
nicht zündend genug auf den Zuhörer. Der am Operntheater mit Grün
zugleich neu engagirte Cellist Popper zeigte seine Vorzüge, vollen reinen
Ton, elegante Cantilöne, in einem Concert von Volkmann. Das Orchester
spielte noch Mozart's in markigen Zügen angelegtes Präludium sammt Fuge
(Omoll) für Streichinstrumente; Gluck's Furientanz aus Orpheus; Pilger¬
marsch von Berlioz (als Nachruf dem Geschiedenen) und dessen Fee Mad,
jenes fantastische, in tausend Farben spielende virtuose Orchesterstück. Die
Ausführung alles Genannten entsprach dem Rufe, den diese Concerte (seit
1860 unter Dessofss Leitung) sich erworben.
Der Orchesterverein unter Heißler veranstaltete für seine Mitglieder
drei Abendunterhaltungen. Schubert's L-moll Sinfonie. Concert-Allegro
von Schumann, Spohr's 9 Concert, Clavierconcert L-woll von Mozart (von
Brahm's, Grün, Frau Kolär gespielt), eine der schönsten Sinfonien von
Haydn (K-aur) und die vollständige Musik zu „König Thamos" von Mozart
(mit verbindenden Text) bildeten die hervorragenderen Nummern. Nament¬
lich Mozart's Werk, an vielen Stellen seiner letzten Periode vorgreifend,
füllte die Zuhörer mit großem Interesse.
Die Singakademie unter Weinwurm's Leitung hat sich diesen Winter
besonders gekräftigt. Brachte das erste Concert in Einzelnem viel Interessantes
(Mendelssohn's „Heilig", Schumann's „Mignon", Nachtigallen-Chor von
Händel) so überbot dasselbe doch das 2. Concert durch eine äußerst gelungene
Aufführung von Händels „Acis und Galatea". Obgleich nur mit Clavier-
begleitung gegeben, machte das Werk einen bedeutenden Eindruck und man
fragte sich umsonst, warum man dasselbe ein halbes Jahrhundert ruhen lassen
konnte. Galatea und Acis namentlich fanden in Frl. Anna Schmidtler
und Herrn Adolf Schuldner zwei tüchtige Repräsentanten. Eine Wider-
holung des Werks mit Orchesterbegleitung (mit der Mozart'schen Instrumen-
tirung) ist schon jetzt in Aussicht genommen. Im dritten Concert kamen zwei
allerliebste Madrigale von älteren englischen Componisten („Liebe erwacht" von
I. Dowland, und „Tanzlied" von Th. Morley), Chöre von Schumann („Gute
Nacht" und „Jägerlied") „Volkslied" von Hiller und Mendelssohn's Hymne
„Hör' mein Flehen" zur Aufführung. Auch aus Rossini's neuer Messe wurden
heats Sätze vorgetragen. Der liebenswürdige Operncomponist verleugnet darin
seine Natur nicht. Die Arien fänden Platz in jeder Oper; doch sind die
Chorsätze Kyrie und Sanctus so ernst gehalten, als es dem Componisten
des „Barbier" möglich war. Wie die Messe als Ganzes wirken mag, ge¬
hoben von der unterstützenden Orchesterbegleitung, ist den Wienern noch vor¬
behalten.
Der „Haydn-Verein" (Wittwen - und Waisen-Versorgungsverein der
Tonkünstler in Wien) gab seine regelmäßigen Akademien in der Weihnachts¬
und Charwoche. Die erstere im December hatte mit Hindernissen zu kämpfen
und kam die „Schöpfung" zur Noth zu Stande. Man schien endlich ein¬
zusehen, daß diese bis jetzt nothdürftig vorbereiteten, von einem bunt zu¬
sammengewürfelten Chor und Orchester gebotenen Akademien den Ansprüchen
der Jetztzeit nicht genügen können. Um der langgewohnten Wechselaufführung
von Schöpfung und Jahreszeiten eine Wendung zu geben, wählte man in
der Charwoche die „Walpurgisnacht" und „Christus am Oelberg". Doch
wird sich der, übrigens eben durch Haydn reich gewordene Verein schon be¬
quemen müssen, will er in der Folge mit den Aufführungen etwas einbringen,
auch etwas daran zu wagen. Hoffentlich werden mit Eröffnung des neuen
Opernhauses die letzten Stunden dieser Akademien in den dumpfen Räumen
des Burgtheaters geschlagen haben. Mit der ersten Ausführung im neuen
glänzenden Locale werden alle durch die Länge der Zeit eingerüsteten Ge¬
brechen sich hoffentlich heben und wird der Verein dann erst mit Recht rufen
können: „und es ward Licht". —
Der Wiener Männergesang-Verein hat im October verflossenen
Jahres seine 2Sjährige Jubiläumsfeier abgehalten. Es waren die glänzend¬
sten Tage des Vereins seit seinem Bestehen. Die Feierlichkeiten: Begrüßungs¬
abend der Festgäste — Kirchenfeier — Festconcert — Liedertafel — Grund¬
steinlegung des Schubert's-Monuments im Stadtpark, waren auf drei Tage
vertheilt. Der Verein erhielt bei dieser Gelegenheit zahlreiche und werth¬
volle Erinnerungszeichen. Den Glanzpunkt der Gaben aber bildeten die Ver¬
leihung der großen goldenen Salvator-Medaille von Seiten der Stadt Wien.,
Die Namen Dr. A. Schmidt (Gründer des Vereins), Dumba (der gegen¬
wärtige kunstsinnige Vorstand), Herbeck (Ehrenchormeister. dem der Verein
seine jetzige Höhe zu verdanken hat) Weinwurm, Nachfolger Herbeck's, waren
in diesen Tagen in Aller Mund. Dr. A. Schmidt veröffentlichte bei dieser
Gelegenheit eine sorgfältig bearbeitete Brochure, die Geschichte des Vereins
betreffend. Dem Beispiel des älteren Gesangkörpers folgend, haben sich in
Wien zahlreiche ähnliche Vereine gebildet, unter denen der von Dr. Eyrich
geleitete „Akademische Gesangverein", im Jahr 1858 gegründet, der bedeu¬
tendste ist. Auch er hält jährlich Concerte, Liedertafeln, Sängerfahrten ab
und besorgt durchs ganze Jahr die Chormusik beim akademischen Gottes,
dienst. In seinem zweiten Concert führte dieser Verein die Ballade „Schön
Ellen" von Max Bruch auf, die sich durch gewandte, effectvolle Behand¬
lung der Singstimmen auszeichnet. Die zum erstenmal aufgeführte Cantate
„Rinaldo", Text von Goethe, konnte nicht ansprechen. Der Componist
(Brahms dirigirte selbst) ergeht sich darin in grübelnder Breite, der auch
das einzelne Bessere zum Opfer fiel.
Die Freunde der Kammermusik waren stark in Anspruch genommen.
Da waren zunächst die gewohnten acht Quartett-Soire'en von Hellmes-
berger (außer der Primgeige neu besetzt); das allbekannte Florentiner-
Quartett und Ferdinand Laub, der geniale Künstler, der sich an der Wiener
Luft für seine russischen Campagnen schadlos hält. Beethoven bildete den
Hauptpfeiler in Hellmesberger's Quartetten. Unter den neu aufgeführten
Werken sprachen die Clavier-Trios von Raff, Nusinatscha und W. Speidel
und ein Clavier-Quintett von Reinecke mäßig an; ein Streich-Octett von
H. Grädener ^un. gefiel durch den frischen Zug, der das Ganze durchweht.
Am Clavier wurden neben den einheimischen Künstlern (Epstein, Dachs.
Scheuner ze.) auch die Gäste C. Reinecke, W. Speidel. Sofie Merker freund¬
lich begrüßt. — Laub's drei Quartett-Soire'en erfreuten sich großer Theil¬
nahme. Unter den aufgeführten Werken gefielen besonders drei Quartette
von Mozart. Haydn und Mendelssohn, Schubert's Clavier-Trio Ls-aur
(am Clavier Epstein) und Schumann's Duo D-nwII (am Clavier Brüll).
Auf Verlangen gab Laub noch ein letztes und allerletztes Abschiedsconcert, in
denen er Molique's ^-moll-Concert, „die Liebesfee", Charakterstück für
Violine mit Orchesterbegleitung von Raff, zur Aufführung brachte und von
der virtuosen Seite besonders mit der Othello-Fantasie von Ernst glänzte. —
Die sechs stark besuchten Florentiner Quartette boten eine gediegene
Auswahl der hervorragendsten Kammermusik. Die wohl nur aus besonderer
Rücksicht aufgenommenen Quartette von V. Lachner und S. Rosenhain woll¬
ten in diesen Rahmen nicht recht passen. Als Zugabe wurde für die Flo¬
rentiner ein Abschiedsconcert im großen Nedoutensaal veranstaltet, dessen Er-
trägniß dem Unterstützungsfond des Journalisten- und Schriftsteller-Vereins
„Concordia" zugewendet wurde. Der Besuch war so massenhaft, daß für den
Fond ein glänzender Zuschuß erzielt wurde. Beethoven's ^.-moll-Concert
op. 132 bildete den Höhepunkt der Leistungen dieser trefflichen Künstler. Die
durch eben dieselben der Vergessenheit entrissene Serenade von Haydn be¬
schloß den Abend. Anspruchslos zur geselligen Unterhaltung niedergeschrie«
ben, glich diese, den Erstlingswerken des Meisters entnommene Nummer
auch jetzt noch nach einem Jahrhundert einem eben erst gepflückten Strauß
lieblicher Blumen. Eine interessante Beigabe bot in diesem Concert die Mit¬
wirkung der Pianistin Merker und des Tenoristen Niemann, der sich dieses
einzigemal als Liedersänger zeigte.
Die Zahl der Privatconcerte war diesen Winter sehr bedeutend.
Hervorragende Namen waren Clara Schumann, Stockhausen und Brahms.
Frau Schumann gab vier Concerte, in denen sie im Vergleich früherer
Jahre Bach und Händel weniger, um so zahlreicher aber ihres Mannes
Werke vorführte (S-moll-Sonate op. 22 — Andante mit Var. op. 46 für
2 Claviere mit Begl. von 2 Celli und Waldhorn .- Var. op. 13 — Fan-
taste op. 17 — Arabeske op. 18 — Waldsamen). — Brahms und Stock'
Hausen gaben vier Concerte, alle zahlreich besucht. Des Sängers Stimme
hat nur wenig gelitten: beeinträchtigt wird sein Vortrag durch die Noth¬
wendigkeit, so Vieles zu transponiren; die künstlerische Durchführung ent¬
spricht den höchsten Anforderungen. Aus seinen Vorträgen sind hervor¬
zuheben: Arien von Händel (aus „Siros"), von Buononcini (aus „Gri-
selda"), Boieldieu (Rothkäppchen). Jsouard (Joconde); Beethoven's „Lieder¬
kreis"; deutsche und französische Volkslieder; aus dem Eichendorssschen Lieder¬
kreis von Schumann; Schubert'sche Lieder (zürnende Diana — Winterreise
— Müllerlieder). — Brahms, der sich diesmal als Componist auffallend
zurückhielt, hatte die Clavierbegleitung sämmtlicher Gesangsachen übernommen.
Von seinen Claviervorträgen standen wieder obenan die Bach'schen O-woU-
Fuge, H-moII-Präludium, Fantasie). Seine eigenen Variationen op. 18
und 21 waren tüchtige Leistungen, denen sich zunächst Sonaten von Schu¬
bert (L-ciur), Beethoven op. 109 und 111 und Schumann op. 14 anreihten.
Sein reiches Programm nannte auch Couperin, Gluck, Rameau, Händel,
Schumann :c. — Stockhausen gab noch ein Concert im Verein mit
Fräul. Magnus (unter Mitwirkung von Brahms, Epstein. Walter, Rosa
Girzik). Das sehr gewählte Programm beschloß Schumann's „spanisches
Liederspiel". — Die bereits genannte Fräul. Sophie Merker gab nur ein
einziges Concert und zog es vor. Andern mit ihrem Namen zu nutzen. Der
Applaus nach ihren meisterhaften Vorträgen (Dz-cor-Concert von Beethoven,
Polonaise von Chopin, Concertstück von Weber) erinnerte an die Zeit des
blühendsten Virtuosenthums. Durch staunenswerthe technische Fertigkeit
zeichnete sich auch ein Schüler Liszt's, der jugendliche Pianist Leidner aus.
Unter den Concerten einheimischer Pianisten sind Professor Epstein und der
strebsame Kunstjünger I. Brüll zu nennen. — Auch Violine und Cello
hatten ihre Vertreter. Concertmeister I. Grün zeigte auch in seinem eige¬
nen Concert sich als gediegener Künstler; den Molinspielern D. Pollack,
Hugo Hermann, Charlotte Deckner folgte an der Hand des Vaters der junge
talentvolle Hellmesberger. Alle Genannten haben eigene Concerte, wie auch
die Violoncellisten Popper und Röver. Popper hat sich hier rasch beliebt
gemacht; auch der bewährte Röver findet neben ihm noch immer Platz. —
Eine Vereinigung zahlreicher Künstlerkräfte boten Zellner's historische
Concerte, die diesmal „formverwandte Tonwerke früher Jahrhunderte
aus Frankreich, Italien und Deutschland" brachten; das Concert für den
Pensionssond der Professoren am Konservatorium nannte die Lieblinge der
Wiener; in der „Ander-Akademie", wurde Rossini's „Ltabat mater" vom
sämmtlichen Personale der Hofoper aufgeführt (Zweck derselben war Herbei¬
schaffung der Mittel zur Errichtung eines Grabdenkmals für den unverge߬
lichen Tenoristen Ander).
Und abermals wie schon früher drängt sich beim Ueberblick der großen
Concerte der Wunsch auf, es möchten die seit dem Jahre 1847 unterbroche¬
nen Musikfeste wieder aufgenommen und jedes Jahr einmal die hier ver¬
einzelt wirkenden Chor- und Orchesterkräste zu einer Gesammtleistung ver¬
wendet werden. Händel's Oratorien, hier ohnedies seiner Zeit in mißhandelter
Bearbeitung gegeben, harren der Auferweckung. Schon das kleine Schäfer¬
spiel „Acis und Galatea" hat so unverkennbar gefallen, wie erst müßten die
auf große Chöre berechneten Oratorien wirken! Und auch Mendelsohn's
Paulus und Elias — wo bleiben Sie? In der jetzt gewohnten meisterhaften
Aufführung müßten diese Musikfeste epochemachend wirken. Vielleicht gibt
dazu die bevorstehende Beethoven-Feier Veranlassung. Die Aufführung
seiner großen solennen Messe in der schönen und akustisch vorzüglich günsti¬
gen kaiserl. Winterreitschule gäbe den Vereinen Gelegenheit, unter Herbeck's
Führung des großen Mannes lOOjähriges Geburtsfest in ebenso großartiger
als würdiger Weise zu begehen.
Lebensbilder deutscher Dichter von A. F. C. Vilmar. Völker, Frankfurt a. M. 1869.
Vilmar schrieb diese Lebensbilder deutscher Dichter für das Staats-Gcsellschafts-
lexikon von Wagener. Nach dem Tode „des unvergeßlichen Literarhistorikers" ver¬
öffentlicht ein Freund und Gesinnungsgenosse desselben die Lebensbilder als Beiträge
zur deutschen Literaturgeschichte. In der Vorrede empfiehlt der Gesinnungsgenosse
das Büchlein insbesondere „der reiferen Jugend unserer höheren Schulen." —
Durch kunstvollen und doch natürlich fließenden Stil, durch lebendige Erzäh-
lung des Inhaltes der deutschen Heldengedichte, sowie durch einzelne feine Be«
merkungen über lyrische Poesie hat die Literaturgeschichte Vilmar^s eine weite Ver¬
breitung unter der strebenden Jugend gefunden. Kluger Weise hütete sich der fromme
Mann, den rasch folgenden neuen Auflagen seines Werkes seinen religiösen und
politischen Standpunkt, der von Jahr zu Jahr einseitiger wurde, aufzuprägen.
Wenn auch ein strengkirchlicher Geist die Literaturgeschichte durchweht, der leibhaftige
Gottseibeiuns, sichtbar und mit Händen greifbar, wie ihn Mlmar in den letzten
Lebensjahren öfter schaute, spielt in ihr noch keine Rolle; auch wird die gepriesene
deutsche Treue nicht ausschließlich auf den Kurfürsten von Hessen und seine Unter¬
thanen bezogen. Anders verhält es sich mit diesen Lebensbildern. .In dem Staats¬
und Gesellschaftslexikon von Wagener mochten sie am Platze sein, in den Schulen
aber können sie nur verderblich wirken. Vom allerchristlichsten und allerunterthänig-
ster Standpunkte aus werden die Heroen unserer Literatur abgeurtheilt. Nur bei
dem Lebensbilde Goethe's erwächst die Kritik aus dem Boden des Wohlwollens.
Goethe's Poesie, meint Vilmar, darf nicht verworfen werden, denn es ist nicht ver¬
boten und kann nicht verboten sein, „die Sünde darzustellen, wie sie ist, in ihrer
reinen Form". Die Weltfreude und das Weltleid, das Suchen und Zweifeln, das
Fallen und Untergehen muß zur vollen Erscheinung in dieser Poesie kommen. Ge¬
schieht dies in völliger Objectivität, dann soll die christliche Anschauung nicht ver¬
dammen. Feindselig aber wird sie sich immer verhalten gegen eine subjective und
rhetorische Dichtung mit ähnlichen Tendenzen und sehr feindselig verhält sich Vilmar
zu dem Leben und den Werken Schillers. Nach der Ansicht des frommen Literar¬
historikers besaß unser großer Dramatiker nicht die mindeste Neigung für die Ord¬
nung einer praktischen Berufsthätigkeit. Mit seiner Dichtung wollte er stets etwas
erreichen, in der früheren Zeit Ruhm und gesicherte Lebensstellung, in der späteren
Zeit die letztere. Seine Beziehungen zu den Frauen sind alles und jedes poetischen
Schmelzes und Duftes baar und ledig. Einzelne Briefe handeln nur von dem ernst¬
lichsten Bestreben, „sich eine reiche Frau zu verschaffen". Um Margarethe Schwan
bewarb er sich ohne tiefe Neigung, lediglich um sich eine Existenz zu bereiten. Der
Charlotte von Kalb ist er „glücklich entschlüpft". — Die dramatischen Jugend¬
dichtungen Schiller's können als Dramen bedeutenden Ranges nicht gelten, sie strotzen
Von innerer Unwahrheit, dem Don Carlos fehlt die volle Theilnahme und Hin¬
gebung des Dichters. Die fünf großen späteren Dramen Schiller's lassen eine
vollendete dichterische Plastik vermissen. Wilhelm Tell und die Jungfrau von
Orleans werden ausführlicher besprochen, um nachzuweisen, daß Schiller weit ent¬
fernt war, „in dem heutigen Sinne freiheitlich gesinnt zu sein, d. h. die histori¬
schen Grundlagen der deutschen Monarchien erschüttern zu wollen".
In den „Göttern Griechenlands" und dem „Lied an die Freude" , „einem Gewebe
unerträglicher Phrasen", hat Schiller seinen Abfall von dem Offenbarungsglauben
documentirt, zu dem er auch fortwährend in einem unverhüllten, scharf hervortreten¬
den feindlichen Verhältniß stand, obwohl er den wahren Gott sehr gut und zwar
durch seine Mutter kennen gelernt hatte. — Viel milder als Schiller werden die bei¬
den Schlegel beurtheilt. Sie hatten das edle Streben, den literarischen Rationa¬
lismus auszutreiben und alles Phrasenhafte und dürr Abstracte mit dem schärfsten
Secirmesser wegzuschneiden. Bei Schiller's Abneigung gegen die Schlegel „wirkte
vielleicht sogar der beiden Brüder unleugbare Ueberlegenheit an Kenntnissen mit."
Eine volle Schale des Zornes gießt Vilmar über Johann Heinrich Voß aus;
pflegte dieser doch den lebendigen Gott des alten Testamentes nie anders zu nennen
als den „Hebräer-Tyrann". — Was soll solch verschrobener Sinn unserer Jugend!
Nach den Befreiungskriegen entstand in Berlin die Idee, eine große
Votivkirche zu bauen zum Andenken und zum Danke für die großen
Siege der vaterländischen Waffen. Schinkel entwarf damals den Plan einer
gewaltigen gothischen Kreuzkirche, welche vor dem Potsdamer Thor auf
erhöhter Basis errichtet werden sollte. Die Idee kam nicht zur Aus¬
führung und wurde von Friedrich Wilhelm IV. wieder aufgenommen, der
zwar für keine Siege zu danken hatte, aber durch ein großes kirchliches Mo¬
nument bezeugen wollte, daß das irdische Königthum sich vor dem göttlichen
beugen solle und wolle. Demgemäß entwarf nach seinen Angaben Slüter
den Plan eines Anbaus des Berliner Doms, der zu einem mächtigen
Kuppelbau umgeschaffen werden sollte, neben welchem Schloß, Museum, Aka¬
demie u. s. w. vollständig verschwanden. Es wurde auch wirklich Hand ans
Werk gelegt und mit einem Aufwand von 317,000 Thlr. die Fundamente
des Domes und des Oampo Santo, welches sich hieran schließen sollte, in die
Spree gebaut; indeß die Revolution von 1848 ließ das ganze Werk in
Stocken gerathen. Nach dem siegreichen Feldzug von 1866 dachte König
Wilhelm daran, das Project seines Bruders auszuführen, und auf besonde¬
ren Betrieb der Gemahlin des Cultusministers. Frau von Muster, wurde
eine Concurrenz hierfür ausgeschrieben. Die Pläne, welche in Folge dessen
eingingen, waren in diesem Frühjahr ausgestellt und eine Commission zur
Begutachtung eingesetzt, welche dem König ihren Bericht erstattet hat. Glück¬
licherweise lief derselbe zunächst auf eine nochmalige neue Concurrenzausschrei-
bung mit mehr präcisirtem Programm hinaus und außerdem wird das gegen¬
wärtige Deficit wohl verhindern, daß der Staat sich mit einem derartigen
gewaltigen Unternehmen befasse.
Wir sagen glücklicherweise, weil wir die ganze Idee für verfehlt halten.
Alle jene Projecte nämlich, in welchem Style sie auch sein mögen, gehen
darauf aus, einen großen evangelischen Dom zu bauen, der das Bedürfniß
des protestantischen Gottesdienstes gänzlich ignorirt. Die romanischen und
gothischen Kathedralen, die Basiliken und Kuppelbauten des Mittelalters und
der Renaissance sind sämmtlich auf den katholischen Cultus berechnet, wel¬
cher mit dem Vorherrschen der Liturgie und des Ceremonials große Räume
brauchen kann; des protestantischen Gottesdienstes Kern aber ist die Predigt,
und für ihn ist daher eine Kirche untauglich, in der das gesprochene Wort
nicht verständlich ist. Die Möglichkeit einer guten Akustik ist das erste
Bedürfniß einer protestantischen Kirche. Wo wir die großen katholischen
Kirchen des Mittelalters überkommen haben, muß man sich eben so gut hel¬
fen als es geht, obwohl es immer einen kümmerlichen und unschönen Ein¬
druck macht, eine Westminsterabtei durch schwere Vorhänge künstlich in ver¬
schiedene Abtheilungen zu scheiden, um das gestaltlose Verfluchen des Schalls
zu hindern. Aber neue Kirchen in kolossalen Maßstab zu bauen, einer evan¬
gelischen Gemeine zuzumuthen, sich in den vielen Schiffen einer gothischen
Kathedrale oder gar unter einer weiten Kuppel, wie in der Peterskirche
Roms zu sammeln, ist ein Widersinn. Die Architektur ist denn doch nicht
wegen der Architekten da, sondern um bestimmten Bedürfnissen zu genügen,
die Grenzen derselben bestimmen auch die des Monuments; was dieselben
augenscheinlich und unzweifelhaft überschreitet, ist nicht blos überflüssig, son¬
dern falsch. Diesen Fundamentalsatz ignoriren sämmtliche Projecte, sie gehen
nur darauf aus, ein kolossales Monument kirchlicher Baukunst hinzustellen
und überlassen den Predigern und der Gemeinde, sich mit der Bedürfnißfrage
abzufinden, von der sie doch ausgehen sollten. — Dazu kommt noch ein ge¬
wichtiges künstlerisches Bedenken, welches unser trefflicher Kunsthistoriker
Schnaase schon früher betont hat, nämlich daß solche kolossale Bauten ein
Bewußtsein der Höhe kirchlicher Baukunst voraussetzen, das wir nicht besitzen.
Das künstlerische Interesse ist daher, sagt er, ebenso dabei betheiligt, wie das
kirchliche, daß kleinere Kirchen in größerer Zahl, nicht evangelische Dome ge¬
baut werden. An solchen kleineren Kirchen kann die Vorarbeit der Umge¬
staltung der älteren Style zu einem neuen mit geringerer Gefahr und gün¬
stigerer Aussicht gemacht werden, weil hier biegsame Verhältnisse vorhan¬
den sind.
Die großen Kirchen oder Dome können sich bei dem gegenwärtigen Zu¬
stande der Architektur nur an bestehende Vorbilder des katholischen Cultus
anlehnen, werden aber eben deshalb keine evangelischen Gotteshäuser werden.
Das 18. Jahrhundert, welches bei seiner kirchlichen Indifferenz den Kirchen¬
bau ganz vernachlässigte, hat uns viel nachzuholen aufgegeben, aber wir wer¬
den dem Bedürfniß der Gegenwart nur gerecht werden, wenn wir im Sinne
der Decentralisation verfahren, d. h. den einzelnen Gemeinden solche Kirchen
bauen, welche von ihnen gefüllt werden können.
Erwidert man auf diese Einwürfe mit der Frage, was denn in dem ge-
geberen Falle des Berliner Domes geschehen solle, so meinen wir, daß der
gegenwärtige Bau allerdings von solcher Unschönheit ist, daß man im archi-
- tektonischen Interesse nur wünschen kann, ihn verschwinden zu sehen. Als
das natürlichste würde uns erscheinen, wenn man den Flügel des Schlosses,
in welchem sich jetzt die Hofapotheke und kleinere Wohnungen befinden, ab¬
bräche und dort eine Kirche von mäßigem Umfange baute, deren Styl sich
dem des Schlosses anzupassen hätte. So würde unserer Ansicht nach am
besten dem künstlerischen Interesse genügt, während jede gothische Kirche, die
an die Stelle des Domes gebaut würde, die Harmonie des ganzen Ensemble
von Schloß, Museum, Opernhaus u. s. w. zerstören müßte, und während
jeder große Kuppelbau unpraktisch für den Gottesdienst ist. Eine solche
Schloßkirche würde dem praktischen Bedürfniß der Domgemeinde genügen; und
für die Hälfte der Summen, welche ein Monstrebau wie der projectirte ver¬
schlingen müßte, könnte man in allen Theilen der Stadt die Kirchen bauen,
welche dort etwa Bedürfniß sein sollten. Der Platz endlich, welcher durch den
Abbruch des jetzigen Domes gewonnen werden würde, könnte zweckmäßig zur
Erweiterung der Anlagen des Lustgartens- benutzt werden, der durch die
Ausführung des vamxo Santo mit den Cornelius'schen Fresken den würdig¬
sten Abschluß erhielte.
Der Pariser rühmt gern, in der „Hauptstadt der Welt" könne Jeder
nach seinen Gewohnheiten leben, zu Belehrung und Vergnügen sei für jeden
Geschmack gesorgt. Leider ist das häufig gehörte: on trouve tont K
eben nur eine Phrase, die schön klingt, aber durchaus unwahr ist. Nament¬
lich wird der Deutsche hier vielen lieben Gewohnheiten der Heimath entsagen
müssen, und zwar gerade solchen, die, weil in seiner Natur begründet, ihm
am schwersten abzulegen sind. Wir wollen heute nur von der Musik sprechen.
Gute, d. h. classische Musik, so oft zu so mäßigen, für Alle zugänglichen
Preisen zu hören, wie es uns in den größeren, auch in vielen kleineren
Städten Deutschlands geboten wird, war bis vor Kurzem eine Sache der
Unmöglichkeit, und ist auch heute noch schwer. Das Repertoire der großen
Oper ist außerordentlich beschränkt; diesen Winter z. B. gab sie nur Thoma's
entsetzlich langweiligen Hamlet, die Hugenotten, die Afrikanerin. Gounot's
Faust, dazwischen manchmal Wilhelm Tell oder die Jüdin; die Opera coal^us
gibt nur die französischen Spielopern; in den Italiens, die sonst vollendete
Aufführungen bieten, herrschen unumschränkt Rossini, Bellini, Donizetti und
Verdi. Das Itieatre I^riczus war das einzige, das wirklich künstlerische
Zwecke verfolgte. Die Concerte des Lonservatoire, die ja als das nonxlus
ultra einer vollkommenen Aufführung gepriesen werden, sind für das Publi¬
kum so gut wie unzugänglich; die Plätze sind alle Abonnementsplätze und
deren Besitz bleibt erblich in den nämlichen Familien. Die Programme der
von einzelnen Künstlern veranstalteten Concerte weisen meistens nur deren
eigene Compositionen auf. Die Quartettgesellschaften endlich, sowohl die so¬
genannte florentinische von Jean Becker als die Pariser, die sich vornehmlich
Beethoven's letzte Werke zur Aufgabe gestellt hat, leisten zwar Vorzügliches
in Hinsicht der Wahl wie der Ausführung der Musikstücke, aber die Preise
ihrer Concerte sind so hoch, daß ihr Besuch allein den reichen Classen der
Gesellschaft möglich bleibt — in echt französischer Auffassung, nach welcher
Musik weit mehr noch als die anderen Künste ein Gegenstand des Luxus ist,
eine angenehme Zerstreuung, deren Bedürfniß die weniger Bemittelten wohl
gar nicht empfinden.
Und in der That ist es bekannt genug, und von den Franzosen selbst
eingeräumt, daß der musikalische Sinn bei ihnen noch sehr wenig entwickelt
ist; zwar lieben sie Alles, was klingt, aber von den Bedingungen der Musik
haben die Wenigsten eine Ahnung. In Bezug auf musikalische Kritik
werden täglich die allerabgeschmacktesten Urtheile vorgebracht, wie sie einem
deutschen Publicum — das doch immer so geduldig ist — nicht geboten wer¬
den dürften; in vielen der bedeutendsten Tagesblätter ist der theatralische
Feuilletonist zugleich auch mit der Besprechung der musikalischen Aufführungen
beauftragt. Ein Wort des Abbe Arnauld, der in einem interessanten Buche
die polemische Litteratur über den großen von Gluck erregten Streit ver¬
einigt hat. würde heute ebenso gut als zu der Zeit, wo es ausgesprochen
wurde, den hiesigen Kritikern zur Beherzigung empfohlen werden müssen:
Alle Welt gibt zu, daß es, um die Malerei zu beurtheilen, nicht hinreichend
ist. nur Augen zu haben; aber viele Menschen behaupten, daß man nur
Ohren zu haben braucht, um die Musik zu beurtheilen. Daher die vielen
Verkehrtheiten, die begangen werden.
Ein sehr gewagtes Unternehmen war es also, als Ernest Pasdeloup
(früher Intendant Louis Philippe's auf Schloß Neuilly, das am 25. Fe-
bruar 1848 auf eine so rohe Weise zerstört wurde), in den fünfziger Jahren
die Re'union Zeh jeunes artistes zur Pflege und Verbreitung classischer Musik
gründete und mit ihr Concerte veranstaltete. Denn die schwersten Hindernisse
aller Art hatte er zu überwinden, und vor Allem mußte er sein Publicum
erst anlocken, es bilden, es erziehen. Der schönste Erfolg krönte das tapfere
Streben: Pasdeloup's Aufführungen nehmen jetzt eine der ersten Stellen in
dem Pariser Musikleben ein, und wenn in allen Classen der Gesellschaft nur
etwas wahre musikalische Bildung und wahrer Geschmack zu treffen sind, so
können wir es dem ausdauernden Wirken des um seine Kunst hochverdienten
Gründers und Dirigenten der Loneerts populäres Dank wissen.
Bescheiden, mit geringen Kräften begann Pasdeloup sein Meformations-
werk. Jetzt zählt sein Orchester ca. 100 Musiker (11 Contrabässe. 12 Celli,
13 Bratschen. 45 erste und zweite Violinen; die Bläser im Verhältniß).
Die Concerte, die, seitdem sie im Jahre 1861 die Salle Herz verlassen, den
in der Musikwelt schon ruhmreichen Namen der Ooncerts poMlairss tragen,
finden im Lüi'yue Mxolsou (auf dem Loulsvarä an templo) statt, einem
kühnen, eleganten Bau des auf archäologischen Gebiete als Wiederentdecker
der polychromen Architektur bekannten Hittorf. Hier versammeln sich jeden
Sonntag um 2 Uhr Nachmittags (nur im Winter) viertausend Personen, alle
von dem einen Wunsche beseelt, sich den Eindrücken der Meisterwerke deut¬
scher Musik hinzugeben. Früh, sehr früh muß der kommen, der noch ein
Sitzplätzchen erobern will, denn schon zwei Stunden vor Anfang des Concerts
strömt es in dichten Schaaren nach dem Circus. Die billigen Preise (die
letzten Plätze kosten 1. 25 und 75 c.) machen es Jedem möglich, sich diesen
Genuß zu verschaffen, und wir sahen in der That öfter Arbeiter mit ihren
Familien ganz oben auf dem dritten Platz, die andächtiger einer Beethoven-
schen Symphonie lauschten, als der kahlköpfige mit dem obligaten rothen
Vcindchen gezierte Bankier auf seinem bequemen Sperrsitze im Parquet.
Pasdeloup ist ein regelmäßiger Gast der niederrheinischen Musikfeste;
Mancher Leser dieser Blätter hat wohl in den alten Räumen des Gürzenich
oder in der heiteren Düsseldorfer Torhalle den kleinen dicken, lebhaften Mann
mit dem kurz geschorenen blonden Haar und den hellen klugen Augen ge¬
sehen, dessen Erscheinung etwas an Ferdinand Hiller erinnert. Ob er selbst
componirt, wissen wir nicht; jedenfalls hat er eine seltene Selbstverleugnung
bewiesen und dem Publicum nie etwas von sich selbst aufoctroyirt. Leider
huldigt Pasdeloup einer jetzigen Mode, die sogar in die Sinfonie-Soire'en
der königl. Capelle zu Berlin Eingang gefunden hat, wir meinen die Ar¬
rangements. Daß Mozart's türkischer Marsch in ^-irwll mit voller Janit-
scharenmusik gegeben wird, wollen wir gern verzeihen, denn er klingt wirk¬
lich gar zu reizend, aber sein Clarinettenquintett mit sämmtlichen Geigen und
einem Bläser, Adagio's aus seinen Streichquintetten ebenfalls mit allen
Geigen, Beethoven's Septett mit einfachen Blas- und 12fachen Streich¬
instrumenten vorzuführen, ist doch ein arger Verstoß gegen die Intention
der Meister: deutet doch schon die Opuszahl darauf hin, daß Beethoven
mit dem Septett noch eine letzte Studie zur Behandlung der vollen Orchester
Massen gemacht haben wollte!
Als Dirigenten möchten wir Pasdeloup Ferdinand Hiller, Julius Rietz
und Julius Stern an die Seite setzen, d. h. den ersten unter unseren besten.
Bei dem Publicum ist er verdientermaßen im höchsten Grade beliebt und
jubelnder Empfang, Beifall und Hervorruf belohnen ihn für seine rastlosen
Bemühungen. ,
Was nun die Aufführung betrifft, so ist sie meist eine ganz vorzügliche
zu nennen, und wer davon eine Ahnung hat, wie schwer ein französisches
Orchester zu leiten ist, auch nur überhaupt Tact hält, wird dem Leiter wie
den einzelnen Musikern die größte Anerkennung spenden müssen. Der Klang
dieser imposanten Heerschaar ist ein wunderbar schöner; dazu trägt nament¬
lich der mächtige volle Ton des stark besetzten Streichquartetts bei, das nie
von den Bläsern verdeckt werden kann; wichtig ist auch, daß alle Geigen
immer denselben Strich haben und dadurch eine wirklich bewundernswerthe
Einheitlichkeit erreichen. Am besten gelingen diesem Orchester die graciösen
und zierlichen Stücke: Haydn'sche Variationen, das Scherzo aus dem Sommer¬
nachtstraum haben wir hier in seltener Vollendung gehört; dann auch einmal
die Freischützouvertüre, deren feurig und glänzend, wie im Sturm eroberter
Schluß das Publicum zu wahrer Begeisterung hinriß. Weniger befriedigend
ist die Wiedergabe Beethoven'scher Symphonien; über falsche Tempi zu strei¬
ten ist eine üble Vorliebe aller Musikkritiker, der wir hier nicht nachgeben
wollen, aber es scheint in der That, als ob der zu einem vollständigen Mit¬
empfinden der innersten Erlebnisse des unglücklichen Meisters nothwendige
Ernst dem Orchester nicht innewohne. Es spielt das Adagio der neunten
Symphonie nicht anders, als etwa ein Ballet von Gounot; die Noten sind
da, auch sind alle Vortragszeichen genau, ja scrupulös beobachtet, aber etwas
mehr Seele würde die ganze Aufführung erheben und künstlerisch adeln. Es
ist uns aber ganz unbegreiflich, wie der so feine und zartfühlende Pasdeloup
sich zu musikalischen Sünden verleiten lassen kann, wie z. B. im Scherzo der
Eroica, ja in der L-molI Symphonie über die Hälfte der wunderbaren, den
Uebergang zum Finale bildenden xp. Stelle zu streichen; wir sind dann nicht
mehr vorbereitet auf diesen höchsten Glücks - und Freiheitsjubel, der je einer
Menschenseele zu Theil geworden ist; ja wir haben ihn nicht verdient! Es
kann doch kein hinreichender Grund sein, daß die Symphonie an letzter Stelle
des Programms steht, und das Publicum ungeduldig wird!
Dieses Publicum eben war es, das uns manchmal interessanter war als
die Aufführung selbst; es scheint uns eines eingehenderen Studiums wohl
würdig.
Wahrhaftig bewundernswürdig ist es, wenn wir auf das ungeduldige
unruhige französische Naturel Rücksicht nehmen, wie still, wie aufmerksam,
ja wie andächtig die zahlreiche Versammlung den Tönen unserer Meister
lauscht. Wer hierher gekommen ist, der will Musik hören. Das Publicum,
das ins Theater geht, um einer „Diva" den Hof zu machen oder um eine
glänzende Toilette zur Schau zu tragen, das verläßt nicht so früh den Früh-
stückstisch, um nach dem vom Mittelpunkt des „eleganten" Treibens abgelege¬
nen Lii'^us Napoleon zu fahren; bei Pasdeloup finden wir keine gelang¬
weilten Müssiggänger, die nur ihre Zeit todtschlagen wollen: Jeder ist Feuer
und Flamme für seine Musik, ganz bei seiner Kunst. Diese laut sich kund¬
gebende Begeisterung der dankbaren Zuhörer ist allerdings sowohl für den
Dirigenten als für die einzelnen auftretenden Künstler ermuthigend und wohl¬
thuend; sie führt manchmal zu großartigen Ovationen, so bei Joachim's Vor¬
trägen im letzten Winter, so dies Jahr bei der Aufführung von Rossini's
Ouvertüre zu Wilhelm Tell, kurz nach dem Tode des greisen maestro: die
ganze Versammlung und die Musiker des Orchesters erhoben sich wie ein
Mann, und der Beifall wollte kein Ende nehmen.
Wenn wir hiermit dem Publicum die größte Liebe zur Sache und eine sehr
starke Dosis des besten Willens zuerkannt haben, so ist damit gewiß sehr
viel Lob ausgesprochen; aber es ist auch Alles erschöpft, was wir ihm Gutes
nachsagen können. Trotz der jahrelangen Arbeit ist es im Großen und Ganzen
noch recht ungebildet, und namentlich fehlt es ihm noch an jeder Unter¬
scheidungsgabe: wir sagten oben, der Franzose liebe Alles was klingt; das
bewahrheitet sich auch hier. Ein höchst unbedeutender, aber pikant instru-
mentirter Balletwalzer aus Gounot's Königin von Saba wird unmittelbar
nach einer Beethoven'schen Symphonie da eapo verlangt! Meyerbeer's Polo¬
naise aus Struensee erregt denselben Beifall wie die Zauberflöten- oder
Leonorenouverture! Ueberhaupt, wer sich an Meyerbeer's hochheiliger Ma¬
jestät frevelnd vergreift — gegen den Unvorsichtigen wird das drohende
„Steiniget ihn" von den empörten fanatischen Anhängern des größten Effeet-
machers ausgerufen!
Effect! Das ist das Zauberwort, das nie seine Wirkung verfehlt, dem
Alle folgen. Die Franzosen sind darin viel toleranter als wir, daß sie eine
mittelmäßige, ja ganz schwache Composttion gern hinnehmen, wenn sie nur
brillant ausgeführt wird. Am auffallendsten ist dies bei den Solovorträgen,
zu denen das Publicum eine, bei der französischen Neigung zum Virtuosen-
thum natürliche Vorliebe hat; es ist unglaublich, welche Albernheiten es sich
gefallen läßt, und mit welchem enthusiastischen Beifall eine glänzende Passage
belohnt wird. Daß dabei die armen Tutti zum Opfer fallen müssen, ist
selbstverständlich. Kenne ich doch eine Stadt im lieben Deutschland, wo sehr
viel Musiksinn herrscht, das Musikleben sehr ausgebildet ist, wo aber das
Publicum nicht im Stande ist ein Musikstückchen als Ganzes zu genießen,
sondern lieber die „schönen Stellen" herausfischt, wie» der Franzose die
Zranäs mots!
Schlimmer noch ist die Richtung, die der Programmmusik huldigt; schwarz
auf weiß wollen die Leute gedruckt lesen, was die Musik, die sie hören, bedeuten
und sagen will: mit aller Gewalt soll etwas ganz Bestimmtes hineingeheim--
mißt sein, das zu entdecken die Aufgabe des Musikverständigen ist. Die Pro¬
gramme weisen oft die lächerlichsten Erklärungen auf. so soll z. B. Mendelssohn's
reizendes Tonmärchen, die Ouvertüre zur schönen Melusine, durch folgende
Faselei erklärt werden: Nelnsins, äou6s Ä'une Zranäe beaute, dsvait a
certains ^ours se trÄnskorwer en serpent, et toutes les lois qu'un malneur
mena-zg.it la, kamillö as I^usiZn^n, eile appg.rg.issa.it sur la tour 6u enateau I
Der Schluß der Tannhäuserouverture bedeutet: I<z cdavt va-Zue ach Li-
rönes, Is, vie Mal-Ziielle <lui Sö Mut aux emanes Ah 1'ame pour enantör 1a
louÄN-zö an (ürsateurl ^Begreife wer kann! Hätte doch Beethoven seine un¬
seligen Ueberschriften zur Pastorale nicht geschrieben! Die Symphonie hätte
ebenso unmittelbar genossen und verstanden werden können, und der späteren
Kritik, die ohnedies so viel unter dem wuchernden Unkraut zu räumen hat,
wäre die Mühe erspart worden, diese unmusikalischen Klügeleien der moder¬
nen literarischen Musikschule zu bekämpfen. Denn alle gehen doch nur von
der Pastorale aus.
Daß ein solches Publicum sich noch kein selbständiges Urtheil gebildet
haben kann, ist ganz natürlich. Zwar hat sich eine Partei vorgenommen.
Alles, was zum ersten Male erscheint, consequent auszupfeifen, und diese Herren
machen sich auch recht laut bemerkbar; aber meist bleibt es nach einer ersten
Aufführung ganz still. Ehe gedruckt steht: das Werk ist gut, will sich Nie¬
mand durch unzeitige Kundgebung seiner Meinung compromittiren und durch
verfrühtes.Klatschen das Gelächter seiner Nachbarn erregen.
Lobenswert!) dagegen sind die Fortschritte, die in der Würdigung
R. Schumann's gemacht worden sind. Die stolz und frisch einherschreitende
L-cinr Symphonie erfreut sich eines offenen ungeteilten Beifalls, und auch
die anderen Werke des tiefsinnigen, eigenwilligen und daher schwer verständ¬
lichen Meisters erfahren nach und nach eine gerechtere Beurtheilung.
Mendelssohn ist einer der ausgesprochenen Lieblinge des Publicums,
seine hochromantische ^.-moll Symphonie ist allgemein bekannt und beliebt.
Leider sind seine Meisterwerke, Elias und Paulus, hier selten gehört worden,
wie überhaupt die Kirchenmusik, katholische wie protestantische, arg vernach¬
lässigt wird. Mit der nachgelassenen Reformationssymphonie hat Pasdeloup
nicht versäumt uns bekannt zu machen; wenn das Urtheil über einen Künstler
so fest steht wie über Mendelssohn, so darf man es schon wagen, selbst
schwächere Werke nach dessen Tode ans Licht zu ziehen; wir gewinnen dadurch
einen Blick in die Arbeit des edlen".Meisters, und, was mindestens ebenso
wichtig ist, in seine Selbstkritik.
Besonders interessant ist die Physiognomie des Saals, wenn der Name
Richard Wagner's auf dem Programme steht. Im voraus überall die höchste
Spannung; kaum hat der letzte Ton ausgeklungen, so bricht ein wahrer
Sturm von Pfeifen und Zischen einerseits, andererseits von Klatschen und
Bravorufen aus; und es dauert lange, ehe die Ruhe wieder eintritt; zwei,
dreimal läßt Pasdeloup die folgende Nummer anfangen — es hilft nichts,
die streitlustigen haben noch nicht ausgetobt, und er muß den Dirigenten¬
stock wieder hinlegen; oft sogar, wenn die Zukunftsschwärmer den Sieg er-
schrieen haben, erschallt in die ersten Tacte des äa, eaxo gegebenen Stücks
noch ein gellendes Hohngelächter oder ein entrüstetes NonI Oft vereinigt sich
ein Theil des Publicums gegen die beiden streitenden Parteien, und ein ge¬
meinsamer Ruf a 1a pone! muß die feurigsten Kämpen etwas abkühlen. Uns
waren diese rohen Scenen immer peinlich, und sie schienen uns des Ortes
nicht würdig; freilich macht es der französische Studentin seinem Auditorium
und der loyale Abgeordnete im Lorxs leg-isIaM nicht viel besser! — Richard
Wagner bildet jetzt überhaupt das Thema aller musikalischen Unterhaltungen,
und seit der Aufführung des „Rienzi", den Pasdeloup als jetziger Director
des ille^tre I^vrique mit großem Pomp und noch größerer Reclame in
Scene gesetzt hat, wissen die Pariser weniger als je, was sie von dem auf¬
regenden Neuerer zu denken haben. Ein großer Theil der Puffe, der sich
getroffen fühlen mochte, erhob sich mit Recht gegen die anmaßende Bro¬
schüre, „das Judenthum in der Musik", aber eine ebenfalls ansehnliche Anzahl
von Kritikern hatte klug vorhergesagt: Wenn wir Wagner verstehen, so
wird das ein großer Fortschritt sein — und natürlich rufen nun die moutons
as ?anni'M: Wir haben verstanden, wir haben diesen Fortschritt gemacht!
Aber auf den Grund der Sache ist noch niemand gegangen, niemand hat.
die Unmöglichkeit einer steten Verbindung von Wort und Musik, in dem
Sinne wie Wagner es meint, dargelegt, oder das Gegentheil bewiesen, auch
nicht der begeistert und beredt geschriebene Artikel Ed. Schule's- (Revue ach
6eux mvliäes, 15. April), des poetischen Verfassers der Ilistoiro an I^ieÄ.
Schure's Aufsatz, ein Panegyrikus R. Wagners, bewegt sich stets um die
Kernfrage herum, und befaßt sich überhaupt weniger mit dem musikalischen
als mit dem dichterischen Elemente der Wagner'schen sogenannten musikalischen
Dramen.
Bei unseren concerts xopulaireg glauben wir eher einen Fortschritt in
unserem Sinne wahrzunehmen. Die entsetzlich häßliche Ouvertüre zum flie¬
genden Holländer, die Stücke aus den Meistersingern (Vorspiel, Walzer und
Marsch aus dem 3ten Act) fielen durch; das Vorspiel zu Lohengrin. das
früher unangefochten geblieben, hatte dies Jahr gegen starke Opposition zu
kämpfen; am meisten Beifall errangen die Tannhäuserouvertüre, das zweite
Finale (statt der Chorstimmen mußten wir Saxinstrumente hören!) und das
Brautlied aus Lohengrin. Was das Publicum, und nicht nur das hiesige,
daran liebt, ist, abgesehen von dem lärmenden Effect, gerade das, was wir
als arge Fehler Wagner's rügen müssen; es nimmt die nervös-sinnliche
Aufregung, die krankhafte Ueberspannung, die unleugbar durch Wagner's
Musik hervorgebracht wird, für künstlerischen Eindruck und sieht darin die
überwältigende Macht der modernen Kunst.
Leider ist Pasdeloup ein eifriger Verehrer Wagner's; doch wollen wir
ihm keinen Vorwurf daraus machen, daß er uns dessen Werke gar oft auf¬
tischt. Beurtheilen kann man in der Kunst nur das, was man gehört und
gesehen hat, und wenn recht viel Wagnersche Musik gehört wird, so wird ihr
der Zauber des mysteriös Unbekannten und Verläumder, den sie noch für die
Franzosen hat, benommen, und sie wird am hellen Tageslichte ihre Probe
zu bestehen haben. — Sagte doch General Grant, ein schlechtes Gesetz
müsse, wenn einmal gegeben, mit allen seinen Consequenzen ausgeführt wer¬
den, denn nur so erkenne man dessen schädliche und verderbliche Kraft!
Doch wir haben von unserem Rechte als Kritiker genug Gebrauch ge¬
macht; wir müssen jetzt noch Pasdeloup unseren Dank dafür aussprechen,
daß er Gluck's Iphigenie auf Tauris wieder aufgeführt, daß er allein von
allen hiesigen Directoren eine Mozart'sche Oper, Don Juan, auf seinem dies¬
jährigen Repertoire hat.
Der stets wachsende Erfolg seiner Volksconcerte ist uns ein Zeugniß
dafür, daß Arbeiten hilft, reines Streben belohnt wird, und daß auch in unserer
eisernen, nur der Politik und dem Geldgewinn lebenden Generation, selbst in
Paris noch ein Häuflein erhalten ist, das der wahren Kunst treu geblieben
und an ihre ewige Gültigkeit glaubt.
Das Ergebniß der allgemeinen Wahlen zum gesetzgebenden Körper Frank¬
reichs darf trotz der ungewöhnlich großen Zahl von 68 Ballotagen, welche
vorzunehmen sind, als feststehend betrachtet werden. Es ist die vollständige
Niederlage der liberalen Partei; für die Gegenwart zählen nur die Bonapartisten
oder richtiger die Gouvernementalen und Radicalen. Freilich hat das allge¬
meine Stimmrecht seine Gunst unter beide sehr ungleich vertheilt, die Regie¬
rung ist aus dem Kampfe mit einer ungeheuren Mehrheit hervorgegangen.
Man kann zugeben, daß die tausendarmige Verwaltung alle Federn zu
Gunsten der officiellen Candidaten hat spielen lassen, daß alle Beamten vom
Präfecten bis zum Feldhüter rücksichtslos ihren Einfluß gebraucht haben, daß
namentlich die letzten fünf Tage vor der Wahl, wo den Candidaten das Agitiren
verboten ist. auf das rücksichtsloseste gegen die Männer der Opposition aus¬
gebeutet sind, welche auf Anklagen und Verleumdungen nicht antworten
konnten — das Schlußergebniß bleibt doch, daß die große Masse der Armee
des allgemeinen Stimmrechts, die Bauern, fortfahren auf Seiten des Kaisers
zu stehen. Trotz seiner Kriege, welche tausende von Menschenleben und tau¬
sende von Millionen verschlungen haben, troH der erhöhten Militärlast, welche
vornehmlich auf das platte Land drückt, trotz der stiefmütterlichen Behand¬
lung der Interessen des Ackerbaues im Gegensatz zur Verhätschelung der
städtischen Arbeiten, stimmt der französische Bauer in Masse für die Regierung '
und zwar einfach, weil er keine Revolution will, nachdem die von 1789 ihm
Alles gegeben hat, was sein Interesse verlangte. Er sah den Sturz der
Restauration nicht ungern, weil sie Miene machte die eongiMss Zs 1789
anzutasten, er sah der Februarrevolution passiv zu, weil ihm die Julimonarchie
gleichgültig war, aber er lernte rasch die Republik mit ihren esniimss aÄäi-
tionnellög hassen und warf sich blind dem Manne in die Arme, der Frank¬
reich von der Anarchie zu retten versprach. Er ist gewiß nicht mit Allem zu¬
frieden, was geschehen, er möchte Erleichterung der öffentlichen Lasten und
will Frieden, so lange kein Feind Frankreichs Grenzen antastet, aber er will
vor Allem keine inneren Erschütterungen, und dazu scheint ihm die Conti-
nuität der gegenwärtigen Regierung nothwendig. Dies zeigt, daß die Grund¬
lage des Kaiserreichs trotz aller Fehler desselben unerschüttert geblieben, was
um so bemerkenswerther ist, da der Clerus keineswegs unbedingt mit der Regie¬
rung gegangen ist, sondern einem Rundschreiben des Cardinal Antonelli an die
französischen Bischöfe zufolge, nur die officiellen Candidaten unterstützt hat,
welche zugleich von den katholischen Comite's empfohlen wurden.
Der französische Bauer verabscheut die Socialisten, deren Experimente
drohen würden sein sauer errungenes Stück Land zu gefährden, aber er ignorirt
die Liberalen, deren Theorien über Gleichgewicht der Gewalten, Controle der
Regierung, Ministerverantwortlichkeit ihm einfach unverständlich sind. Daher
die totale Niederlage der Liberalen, nachdem die großen Städte sich dem
Radicalismus in die Arme geworfen, eine Niederlage, die alle Voraussicht
übertroffen. Kein einziger Orleanist ist durchgekommen. Casimir Pe'rier,
Broglie, Remusat, Lasteyrie, DuctMel, Decazes, Pasquier, Haussonville sind
mit Glanz durchgefallen, obwohl sie alle Männer von Geburt und Vermögen
und von Ansehen in ihren Departements sind; von der jüngern Generation hat
Prevost-Paradol, der glänzendste und tüchtigste politische Schriftsteller, dessen
Feder wie keine in den Tuilerien gefürchtet wird, nur 19S9 Stimmen aus
31,000 erhalten, Cornelis de Witt noch weniger, obwohl sein Schwieger¬
vater Guizot in seinem Bezirk von Lisieux Alles für ihn ausbot. Diese
Männer sind allmächtig in der französischen Akademie, aber das literarische
Frankreich findet beim allgemeinen Stimmrecht kaum Würdigung. Von allen
Orleanisten wird schließlich nur Thiers in der neuen Versammlung sitzen und
auch er nur nach einer ersten empfindlichen Niederlage. Er, der gefährlichste
Gegner des Kaiserthums, dessen beredten Worten Europa lauschte, wenn er
das Unheil der Persönlichen Regierung beleuchtete, sieht sich von einem fast
unbekannten Manne geschlagen und muß suchen sich bei den Nachwahlen
einen Platz zu erobern. Alles das zeigt, wie wenig bloße parlamentarische
Begabung bei der Masse des allgemeinen Stimmrechts in die Waagschale fällt;
die Tribünen waren gedrängt voll, wenn Thiers sprach, die Massen lasen
seine meisterhaften Exposes nicht. Außerdem aber kommt allerdings in Be¬
tracht, daß trotz aller glänzenden Gaben Thiers' Gesichtskreis ein enger ist;
er versteht seine Zeit nicht, er ist nicht über die Fragen hinausgekommen, in
denen die Julimonarchie sich bewegte. Seine Auffassung der auswärtigen
Politik, sein Protectionismus sind veraltet, sein Tadel gegen den italienischen
Krieg oder die mexikanische Expedition mag noch so begründet sein, es liegt
in den Unternehmungen des Kaisers doch etwas Großartigeres, etwas, was
die nationale Ader des Volkes mehr vibriren macht, als die kleinen Schach¬
züge der Juliministerien thaten, da man sich um Mehemed-Ali und Mr.
Pritchard stritt.
Von den Legitimisten war bei den Wahlen kaum die Rede, aber auch
die gemäßigten Republikaner sind übel weggekommen. Picard, Pelletan und
Jules Simon haben nur gesiegt, weil ihnen kein radical socialistischer Can-
didat entgegenstand, dagegen sind nicht nur Ollivier, sondern auch Garnier-
Page,s, Marie, Carnot und sogar Jules Favre geschlagen, weil sie den
Pariser Wählern zu zahm erschienen! Und doch haben, Alle ohne Wanken
dem alleinseligmachenden Glauben der französischen Demokratie gedient, haben
Alle hervorragende Rollen unter der Republik von 1848 gespielt, sind sie nach
dem Staatsstreich verfolgt worden und haben sie sich in der Kammer als uner¬
bittliche und begabte Feinde der Willkürherrschaft gezeigt. An ihrer Stelle wählt
die Hauptstadt Gambetta, Bancel, Rochefort! Ersterer war bis zu seinem
famosen Plaidoyer in der Baudin-Sache ganz unbekannt, aber er verpflichtete
sich das noch unbekannte Programm anzunehmen, welches das demokratisch¬
socialistische Comiti aufstellen würde! Man sagt, daß ihm der Radicalismus
nur eine Staffel zur Kammer sein solle, aber wenn er sich dort gemäßigter
zeigen sollte, so ist er doch sicher nicht darauf hin gewählt. Bancel, der
Verbannte von 1851, der in Brüssel einen Toast auf die Niederlage der
französischen Armee in der Krimm ausgebracht, und der nie praktisch etwas
geleistet, schlägt Ollivier mit 10,000 Stimmen Mehrheit auf 36,000, weil
Letzterer die Möglichkeit der Versöhnung der Freiheit mit dem Kaiserthum
repräsentirt. Endlich Rochefort, vor einem Jahre nur noch als ein ruinirter
Spieler bekannt, wird gewählt, blos weil er das Kaiserthum mit blutiger
Satire angegriffen. An diese Pariser Wahlen schließen sich noch einige
gleichartige große Städte, wie die Gambetta's in Marseille. Raspails in
Lyon u. s. w.
Es ist eine große Lehre für den Kaiser! Seit 17 Jahren verhätschelt
er Paris; den Arbeitern wurde kostspieliges Brod und Schauspiele gegeben,
Ausstellungen, Bauten, Creditvereine wurden zu ihren Gunsten organisirt, als
eapwtio bonsvolentläe sür die Wahlen die Dienstbücher mit Geräusch abge¬
schafft — und das Resultat ist. daß Paris Candidaten wählt, welche keinen
Kompromiß mit der kaiserlichen Regierung zu schließen versprechen, während
die stiefmütterlich behandelten Bauern seinen Thron in geschlossenen Reihen
stützen. Aber auch eine allgemeine politische Lehre giebt diese doppelte Er¬
scheinung; sie bestätigt, daß das allgemeine Srimmrecht, wo es nicht unter
dem Eindruck großer nationaler Ereignisse steht, den Extremen das Ueber¬
gewicht giebt, es ist je nachdem servil oder revolutionär, nur ausnahms¬
weise liberal, es ist den Ultramontanen wie den Radicalen genehm, weil die
Intelligenz der Mittelclassen durch die Massen erdrückt wird.
Was wird nun der Kaiser thun? fragt man sich. Die Antwort darauf
ist nicht ganz leicht. Wahrscheinlich wird jener Sieg der Unversöhnlichen
einer weiten Krönung des Gebäudes nicht günstig sein und es wird Ollivier
nichts geholfen haben, daß er sich unter die Flügel der Regierung hat nehmen
lassen. Ein Candidat, welcher in seinem bisherigen Wahlkreise durchge¬
fallen ist, bringt dem Kaiser kein neues Element der Stärke und andererseits
kann er nach seinem Glaubensbekenntniß nicht anständigerweise ein Minister-
Portefeuille annehmen, wenn der Kaiser nicht die Concessionen macht, welche
er als Minimum verlangt: Ministerverantwortlichkeit, Rückgängigmachung
der Armeereform, volle Vereins- und Preßfreiheit. Daran aber ist in der gegen¬
wärtigen Situation nicht zu denken und so wird der principlose aber routi-
nirte praktische Rouher wohl das Feld gegen seinen ideenreicheren, aber auch
ideologischen und eiteln Nebenbuhler behaupten.
Andererseits wird der Kaiser sich doch genöthigt sehen, die bisherige
Politik der persönlichen Regierung zu modificiren. Es ist wahr, er hat eine
überwältigende Majorität, die sich bei den Nachwahlen noch steigern wird.
da nicht nur der Eindruck der Pariser Wahlen in den Provinzen sehr groß
gewesen und dieselben noch mehr der Regierung in die Arme treibt, sondern
auch weil die letztere sich jetzt dazu versteht, mit den sogenannten unabhängigen
aber nicht feindlichen Candidaten Compromisse zu schließen, so daß sie schließlich
wohl über eine compacte Majorität von 220 Stimmen verfügt, während die
gesammte Opposition es auf^ nicht viel mehr als 60 bringen wird. Aber
jene Mehrheit wird, selbst wenn sie meistens aus denselben Personen besteht,
die früher die Bänke des Palais Bourbon füllten, in einem andern Geiste
wiederkommen. Sie wird mit wenigen Ausnahmen zu der bisherigen Tiers-
Partei neigen, sie wird bei aller Anhänglichkeit an das Kaiserreich sparsamere
Wirthschaft und Vermeidung jedes Scandals fordern, der Kaiser könnte
keine zweite mexikanische Expedition, kein zweites Sichcrheitsgesetz, keine neue
Auflage der Pariser Finanzausschweifungen machen.
Außer in diesen beiden Punkten läßt sich noch nichts über die Haltung
der Regierung muthmaßen. Die Ereignisse sind noch zu frisch und der
Kaiser faßt keinen raschen Entschluß.
Wir Deutsche haben indeß keinesfalls Grund, den Ausfall der Wahlen
mit Befriedigung anzusehen. Können wir einerseits vom allgemeinen Ge¬
sichtspunkte aus bedauern, daß nach so langen politischen Wechselläufen das
französische Volk noch so wenig Reife gewonnen, so liegt uns andererseits
auch die Erwägung nah. daß solches Schwanken zwischen den Extremen wenig
dem Frieden günstig sein kann. Das Verschwinden der gemäßigten Parteien
im gesetzgebenden Körper entzieht diesem jedenfalls eine Anzahl aufrichtiger
Friedensfreunde, ein Sieg der Devise Olliviers wäre, selbst wenn dieser nicht
Minister geworden, ein Sieg der Friedenspartei gewesen. Wofür die Herren
Gambetta und Raspail arbeiten werden, ist unberechenbar, charakteristisch aber
bleibt, daß die Officiere, welche im 3. Bezirk Wähler waren, beschlossen
weiße Zettel abzugeben, weil es unziemlich sein würde, für Bancel zu stimmen,
sie aber auch nicht für Ollivier stimmen dürften, der eine preußische und anti¬
französische Politik empfehle.
Jedenfalls wird die Kriegspartei die Gelegenheit ausbeuten, um den
Kaiser in ihrem Sinne zu bearbeiten, indem sie betont, daß solcher Opposition
gegenüber keine ruhige innere Entwicklung möglich sei. Die Situation ist
darnach dem Staatsstreich nicht unähnlich, die innern Parteikämpfe scheinen
noch mehr als damals auf eine Ableitung nach außen hinzuweisen. Andrer¬
seits ist der Kaiser glücklicherweise um 17 Jahre älter geworden und er muß
sich sagen, daß er mit einer Niederlage die Zukunft seiner Dynastie in Frage
stellen würde.
In den Wochen, welche dem Schluß des Reichstags vorhergingen, ist
von nichts so viel die Rede gewesen, wie von einer bevorstehenden Ver-
fassungsrevision. Auf den Gedanken an diese „Revision" wird man über kurz
oder lang, auch wieder zurückkommen, und daß auch diese nicht die letzte sein
wird, dafür bürgt — unsere Verfassungstreue, Von zwei verschiedenen Sei¬
ten wurde sturmgelaufen gegen die Ordnung der „cisleithanischen" Dinge,
welche durch die Gesetze vom 21. Decbr. 1867 hergestellt worden ist; die
Deutschen verlangten eine andere Zusammensetzung der Reichsvertretung, die
Polen eine größere Selbständigkeit des Landes Galizien. Eine nicht un¬
bedeutende Fraction des Landesministeriums hätte, wie die Blätter aus¬
plauderten, am liebsten jedes Zugeständnis; verweigert, ließ sich aber doch über¬
zeugen, daß ein Reformministerium sich nicht einfach ablehnend gegen jede
Reform stellen könne, und so ist ein Compromiß möglich geblieben. Der For¬
derung der Deutschen soll nachgegeben werden — aber bei Leibe nicht in
ihrem ganzen Umfange. Ein Abgeordnetenhaus von 203 Mitgliedern bei
einer Bevölkerung von beiläufig 20 Millionen, mithin ein Vertreter für
100,000 Seelen, kann allerdings nicht als ein richtiges Verhältniß angesehen
werden (in dem benachbarten Bayern kommt beispielsweise ein Abgeordneter
auf ungefähr 36,000 Seelen), und die Beschickung des Reichsrathes durch
die Landtage und aus denselben ist vollends ebenso ungerecht als unpraktisch.
Es lag die Absicht vor, die Mitgliederzahl des Abgeordnetenhauses zu ver¬
doppeln oder doch um die Hälfte zu verstärken und den Landtagen frei¬
zustellen, ob sie ihr Wahlrecht ausüben oder auf dasselbe zu Gunsten directer
Wahlen verzichten wollen. Wird dieser Plan wieder aufgenommen, so wird
der Reichsrath ein noch weit monströseres Geschöpf, als es gegenwärtig ist.
Es wird nämlich vorausgesetzt, daß die Landtage von Niederöstreich,
dessen Vertretung in dieser Frage die Initiative ergriffen hat, Oberöstreich,
Steiermark, Salzburg zuverlässig, Mähren, Kärnthen. Krain vielleicht sich,
wenn es zur Entscheidung kommt, für die directe Wahl erklären würden;
sehr zweifelhaft ist es bei Böhmen und Galizien; die deutsche Mehrheit in
dem einen und die polnische in dem anderen Landtage wird kaum geneigt
sein, auf die Vortheile, welche die alten Wahlordnungen ihnen als den in¬
telligenteren und besitzenden einräumten, zu Gunsten der tschechischen und
ruthenischen Masse zu verzichten und in gar keinem Falle werden die geist¬
lichen Führer der Landesvertretung von Tirol ihre jetzt so angenehme und
sichere Position jemals freiwillig aufgeben. So würde möglicherweise die
eine Hälfte des künftigen Abgeordnetenhauses aus unmittelbaren Wahlen
hervorgegangen sein, die andere das Mandat vom Landtage haben. Und
für diese letzteren Länder bestände die Abhülfe der allgemein erkannten Uebel¬
stände der Wahlordnungen in der Verdoppelung derselben. Man vergegen¬
wärtige sich nur den Mechanismus, Der tiroler Landtag z. B. gibt 68 Mit¬
glieder, nämlich den Erzbischof von Salzburg (welcher natürlich auch einen
Sitz im salzburger Landtage innehat), die Bischöfe von Trient und Bozen,
den Rector der Univerfirät Innsbruck, vier von Aebten und Propsten aus
ihrer Mitte gewählte Abgeordnete, zehn Abgeordnete des adligen großen
Grundbesitzes, dreizehn Abgeordnete von 35 Städten und Märkten, drei von
den Handelskammern, vierunddreißig von den übrigen Gemeinden des Lan¬
des. Hier haben wir auf jeden Fall sieben Geistliche; die Stifter, welche
Güter mit mindestens fünfzig Gulden Steuerertrcigniß besitzen, haben außer¬
dem actives und passives Wahlrecht für die Gruppe des großen Grund¬
besitzes, und rechnet man den großen Einfluß der Geistlichkeit auf die Land¬
bevölkerung hinzu, so leuchtet ein, weshalb die Vertreter der Städte und der
Handelskammern stets in der Minderheit bleiben. Dieser Landtag deputirt
in den Reichsrath nach der jetzigen Verfassung zehn Mitglieder, von welchen
drei aus der combinirten Gruppe der Kirchenfürsten und der Großgrund¬
besitzer hervorgehen müssen, zwei aus den Vertretern der Städte und den
Handelskammern, fünf aus den Abgeordneten der Landgemeinden. Aber
diese Gruppen wählen nicht etwa unter sich, sondern die Mehrheit des Land¬
tages wählt aus ihnen. Angenommen, dieselbe wollte mit der größten Unpar¬
teilichkeit zu Werke gehen, so könnte sie doch nicht unbedingt die befähigtsten
und tüchtigsten Mitglieder des Landtags in den Reichsrath senden, sondern
müßte sich an die obige höchst willkürliche Classtfication halten. Und ähn¬
lich gestaltet sich das Verhältniß in allen Ländern. Der Ehrgeiz der Bauern,
Leute ihres Standes zu Vertretern zu wählen, hat, wie das überall beobachtet
werden wird, die erste Sitzungsperiode nicht überdauert, sie sind passiv ge¬
worden oder geben ihre Stimmen den reichen Grundbesitzern, welche sich um
dieselben bewerben, und was diese Schmerlingsche „Interessenvertretung"
werth ist, hat das Land in allen Steuerfragen bitter empfunden. Die Städte
liefern die Arbeiter und Redner der Versammlung, aber der Grundbesitz
sorgt dafür, die Lasten von sich ab auf den beweglichen Besitz und das auf
persönlicher Arbeit beruhende Einkommen abzuwälzen. Die Verwerflichkeit
dieses Systems ist mit Händen zu greifen.
Das haben auch die Organe der Regierung durchaus nicht geleugnet,
aber ihrer Behauptung zufolge ist es politische Weisheit, dem Hunde den
Schwanz „zitzerlweis" anstatt auf einmal abzuschneiden. Sie erkennen an,
daß die jetzige Vertretung keine wahre Volksvertretung ist, daß nach und
nach nur noch ein Häuflein Privtlegirter die Gesetze macht, reicher Leute,
welchen es nichts ausmacht, jedes Jahr zwei bis drei Monate im Landtage
und acht bis neun Monate im Reichsrathe zu sitzen, Ehrgeiziger, welche es
zu hohen Stellungen bringen wollen und etlicher Glücksritter, welche den
Parlamentarismus zum Geschäft machen. Aber sie sind höchst besorgt vor
den „Collisionen", in welche Reichsrath und Landtage gerathen könnten,
wenn der erstere sich herausnehmen wollte, den letzteren das Wahlrecht ohne
weiteres abzuerkennen. Dergleichen Collisionen sind denkbar, aber der ge¬
meine Menschenverstand sieht nicht ab, was die Regierung und den Reichs¬
rath abhalten könne, die Sache sobald wie möglich durchzukämpfen, da es
hierzu früher oder später doch kommen muß. Der wahre Grund ist nichts
Anderes, als die Scheu, irgend etwas resolut anzufassen, die alte leidige Ge¬
wohnheit, mit halben Maßregeln sich über die Verlegenheit des Tages hin¬
wegzuhelfen. Viel cousequenter ist jene Partei, welche kurz und gut von
keinem Rütteln an der Verfassung wissen mag, die alte centralistische Partei,
welche aus einer Position nach der anderen verdrängt worden ist und in
jeder sich mit der gleichen Hartnäckigkeit und Verblendung zu behaupten
suchte, wenn dieselbe längst unhaltbar geworden war — im Grunde die
einzige Partei, welche diesen Namen verdient, viele ehrliche Männer und
wahre Patrioten, aber wenig politische Köpfe in sich begreift.
Es ist dies die Partei, welche mit vollem Rechte in jedem Fortschritt auf
dem Wege zum Föderalismus einen Rückschritt in der Cultur, einen Verzicht
auf die natürliche Mission des Deutschthums in Oesterreich sieht. Die
Wahrheit dieser Ansicht fängt auch außerhalb des Landes an durchzudringen.
und wenn einmal den „Nationaluäten" der letzte Vorwand sich über Unter¬
drückung zu beklagen, genommen sein wird, wird die Welt mit Staunen und
wahrscheinlich mit Schrecken erkennen, wem sie eigentlich in dem Kampfe
gegen den österreichischen Gesammtstaat ihre Sympathien schenkte. In Un¬
garn kommt es bereits allmählig zu Tage. Nie wurden die Slovaken,
Rumänen, Serben :c. in ihrer nationalen Existenz von den Deutschen so
direct bedroht wie gegenwärtig von den Magyaren; norddeutsche Kaufleute,
welche in dem kornreichen Jahre 1867 mit Ungarn Geschäfte machten, er¬
zählen mit Entsetzen, welche Erfahrungen sie mit der ungarischen Zuverlässig¬
keit im Handel und Wandel und mit der ungarischen Rechtspflege gemacht
haben; reelle Versicherungsgesellschaften lassen sich durch die glänzendsten
Aussichten nicht zu Verträgen mit Ungarn verlocken und das, was die
Stärke der Ungarn in der Politik ausmacht, die straffe Parteiorganisation,
die unbedingte Unterordnung unter die Führer, das Einzwängen aller geistigen
und materiellen Interessen in die nationale Uniform— Alles das verräth doch
neben sehr schätzenswerthen Eigenschaften auch einen Grad von Beschränktheit,
welcher bei vorgeschrittenen Nationen nicht mehr zu denken wäre. Von
den Polen braucht man kaum zu sprechen. Wohin es mit der alten Schwär¬
merei für diese unglückliche Nation bei Allen denen gekommen ist, welche sie
aus unmittelbarer Berührung kennen, das haben zur Genüge die Verhand¬
lungen in den preußischen Kammern und im norddeutschen Reichstage be¬
wiesen. Und die Tschechen vollends haben ohne Gleichen das Talent, ihre
schlechten Eigenschaften in das grellste Licht zu stellen. Im Jahre 1866
wünschten die ärgsten Preußenhasser die Annexion Böhmens, damit beide
Theile gegenseitig gründlich gestraft würden. Diese Elemente derart zu ent¬
fesseln, daß auch Westösterreich aufhören würde, ein deutsches Staatswesen
mit allerlei fremden Bestandtheilen zu sein, die Deutschen in Böhmen den
Tschechen, die Ruthenen in Galizien den Polen preiszugeben, das ist ein Ge¬
danke, welcher freilich die allerernstesten Bedenken erregen muß.
Und daß es so kam, war keine Nothwendigkeit. Die centralistische
Partei dankt wie die östreichische Armee ihre Niederlagen schlechter Füh¬
rung. Und das schwerste Unglück für sie ist, daß die Frage, um welche es
sich vorzüglich handelt, nicht zur Entscheidung gekommen ist und wohl für
immer unerledigt bleiben wird. Jetzt gilt es für ausgemacht, daß die Ge-
sammtstaatsidee — die parlamentarische Centralisation bei administrativer
Decentralisation— gescheitert sei, während doch kein ernster Versuch gemacht
worden ist, sie lebendig zu machen. Hätte Bach um die Mitte der fünfziger
Jahre es über sich vermocht, dem Reiche nur so viel Parlamentarismus und
Selbstverwaltung zu gewähren, als das Diplom vom October 1860 anbot;
mit Ausnahme Lombards-Venetiens hätten alle Kronländer dankbarst zu¬
gegriffen, vielleicht auch Ungarn. Hätte Schmerling im Jahre 1861 gewagt,
die nichtmagyarischen Völkerschaften Ungarns in den Reichsrath zu berufen,
es stände heute auch um die Magyaren anders. Aber der Staatsmann,
welchen man mit Benedeck verglichen hat, hätte noch viel mehr ein Kriegs¬
gericht verdient, als der „Schmerling zu Pferde"; er ließ nicht allein den
Feind alle strategisch wichtigen Punkte besetzen, sondern rechnete noch auf
dessen freiwillige Unterwerfung, als er und die Seinen schon völlig umzingelt
waren. Belcredi hat sich dann durch seine kindische Furcht vor dem Reichsrath
und den Deutschen um die einzigen zuverlässigen Bundesgenossen gebracht,
mit denen er seinen Kampf gegen den Dualismus hätte führen können. Und
als Beust ans Ruder kam, war nichts mehr zu thun als nachzugeben.
Auch in den Verfassungskämpfen sind wir bisher stets um eine Idee
zurückgeblieben, und nun muß es sich zeigen, ob die gegenwärtigen Lenker
der inneren Politik aus der seit zwanzig Jahren so oft wiederholten Ge¬
schichte von den sioyllinischen Büchern etwas gelernt, oder ob sie das ver-
hängnißvolle Selbstgefühl ihrer Vorgänger geerbt haben. In den Reihen
der Abgeordneten soll sich ein ziemlich lebhafter Widerwille gegen das An¬
rühren der ganzen Frage bemerkbar machen. Dieselben Persönlichkeiten be¬
stärkten auch Schmerling In seiner Politik des Abwartens und wollten gar
keine Nothwendigkeit erkennen, aus der nomineller Reichsvertretung eine
wirkliche Vertretung des ganzen Reiches zu machen. In der damaligen Ver¬
sammlung fehlten die Ungarn, die Kroaten, die Venetianer, die Südtiroler,
die Tschechen — sie aber decretirte in aller Ruhe des Gemüths auch für die ren
n¬
enden Länder, hielt jeden Verständigungsversuch für unter ihrer Würde, bis
eines schönen Morgens der Dualismus kalt aeeomM war und die bisheri-
gen Centralisten als begeisterte Dualisten erwachten. So getrösten wir uns,
dieselbe compacte Masse auch noch für den reinen Föderalismus schwärmen
zu sehen, sobald sie denselben unvermeidlich gemacht haben wird. Mancher
ehrliche Mann erklärt jetzt: wir dürfen an der kaum einjährigen Verfassung
nicht neuerdings rütteln, dieser ewige Wechsel, dieser gänzliche Mangel der
Stabilität in unserem Verfassungsleben richtet allen Glauben, alles Vertrauen
zu Grunde, nährt den ohnehin so stark wuchernden Pessimismus. Und darin
ist viel Wahres. Aber minder gefährlich als das schrittweise und gezwungene
Zurückweichen ist immer der frische Entschluß, endlich einmal eine Basis zu
gewinnen, auf der sich etwas für die Dauer aufführen läßt. Jetzt kann man
noch mit mäßigen Opfern die Polen halten und die Czechen gewinnen; haben
einmal die ersteren den Reichsrath verlassen, womit sie ernstlich drohen, so
gehen sie auf geringere Zugeständnisse nicht ein, als die Ungarn durchgesetzt
haben. Lif äat,, <M cito nat, das heißt in diesem Falle: wer nicht zu rech¬
ter Zeit gibt, muß nachher doppelt geben, und gegeben werden muß, wenn
Oestreich endlich zur Ruhe und Ordnung kommen soll. — Seit der Vertagung
unseres Parlaments sind die aus Umgestaltung des Reichsraths abzielenden
Pläne allerdings zurückgestellt und auch die Ansprüche der Tschechen und Polen
in den Hintergrund getreten. Aber es wird nicht lange dauern, so werden
die einen ebenso herausgeholt wie die andern, und wenn der Reichstag wie¬
der zusammentritt, so wird da angeknüpft werden, wo man stehen blieb —
bei der Ueberzeugung, daß es in der bisherigen Weise nicht mehr weiter geht.
Der Ausfall der französischen Wahlen ist seit fast einem Jahr das
ultimg, riuile gewesen, bis zu welchem sich optimistische und pessimistische Con-
jecturalpolitiker vorwagten, wenn sie in das Meer der Zukunft segelten, um
ihr Senkblei auszuwerfen. An diesem Punkt wären wir endlich angelangt,
aber freie Aussicht in die kommenden Dinge scheint er nicht gewähren zu
wollen. Gerade wie beim Beginne der fünfziger Jahre ist die Politik des
„Entweder oder" das Glaubensbekenntniß unserer westlichen Nachbaren ge¬
blieben und die liberalen Franzosen haben sich durch ihre republikanischen
Abstimmungen ziemlich offen zu jenem „Nichts gelernt und Nichts vergessen"
bekannt, das man lang genug für ein Privilegium des unverbesserlichen
Legitimismus gehalten hatte. Fraglich ist nur, ob die Majorität aus den
Kämpfen der letzten Monate und Wochen ein richtigeres Verständniß der
Lage mitgebracht hat. als sie bisher bewiesen. Mag man uns immerhin ver¬
sichern, der Standpunkt der Gouvernementalen sei mit dem der alten Tiörs-
Partei identisch geworden —wirwerden wohl thun, eine thatsächliche Bestäti¬
gung dieser Behauptung abzuwarten. Viele Beispiele dafür, daß eine con-
servative Partei durch die Maßlosigkeit ihrer Gegner an Ruhe, Umsicht und
Freisinn gewonnen, lassen sich aus der Geschichte nicht anführen. Daß es an
entscheidender Stelle noch zu keiner endgültigen Entschließung gekommen ist,
gestehen selbst diejenigen ein, welche in Emil Ollivier die Verkörperung fran¬
zösischer Zukunftspolitik sehen, und an eine Aussöhnung zwischen dem Con-
stitutionalismus und dem zweiten Kaiserthum glauben. Noch ein Mal
heißt es „Abwarten" und sich inzwischen die Zeit mit Betrachtungen darüber
vertreiben, was Alles in dem Vaterlande des kontinentalen Liberalismus
möglich gewesen und möglich geblieben ist.
Das große Thema aller Erwägungen, mit denen die Pariser Presse die
Geschichte der letzten Wahlagitation begleitet, ist der Bankerott der alten
Parteien, und was mit diesem gleichbedeutend ist, der Sieg des unbärtiger
Radikalismus. Während es Thatsache ist, daß die liberale Bewegung der
letzten Jahre wesentlich durch die alten Führer der Orleanisten und gemäßigten
Legitimisten in Zug gebracht worden ist, hat das Volk von Paris im Bunde
mit den Wählern anderer großer Städte laut und deutlich ausgesprochen,
daß es von diesen Männern ein für alle Mal nichts wissen wolle. Wir
haben keinen Grund, das Fiasco jener Redner zu beklagen, welche die echte¬
sten Repräsentanten französischer Urtheilslosigkeit über deutsche Dinge sind
und waren, aber wir finden es begreiflich, wenn ihre Anhänger in der plötz¬
lichen Begeisterung des liberalen Frankreich für die Nochefort, Raspail und
Bancel ein trauriges Zeichen der Zeit sehen. Das wüste Geschrei nach
neuen Männern und neuen Namen gilt der „IL<zvuL ach äsux monclss"
mit Recht für den Ausdruck vollständiger politischer Gedankenlosigkeit und in
der That läßt sich kaum etwas Abgeschmackteres denken, als diese Rechnung
auf Leute, die keine anderen Titel für ihren Repräsentantenberuf aufzuweisen
haben, als schlechte Verse und schlechte Pamphlete. Ob es vierzig, fünfzig
oder gar achtzig „Unabhängige" sein werden, welche hinter diesen Aller¬
neuesten stehen, ist für das Kaiserthum eigentlich nicht viel mehr als eine
Frage der größeren oder geringeren Unbequemlichkeit; die Sache der Freiheit
und Bildung in Frankreich hat von ihnen nichts zu erwarten und die Sache
des europäischen Friedens auch nicht, denn in ihren Reihen ist kaum ein
Name vorhanden, der Vertrauen besäße und erweckte. Die große Zahl der
Besitzenden hat mit der Republik ein sür alle Mal abgerechnet und die Re¬
gierung wird dafür zu sorgen wissen, daß man noch lange vorziehen wird,
Mit ihr zu handeln, als sich ihren Gegnern auf Gnade und Ungnade zu er¬
geben. Ist unter solchen Zeichen wirklich etwas für die Freiheit Frankreichs
zu hoffen? Selbst im günstigsten Falle, dem. daß der Kaiser es wirklich mit
Ollivier und dessen Freunden versucht, wird es außerordentlich schwerhalten,
den Einfluß der unbedingt Kaiserlichen, mögen sie Arkadier und einfach
Satisfaits heißen, auf die Dauer zu brechen; deutlich geredet haben nur die
beiden extremen Parteien, und da sich mit der einen derselben'überhaupt
nicht reden läßt, so wird es begreiflich erscheinen, wenn man der anderen das
Gehör nicht ganz versagt, mag ihr System sich auch noch so deutlich selbst
verurtheilt haben. Ein wirklich parlamentarisches Leben und Fortschreiten
ist nur auf dem Wege von Compromissen möglich, und mit wem sollen diese
geschlossen werden, wo die Oppositionspartei die „Unversöhnlichkeit" zu ihrem
Losungs- und Stichwort gemacht hat! Dazu kommt noch eine andere Schwie¬
rigkeit. Unter den Anhängern des Kaisertums, den liberalen wie den un¬
bedingten, sind ebenso wenig sittlich-feste und reine Charaktere zu finden.,
wie politische Intelligenzen unter ihren Gegnern; selbst wenn sie wollten,
würde es der Mehrzahl unter ihnen schwer fallen, sicher und fest ihres Weges
Zu gehen, unbekümmert um den Beifall der Lakaien des Kaisers und der
Massen. Der Ruf nach „neuen Männern" hat in dieser Beziehung eine
sehr ernste Bedeutung, ein unzweifelhaftes Recht; das Volk verlangt nach
Führern, die sich nicht befleckt haben mit dem Raube der neuen Dynastie
und dem Erlös jener riesigen Schwindelgeschäfte, neben denen die Unterneh¬
mungen des alten Law sich ziemlich kindlich und harmlos ausnehmen. Schlimm
genug, daß diese ehrlichen Leute nur unter der bartlosen Jugend, unter
Männern zu finden sind, welche nichts haben und nichts können, deren Po¬
litik weder durch Erfahrungen geläutert, noch durch die Verantwortlichkeit
für große Interessen gewichtig geworden ist. Weder hüben noch drüben ist
eine Macht vorhanden, deren Führung das Volk sich anvertrauen will und
anvertrauen kann, wenn es den Entschluß faßt, seinem bisherigen Führer
den Rücken zu drehen; der Mann, dessen Hand keck nach der Kaiserkrone ge¬
griffen, erscheint sehr viel ehrlicher als seine Genossen, die für Actien und
Dividenden zu haben waren, unendlich viel klüger und im Grunde genou-
men auch freisinniger als die republikanischen Schreier, die mit Pamphleten
eine neue Staatsordnung begründen zu können meinen. Das Kaiserthum
— das scheint die Summe zu sein — ist trotz all der moralischen, politischen
und materiellen Einbußen, welche es an den Rand des Abgrundes gebracht
zu haben schienen, für Frankreich eine Nothwendigkeit geblieben, denn von
den ihm entgegenstehenden Parteien ist keine im Stande, der französischen
Gesellschaft die Garantien für irgend eine Rechtsordnung, für eine, wenn
auch nur vorübergehende Herrschaft über die wüstesten Pöbelinstincte zu
bieten. Und aus dieser Nothwendigkeit soll eine Tugend gemacht werden
— dieses auf dem sittlichen Banquerott einer ganzen Generation beruhende
System soll die Kraft haben, seine Traditionen zu verleugnen, seinen Unrath
zu verbrennen und den Phönix zu spielen?
Bei dem engen, wenn auch keineswegs auf den Gesetzen der Logik be¬
ruhenden Zusammenhang zwischen innerer und auswärtiger Politik in Frank>
reich, ist die Frage nach der Bedeutung der Wahlen sür den europäischen
Frieden ebenso vergeblich, wie die nach der Zukunft der französischen Frei¬
heit. Für ein günstiges Zeichen kann höchstens gelten, daß keine der am
Wahlkampf betheiligt' gewesenen Parteien den Krieg offen auf ihre Fahnen
geschrieben, jede fromme Wünsche für Frieden und Freiheit an die Spitze
ihres Programms gestellt hat. Von einer Nöthigung zum Fneden kann
für den Kaiser dennoch nicht die Rede sein, ebenso wenig davon, daß alle
Gründe sür eine Diversion nach Außen in Wegfall gekommen seien; im
Gegentheil ist für Republikaner vom Schlage der Rochefort und Bancel die
Aussicht auf kriegerischen Ruhm eine verführerischere Lockspeise, als für Männer,
welche wissen, was es für einen industriellen Staat wie den französischen mit
einem Kriege eigentlich auf sich hat. Immerhin läßt sich annehmen, daß
des Kaisers Friedenswünsche für eine Zeitlang an Consolidirung gewonnen
haben, zumal wenn wirklich mit der Tierspartei ein Regierungsversuch ge¬
macht werden sollte. Für den Ausfall dieses Experiments wird aber schwer¬
lich irgend Jemand in Frankreich die Bürgschaft übernehmen wollen. — Unter
dem Schutz der Staubwolke, welche der Lärm um die Wahlen aufgewirbelt
hatte, ist die belgisch-französische Eisenbahnangelegenheit durch die Hinter¬
thür einer Expertencommission von der diplomatischen Bühne verschwunden. Bei
der gewichtigen Rolle, welche diese Angelegenheit während der letzten Monate
gespielt hat, erscheint begreiflich, daß ihre zeitweise Absetzung von der Tages¬
ordnung als eine vorläufige Bürgschaft für die friedlichen Absichten Frank¬
reichs und seiner Machthaber gefeiert wird. Wann und ob sie wieder hervor¬
gezogen wird, hängt wesentlich von dem Gang der allgemeinen Angelegen¬
heiten in Paris ab. Kommt Ollivier wirklich ans Ruder, so ist sie begraben,
schon weil Herr Rouher an ihrer Wiege stand. Von all' den französischen
Politikern der Gegenwart meint es keiner mit der Erhaltung des Friedens
und der Beschränkung auf innere Probleme so aufrichtig wie der Verfasser
des „neunzehnten Januar" und es ist dafür gesorgt, daß ihm bezüglich
Belgiens die Hände^nicht im voraus gebunden sind. Die Verpflichtungen,
welche das Kaiserreich dem Papstthum gegenüber übernommen, sind lästig
genug geworden, als daß man Lust haben könnte, auf andere Engage-
wents von unberechenbarer Tragweite und zweifelhaftem Gewinn einzugehen.
Dem belgischen Eisenbahnhandel scheint bestimmt gewesen zu sein, eine Re¬
serve zu bleiben, von welcher man Gebrauch machen wollte, wenn eine plötz¬
liche auswärtige Verwickelung nothwendig werden sollte, und da dieser Fall
nicht eingetreten, hat man sie wieder zurückgestellt. — Was von einer sür
den Herbst d. I. bevorstehenden Zurückziehung der französischen Truppen aus
Rom verlautete, bedarf noch der Bestätigung. Die Stellung des Tuilerien-
cabinets zu der römischen Frage ist nach den Wahlen allerdings freier als
vor denselben, wo der Clerus bei gutem Muth erhalten werden mußte, aber
es fragt sich, ob Frankreich während der gegenwärtigen Regierung je wieder
in die Lage gerathen wird, bei Beurtheilung der italienischen Dinge blos
auf die eigenen Staatsinteressen Rücksicht zu nehmen. Die französischen Bi¬
schöfe sind sich der wichtigen Rolle, welche sie in der Geschichte des suSiags
Ulliversel gespielt haben, zu bewußt, als daß der Kaiser wagen dürfte, sie
jemals außer Rechnung zu lassen — mag diese Rechnung auch häufig unbequem
genug sein. Daß die gewaltsame Erhaltung des äominium temporale aber
der einzige Preis ist. um welchen die Kirchenfürsten Frankreichs und ihre
zahlreichen Anhänger zu haben sind, haben sie auch während des letzten
Nahlkampfs deutlich gezeigt, indem sie ziemlich vernehmlich nach Garantien
sür die fortgesetzte Herrschaft des heiligen Vaters verlangten. Die warme
Begeisterung, in welche die Organe der specifisch katholischen Presse (z. B. die
gelben Blätter) jedesmal gerathen, wenn sie von der kirchlichen Gesinnung
des modernen Frankreich reden, bekundet deutlich, wie sicher man in Rom
der französischen Connivenz ist. In dieser Richtung haben die letzten Wochen
übrigens einen neuen, höchst bemerkenswerthen Beleg geliefert. Während
die Regierung des stockkatholischen Bayern trotz der neuen Wahlsiege des
^ltramontanismus den Muth hatte, ihren Befürchtungen vor hierarchischen
Übergriffen des bevorstehenden Concils einen Ausdruck zu geben und bet
den übrigen katholischen Mächten eine gemeinsame Sicherstellung der Staats¬
gewalt anzuregen, ist das Vaterland Voltaire's und Montesquieu s scheu zurück¬
gewichen und bis jetzt, liegt kein Grund zu der Annahme vor, daß man nach
den Wahlen mehr Muth und Entschlossenheit zeigen werde, als vor und
Während derselben.
Wenn Napoleon III. wirklich an eine Zurückziehung seiner römischen
Division denkt, so ist ihm das durch die neueste Wendung der italienischen
Politik nicht eben erleichtert worden. Die alt-piemontesische Partei, welche
sich seit der Uebersiedelung Victor Emmanuels nach Florenz in grollender Zurück"
Haltung befunden hatte, ist von dem Grafen Menabrea zu einer Betheiligung
an den Geschäften herangezogen worden, welche ihr Jahrelang versagt geblieben.
Das neugebildete Cabinet von Florenz besteht zur Hälfte aus Führern der
Permanente und gerade die wichtigsten Sitze sind von denselben eingenommen
worden. Darüber, daß das bisherige Cabinet durch den Zutritt der neuen pie-
montesischen Minister an Kraft und Energie gewinnen werde, daß sich von den¬
selben Nom wie Paris gegenüber größere Klarheit und Würde erwarten lasse,
darüber sind die meisten Stimmen einig. Desto zweifelhafter ist es, wie diese
Combination auf die Oppositionspartei, ganz besonders aber auf die südlichen
Provinzen des jungen Staats wirken werde. Der Geist landsmannschaft¬
licher Eifersucht und Mißgunst, an dem die Italiener noch immer kranken,
wird durch diese Verstärkung des nord-italienischen Elements neue Nahrung
gewinnen, der neapolitanische Haß gegen Alles, was von Norden kommt,
geschürt werden. Wie die Dinge einmal liegen, kann es sich aber nur um ein
Mehr oder Minder seit lange vorhandener Gegensätze handeln, und wenn
Herr Ferrari sein auf Ersparnisse gerichtetes Programm durchführt, die Armee
reducirt und gleichzeitig der Würde des Staats Frankreich gegenüber nichts
vergiebt, so ist der Gewinn, den das neue Ministerium der italienischen
Sache bringt, ungleich größer als der Verlust. Es handelt sich darum, eine
Zeit des Uebergangs und des nothwendigen Verzichts auf weiter gehende
Pläne richtig zu nutzen, und das kann nicht besser geschehen als durch Er¬
holung und Kräftigung der zerrütteten Finanzen. — Da Menabrea im Amt
geblieben ist. kommt eine veränderte Stellung des florentiner Cabinets zu
Preußen und Norddeutschland zunächst nicht in Frage. Graf Brassier de
Se. Simon hat vor einigen Tagen sein neues Amt angetreten, und soll der
doppelten Aufgabe gerecht werden, das Werk Usedoms fortzuführen und den
Boden wieder zu gewinnen, der seit der Abberufung dieses Diplomaten wenn
nicht verloren gegangen, so doch aufgegeben gewesen ist. — Die guten Be¬
ziehungen Italiens zu Oestreich sind während des abgelaufenen Monats die¬
selben geblieben, wenn die Gerüchte von einer förmlichen entends zwischen
beiden Staaten sich auch nicht bewahrheitet haben. Die Ermordung des
k. k. General-Consul Jnghirami zu Livorno und das gleichzeitige Attentat
auf den früheren Commandanten der östreichischen Besatzungsarmee, Grafen
Crenneville sind Acte der Privatrache und ohne internationale Bedeutung,
zumal der Graf schon vor einiger Zeit seitens der florentiner Regierung ge¬
warnt worden war.
Indessen die Parlamente von Florenz, London und Berlin ihre während
der Pfingstzeit unterbrochenen Arbeiten wieder aufgenommen haben und die
neu gewählten Vertreter Ungarns in eine neue Legislatur-Periode eintraten,
ist der östreichische Reichstag, nachdem er über ein halbes Jahr lang in
Thätigkeit gewesen, am 16, Mai geschlossen worden. Dem letzten Monat
der Wiener parlamentarischen Saison war von Seiten der liberalen deutsch¬
östreichischen Partei mit besonderem Bangen entgegengesehen worden, da eine
ganze Reihe von Störungen des jungen dualistischen Systems und damit des
mühsam errungenen Verfassungslebens zu drohen schien: Austritt der Polen,
vielleicht auch der Slowenen aus dem Reichsrath, Schädigung der Reichs-
zweiheit durch Beust'sche Concessionen an die böhmische Nationalpartei, end¬
lich eine Umgestaltung des Wahlrechts, die zwar an und für sich dem parla¬
mentarischen System günstig gewesen wäre, wegen der grollenden Tiroler
aber mehr gefürchtet als gewünscht wurde. Von diesen Befürchtungen hat
sich keine bewahrheitet; trotz der Entschiedenheit, die sie bei der Debatte über
das Schulgesetz bewiesen und trotz der abweichenden Meinung des größten-
theils der polnischen Presse (den „Czas" allein ausgenommen) haben die gali-
zischen Deputirten ihre Mandate nicht niedergelegt, sondern den Beschluß ge¬
faßt, es mit der neuen Verfassung noch eine Zeit lang zu versuchen. Ebenso
unerfüllt sind die Hoffnungen der jungtschechischen Partei geblieben; sogar den
Schein von Concessionen an dieselbe hat man gemieden und die Amnestie,
deren Nutzlosigkeit von der böhmischen Presse im voraus verkündet wurde,
ist gar nicht erlassen worden. Natürlich hat die Aufhebung des Ausnahme-
Zustandes unter solchen Umständen keine versöhnende Wirkung haben können,
und nimmt die Erbitterung der von Prag aus geleiteten Nationalpartei
stündlich zu. Aber trotz aller hochtönenden Reden derselben scheint es doch,
als ob dieselbe von ihrer Siegesgewißheit verloren habe. Die in Berlin
herausgegebene ,,<noi-i'Wp0nÄanc:s 1so!r6<ius," welche die jungböhmischen
Stimmungen ziemlich getreu widerspiegelt und sich durch ihr entschiedenes
Auftreten gegen die panslavistischen Anhänger Rußlands eine gewisse Stellung
erworben hat, ermahnt in ihren letzten Nummern'nur noch zum Ausharren
im Allgemeinen, weiß bestimmte Termine und Anhaltepunkte für die Realisirung
ihrer Wünsche aber ebenso wenig anzugeben, wie die Redaction der „Narodny
Listy". — Nichts desto weniger trägt das östreichische Staatsleben keine heiterere
und., siegesgewissere Miene als vor vier Wochen, und der trockene geschäftliche
Ton der zum Schluß der Reichraths-Session gehaltenen Thronrede zeigt nichts
von der aufstrebenden Begeisterung, mit welcher die cisleithanischen Minister
vor Jahresfrist ihr Reformwerk aufnahmen. Freilich hat eine lange Reihe
Peinlicher Erfahrungen den Bürgermirnstern bewiesen, daß der Weg von frei¬
sinnigen Neichsrathsbeschlüssen und Gesetzen bis zur Ausführung derselben in
der östreichischen Monarchie noch weiter ist als in den meisten übrigen euro-
päischen Staaten, und die Geschichte der Schul- und Ehegesetze ist zu einer
Geschichte clericaler Siege über den deutsch-östreichischen Liberalismus ge¬
worden. Mag immerhin wahr sein, daß Renitenz und Uebelwollen der Einzel-
Landtage einen Haupttheil der Schuld an diesen Mißerfolgen tragen, das
eigentliche Uebel liegt tiefer und wird auch noch nicht beseitigt sein, wenn
die k. k. Hofburg dazu gezwungen wird, diesseit der Leitha ebenso verfassungs¬
treu zu regieren, wie in Ungarn. Die verabsäumte Arbeit dreier Jahrhunderte
kann mit den Mitteln des Constitutionaltsmus nicht fertig gebracht werden,
so lange der größte Theil derer, in deren Namen der Reichstag redet, die
Sprache der Zeit nicht versteht und der Renitenz des Clerus ein sehr viel
gefügigeres Material bietet, als dem Reformeifer der Wiener Liberalen. Aus
dem Deutschen ins Deutliche übersetzt bedeutet der Zwiespalt zwischen dem
Reichsrath und den Einzel-Landtagen nichts Anderes als den Zwiespalt in den
Anschauungen und Gewohnheiten der Bevölkerung, deren Bestandtheile nicht
nur in Rücksicht der Nationalität, sondern auch in Rücksicht der Bildung
unendlich verschieden sind. Wenn die offene Feindschaft der Bischöfe gegen
die neuen Gesetze nicht in der Abhängigkeit der Massen vom Clerus ihre
Stütze hätte, so könnte es nimmermehr geschehen, daß der Einfluß der Kirchen¬
fürsten jede Action der Räthe der Krone lahm legt u«d die Regierung in
der Anstellung entschiedener Feinde des neuen Systems das einzige Mittel
zur Erhaltung ihrer Autorität sieht. Die kurze Periode unter Joseph II. ab¬
gerechnet hat Oestreich kein 18. Jahrhundert, kein Zeitalter gehabt, in welchem
die moderne Staatsidee sich ihre nothwendigsten Voraussetzungen schaffte und
wesentlich aus diesem Grunde kann der Kaiserstaat sich nicht in die Anforde¬
rungen finden, welche das 19. Jahrhundert an sein inneres Staatsleben
stellt. — InUn garn, wo der Landtag seit Wochen damit beschäftigt ist über
die ihm vorliegenden fünf verschiedenen Adreßentwürfe zum Entschluß zu kommen,
hat sich die durch die Wahlen des vorigen Monats veränderte Situation
noch nicht geklärt. Trotz ihrer numerischen Ueberlegenheit über die Opposition
ist die De'akpartei der Fortdauer ihrer Herrschaft nicht sicher; durch hundert
verschiedene Rücksichten gebunden, will sie die zwischen ihr und ihren Gegnern
bestehende Meinungsverschiedenheit nicht deutlich hervortreten lassen, die
Grenzen der Programme möglichst verwischen. Die Hauptfrage, um welche
es sich in der Adreßdebatte handelt, ist die nach der auswärtigen Politik der
Zukunft. Des Grafen Beust diplomatische Vielgeschäftigkeit und Jntriguen-
fucht hat das Verlangen nach festeren Bürgschaften sür eine Friedenspolitik zu
einem allgemeinen gemacht, und Graf Andrassy sieht es sicher nicht ungern,
daß die Linke in dieser Beziehung dem Reichskanzler ein Mißtrauen zeigt,
wie er es seiner Stellung nach nicht offen äußern darf. Ungarn und Oest¬
reich haben das gemeinsame Interesse, feste Front gegen Rußland zu bilden
und der Türkei die Flanke zu decken — sobald sie nach Westen blicken, gehen
ihre Interessen oder das was sie dafür halten, auseinander. Der innere
Widerspruch, der der gegenwärtigen Lage unseres Welttheils sein eigenthüm¬
liches Gepräge aufdrückt, tritt nirgend so deutlich zu Tage, wie an dem
Punkt, wo die Wege der Wiener und der Pester Staatsmänner auseinander
gehen: die Einen wie die Andern wollen von weiteren Fortschritten Ruhlands
nichts wissen, aber die Macht, welche im gegenwärtigen Augenblick Rußland
naturgemäß am nächsten steht, Preußen, wird östlich von derLeitha als Freundin,
westlich von diesem Grenzfluß als Todfeindin angesehen und behandelt. Der¬
selbe Widerspruch der Interessen spiegelt sich in Preußens diplomatischer
Stellung wieder; Rußland ist dem Berliner Cabinet von unschätzbarem Werth,
weil es Oestreich in Schach hält, Rußlands Angriffswaffen gegen den Kaiser¬
staat, seine orientalischen und panslavistischen Pläne schneiden aber zugleich in
das Fleiich der preußischen Interessen, denn Ungarn, das in Rußland doppelt
verhaßte Ungarn, ist Preußens natürlicher Verbündeter. Auf Schritt und Tritt
begegnet uns dieser wunderliche Gegensatz gemeinsamer und divergirender In¬
teressen, in Rumänien und in Böhmen, in der orientalischen wie in der
galizischen Frage. Preußen, das durch seine mit Rußland gemeinsame polnische
Politik dafür interessirt ist, die in Galizien herrschende Race in Schranken
gehalten zu sehen, darf Ungarns wegen doch nicht wünschen, daß die Ruthenen
am Dnjester und San das Uebergewicht erhalten, denn jeder Sieg des russi¬
schen Elements in Galizien kräftigt das slavische, arti-magyarisch gesinnte
Element in Ungarn. Rumänien, für dessen Haltung seit der Thronbesteigung
des Fürsten Karl Preußen allenthalben verantwortlich gemacht wird, ist
Rußlands natürlicher Verbündeter gegen die Pforte und zugleich ein preußi¬
scher Schachstein gegen Oestreich; aber die Großrumänen von der Partei
Bratianos sind in Pest ebenso gefürchtet und gehaßt wie in Konstantinopel,
Weil die Erwerbung der von Moldau-Wallachen bewohnten Theile des Banats
und Siebenbürgens ebenso zu ihrem Programm gehört, wie die völlige Los¬
trennung des Hospodarenstaats von der Türkei. Die Ungarn wissen sehr
Wohl, daß Preußens nahe Beziehungen zu Nußland wesentlich in ihrem Interesse
verwendet werden, und daß Rußland seine panslavistischen Wünsche ledig¬
lich aus Rücksicht auf das Berliner Cabinet in Schranken hält — darum
thun sie ihr Möglichstes, um dem Grafen Beust die rührigen Hände zu binden,
mit denen er gegen Preußen Minen gräbt. Aber auf der andern Seite
können sie sich nicht verhehlen, daß Oestreichs orientalische Politik ihnen stärkere
Garantien gegen die Gefahr russisch-slavischer Ueberfluthung bietet, als die
Preußische Gönnerschaft, und schon darum werden sie es zu einer entschiedenen
Haltung gegenüber dem Reichskanzler auf die Dauer nicht bringen. Im
Augenblick wirkt die Besorgniß vor einer durch die Beust'sche Politik der Rache
herbeigeführten Verwickelung in Pest stärker als jedes andere Bedenken; man
glaubt sich für einige Zeit vor einer russischen Aggression nach Westen und
Süden sicher, und sieht in dem Reichskanzler den Friedensstörer, der durch
sein Vorgehen gegen Preußen die Schleußen russischen Ehrgeizes entfesseln kann.
Für die Pester Linke kommt noch der weitere Gesichtspunkt möglichster Selb¬
ständigkeit des ungarischen Staats und seiner Diplomatie hinzu, für die
Dentisten die Nothwendigkeit, an patriotischem Eifer nicht hinter der Opposition
zurück zu bleiben. Beide Parteien aber müssen sich in der Stille sagen, daß
die geringste Verschiebung der Dinge im europäischen Osten das Behältniß
ändern kann, und daß die guren Beziehungen zu Preußen auf Schrauben
gestellt sind, so lange Oestreich die preußisch-russische «zntents nothwendig
macht.
Von Wesentlichsten Einfluß darauf, daß man von des Grafen Beust
auswärtiger Politik im Pester Ständehause weniger denn je wissen will und
lebhafter denn je für die Erhaltung des Friedens arbeitet, ist der Gang der
Ereignisse in Buckarest und Jassy gewesen. Die Negierung des Fürsten Karl
hat die letzten Wahlen so glücklich zu leiten gewußt, daß die Actionsparrei
in der neuen Kammer so gut wie gar nicht vertreten ist und Kogolnitscheanos
friedliche, auf Hebung der materiellen Interessen und der Bildung gerichtete
Pläne ernstlichere Aussicht auf Verwirklichung haben, als seit langer Zeit.
Auch die unruhigen beiden Hauptstädte des jungen Staats, in denen Bratiano
seinen Hauptanhang hatte und in denen die politische Agitation zur Haupt¬
beschäftigung der bürgerlichen Classen geworden war, erscheinen beruhigt oder
doch gebändigt. Der Sieg der Regierungspartei bei den Kammerwahlen ist
ein so nachhaltiger gewesen, daß die Rothen auch bei den Communalwahlen
geschlagen wurden und nur zu Plojesti in der Majorität blieben. Die Session
der am 11. Mai zusammengetretenen Kammer soll möglichst abgekürzt werden.
Die Vorlagen für Erlaß eines neuen Preßgesetzes und Anstellung preußischer
Armee-Jnstructoren sind übrigens heilet genug, um der unterlegenen Aetions-
partei zu Aufwiegelungen gegen das herrschende System Veranlassung zu
bieten. — Die Beziehungen der Moldau-Wallachei zur Pforte haben sich seit
dem Sturz Bratiano's fortwährend freundlich gestaltet und der Bericht über
die Lage des Reichs, mit welchem der Großvezier Anfang dieses Monats die
Versammlung des türkischen Staatsraths eröffnete, thut des befriedigenden
Verhältnisses zu den Vasallenstaaten besondere Erwähnung. Nach der be¬
kannten Rede des Sultans zu urtheilen, glaubt die hohe Pforte überhaupt in
eine Reihe besserer Tage getreten zu sein, seit der Kandiotenaufstand beendigt ist
und die Händel mit Griechenland beigelegt wurden. Man projectirt neue Eisen¬
bahnen, spricht von Hebung des Verkehrslebens und der materiellen Interessen,
erhöht den Präsenzstand der Armee und schafft neue Waffen an; obgleich
der Grvßvezier in Sachen der türkischen Unterthanen ertheilten russischen
Pässe nachgegeben hat. werden die Wünsche für Aufhebung jener alten Capitu-
lationen, welche den Unterthanen der meisten fremden Nationen Exterritoria¬
lität sichern, so lebhaft und deutlich zur Sprache gebracht, wie es seit zwölf
Jahren nicht mehr geschehen. Nachdem die türkische Regierung sich mit
Oesterreich und England seit lange darüber verständigt hat, daß die Ausnahms¬
stellung der auf türkischem Boden lebenden Westeuropäer ein Hemmniß der
Entwickelung des Staats und ein Hauptgrund für die Ohnmacht der türki¬
schen Polizei und Verwaltung sei, ist die amtliche „Turquie" mit einem Ar¬
tikel hervorgetreten, der den Entschluß des Sultans ausspricht, mit Aushebung
dieser Capitulationen vorzugehen, falls die berechtigten Mächte seinen Wün¬
schen kein Gehör leihen und nicht freiwillig auf dieselben verzichten. Da der
russische Gesandte General Janatjew einen längeren Urlaub genommen hat
und nach Odessa und Petersburg gereist ist, wird die Entscheidung sich wohl
noch längere Zeit hinziehen, auch wenn Frankreich die gleiche Willfährigkeit
zeigen sollte, wie Oestreich und England. Daß Rußland auf die fac¬
tisch zu einem Protektorat gewordene Gerichtsbarkeit seiner diplomatischen
Agenten im Orient verzichten sollte, ist bei der herrschenden Stimmung und
dem entschiedenen, durch die letzte Pariser Conferenz nur gesteigerten Türken¬
haß der einflußreichen Presse mehr wie unwahrscheinlich — selbst sür den Fall,
daß Preußen sich dem türkischen Vorschlage geneigt zeigen sollte. Ganz ab¬
gesehen von der praktischen Seite hat die Sache für Rußland eine hohe prin¬
cipielle Bedeutung; daß die in der Türkei lebenden Unterthanen des recht¬
gläubigen Zaaren von den Gerichten der Moslem unabhängig sind, bedeutet
dem gemeinen Russen eine Art von Nichtanerkennung der Herrschaft, welche
die Ungläubigen in dem Lande ausüben, das die Wiege des Christenthums
und der orientalischen Kirche war: ihre Unterordnung unter Diener des
Halbmonds würde wesentlich vom religiösen Gesichtspunkt aus beurtheilt und
als Verzicht auf das unveräußerliche Herrscherrecht des byzantinischen Kreuzes
aufgefaßt werden. Wie weit beide Theile mit der Aufrechterhaltung ihrer
Ansprüche gehen werden, läßt sich natürlich nicht voraussehen; der entschlossene
Ton, zu welchem das officiöse türkische Organ sich hinaufgeschraubt hat, legt
den Gedanken nah, daß man mit der That weniger keck und energisch bei
der Hand sein werde.
In Rußland ist man auch in den letzten Wochen ausschließlich mit
inneren Angelegenheiten beschäftigt gewesen und unter diesen spielen die pro-
jectirten und in Angriff genommenen Eisenbahnbauten die Hauptrolle. An
Stelle des General Melnikow ist der Generaladjutant Gras Bobrinsky,
Mitglied einer der angesehensten und populärsten russischen Adelsfamilien,
zum Minister der öffentlichen Bauten und des Communicationswesens er-
nannt worden, eine Ernennung, die vielfach als Sieg der aristokratischen,
zugleich westeuropäisch gesinnten Partei über die Moskaner Panslavisten und
Demokraten angesehen worden ist, zumal eines der fanatischsten Organe der
Nationalpartei, das Slovophilen - Journal „Moskwa", nach monatelangem
Proceß vom Reichsrath unterdrückt worden ist. Um dieselbe Zeit war ein kai¬
serlicher Befehl erschienen, der den Verkauf der Staatsdomainen in den bal¬
tischen Provinzen zum Gegenstande hatte und für besonders wichtig galt,
weil er im Gegensatz zu den Tendenzen des Domainenministers Selenny
keine Zerstückelung der geschlossenen Bauernhöfe und keine Vertheilung der¬
selben unter die Knechte, sondern Erhaltung des bisherigen Wirthschafts-
systems anordnete; die gegenwärtigen Pachtinhaber der zu den Domainen
gehörigen Bauernhöfe erhielten das Recht, dieselben gegen normirte Preise
anzukaufen. Damit schien den Wünschen jener Partei die Spitze abgebrochen
worden zu sein, welche durch eine allgemeine Landvertheilung der nationalen
Theorie vor dem gleichen Anspruch Aller auf die Mutter Erde in Livland
Eingang zu verschaffen hoffte. Aber die Macht der Moskaner nationalen
ist darum nicht gebrochen und die Minister, welche für Gegner derselben
gelten, scheinen noch abhängiger von den Leitern der demokratischen Presse zu
sein, als deren Genossen. Die Russificirung in Litthauen und Polen nimmt
all' den schlechten bisher gemachten Erfahrungen zum Trotz ihren Fortgang
und den Ostseeprovinzen wird immer wieder mit Einführung russischen Unter¬
richts in ihre Gymnasien und Ablösung der Volksschule von der lutherischen
Kirche gedroht. Der von dem letzten livländischen Landtage gefaßte Be¬
schluß, um Aufhebung der strengen, die baltische Presse niederdrückenden Prä-
ventivcensur und Ausdehnung der für die Residenzen bestehenden Preßfreihett
auf die Ostseeprovinzen zu bitten, ist auf den entschiedenen Widerspruch des
Ministers des Innern gestoßen und von der Regierung abschläglich beantwortet
worden. In den Regierungskreisen ist sogar ernstlich davon die Rede, die
der Moskaner und Petersburger Presse im Jahre 1863 bewilligte Freiheit
möglichst einzuschränken, da das Verwarnungssystem sich als „ungenügend"
erwiesen habe. Ob man im Ernst wagen wird, die souveraine Freiheit der
allmächtigen Journalisten der Moskau'schen Zeitung anzutasten, ist übrigens
sehr zweifelhaft; die bisher gemachten Erfahrungen haben bewiesen, daß die¬
selben mächtiger sind, als alle ihre Gegner, und daß die höchste Staatsgewalt
es im entscheidenden Augenblick immer sür klüger gehalten hat, den Leitern
der öffentlichen Meinung nachzugeben, als einen offenen Bruch mit den Män¬
nern zu wagen, welche im Jahre 1863 den moralischen Einfluß des polnisch-
litthauischen Aufstandes zu brechen wußten. In einem unfreien Staat ist die
Freiheit der Presse gerade so gefährlich, wie sie in einem Rechtsstaat wohlthätig
und unentbehrlich ist —am gefährlichsten aber, wenn sie nicht für alle Organe
der öffentlichen Meinung besteht, sondern nur für diejenigen, welche die Re¬
gierung im Augenblick braucht. Unversehens werden die begünstigten Jour¬
nale zu Dictatoren, die, weil ihnen das natürliche Correctiv entgegenstehender
Meinungen fehlt, jeden Widerspruch für Verrath an der Würde und dem
Selbstbestimmungsrecht der Nation ansehen und die Regierung zu ihren
Parteizwecken ausbeuten, statt, wie die Absicht war, von ihr ausgebeutet zu
werden. Die russische Geschichte der letzten Jahre ist eigentlich nichts weiter
als eine Illustration zu Goethe's Zauberlehrling und läßt sich in das kurze
Wort zusammenfassen: „Man glaubt zu schieben und man wird geschoben."
Aus agrarischen Gebiet sieht es in der großen Monarchie des Ostens noch
immer traurig aus. Zweijährige Mißernten haben einen Theil der länd¬
lichen Bevölkerung in einen Nothstand gebracht, dessen Ende sich noch nicht
absehen läßt; gleichzeitig treten die unheilvollen Wirkungen des durch die
Legislation von 1861 um seine natürlichen Corrective gebrachten altrussischen
Agrarsystems immer deutlicher hervor und eine ganze Fluth nationalökonomi¬
scher Flugschriften sagt den vollständigen Bankerott der nordrussischen Land-
Wirthschaft voraus. Als vor Jahresfrist, wie die von einem Gliede der conserva-
tiven Partei herausgegebene Brochüre „Land und Freiheit" den Satz aufstellte, die
auf das Princip des Gemeindebesitzes begründete Parcellenwirthschast sei durch
die Aufhebung der Leibeigenschaft noch unheilvoller geworden, als sie von
jeher gewesen, hagelte es von wüthenden Entgegnungen der russischen Demo¬
kratie; heute liegt eine lange Reihe von Zeugnissen bekannter Demokraten
vor, welche die damals perhorreseirten Sätze bestätigen und die moralische
und wirthschaftliche Verkommenheit des russischen Landmannes zum Gegen¬
stande haben. — Natürlich steht diese Ungunst der wirthschaftlichen Zustände
mit den finanziellen Verlegenheiten des Staates im engsten Zusammenhange
und wenn Rußland immer wieder versichert, daß es nichts dringender als
die Erhaltung des Friedens wünsche, so ist das im Ernst gemeint, — eine
kriegerische Verwickelung würde den erschütterten Staatscredit an den Rand
des Abgrundes bringen. Schon aus diesem Grunde wird das Vorschreiten der
russischen Macht in Mittelasien von einem großen Theil der russischen Po¬
litiker eigentlich nur als ein nothwendiges Uebel, als eine Consequenz der
bisherigen Unternehmungen gegen die turkestanischen Chane angesehen, von
der man nicht mehr loskommen kann und des General v. Kaufmann vor
Kurzem gethaner Ausspruch, Rußland wünsche keine weiteren Eroberungen im
Osten, zählt in Rußland mehr Anhänger, als man glauben möchte.
In England, wo man noch vor Kurzem mit der Indien drohenden
russischen Gefahr lebhaft beschäftigt war, prävalirte während des letzten Mo¬
nats die Besorgniß vor einem Conflict im Westen. Reverdy Johnson's Ab¬
berufung und die leidenschaftliche Rede des Senators Summer drohten die
Alabama-Affaire zu einem easus dslli zwischen Großbritannien und der nord¬
amerikanischen Union zu machen und ängstliche Gemüther sagten bereits vor¬
aus, Amerikas Bruch mit England werde dem Kaiser Napoleon die er¬
wünschte Gelegenheit bieten, seine frei gewordenen Hände gegen Deutschland
zu brauchen. Diese Prophezeiung hat sich nach keiner Seite erfüllt und ob¬
gleich der Alabama-Conflict noch immer nicht gelöst ist, nimmt man an, der
überstürzende Eifer der Republikaner des Westens habe sein bestes Theil in
zornigen Worten ausgegeben und werde im entscheidenden Augenblick ver¬
nünftiger Abwägung der Interessen, welche für beide Theile auf dem Spiel
stehen, um so zugänglicher sein, — In England spielt die vor der Thür stehende
Entscheidung über die irische Staatskirche eine zu große Rolle, als daß sie
vor den Gedanken an eine immerhin entfernte Kriegsmöglichkeit dauernd in
den Hintergrund treten könnte und nachdem der erste Eindruck der Summer'-
schen Kriegsreden vorübergegangen ist, hat man sich den inneren Fragen
wiederum mit ungelenker Aufmerksamkeit zugewandt. Daß die Gladstone'-
sche Bill im Hause der Gemeinen auf keine weiteren Schwierigkeiten stoßen
werde, gilt für ausgemacht und die Tage, in denen der kirchliche Eifer der
Lords dem ausgesprochenen Volkswillen in den Weg zu treten wagte, sind
vorüber. Daß eine Maßregel, deren Nothwendigkeit schon vor fünfzig Jahren
von dem größten Theil der Liberalen anerkannt wurde, erst in der zweiten
Hälfte des 19. Jahrhunderts zur Ausführung kommt, daran ist die irländi¬
sche Petulanz und Unmündigkeit entschieden noch mehr schuld, als die vor-
urtheilsvolle und hochmüthige Schwerfälligkeit der Briten. Der vielbe¬
sprochene Vorfall mit O'Sullivan, dem Bürgermeister Corks, hat aufs Neue
dargethan, wie wenig die Söhne der grünen Insel es verstehen, sich bei
dem herrschenden Stamme Achtung und Respect zu erwerben. Daß der
erste Vertreter eines großen städtischen Gemeinwesens den Zeitpunkt, in
welchem seinem Vaterlande die größte Rechtswohlthat erkämpft werden
soll, dazu auswählt, den politischen Meuchelmord und die verbrecherische
Thorheit der Fenier zu verherrlichen, ist an und für sich beispiellos und stellt den
loyalen Sinn Alt-Englands auf die härteste der in diesem Lande überhaupt
denkbaren Proben. Und in dem Augenblick, wo er für sein Wort männlich
einstehen soll, kriecht derselbe Mann, der vorher als Repräsentant irischen
Unabhängigkeitssinns gefeiert wurde, furchtsam zu Kreuze, die Gegner der
Gleichberechtigung seiner Landsleute erhalten reichliche Gelegenheit, über die
unverbesserliche Jungenhaftigkeit der irischen Art zu klagen und die Vergeb¬
lichkeit aller Aussöhnungsversuche mit einem Volk zu behaupten, das sich selbst
zur Unmündigkeit und Unfreiheit verurtheilt habe. Dasselbe Stück hat im
19. Jahrhundert eben so oft gespielt, wie im 18. und daß seine Zeugen nicht
die Geduld verloren haben, wäre unerklärlich, wenn wir nicht wüßten, daß
sie sich als Mitschuldige fühlen müssen.
Ziemlich gleichzeitig mit dem diesjährigen englischen Parlament war die
Versammlung der spanischen Cortes zusammengetreten. Derselbe Zeitraum,
den das mir dem Gebrauch parlamentarischer Freiheit am genausten bekannte
Volk nöthig gehabt hat, um ein Budget aufzustellen und ein großes neues
Gesetz fertig zu bringen, hat den Spaniern genügt eine ganze Verfassung zu
Stande zu bringen, eine Verfassung, die der zurückgebliebensten aller romani¬
schen Nationen ausgedehnte Freiheit, dem Könige, der erst gefunden werden
soll, die Möglichkeit einer geordneten Regierung sichern soll. Die Sache der
Freiheit und des Constitutionalismus wäre vielleicht besser gefahren, wenn
man die Republik, zu der ein großer Theil der Bevölkerung noch immer
drängt, durch eine kurze praktische Erfahrung abgethan hätte, bevor man sich
für die beschränkte Monarchie entschied — die Demokratie wär» mindestens
um eine Illusion ärmer, der Weg. der die Spanier zu Ruhe, Ordnung und
Bildung führen soll, vielleicht ein kürzerer geworden. Denn daß die mühsam
gerettete monarchische Sache bereits den Keim des Verderbens, alle Symptome
eines unaufhaltsamen Bürgerkrieges in sich trägt, das bestätigt jede neue
Woche spanischer Freiheit. Der Rücktritt des Colonialministers Lopez de Aval«,
der sich durch eine gegen die Republik gehaltene Rede unmöglich gemacht hat,
ist allein ein unwidersprechlicher Beleg dafür, daß der Erfolg der Monarchisten
ein Pyrrhussieg gewesen ist, und daß dieselben die bevorstehende Reihe liberaler
Parteibankerotte in Spanien eröffnen werden. Eine mühsam zu Stande ge-
brachte monarchische Constitution zunächst in die Hände einer Regentschaft
legen, ist an und für sich ein wunderliches Experiment, am wunderlichsten,
wo dieser Regentschaft der Auftrag ertheilt wird ihre eigene Todtengräberin
zu sein und ihren Erben ausfindig zu machen- Die nächste Folge wird sein,
daß die in das Cabinet berufenen Führer der monarchischen Partei sich in
kürzester Frist abnutzen, und daß der Mann, der zur Rolle eines .Königs
der Wälder" (die Städte sind, nach Orenses bekanntem Ausspruch, sammt und
sonders so entschieden republikanisch gesinnt, daß für den künftigen Beherrscher
der Spanier nur die Wälder übrig bleiben) Lust hat, seine Minister nicht
unter den Anhängern, sondern unter den Gegnern der constitutionellen
Monarchie suchen muß. Von den Männern, welche bisher die Regierung
führten und Serrano in seinem Kampf gegen die Republik zur Seite standen,
ist ein beträchtlicher Theil bereits in den gefurchteren Schatten der Aemter-
losigkeit zurückgetreten, und wenn der künftige König der Spanier dereinst den
Einzug in sein Reich hält, ist Herr Prim vielleicht der einzige Repräsentant
der monarchisch-liberalen Sache, der noch nicht in die Rumpelkammer geworfen
ist, deren Thüren der fromme Wahn nur für die Jsabellinos geöffnet glaubte.
Während die spanische Krone noch immer des Königs harrt, der sie
aufzusetzen und zu tragen Muth und Neigung hat, werden die europäischen
Hauptstädte von einem Fürsten besucht, dem zwar Krone und Titel fehlen,
der . thatsächlich aber den mächtigsten souverainen angehört: der Vicekönig
von Aegypten hat Wien besucht, geht dieser Tage nach Berlin und von dort
nach Paris und London. Der Zweck dieser Reise ist in einer der letzten
Nummern dieses Blattes (vgl. Ur. 21. Aegypten und die Consulargerichts-
barkeit) berührt worden. Es handelt sich darum, die europäischen Großstaaten
mit Hülfe directen Appkls an ihre Fürsten zu dem Verzicht auf jene Capitu-
lationen zu bewegen, welche die Europäer von den ägyptischen Tribunalen
und Verwaltungsbehörden unabhängig machen und ihnen das Recht sichern,
einzig unter der Jurisdiction ihrer Consuln zu stehen. Wir haben bereits
erwähnt, daß der Sultan den europäischen Großmächten gegenüber ein ähn¬
liches Verlangen ausgesprochen hat, daß dasselbe aller Wahrscheinlichkeit nach
aber an dem Widerspruch Rußlands scheitern wird. Von den Mächten, mit
denen das ungleich niedriger stehende und wegen der Einheit seiner Be¬
völkerung sehr viel despotischer regierte Aegypten über diesen wichtigen Gegen¬
stand verhandelt, soll Frankreich, das zu Aegypten die nächsten und häufig¬
sten Beziehungen hat, den Wünschen des Vicekönigs bisher am unzugäng¬
lichsten und dadurch das Haupthinderniß für den Abschluß der mit den übrigen
Mächten angesponnenen Verhandlungen gewesen sein. Wirkönnen nur den Wunsch
wiederholen, daß Oestreich und Preußen, deren Höfe Ismael-Pascha zunächst aufge¬
sucht hat, dem von Frankreich gegebenen Beispiel nachfolgen und die ihnen gestellte
Zumuthung ablehnen. Außer den neulich von unserem Correspondenten an¬
geführten Bedenken kommt nämlich noch in Betracht, daß die politischen
Gründe, aus denen Oestreich und die Westmächte der Pforte die Aushebung
der Capitulationen in Aussicht gestellt haben, wenigstens im gegenwärtigen
Augenblick gegen das von Aegypten geforderte Zugestärldniß sprechen. Der
türkischen Regierung soll die Gerichtsbarkeit über die Fremden ertheilt wer¬
den, um ihr Ansehen im In- und Auslande zu heben, ihre Lebensfähigkeit,
an deren Erhaltung das europäische Gleichgewicht interessirt ist, zu stärken.
Aegypten gegenüber findet ein derartiges Interesse nicht statt, ja es würde eine
Herabsetzung der Pforte bedeuten, wenn man den Vicekönig von den durch die
Capitulationen gezogenen Schranken entbinden sollte, während dieselben für den
Padischah noch fortbestehen — dessen zu geschweige«, daß die europäischen
Türken nach dem einstimmigen Zeugniß aller Kenner orientalischer Zustände in
sittlicher und intellectueller Beziehung ungleich höher stehen, als die Aegypter.
Die in Rede stehende Angelegenheit hat für Oestreich und die Westmächte
ein ungleich größeres Interesse als für Preußen und Deutschland. Gerade
im gegenwärtigen Augenblick ist unsere Nation so lebhaft mit Fragen be-
schäftigt, welche sich auf ihre innere Entwickelung beziehen, daß begreiflich er¬
scheint, wenn ferner abliegende Dinge sie kaum oberflächlich berühren. Dies-
sen wie jenseit des Main haben die Maiwochen eine Reihe wichtiger und
folgenreicher Ereignisse gebracht. Während die Neuwahlen zu den bayrischen
Kammern die gesammte ultramontane Partei unrer die Waffen riefen und da¬
durch die Gegemätze so zuspitzten, daß nur die entschiedenen Richtungen zur Gel¬
tung kamen. Nationale und Clericale sich in die Deputirtensitze theilten und der
vermittelnden Partei ein ziemlich beschränktes Terrain übrig blieb, wurde
der peinliche Zwist, der den Zusammenhang zwischen der freisinnigen badischen
Regierung und der liberalen Partei dieses Landes aufzulösen gedroht hatte,
in befriedigender Weise ausgeglichen. Die dem Großherzog Friedrich über¬
reichte Adresse der Offenburger Versammlung giebt dem nationalen Gedanken
einen so kräftigen und freimüthigen Ausdruck, daß wir ein Recht haben, den
beim Beginn dieses Jahres ausgebrochenen Hader als vergessen und begraben
anzusehen. Der Name Offenburg, der eine Zeit lang ominös zu werden
drohte, wird uns künftig nur noch daran erinnern, daß die Liberalen Badens
Reife genug besaßen, sich im entscheidenden Augenblick auf ihr wahres In¬
teresse und ihre Pflicht zu besinnen. Gerade jetzt, wo die Gedanken an eine
Ueberschreitung der Mainlinie von dem nationalen Tagesprogramm völlig
abgesetzt erscheinen und sich niemand darüber Illusionen machen kann, daß von
dem nächsten Zollparlament im günstigsten Fall die Erledigung der nächsten
Geschäfte desselben zu erwarten ist, gerade im gegenwärtigen Augenblick wäre
es von niederschlagendster Wirkung gewesen, wenn der einzige feste Punkt,
den die deutsche Sache im Süden besitzt, verloren gegangen oder doch unfähig
geworden wäre, der clericalen Agitation, die sich einer Kette gleich vor unsere
südlichen Grenzen ziehen will. Widerstand zu leisten. Der Fortschrittspartei
in Bayern wird es vor Allem zu Gute kommen, daß sie sich in ihrem Kampf
gegen die arti-nationalen Mächte aus eine süddeutsche Regierung stützen
kann, die mit der Majorität ihres Volkes einig ist und auch dem tapferen
Häuflein unserer schwäbischen Gesinnungsgenossen muß es zu Ermuthigung
die.nen, daß die liberalen Elemente in Baden solidarisch mit den nationalen
verbunden geblieben, die großdeutschen Demokraten in die Nothwendigkeit
versetzt worden sind, ihr Wesen auf eigne Hand zu treiben oder sich durch
eine neue Alliance mit den Clericalen zu compromiitiren. — Als besonders er¬
freulich haben wir noch das Fiasco zu registriren, welches Herr v. d. Pfordten
mit seiner Kandidatur zum bayerischen Landtage machte. Seit dem Jahre
1866 ist diese Gattung von Politikern unmöglich geworden; die Gegensätze
haben sich zu entschieden abgeklärt, als daß der Deckmantel der Triasidee
noch im Stande wäre, die Blößen undeutscher Gesinnung zu verhüllen, welche
die Würzburger Staatsmänner sich gegeben. Der ungeheure Fortschritt, daß
es seit dem Prager Frieden nur noch „hie Wels" und „hie Waldung" heißt,
darf nicht mehr außer Händen gegeben werden; die Männer, welche sich im
Jahre der großen Entscheidung selbst begraben haben, dürfen nimmermehr aus
ihren Grüften geholt werden, um die Klarheit und Durchsichtigkeit der Gegen¬
sätze, um welche es sich heute handelt, zu verdunkeln und die Kampfplätze der
Zeit mit den Schattengebilden überlebter Schulweisheit zu verdunkeln.
Daß es jenseit des Main nur noch zwei Parteien giebt, welche in Betracht
kommen, ist auch für den Norden Deutschlands ein Gewinn, dessen Bedeutung
sich von Tag zu Tage deutlicher herausstellen wird. Hat es doch in den letzten
Wochen oft genug den Anschein gehabt, als könnten die im Schooße des Reichstags
ausgefochtenen Kämpfe die Stellung verwirren, welche die Führer der nationalen
Bewegung in Regierung und Parlament bisher zu einander einnahmen.
Von den drei Hauptfragen, welche die Thätigkeit der gegenwärtig ver¬
sammelten norddeutschen Reichsvertretung in Anspruch nahmen, der neuen
Gewerbeordnung, dem Waldeck'schen Antrag aus Einführung von Diäten
und den Steuervorlagen, stehen nur noch die letzteren auf der Tagesordnung.
Die Gewerbeordnung wird das Hauptresultat sein, welches die Volksver¬
treter von ihrer andauernden und mühsamen Arbeit nach Hause bringen,
aber sie ist in der That auch des Schweißes der Edlen werth gewesen und
wird ttefergreifende. die Volkswohlfahrt und Volksstimmung directer be¬
rührende Folgen haben, als irgend ein, im engeren Sinne des Worts politisches
Gesetz. Während die Particularisten noch bei Einbringung des vom Bundes¬
rath ausgearbeiteten Entwurfs höhnisch die Nase rümpfen, die Sachsen z. B.
geltend machen konnten, daß das neue Bundesgesetz einen Rückschritt gegen
ihre neue d. h. vor wenigen Jahren zu Stande gekommene Ordnung bilde, hat
der Reichstag seine bessernde Hand in so glücklicher und geschickter Weise ange¬
legt, daß all' diese Bedenken verstummt und die Bundesregierungen dennoch
genöthigt gewesen sind, die einschneidenden Abänderungen, welche aus den
Berathungen hervorgingen, zu genehmigen. Erst wenn das neue Gesetz ein¬
geführt und praktisch geworden ist, wird das groß? Publicum, das nicht
selten über die Langattimigkeit der bezüglichen Debatten klagte, die volle
Einsicht in die ungeheure Arbeit gewinnen, welche in den Paragraphen
dieses Gesetze« steckt, das von dem Reichstage mit bewunderungswürdiger
Ausdauer bis in die minutiösesten Einzelheiten geprüft worden ist. — Der
Antrag auf Einführung von Diäten, dem Waldecks Beredtiamkeit bei der
ersten Lesung eine Majorität zu erobern wußte, die den größten Theil der
nalionalliberalen Fraction unnaßte, ist bei der zweiten Lesung wieder durch-
gefaUen. Es ist das insofern ohne Belang, als an seine Annahme durch
den Bundesrath unter keinen Umständen zu denken war und andererseits der
Antragsteller angekündigt hat. diese Bill werde von ihm regelmäßig zu jeder Ses¬
sion wieder eingebracht werden. An der Ausdauer und Zähigkeit des greisen
demokratischen Parteiführers zu zweifeln haben wir keinen Grund und kein
Recht; aber daß die nationale Partei ein zweites Mal der Versuchung er¬
liegen werde, die Wiederaufrührung einer Frage zu unterstützen, die bei
der festen Position, welche der Bundesrath zu ihr eingenommen, eigentlich
nur die Bedeutung einer Concession an das liberale Vorurtheil und die
Schuldoctrin ist. — das können wir nicht glauben und nicht wünschen. Der
Auefall der letzten französischen Wahlen hat uns aufs Neue daran er¬
innert, was es mit dem allgemeinen Wahlrecht auf sich hat und die
Mittelparteien haben am wenigsten Grund, diese Warnung in den Wind
zu schlagen und der Neigung der Massen sür Extreme Vorschub zu leisten.
Wir räumen ein. daß die Diätenfrage für die allernächste Zukunft ohne
praktische Bedeutung wäre, aber niemand gibt uns ein Recht bei der Rück¬
sicht auf diese stehen zu bleiben. Je lebhafter die Theilnahme der Massen
für die politische Arbeit wird, desto wichtiger ist es. daß die parlamentarische
Thätigkeit nicht zum Gewerbe, nicht zum Nahrungszweige werde, auf
dessen relative Einträglichkeit der kleine Ehrgeiz eitler Literaten oder gar
arbeitsscheuer Demagogen speculirt. Und die Hauptbedeutung der Diäten-
losigkett liegt nicht einmal darin, daß gewisse Leute nicht in das Parlament
kommen, sondern daß die Verpflichtung zu politischer Arbeit in das Bewußt¬
sein und die Tradition der begünstigten Classen der Gesellschaft übergehe.
Unser parlamentarisches Leben ist noch zu jung, als daß uns bereits für den
Werth solcher vom Vater auf den Sohn übergehenden Tradition Erfahrungen
vorliegen könnten, aber was an uns ist, sollten wir thun, um dieselbe möglich
zumachen. Das geschieht aber am besten, wenn-die parlamentarische Thätigkeit
zum Ehrenamt, nicht zum Köder für den klein en Ehrgeiz wird, der in politischen
Versammlungen ebenso unberechtigt. — wie der große Ehrgeiz berechtigt ist.
Das Geschick der Steuervorlagen, mit denen Herr v. d. Heydt vor den
Reichstag trat, nachdem er durch seinen Widerspruch gegen den bekannten
Laster'schen Antrag selbst verschuldet, doch dem Finanzbedürfniß des Staats
nicht durch den Landtag die Mittel zur Befriedigung geschafft wurden —
das Geschick dieser Vorlagen ist noch nicht endgültig entschieden, aber daß
die Mehrzahl der Anträge, sür welche der preußische Finanzminister den nord¬
deutschen Bundeskanzler ins Feuer zu schicken wußte, zu Boden fällt, läßt
sich schon heule absehen. Wenn auch, wie es den Anschein hat. die Wechsel-
Stempelsteuer angenommen wird, so ist damit das Deficit nicht gedeckt und
dem Bundespräsidium bleibt nichts übrig, als sich wiederum in die königl.
preußische Staatsregierung zu verwandeln und mit dem Landtage in die
Verhandlungen zu treten, welche der Finanzminister noch vor wenigen Monaten
ablehnte. Vergeblich sind die Oificiöseii de>' „Kreuzzeitung" und der „Provinzial-
correspondenz" bemüht, alle Schuld auf die nationalliberale Partei zu wälzen
und mit einem Bruch zu drohen. Die Haltung der Conservativen hat die
Unfeiiigkeit der Denlschr>se v. d. Heydts indirect ebenso hart veruitheilt, wie
es durch die Reden und Abstimmungen der nationalen Feaciion ge'ehedem.
Wer die parlamentarische Geschichte cer letzten J'hre auch nur ihren Um¬
rissen nach, vecsolgt hat, der wird wissen, daß mindestens der eine Flügel
der nationalen Partei mit seiner Bereitwilligkeit, die Politik des Bundeskanzlers
zu unterstützen. bis an die äußerste Grenze des Möglichen gegangen ist. Daß
sich im vorliegenden Fall auch nicht eine Stimme aus dem Schooß derselben
für die Vorlage erhoben hat. die Vertheidigung derselben fast ausschließlich
von den Bundescommissarien geführt werden mußte, ist eine so vielsagende
Thatsache, daß sie füglich jedes Commentars entbehren kann. — Die für das
Zollparlament in Aussicht genommene Tabaksteuer wird der Partei, welche
heute sür das Ungeschick der Finanzverwaltung verantwortlich gemacht wird,
Gelegenheit zu dem Beweise geben, daß sie volle Einsicht in die Nothwendig¬
keit gehabt, Deckung zu schaffen, und einem chronischen Deficit vorzubeugen.
Der Termin für den Zusammentritt des Zollparlaments ist noch nicht fest¬
gesetzt; wahrscheinlich wird er mit dem sür den Schluß des Reichstages zu¬
sammenfallen, so daß die zweite Hälfte des Junimonats unsern Volksvertretern
die verdienten Ferien bringt. Ob diese Ferien auch für die Diplomatie gelten
werden, ist seit den Gerüchten, die seit den letzten Tagen in der Lust schwirren
und von einer Wiederaufnahme der Nord-Schleswig'schen Frage reden, wieder
zweifelhaft geworden. Wir sind es nachgerade zu gewohnt geworden, am
politischen Himmel Wolken aufsteigen zu sehen, als daß die Signalisirung
derselben noch besondern Eindruck machen könnte. Das ton^jours ein veciettö
ist seit 1866 unser Wahlspruch geworden, und wird es bleiben, bis wir mit
Frankreich auf die eine over die andere Weise abgerechnet und damit zugleich
die süddeutsche Frage entschieden haben.
Die neue Partiturausgabe der Opern Mozart's. Bd. 1—3. Leipzig
bei Breitkopf u. Härtel.
Dr. L. Ritter von Köchel, der Verfasser eines schätzbaren chronologisch-thema-
dischen Verzeichnisses sämmtlicher Kompositionen Mozart's, zählt 23 dramatische
Werke dieses Meisters auf. Darunter gereiht befinden sich eine Balletmusik zu
Idomeneo und die Musik zu dem Schauspiele: König Thamos. Nach Ab¬
zug dieser zwei Nummern bleiben also noch 21 Opern übrig, die Mozart mit Aus¬
nahme von I^'och, äst Os-iro und I^o Lxoso äeluso, beide nur im Entwurf
oder in flüchtigen Skizzen vorhanden, und des geistlichen Singspiels: Die Schuldig¬
keit des ersten Gebots, wovon er nur den ersten Act componirte (den zwei¬
ten componirte I. M. Haydn, den dritten A. K. Adlgasser), vollständig hinterließ.
Mit diesem letztgenannten Werke eröffnete im März 1766 der zehnjährige Wunder¬
knabe seine ruhmvolle Laufbahn als Operncomponist, die er nach 25 Jahren, im
Herbst des Jahres 1791, kurze Zeit vor seinem Tode, mit der Festoper Titus
allzufrüh wieder beschloß.
Ueber unsern deutschen Operncomponisten schwebt ein eigenthümliches Verhäng-
niß. Nur wenige glückliche Tonsetzer konnten die Partituren ihrer Opern durch den
Druck veröffentlichen. Während z. B. in Frankreich fast sämmtliche Opern, die ein¬
mal zur Aufführung gelangten, in Partitur gedruckt erscheinen, also für die Nach¬
welt in authentischen Lesarten vorliegen, haben es die Opern unserer größten Meister
im günstigsten Falle zu einem gedruckten Clavierauszuge gebracht. Die Original¬
partituren blieben allen Entstellungen und Fälschungen abschriftlicher Weiterverbrei¬
tungen ausgesetzt. Sollte man es glauben, daß keine Oper von Reichardt, Spohr,
Marschner, Lachner, Lortzing und wie unsere bedeutenden Operncomponisten alle
heißen mögen, in Partitur gedruckt erschienen? Daß von Weber's Opern nur
die eine: „Der Freischütz", in einer von einer fehlerhaften Abschrift durch nichts unter¬
schiedenen Partitur edirt wurde? Haydn, Mozart und Beethoven*) hatten aller¬
dings den Erfolg, daß wenigstens bald nach ihrem Tode die hervorragenderen unter
ihren dramatischen Arbeiten in Partitur veröffentlicht wurden, so von ersterem das
Fragment Orteo et DuricliLö, vom anderen die sieben bedeutendsten Opern, vom
letzteren der Fidelio. Die Herausgabe dieser Werke erlebte, wie gesagt, keiner der
Meister. Die beiden unternehmendsten deutschen Verlagshandlungen Breitkopf und
Härtel in Leipzig und Simrock in Bonn theilten sich, nachdem der Ruhm der ge¬
nannten drei Namen bereits die Welt erfüllt hatte, endlich in die Tilgung der
Ehrenschuld. Aber selbst nachdem dies geschehen war, waren immer noch keine kri¬
tischen Ausgaben erreicht worden. Man hatte den nun veröffentlichten Partituren
nicht einmal immer die Originalmanuscripte zu Grunde gelegt. Zahlreiche Fehler,
Entstellungen durch Zusätze und Auslassungen und anderweitige Mängel waren an
den endlich ans Licht getretenen Werken noch immer zu beklagen. Seit neuester
Zeit erst hat man sich aufgerafft und Ausgaben hergestellt, welche die Schöpfungen
unserer großen Tonsetzer in würdiger und, was Correctheit und Ausstattung an¬
langt, kaum mehr zu übertreffender Vollendung darbieten. Wir erinnern hier nur an
die completen Ausgaben der Werke von Bach, Händel und Beethoven. Alle diese
Unternehmungen gingen von der Verlagshandlung Breitkopf und Härtel in Leipzig
aus und hat sich dieselbe durch sie ein unvergängliches Verdienst erworben. Sie ist
es nun auch, welche in jüngster Zeit die Partituren der großen Opern Mozarts
in entsprechender Form zu ediren begonnen hat.
Die Jugendarbeiten des Meisters: Die Schuldigkeit des ersten und
fürnehmsten Gebotes (1766). Apollo se Ilz^ointlius (Lat. Komödie in
1 Act. Frühjahr 1767). Lastlso et Lastienue (Deutsche Operette in 1 Act.
Wien 1768), !.->, links, soinxlioe (Opera I>ut7a in 3 Acten. Wien 1768),
NitriSats (Oper in 3 Acten. Mailand 1770), ^.seanio in ^Idg, (Theatr.
Serenade in 2 Acten. Mail. 1771), II 3ogno al Soipione (Dram. Serenade
in 1 Act. Salzb. 1772) und I^uoio Litla (vramma p. Zlusiea in 3 Acten.
Mail. 1772) sind nie veröffentlicht worden. Die betreffenden Autographen, rheils
verloren, theils unter die Andrö'schen Erben vertheilt und von diesen zu hohen
Preisen ausgeboten und wahrscheinlich auch veräußert, dürften schwer wieder zusam¬
men zu bringen sein. Abschriften einzelner finden sich in Wien und in Paris. Es
ist kaum zu hoffen, daß diese acht ersten Opern Mozarts je veröffentlicht werden.
Da es nicht denkbar ist, daß die Verleger mit einem derartigen Unternehmen ein
Geschäft machen, bleibt der Bildungsgang des größten musikalisch-dramatischen
Genies für immer der Forschung entzogen.
Von nun an gestaltet sich die Sache jedoch günstiger. Wir besitzen wenigstens
gedruckte Clavierauszüge von I^a tinta Ziaräinisi-a (by. duÜÄ in 3 Acten.
Salzb. u. München 1774), von der Musik zu Gehler's heroischen Drama: THa¬
mas, König von Aegypten (Chöre und Zwischenacte. 1780) und den beiden Frag¬
menten: 1,'Ooa ack tüairo (0x. Kul7g, in 2 Acten. Salzb. 1783) und Lvoso
äeluso, ossia I^a rivalita al dro pours xsr no solo ^nante (0v. dukkg,
in 2 Acten. Salzb. 1783). Noch günstiger erweist sich das Geschick der beiden
Opern: II tlo xastors (dran. Cantate in 2 Acten. Salzb. 1775) und ^alas
(Op. in 2 Acten. Salzb. 1780), welche erstere bei Breitkopf und Härtel, letztere
bei I. Andre in Partitur erschienen sind. Mit dem Jahre 1780 beginnt die Reihe
der sogenannten großen oder vielmehr der bekannt gewordenen Opern Mozarts und
damit auch die neue, hier in Rede stehende Ausgabe.
Schicken wir nun.voraus, daß dieselbe mit dem feinen Geschmacke, der alle
Breitkopf und Härtelschen Editionen auszeichnet, und mit allen den diesem Hause
zu Gebote stehenden Mitteln ausgestattet erscheint; daß man jedem Werke das Ori-
ginalmanuscript zu Grunde legte und daß die musikalische Redaction Dr. I. Rietz
in Dresden, die Revision des Textes und die häufig sehr nöthigen Aenderungen
in der Uebersetzung K. Niese in Dresden übernommen hat, so ist dadurch schon
so viel Vertrauenerweckendes gesagt, daß wir getrost zur ferneren Besprechung weiter
gehen können. Zum ersten Male erschienen also Mozarts Opern, seine größten
und meisterhaftesten Schöpfungen, die Tausende von Aufführungen hinter sich haben,
in einer kritischen, zuverlässigen und würdigen Gestalt. Bis jetzt liegen drei Opern
vor: läoinsllso (ox. seria in 3 Acten. Salzburg u. München 1787), Die Ent¬
führung aus dem Serail (Kom. Singspiel in 3 Acten. Wien 1782) und Der
Schauspieldirector (Komödie mit Musik in 1 Act. Wien 1766). Die fünf
noch restirenden Opern sind, nach der Versicherung der Verlagshandlung, in ihrer
Vorbereitung so weit vorgeschritten, daß ihr Erscheinen in bestimmten Zeiträumen
gesichert ist. Man muß die trefflichen Vorreden des Herausgebers (Rietz) lesen, um
zu erkennen, welche Arbeiten und Hindernisse zu überwinden, welche Restitutionen
vorzunehmen waren, ehe an einen Druck gedacht werden konnte, wie unendlich
aber auch Mozarts Meisterwerke in ihrer geklärten Gestalt gewonnen haben. In
der That erscheint jedem Freunde der Kunst in dieser Ausgabe eine Quelle des
reinsten und edelsten Genusses erschlossen. Obwohl Mozarts Autographen mit einer
bewundernswürdigen Sorgfalt geschrieben sind, haben sich in seine im allgemeinen
Gebrauch befindlichen Opernpartituren doch die unglaublichsten Vernachlässigungen
und Fälschungen eingedrängt. Sie wimmeln von Fehlern und Willkürlichkeiten.
Leichtfertige Copisten und geschmacklose Kapellmeister haben Hand an sie gelegt,
haben, was ihnen persönlich mißfiel, geändert, kühne Harmoniefolgen vereinfacht, die
Jnstrumeniirung modernisirt, Tacte eingeschoben oder weggestrichen, die Folge der
Tonstücke verstellt, Vortragszeichen, Ausschmückungen, Stricharten in unglaublicher
Weise corrumpirt und so aufs Gewissenloseste die Schöpfungen des Meisters ver¬
dorben. Und in solcher Gestalt traten diese nun seit Jahrzehnten täglich vor das
Publicum. Zwar ist ihr innerer Gehalt so groß, daß sie selbst in ihrer Entstellung
noch Meisterwerke bleiben; aber Jedermann wird zugeben, daß ihre Restauration
weitaus höhere, reinere Genüsse fortan verspricht.
Die Verlagshandlung vollzieht durch die neue Ausgabe einen rühmenswerthen
Pietätsact. Möchten nun auch unsere Bühnen die dargebotene Gabe entsprechend
benutzen und so zur Neubelebung des Meisters beitragen.
Vergleicht man die Lage der Tonsetzer und Schriftsteller bezüglich der Gelegen¬
heit, ihre Werke in einer entsprechenden Gestalt unter das Publicum zu bringen,
so wird man zugestehen, daß erstere in bedauernswerther Weise hinter letzteren zurück¬
stehen. Während wir von jedem Schriftsteller irgend welcher Bedeutung Gesammt-
ausgaben haben, die wenigstens billigen Anforderungen entsprechen, besitzen wir erst
die Werke eines Tonmeisters, Beethoven's, in einer solchen vollständigen Aus¬
gabe; leider müssen wir hier hinzufügen, soweit sie noch vorhanden find. Auch von
Beethoven's Kompositionen gingen manche verloren, während andere der musikali¬
schen Welt von engherzigen Autographensammlern hinter Schloß und Riegel vor¬
enthalten werden. Zwei andere unserer größten Musiker, Bach und Händel, wer¬
den durch die von ihren Werken hundert Jahre nach ihrem Tode endlich begonnenen
Gesammtausgaben der Welt eigentlich erst bekannt. Auch bei ihnen sind zahlreiche
und unersetzliche Verluste zu beklagen. Noch weniger begünstigt als sie sind Mo¬
zart und Haydn. Von den Schöpfungen beider ist sehr vieles nie edirt worden.
Es ist kaum glaublich, daß ein großer Theil der Werke dieser bevorzugten Lieblinge
des musikalischen Publicums bis heute verborgen und verschollen bleiben konnte, ab¬
gesehen von dem, was vernichtet und verloren wurde. Wird für Mozart und
Haydn nicht auch die Zeit einer Gesammtausgabe kommen? So sehr wir es wün¬
schen, so wenig wagen wir es zu hoffen. Die Musik ist nicht nur die jüngste unter
unseren Künsten, sie ist auch trotz Allem, was man von ihren Wirkungen und ihrem
Einfluß sagen mag, doch die schwerverständlichste und leichtentbehrlichste unter ihren
'Schwestern. Es gehört eine geistige Reife dazu, ihre Schönheiten ganz zu erfassen,
zu durchdringen, zu begreifen, die selbst in unseren Tagen immer nur wenigen Aus¬
erwählten nachzurühmen ist. Tausende kaufen ein Buch, ehe sie sich zu einer
Ausgabe für ein Notenheft entschließen. Tausende sind leidenschaftliche Theater¬
freunde, die nie einen Concertsaal besuchen. Tausende von gebildeten, klarsehenden,
verständigen Personen, besonders aus dem wohlhabenderen Mittelstande, die sich für
alle Erscheinungen auf dem Gebiete des Wissens und der Literatur interessiren,
nehmen nicht das geringste Interesse an der Musik. Es wird noch lange anstehen, bis
es anders und besser werden wird. Vielleicht kommt auch dann eine Zeit, welche
die bisher vergrabenen Schöpfungen Mozarts und Haydns und vieler anderer Meister
ans Licht zieht. Vergeht doch kaum ein Jahr, an dem nicht zur Freude der musi¬
kalischen -u,..l eines oder das andere Werk aus vergangenen Tagen der Vergessen¬
heit entrissen, aus seiner Verschollenheit befreit wird. — Einstweilen sei die allgemeinste
Aufmerksamkeit auf die neue Partiturausgabe Mozartscher Opern gelenkt. Möge
aus den Erfolgen, die sie haben wird und die sie so sehr verdient und aus der
Theilnahme, die sich ihr zuwendet, die Verlagsbuchhandlung sich ermuthigt sehen,
den Werken dieses größten deutschen Meisters auch auf anderen Gebieten in würdi¬
ger Gestalt den Weg in die Oeffentlichkeit zu bahnen. Indem wir mit diesem
Wunsche schließen, sei-noch den beiden Redacteuren, namentlich Herrn Dr. I. R i e ez,
wärmster Dank für ihre mühsame und einsichtige Arbeit gesagt. Auf die folgenden
Bände kommen wir gelegentlich zurück.
"'
Vor nicht langer Zeit versicherten einmal die Berliner „Volkszeitung" und
ein östreichischer General ziemlich mit derselben Emphase, daß Geschwornenge¬
richte sür politische Vergehen die Grundpfeiler jeder freien Verfassung seien, und
daß ein Staat mit solchem Grundpfeiler niemals untergehen könne. Natür¬
lich hatten beide dabei die östreichische cisleithanische Monarchie im Sinne,
welche fortan und bis auf weiteres auch dieses Stück von Liberalismus vor
uns voraus haben soll. Nur läßt sich ja gar nichts dagegen einwenden, wenn
unter den politischen Kindern und Gauklern über die bunte konstitutionelle
Fa^abe, mit deren Ausputz man in Wien beschäftigt ist, herzliche Freude
und viel Spectakel herrscht. Diese Coulisse gehört nun einmal zu der gegen¬
wärtigen Scene des Beust reclivivus, und sie wird mit dem nächsten
Scenewechsel bei Seite geschoben werden, uncie neMnt reclirs queluguam.
Man sollte sich doch aber zehnmal besinnen, ehe man uns zumuthet. in diesen
liberalen Dekorationsstücken mit den Herren in Wien zu rivalisiren. Wir
haben im norddeutschen Bunde und in Preußen mit der Grundlegung und
dem gesellschaftlichen Unterbau des deutschen Nationalstaats noch so viel saure
Arbeit, von der sich freilich die Rotteck-Welcker'schen Encyklopädisten nicht viel
träumen ließen, vor uns, daß wir das Spiel mit dem constiluiionellen
Flitterkram füglich unbeschäftigteren oder vielgeschäftigeren Leuten überlassen
können. Das alte liberale Postulat der politischen Geschwornengerichte, das
in der jüngsten Landtagssession von dem Abgeordneten Duncker wieder auf
die Tagesordnung zu bringen versucht wurde, ist überdies in seiner bisherigen
Formulirung für unser Recht, wie für unsere Politik ein durchaus unreifer,
ungesunder, trügerisch verderblicher Reformgedanke.
Die deutsche Jury ist mit dem deutschen Constitutionalismus eines Geistes
Kind; beide leiden an denselben Fehlern ihres Ursprungs, ihres Grund¬
charakters, ihrer äußeren Bildung. In der einen, wie in dem anderen findet
sich die gleiche illegitime Nachahmung unverstandener englischer Institutionen,
die gleiche Abfärbung der revolutionär-bonapartistischen Muster Frankreichs,
die gleiche mechanische Verbindung volkstümlicher Formen, sei es des Par¬
laments, sei es des Selfgovernments mit der unberührt gebliebenen Ord¬
nung des monarchischen Staatsabsolutismus. Wie unser Parlamentarismus
zusammenhangslos über unserem Verwaltungsrechte schwebt, so treibt sich
unser Geschwornengericht unstät in unserer Gerichtsverfassung umher. Alles,
was der englischen Jury als natürlicher Boden, reichliche Ergänzung und
Voraussetzung dient, das Friedensrichteramt, die Selbstverwaltung des Graf¬
schaftsverbandes, Privatklage und Anklagejury, die ständige Mitwirkung der
Gemeindegenossen im Civil- wie im Strafproceß, fehlt dem deutschen Ge¬
schwornengerichte vollständig, In der grundsätzlich auf überallhin verzweigten
staatlichen Gerichtshöfen und deren wissenschaftlicher Rechtsübung ruhenden
Civil- wie Strafproceßordnung fristet die deutsche Jury eine höchst kümmer¬
liche Scheinexistenz, als periodisch beliebtes populäres Dekorationsstück. Durch
eine Reihe ziemlich complicirter Verwaltungsoperationen und allerlei Filte¬
rungen werden von Zeit zu Zeit einige Bürger von den Staatsbehörden
dazu herangezogen, bei der Aburtheilung gewisser Kategorien von Verbrechen
als Vertreter volkstümlicher Rechtsüberzeugung eine gewisse Mitwirkung zu
üben. Wie diese Mitwirkung am Besten einzurichten, ohne die Interessen
der staatlichen Strafrechtspflege zu gefährden, darüber haben wir dann ver¬
schiedene „Systeme" in der Theorie, und vielerlei Experimente in der legis¬
lativen Praxis durchgemacht. Allen aber ist gemeinsam, an der unumstö߬
lichen Voraussetzung festzuhalten, daß die Jury eine absonderliche, exceptio¬
nelle Einrichtung für die Hauptverhandlung auserlesener Criminalfälle
sei und bleiben müsse, ein künstliches Anhängsel der ordentlichen Gerichts¬
barkeit. Die jüngsten strafprocessualischen Elaborate Preußens, Sachsens,
Oestreichs stehen darin vollkommen auf demselben Boden.
So ist es denn von vornherein verkehrt, statt von unten zu arbeiten, an
der Fundamentirung der deutschen Jury, ihre organischen Grundlagen zu
kräftigen und zu erweitern, den Grundsatz der Ueoertragung richterlicher
Funktionen auf die Gemeindegenossen in vollster Entwickelung zum leitenden
der gesammten Gerichtsverfassung zu erheben—statt alles dessen in weiterer
Zuspitzung unseres SchwurgerichiSapparats nur auf die Uebertragung noch
einiger neuer Kategorien von Delieten auf diese künstliche Spitze zu sinnen.
Dadurch werden die Uebelstände eines verfehlten Instituts nur weiter ver¬
pflanzt, die Gerichtsverfassung durch Vermehrung der im Verfahren privile-
girten strafbaren Handlungen noch unförmlicher gestaltet und die Gewöhnung
des Volks, in dem etwa alle zwei Jahre einmal wiederkehrenden Zuhören
und Abstimmen bei irgend einem interessanten Criminalfall das Wesen volks-
thümlicher Rechtsübung zu erblicken, nur befestigt.
Und was ist das nun für eine verschwommene neue Kategorie, die der
„politischen" Verbrechen und Vergehen! Es ist ganz erfreulich, wie sehr uns
von den Vätern her noch die theologische Auffassung vom Staate im Blute
steckt, und wie viel mystische Bedeutung wir in.das Wort „politisch" hinein-
zulegen wissen! Unter „politischen" Vergehungen lassen sich streng genommen
allerdings die gegen den Staat und seine Existenzbedingungen unmittelbar
gerichteten strafbaren Handlungen, also Hochverrath und Landesverrath, be¬
stimmt begreifen und begrenzen; diese würden als schwere Verbrechen schon
nach dem gemeingültigen System von heute den Schwurgerichten zufallen,
wenn sie ihnen nicht durch die napoleonische Erfindung der Staatsgerichts¬
höfe weggenommen wären. Das Verlangen, diese, wie alle Ausnahme¬
gerichtshöfe verschwinden zu sehen, ist unzweifelhaft im Wesen des Rechts¬
staats begründet; mit der Jury unmittelbar hat es nichts zu thun. Die
Staatsgerichtshöfe könnten fallen, ohne daß ihre bisherige Competenz gerade
der Jury zufielen, sie könnten bestehen bleiben sogar in Verbindung oder
Verquickung mit dem modernen Schwurgerichtsmechanismus. Ein erfindungs¬
reicher Gesetzgeber, wie sie im Königreich Sachsen zu Hause sein sollen, würde
uns unschwer auch einen Staatsschwurgerichtshof ausklügeln. Da überdies
in den letzten Jahrzehnten Hochverrathsprocesse nicht gerade zu den von der
Regierungsseite besonders beliebten und geübten politischen Verfolgungsarten
gehört haben, so wäre mit dieser engeren Kategorie der „politischen" Delicte
in jeder Beziehung wenig geholfen. Man sucht nach weiteren Grenzen und
verliert sich in den willkürlichsten Unterscheidungen. Bald möchte man alle
mittelst der Presse begangenen Verbrechen und Vergehen lediglich ihrer
Form halber als eminent politische Delicte begreifen, bald möchte man tiefer
hinabsteigen in die weite Materie der gemeinhin unter den Titeln „Wider¬
stand wider die Staatsgewalt" und „Vergehen wider die öffentliche Ord¬
nung" zusammengefaßten Delicte. Man befindet sich dabei nur in dem un¬
behaglichen Schwanken, ob man schon jeden Conflict mit einem Nachtwächter,
oder erst den in einer gewissen Zusammenrottung gegen staatliche Organe
höherer Ordnung verübten Angriff, ob man schon jede gemeine Verbalinjurie
gegen Staatsbeamte' oder erst Beleidigungen der Majestät und ihrer Minister
als sür das Schwurgericht qualificirte politische Thaten herausgreifen soll.
Tritt es nicht hierbei klar zu Tage, wieviel eigentlich politische Unreife in
dieser so genannten „politischen" Classification der strafbaren Handlungen steckt?
Ist es nicht unstreitbar, daß in irgend welcher anscheinend sehr unerheblichen
Untersuchung wegen einer Polizeiübertretung, daß bei allen denkbaren Amts¬
vergehen, daß in jedem die Hoheitsrechte des Staats berührenden Civilproceß
die vitalsten Lebensfragen der Verfassung unmittelbar zur Contestation und
politische Interessen von unendlich schwereren Gewicht alle Tage zur Ent¬
scheidung gelangen können, als sie gemeinhin unseren Preß-, Beleidigungs-
*
oder Aufruhrsprocessen anhaften? Es ist in Wahrheit das reine Spießbürger-
thum, das nur in den letzteren den politischen Reiz empfindet.
Aber wenn doch auch nur diese Art von politischem Kitzel darauf rechnen
könnte, durch die ersehnte Erweiterung der Schwurgerichtscompetenz wesent¬
lich befriedigt zu werden! Das Gegentheil ist mit Sicherheit vorauszusehen.
Die berufsmäßigen Vertreter der periodischen Presse und die Wortführer der
Wahl- und Bezirksvereine, die sich am stärksten für jenes Postulat erwärmen,
sollten es am besten wissen, daß erfahrungsmäßig fast alle politischen Tra-
casserien, denen sie ausgesetzt gewesen, die überwiegende Mehrzahl der Straf¬
verfolgungen, in denen sie vor den Staatsrichtern nicht Recht gefunden zu
haben glauben, sich ausschließlich um die Deutung eines Wortes oder einiger
Redewendungen gedreht haben. Nicht das stand der Regel nach in Frage,
was die Verfolgten gesagt oder geschrieben hatten, sondern lediglich die straf¬
bare Bedeutung der incriminirten Aeußerungen. Nun ruht ja bekanntlich
die verfassungsmäßige Stellung der Jury in England wie in Deutschland
auf dem Fundamentalprincip, daß die Geschwornen nur die quöstion ot tact,
die reine Thatfrage zu entscheiden haben, die Anwendung des Gesetzes auf
den festgestellten Fall aber unbedingt Sache des Richters sei. Ebenso be¬
kannt ist es in deutschen Landen, daß wir unter dem Vorgange der franzö-
silchen Juristen uns Jahrze-Hute hindurch alle erdenkliche Mühe gegeben
haben, die Trennung zwischen That- und Rechtsfrage möglichst scharfsinnig
zu reguliren, um durch weitgehendste Ausscheidung aller sogenannten Rechts¬
begriffe aus der Fragestellung die Geschworenen mit ihren Wahrsprüchen
thatsächlich recht trocken zu legen. Es müßte wirklich sonderbar zugehen,
wenn sich bei Übertragung der landläufigen „politischen" Vergehen auf die
Schwurgerichte, wie sie heute sind, nicht von unseren Juristen zur Ueberzeu¬
gung erweisen ließe, die Geschworenen hätten selbstverständlich nur zu ent¬
scheiden, was geschrieben oder gesprochen worden sei, nicht aber die criminelle
Strafbarkeit der Aeußerung. Vielleicht stellte man den Satz auch nicht so
kraß hin, wie ich eben gethan, und begnügte sich mit einer praktischen Casuistik,
die überall die einzelnen Paragraphen des Strafgesetzbuchs authentisch inter-
pretirte, was in ihnen als Rechrsbegriff der Auflösung in die Merkmale des
concreten Thalbestandes vor den Geschworenen bedürfe. Hier ist unendlicher
Spielraum für eine subtile Jurisprudenz. Wenn z. B. auf dem Gebiete der
Fälschung die Frage, was eine Urkunde sei, als Rechtsbegriff den Geschwo¬
renen entzogen worden ist, so würde dasselbe auf dem weiten Gebiet der
Ehrverletzungen mit- den Begriffen der „Beleidigung" und „Verleumdung"
zu deduciren sein. Vollends bei Anwendung derartiger Strafbestimmungen,
wie sie die berufenen §§- 100 und 101 des preußischen Strafgesetzbuchs ent¬
halten, würde sich das schönste Versuchsfeld sür die Methode dieser Schwur-
gerichts-Fragestellungen eröffnen. Wieviel Judicate und gelehrte Excurse
würden sich in Theorie und Praxis daran abquälen, die Begriffe „Gefähr¬
dung des öffentlichen Friedens", „Classe von Staatsangehörigen", „Einrich¬
tungen des Staates", „Anordnungen der Obrigkeit" in ihrer überwiegend
thatsächlichen oder rechtlichen Natur zu analysiren. Jene Entscheidungen des
Preußischen Obertribunals als Cassationshof, daß die „Kreuzzeitungspartei"
eine Classe von Staatsangehörigen darstelle, welche durch den §, 100, daß
„die Politik der Staatsregierung" der Inbegriff von allerlei Anordnungen der
Obrigkeit enthalte, welche durch §. 101. des Strafgesetzbuchs besonders vor
Verunglimpfungen geschützt seien, können schon einen kleinen Vorgeschmack
der hier möglichen juristischen Casuistik gewähren. — Nein! so lange wir in
der deutschen Gerichtsverfassung nicht vollständig gebrochen haben mit dem
ganzen bisherigen System der Fragestellung vor den Geschworenen, so lange
wir nicht vollständig gebrochen hoben in der deutschen Strafgesetzgebung mit
den bösen Geistern der bonapartistisch - französischen Criminalpolitik und dem
ganzen Wust jener monströsen polizeilichen Willkürparagraphen, welche die
Furcht vor der revolutionairen Gesinnung erfunden hat, wäre ^es Schade um
das ehrwürdige Institut der Jury, es ohne Noth und Nutzen den Frivoli¬
täten unserer politischen Processe preiszugeben.
Denn dadurch allein ist die Noth, wie der Nutzen schlechterdings nicht
zu erweisen, daß man auf die politische Abhängigkeit der Staatsanwaltschaft
und der Gerichtscommissionen von der Regierung oder Regierungspartei hin¬
weist, welche eine unparteiische Rechtspflege nicht gewährleisten. Die Schäden
unserer Justizorganisation liegen schreiend zu Tage, sie haben sich tiefer und
umfangreicher in den Staatskörper eingefressen, als es ihr oberflächliches
Hervortreten an den hier angedeuteten Stellen erkennen läßt. Gneist's vor¬
treffliche Schrift über die freie Advocatur hat sie noch unlängst auch den Un¬
eingeweihten blosgelegt. Nun kann es sehr wohl dahingestellt bleiben, ob
gerade das von Gneist in vielleicht zu potntirter Weise vorgeschlagene Mittel,
von der Seite der Advocatur aus dem Richterstande neue Kraft zu ver¬
leihen und die unnatürliche Herrschaft des Justizministeriums zu beseitigen, die
gehoffte Heilkraft ausüben würde. Unbestreitbar aber ist, daß wir in diesem,
wie in jedem Falle organischer Reformen der umfassendsten Art be¬
dürfen und daß unserer Justizorganisation platterdings gar nicht geholfen ist
durch Aufsetzen eines beliebigen bunten Lappens aus der Rumpelkammer des
vormärzlichen Liberalismus. Darauf läuft im Grunde die Verweisung der
Politischen Vergehen an die Schwurgerichte hinaus. Man läßt die Staats¬
anwaltschaft bestehen, wie sie ist, mit ihrer unbedingten Unterordnung unter
die Botmäßigkeit der Verwaltungschefs, ihrer bureaukratischen Gliederung
und ihrer sachlichen Präponderanz im Strafverfahren; man läßt die Gerichte
bestehen, wie sie sind, mit der ganzen bisherigen Patronage des Justizmini¬
steriums, dem ganzen Commissions- und Deputationswesen in den Collegien
und glaubt ernsthaft, durch die erweiterte Schein-Jury — denn einen besse¬
ren Namen verdient das deutsche Schwurgericht kaum — ein Bollwerk gegen
die Willkür in der Gerichtsverfassung aufgerichtet zu haben!
Die gewöhnlichen Dutzend-Reformer von heute pflegen freilich derarti¬
gen Gesichtspunkten gegenüber etwa folgendergestalt zu raisonniren. Das
Beste, sagen sie, sei ja meist der Feind des Guten; könne man nicht gleich
eine radicale Reform der Gerichtsverfassung und eine fundamentale Neu¬
begründung der Jury erreichen, so sei um deshalb doch das Verlangen nicht
zu mißachten, dem absoluten Staat ein wichtiges Stück seines alten Verfol¬
gungsapparates zu entringen und dasselbe durch Verweisung an die Ge¬
schworenen unschädlich zu machen; mindestens würde dadurch die Gefahr un¬
gerechter Verurtheilungen wegen angeblicher politischer Vergehen durch par¬
teiisch zusammengesetzte Gerichte aufs Erheblichste abgeschwächt. Dieselbe
ungesunde Vorstellung, in der Jury wesentlich und berufsmäßig ein Schutz¬
mittel gegen ungerechte Verurtheilungen zu erblicken, ihre Hauptaufgabe in
mannhaften Freisprechungen zu suchen, beherrschten die vormärzliche Literatur
ziemlich vollständig. Es läßt sich psychologisch gegen diese Betrachtungs¬
weise nicht viel sagen. Der deutsche Liberalismus ist so ausschließlich im
Kampfe mit dem absoluten Staat groß geworden, daß sein ganzes geistiges
Rüstzeug aus Kritik und Polemik zusammengesetzt ist, und all' seine Ideen
mehr von der Antithese, als von positiv schöpferischen Gedanken belebt sind.
Das Ideal eines liberalen Volksvertreters wird in gesinnungstüchtiger Oppo¬
sition gegen die Staatsregierung und in ausgedehntesten Veto gegen ihre
Maßnahmen gesucht, das eines Geschworenen in entsprechender Opposition
und Negation gegen die staatliche Gerichtsbarkeit. Dem Staate möglichst
wenig bieten an Geld- und verantwortlichen Ehrendiensten in Stadt und
Gemeinde, ihm aber möglichst viel zusetzen durch Dreinreden und unverant¬
wortliches Abstimmen, das ist ja noch immer zum besten Theil die Freiheit,
die des Deutschen Herz erfüllt. Aber wenn auch nur diesen kümmerlichen
und häßlichen Nothbehelf gegen parteiische Verurtheilungen in politischen
Processen das Schwurgericht in seiner bisherigen Gestalt darstellen könnte!
Wenn es nur nicht auch diesem Bedürfniß jede Befriedigung versagte!
Welche Gewähr bietet denn das heutige Schwurgericht dafür, daß die poli¬
tische Unabhängigkeit auf der Bank der Geschworenen den sicheren Platz ein-
nimmt, den sie aus der Richterbank nicht mehr finden soll? Dasselbe Gou¬
vernement, das einmal entschlossen ist, seine Gegner durch politische Verfol-
gnügen müde und matt zu Hetzen, dem man eine politische Corruption in Zu¬
sammensetzung der richterlichen Spruchcollegien zutraut, wird wahrlich nicht
davor zurückbeben, auch für politische Schwurgerichtsprocesse d>le Dienstliste
der Geschworenen so zu componiren, daß nur der Negierung angenehme und
ergebene Leute politisch wahrsprechen. Die Mittel dazu sind ihr durch un.
fere continentale Schwurgerichtsverfassung überall reichlich in die Hand ge¬
geben, und bei dem Mangel aller Organe des Selfgovernments besteht
nirgend ein organisches Hinderniß, diesen legitimen Einfluß der Regierung
zu beseitigen. So ist die nächste und gewisseste Konsequenz der Verweisung
der politischen Vergehen vor die Geschworenen nur der Anreiz zu einer wei¬
teren widerwärtigen Verfälschung des Instituts.
Geht man aber auch von der günstigsten Situation aus, in. welcher die
Regierung einen Einfluß auf die Zusammensetzung der Jury im gouverne-
mentalen Sinne nicht ausüben kann oder will — nun wohl! dann werden
die Geschwornen der Regel nach der politischen Majorität angehören, jeden¬
falls unter dem Einfluß der von der Majorität beherrschten öffentlichen
Meinung stehen. Dann werden die Anhänger der Majorität allerdings vor
jeder ungerechten, wie vor jeder gerechten Verurtheilung durch solche Ge¬
schworene geschützt sein, die Anhänger der Minorität aber ebenso sicher weder
auf Recht, noch auf Gnade zu rechnen haben. Unsere heutigen Geschworenen
können nach der Art ihrer willkürlichen Zusammensetzung und Wirksamkeit,
nach den populairen Strömungen des Tages, die, den ernsten nüchternen Auf¬
gaben des verantwortlichen Urtheilfindens feindlich, nur das Spiel politischer
Debatten und Abstimmungen in die Gerichtssäle hineinzutragen bemüht sind,
allenfalls politische Wohlfahrtsausschusse abgeben — oder die Caricatur von
solchen. Recht und Gerechtigkeit wird in diesen politischen Schwurgerichten
niemals zu Gericht sitzen, immer und grundsätzlich wird der politische Partei¬
geist in leidenschaftlicher oder gemäßigter Form, in unverhüllter oder mas-
kirter Gestalt über dem Ganzen thronen.
Die Jury in Deutschland endlich so zu begründen, daß sie sich als
organisches Glied mindestens in die gesamwte Strafgerichtsverfassung einreiht,
daß sie geschickt und fähig sei, in der Untersuchung aller Verbrechen und
Vergehen, seien sie politischer oder unpolitischer Natur, ihr volles Amt aus¬
zuüben, ist ein Ziel, das des ernstesten und wärmsten Strebens werth ist.
Dies große Ziel wird in die Ferne gerückt durch jenes trügerische Geschenk
der sogenannten politischen Processe, das man unseren Schwurgerichten <zun.nä-
mLwe in den Schooß werfen will. Hüten wir uns davor, muthwillig die
Nerven des Volks frühzeitig abzustumpfen an dem sinnlich aufreizenden Kitzel
politischer Gerichtsverhandlungen, seine Vorstellungen zu verwirren, Geschmack
und Willen für den mühevollen Dienst der echten deutschen Gemeindesreibeit
zu verderben! Nur zu bald würde dem Volke eingeredet und von ihm ge¬
glaubt werden, nunmehr sei der Höhepunkt volksthümlicher Gerichtsverfassung
erreicht, sei die Blüthezeit der Geschwornengerichte gekommen und was sonst
etwa noch fehle an wünschenswerthen Reformen, werde uns jetzt von selbst
in den Mund fliegen. Wer dabei allein und in letzter Instanz seine Rech¬
nung finden würde, wäre wahrlich nicht die Freiheit und nickt das Recht,
sondern der Cäsarismus und eine macchiavellistische Staatskunst. Deshalb
ist es besser, unsere Schwurgerichte bleiben in ihrem bescheidenen Wirkungs¬
kreise von heute, so lange wir ihnen nickt die kräftigen Grundlagen commu-
nalen Selfgovernments geben können. Müssen wir mit unserem Verwaltungs¬
recht warten, bis dieser ersehnte Zeitpunkt da ist, so können und müssen wir
es mit unserer Gerichtsverfassung auch.
Als im Jahre 1862 die Einführung des neuen Katechismus einen all¬
gemeinen Sturm des Unwillens im ganzen Lande hervorrief, der schließlich
den Sturz des Ministers Borries und die Zurücknahme der unseligen Katechis¬
musverordnung herbeiführte, versprach man sich im liberalen Lager große
Dinge von der jäh erweckten, aber nachhaltig andauernden Erkenntniß des
Volks. Nicht in den Städten allein, sondern auch auf dem flachen Lande
herrschte eine gewaltige Erregung, und allgemein war die Ueberzeugung, daß
es nöthig sei, gegen Wiederkehr solcher Ereignisse gesetzlichen Schutz zu er¬
langen und eine freiere Bewegung in das kirchliche Leben einzuführen, vor
Allem den Gemeinden die ihnen gebührende Mitwirkung in kirchlichen Dingen
zu sichern. Schon im folgenden Jahre mußte die Negierung dem ungestümen
Drängen nachgeben und den Erlaß einer Kirchen - Vorstands- und Synodal¬
ordnung zusagen und zur Berathung darüber eine sogenannte Vorsynode
zusammenberufen.
Kaum hatten je politische Wahlen so das allgemeinste Interesse in Anspruch
genommen, wie die Wahlen zu dieser Vorsynode es thaten, und wohl selten
ist eine constituirende Versammlung mit so freudigen Hoffnungen begrüßt
worden, wie diese Vorsynode. War es doch gelungen, sämmtliche bewährte
Vorkämpfer der liberalen Partei, die Bennigsen, Miquel, Wissen u. s. w. in
die Synode zu bringen, waren doch auch unter den Geistlichen die Ge¬
mäßigten überwiegend, war doch der vor Kurzem erst ins Amt getretene Cultus¬
minister Lichtenberg ein M>inn, welcher der allgemeinsten Achtung und des
größten persönlichen Vertrauens bei allen Parteien genoßI So begannen
die Verhandlungen, von der regsten Theilnahme des ganzen Landes begleitet,
und wenn auch mancher heiße Kampf ausgefochten wurde, so krönte doch
schließlich der glückliche Erfolg das Werk, daß das neue Gesetz in der Schlu߬
abstimmung von der Versammlung einstimmig angenommen wurde.
Eine gewisse freudige Ruhe kam in die Gemüther, welche des Haders
müde waren und reichen Segen für das kirchliche Gemeindeleben von dem
neuen Gesetz hofften. Ader dieses Gesetz bedürfte zunächst noch der Genehmi¬
gung der Stände, welche zwar ziemlich anstandslos erfolgte, indeß die Pu-
blicarion des Gesetzes in unerwünschter Weise aufhielt. Auch nachher zögerte
die Regierung, um die noch immer erregte kirchliche Bewegung erst zur völligen
Beruhigung gelangen zu lassen, mit der Publication und erst im October
1864 erfolgte dieselbe, bereits ziemlich unbeachtet.
Inzwischen hatte die orthodoxe Geistlichkeit die ihr gelassene Zeit gut
benutzt und sich bereits die nöthigen Hebel ausersehen, um der neuen Kirchen¬
vorstands- und Synodalordnung ihre Wirksamkeit zunehmen. Vieler Orten,
namentlich auf dem Lande, hatte die alte Indolenz so weit Platz gegriffen,
daß der Geistliche die Wahl der Kirchenvorsteher beherrschte. Wo aber noch
Unabhängigkeitssinn genug herrschte, um frei denkende Personen bei den
Wahlen durchzubringen, da protestirten die Geistlichen regelmäßig gegen die
Zulassung der Gewählten auf Grund von §. 13 des neuen Gesetzes, wonach
wädlbar nur diejenigen Personen sein sollen, „welche als ehrbare gottes-
fürchtige Männer ein gutes Gerücht in der Gemeinde haben, auch nicht
durch Fernhaltung vom öffentlichen Gottesdienste oder heiligen Abendmahl
die Bethätigung ihrer kirchlichen Gemeinschaft vernachlässigen." — Diese un¬
bestimmten und dehnbaren Worte wurden nach Kräften ausgenutzt. Wer
seit Jahresfrist nicht zum Abendmahl gegangen war. wurde vom Kirchen-
Vorstande ausgeschlossen; wer nur selten die Kirche besuchte, wer jemals
nach Auffassung der Orthodoxen gegen christliche Glaubenssätze verstoßende
Aeußerungen gethan hatte, wurde als nicht gottesfürchtig oder nickt ehrbar
von dem Posten zurückgewiesen, auf den ihn das Vertrauen seiner Gemeinde¬
genossen berufen. Uns sind der Fälle genug bekannt, wo über zum Kirchen-
Vorsteheramt gewählte hochangesehene Leute auf Anregung des Ortsgeistlichen
vollständige Glaubens- und Sittengerichte Seitens der zur Entscheidung zu¬
ständigen Consistorien gehalten wurden. Ohne Angabe von Gründen wurden
eine Menge Gewählter einfach für unfähig zur Bekleidung des Kirchenvor-
steheramts erklärt. Bei solcher Handhabung des Gesetzes, gegen die der
Einzelne völlig wehrlos war, scheuten sich bald die besten Elemente, den
Kampf mit der Geistlichkeit aufzunehmen und die Kirchenvorstände wurden
in den meisten Orten mehr oder minder gefügige Werkzeuge orthodoxer
Geistlichen.
Besonders traurige Folgen hatte die starre mehr auf den Buchstaben als
auf den Geist sehende Ausführung des Gesetzes in Ostfriesland. Hier lebten
von Alters her Lutheraner und Reformirte in bester Eintracht und in einer Art
factischer Union; beide Confessionen räumten sich gegenseitig volles kirchliches
Srimmrecht ein, während die Angehörigen beider auch die Ortskirchenlasten
gemeinsam trugen. Die hannoversche Regierung erklärte auf Grund der neuen,
ihrem Wortlaut nach allerdings nur für die lutherische Kirche berechneten
Kirchenvorstandsordnung, daß hinfort kein Resormirter mehr actives oder
passives Wahlrecht bei den Kirchenvorstandswahlen in den lutherischen
Gemeinden in Anspruch nehmen könne. Vergebens protestirten einstimmig
die Gemeinden, vergebens stellte das Auricher Consistorium die schweren Be¬
denken vor, welche ein solches Eingreifen in seit Jahrhunderten zur allge¬
meinen Befriedigung bestehende Zustände erwecken müsse, vergeblich nahm
sich die Provinziallandschaft der Sache an — der starre Sinn der herrschen¬
den Partei blieb für alle- Vorstellungen unzugänglich.
Bald zeigten sich die Cons>>auenzen. In vielen gemischten Gemeinden
wurde der bis dahin völlig schlafende confessionelle Gegensatz gewendet; die
Reformirten, welchen das Wahlrecht zum Kirchenvorstände entzogen war,
fingen an, auch die Zahlung der Beiträge zur lutherischen Ortskirche und
Schule zu weigern. Streitigkeiten, Processe, gegenseitige Erbitterung waren
die Folge. In anderen Gemeinden weigerten sich die Lutheraner zu wählen,
so lange nicht die reformirten Gemeindegenossen zur Betheiligung an der
Wahl zugelassen seien, namentlich geschah dies in den Kirchspielen, die ob¬
wohl der lutherischen Confession angehörig, doch zum überwiegenden Theil
von Reformirten bewohnt wurden. Es gab lutherische Gemeinden, in denen
Dreiviertel der Gemeindeglieder sich zur reformirten Confession bekannten.
Diese wurden nun plötzlich vom Wahlrecht ausgeschlossen, und mehrfach fand
sich unter der zurückbleibenden Zahl Lutheranern niemand, der zum Kirchen-
vorsteheramt geeignet war. Die Wahl mußte daher unterbleiben, und selbst
die Geistlichen beschwerten sich dann über die unkluge Maßregel, welche ihnen
die intelligentesten und am meisten kirchlich gesinnten Gemeindeglieder von
den kirchlichen Ehrenämtern ausichloß.— Das neue Gesetz bezog sich nur auf
die Kirchenvorstands- und Synodalwahlen, berührte aber die wichtigen Pre¬
digerwahlen mit keiner Silbe. In Ostfriesland, wo seit Alters her freies
Gemeindewahlrecht unter gegenseitiger Gleichberechtigung der evangelischen
Confessionen geherrscht hatte, blieb in dieser Beziehung natürlich Alles beim
Alten. Heute wählten nun die in der Mehrzahl befindlichen reformirten Ge-
meindeglieder anstandslos den lutherischen Ortsprediger; morgen wurden sie
von der Wahl eines Kirchenvorstehers als „Andersgläubige" ausgeschlossen. —
Aber solche geradezu lächerliche Widersprüche beirrten die streng lutherische
Partei in der Kirchenregierung nicht; die Zustände in Ostfriesland wurden
mit einem, bald zum „geflügelten Worte" werdenden geistreich sein sollenden
Ausdruck dahin gekennzeichnet, „sie ruhten weder auf Union, noch auf Kon¬
fession, sondern auf Confusion." Es wurde geradezu betont, es sei ein Segen,
daß der alte Confessionsfrieden einmal gründlich gestört und das nöthige
confessionelle Bewußtsein wieder scharf geweckt werde.
Es sind wenige Mißgriffe der hannoverschen Regierung begangen worden,
die das allgemeine Gefühl so verletzt und die Ostfriesen so gründlich verbittert
haben, wie diese leidige Entzündung des kirchlichen Haders in Bezug auf die
Kirchenvorstandswahlen. Und diese, namentlich auch durch den damaligen
Auricher Consistorialpräsidenten, späteren Minister Bacmeister besonders be¬
förderte altlutherische Agitation, die natürlich auch auf das Schulgebiet hinüber-
streifte, hat denn auch 1866 ihre Früchte getragen. Die reformirte Geist¬
lichkeit war es zuerst, die ihren Einfluß für Lostrennung von Hannover
aufbot und der preußischen Regierung entgegenjubelte, und auch unter der
lutherischen Geistlichkeit — mit Ausnahme der Hyperorthodoxen — herrschte
derselbe Geist; weigerten sich doch lutherische Geistliche schon lange vor der
Annexion, das Kirchengebet für König Georg zu sprechen!
Aber in Ostfriesland zeigte auch der oben angeführte §, 13, wie zwei¬
schneidig jede scharfe Waffe ist. Hier herrscht nämlich in enger Verbindung
mit der strengen Lehre der holländischen Reformirten von der sogenannten
Gnadenwahl, eine eigenthümlich ernste, ja düstre Auffassung des Abendmahls
und namentlich eine Scheu vor dessen unwürdigem Genusse. Es gibt eine
Menge Gemeinden, in denen im ganzen Jahre kaum zwei bis drei Personen
das Abendmahl nehmen; gerade die ernstesten und kirchlichsten Männer
können sich häufig — obwohl sie keinen Sonntag den Gottesdienst versäu¬
men und sonst in regster Weise kirchlichen Sinn bethätigen — erst auf dem
Todtenbett entschließen, das Abendmahl zu genießen. Damit hängt auch die
Sitte zusammen, daß die Konfirmation, welche sonst nach vollendetem 14ten
Lebensjahr Statt zu finden pflegt, hier meist erst in reiferem Alter erfolgt.
Gesuche an das Consistorium, behufs der Verheirathung von dem vorgängigen
Erforderniß der Confirmation dispensirt zu werden, sind in Ostfriesland etwas
ganz gewöhnliches. Ein Theil der ausgehobenen Soldaten ist regelmäßig
noch nicht confirmirt. Dies ist eben, wie gesagt, hauptsächlich eine Folge der
in der Volksanschauung begründeten tiefernsten Scheu vor dem Abendmahl. —
Nun wurde plötzlich als Bedingung des kirchlichen Wahlrechts regelmäßige
Betheiligung am Abendmahl gefordert, und die — in Hannover höchlichst
überraschende— Folge dieses Sicherheitsdammes gegen das Eindringen unchrist¬
licher Elemente in den Kirchenvorstand war die, daß fast alle wirklich ernst
kirchlichen Leute ausgeschlossen wurden und meist Personen gewählt werden
mußten, die zwar öfter zum Abendmahle gegangen, aber den Geistlichen
im Grunde weit weniger willkommen waren, als die durch das Gesetz als
unkirchlich ausgeschlossenen.
Hatte nach dieser Richtung hin Ostfriesland am meisten zu klagen, so
waren in den übrigen Landestheilen sonstige Beschwerden wider das Kirchen¬
regiment reichlich genug zu führen. Eine Anzahl Geistlicher hatte um dieselbe
Zeit, als der neue Katechismus zuerst eingeführt wurde, aus dem längst vergesse¬
nen Staube alter Kirchenordnungen eine Taufformel hervorgesucht, die dem
Zeitbewußtsein gradezu Hohn sprach, und wendeten sie trotz aller Proteste
regelmäßig an. Namentlich die den Taufzeugen zugemuthete Beantwortung der
Frage: Entsagst Du dem Teufel und allen seinen Werken? erregte überall An¬
stoß, und in der starken kirchlichen Bewegung des Jahres 1863 gelang es
endlich, ein Kirchengesetz durchzusetzen, durch welches die Geistlichen bestimmt
verpflichtet wurden, auf das Verlangen des Vaters eine allgemein gehal¬
tene angemessene Taufformel, die das Gesetz genau normirte, zu gebrauchen.
Diesem Gesetze nun fügten sich die orthodoxen lutherischen Geistlichen in vie¬
len Fällen nicht und die Kirchenregierung war schwach genug, den Trotz der
Geistlichen zu dulden. An vielen Orten wurde', um eben zu sehen, in wie
weit die absichtliche Auflehnung wider das Gesetz wohl geduldet Werden
würde, von einzelnen Eltern durch alle Instanzen hindurch verlangt, daß der
Ortsgeistliche die gesetzlich vorgeschriebene Tausformel zur Anwendung bringe.
Aber das Resultat war in allen Fällen dasselbe, es wurde stets entschieden:
„da der betreffende Geistliche sich durch sein Gewissen gedrungen fühle, die
Anwendung der gesetzlichen Formel abzulehnen, so könne man ihn nicht dazu
zwingen, übrigens müsse er natürlich die Vornahme der Taufe durch einen
anderen Geistlichen dulden, ohne dafür selbst Gebühren fordern zu können." —
Auf andern Gebieten des kirchlichen Lebens machte sich der geistliche Hochmuth
in gleicher Weise geltend. Ueberall wurde unter der Firma „Handhabung
der Kirchenzucht" ein anstößiges Sittengericht eingeführt. Wer zum Trau¬
altar treten wollte, mußte sich einem scharfen Examen unterziehen, ob die
Braut auch das Prädicat „Jungfrau" verdiene; selbst unbescholtene an¬
gesehene Bräute wurden von den Geistlichen mit plumpen Fragen in dieser
Richtung verhört. Wurden dagegen Versuche gemacht, Geistliche wegen gro¬
ber Beleidigungen gerichtlich zu belangen, so wurde die Zuständigkeit der
Gerichte bestritten und dem Geistlichen das Recht vindicirt. „als Seelsorger"
ernste Vorwürfe machen zu dürfen; die wala, nach der absichtlichen Beleioi-
gnug sei durch die Eigenschaft als Seelsorger schlechthin ausgeschlossen. Ge¬
lang es aber ja in einzelnen Fällen einmal, gegen einen Geistlichen eine ge¬
richtliche Verurtheilung zu einer namhaften Geldbuße zu erlangen — denn
Freiheitsstrafen wurden nie erkannt — so legte sich eine hohe Behörde ins
Mittel und half dem armen Verfolgten durch außerordentliche Remunera¬
tionen oder Versetzung auf eine bessere Stelle, oder auch wohl direct durch
Bezahlung der Geldbuße. Nur orthodoxe Geistliche erhielten gute Stellen,
namentlich die Superintendenturen.
Im liberalen Lager begann es bald wieder zu gähren und immer lauter
erschollen die Klagen. Vor Allem wurde die Ausführung der Synodal¬
ordnung verlangt. Durch diese wurden nämlich eine Anzahl nicht unwichti¬
ger Befugnisse den Synoden beigelegt, welche bis zu deren Zusammentritt
die Consistorien auszuüben hatten. Von den Synoden hoffte man Abhülfe
der meisten Beschwerden, namentlich sah man in diesen geeignete Organe,
um den allgemeinen Klagen den nöthigen Nachdruck zu verschaffen. — Aber
die Einberufung der Synoden war durch das Gesetz einer unter dem Namen
„Landeseonsistorium" neu zu errichtenden kirchlichen Centralbehörde über¬
wiesen, und diese Behörde war noch immer nicht errichtet, und zwar, wie
allgemein bekannt war, weil der König sich mit seinen Ministern nicht über
die Person des zu ernennenden Präsidenten einigen konnte, So kam das
Ende des Jahres 1865 heran und mit ihm fiel das Ministerium Hammerstein
und ein Ministerium Baemeister trat an seine Stelle, in welches als Cultus¬
minister'Herr von Hodenberg berufen wurde, ein junger Mann im Anfange
der dreißiger Jahre, bis dahin nur als Ultra-Aristokrat, Hyper-Orthodoxer
Und leidenschaftlicher Verfechter der Zunftrechte bekannt.
Natürlich wurden die Zügel der Kirchenverwaltung fortan noch schärfer
angezogen. In Ostfriesland wurde, um nur ja den confessionellen Gegensatz
recht scharf zu machen, als erste Amtshandlung des neuen Ministers der er¬
ledigte Posten eines reformirten Generalsuperintendenten und Conststorial-
raths dem Vorkämpfer der schroffen Reformirten, dem jungen Pastor Bartels
Zu Emden übertragen, der den Gedanken einer gänzlichen Trennung von
dem mit den Lutheranern gemeinsamen paritätischen Consistorium und Ver¬
bindung mit den Bentheimer Reformirten zu einem Synodalverbande an¬
geregt hatte. Bald darauf wurde die Einrichtung eines Landesconsistoriums
angeordnet, dem eine außerordentlich weitgehende Competenz beigelegt wurde,
so daß es in allen inneren Angelegenheiten völlig unabhängig vom Cultus¬
ministerium zu entscheiden haben sollte. — Die Ernennung der Mitglieder
desselben erfolgte erst später, zugleich mit der Anordnung, daß die neue Be¬
hörde vom 18. Juni ihre Wirksamkeit zu beginnen habe. Es wurde zum
Präsidenten der frühere Cultusminister Lichtenverg ernannt, der von Jahr zu
Jahr immer mehr der orthodoxen Richtung sich zugeneigt hatte und allmälig
völlig derselben angehörte. Die geistlichen Räthe gehörten natürlich derselben
Partei an, namentlich wurden der einflußreiche Abt*) Rupstein und der
Führer der Orthodoxen, der bekannte Hauptverfasser des neuen Katechismus,
Uhlhorn, in das Landesconsistorium berufen, von rechtskundigen Mitgliedern
dagegen außer dem Präsidenten nur ein jüngerer Assessor. Daneben wurde
eine Anzahl auswärtiger Geistlicher und Gelehrter, namentlich der bekannte
Kirchenrechtslehrer, Professor Herrmann zu Göttingen zu außerordentlichen
Mitgliedern ernannt, ohne indeß eine irgend erhebliche Thätigkeit zu haben. —
Am 16. Juni floh der König von Hannover und die preußischen Trup¬
pen rückten in die Stadt ein. Alles war in wildester Verwirrung, sämmt¬
liche Minister auf der Flucht; aber unbeirrt installirte sich am 18. Juni die
neue Behörde. Die Zeitungen theilten die öffentliche Ansprache derselben an
die unterstellten Kirchenbehörden, durch welche das Landesconsistorium seine
Thätigkeit inaugurirte, mit; allein in der politisch so hoch erregten Zeit blieb
dies Actenstück gänzlich unbeachtet. Und doch ließ sich aus demselben erkennen,
was man von der neuen Behörde zu erwarten habe, die statt mit freien,
kernigen Worten ein bestimmtes Programm für ihre Wirksamkeit aufzustellen,
ein Machwerk zusammensetzte, das man nicht ohne ein gewisses unheimliches
Gefühl lesen konnte. Zur Charakteristik dieser Ansprache sei hier nur das
Schlußwort mitgetheilt.
„Er, der gnädige Gott, wolle uns denn Alle stärken, vollbereiten,
kräftigen und gründen; er sei unseres Königs Stärke und Trost und helfe
ihm, sich auch in Zukunft zu erweisen als ein rechter Schirmherr der Kirche;
er gebe uns Weisheit und Rath, Muth und Kraft, auf daß bei uns selbst
und durch unseren Dienst bei vielen der Name, in dem allein Heil ist, zeit¬
lich und ewiglich, der Name seines lieben Sohnes Jesu Christi immer völli¬
ger erkannt, offener bekannt und mit Leben und Wandel, in Arbeit und im
Leiden gerühmt und gepriesen werde. Ihm sei Ehre in Ewigkeit!"
So begann denn das Landesconsistorium, in dessen Hände namentlich
alle Anstellungen von Geistlichen im ganzen Lande gelegt waren, seine Thä¬
tigkeit damit, die ziemliche Zahl vaeanter Stellen nur mit „vollbereiteten" und
„gegründeten" Orthodoxen zu besetzen, zum Theil gegen den entschiedenen
Widerspruch der Gemeinden.
Zum Theil wahrhaft scandalöse Vorfälle in Bezug auf das sittliche
Leben einzelner Führer der Orthodoxen öffneten dem großen Publicum mehr
und mehr die Augen darüber, wie häufig die strenge Rechtgläubigkeit als Deck'
mantel schamlosen Lebens diente. Ein bekannter ultra-orthodoxer Pastorin
Göttingen, der wegen ihm nachgewiesener widernatürlicher Wollust und Ver¬
führung ihm anvertrauter unerwachsener Mädchen landesflüchtig werden
Mußte, fand in dem Lager seiner Parteigenossen eifrige Vertheidiger als „trotz
Allem dem wahrer Christ", der nur der Versuchung des Teufels nicht habe
widerstehen können.
Vielfache Beschwerden der Gemeinden wider ihre Seelsorger blieben
ohne Ausnahme erfolglos; je schlechter ein Geistlicher bei seiner Gemeinde
stand, um so besser war er oben angeschrieben. Der neue Katechismus wurde
an vielen Orten in durchaus gesetzwidriger Weise von den Geistlichen fort¬
dauernd benutzt und die Beschwerden darüber halfen nichts.
Als im Anfang des Jahres 1867 die politische Aufregung sich etwas
gelegt hatte, wurde von allen Seiten der Ruf nach Zusammenberufung der
Synoden laut, die durch das Kirchengesitz von l864 eingeführt, noch immer
nur auf dem Papiere standen. Das Landesconsistonum nahm denn auch
nicht länger Anstand, dem allgemeinen Verlangen nachzugeben, zumal es zu
gut vorgearbeitet hatte, um von den Synoden irgend welche ernste Gefahr
für das herrschende System zu fürchten. Es wurden die nöthigen Vorberei¬
tungen ohne weiteres Zögern getroffen, und noch in demselben Jahre traten
die ersten Bezirkesynoden zusammen.
Jetzt zeigte sich, welch' großen Fehler die liberale Partei bei der Be¬
rathung des Synodalgesetzes begangen hatte. , In dem von der Regierung
vorgelegten Entwurf waren nämlich drei Abstufungen, Bezirkssynoden für den
Jnsvections- oder Superintendenturbezirk, Provinzialsynoden und eine all¬
gemeine Landessynode vorgesehen. Seitens der Vorsynode und der allge¬
meinen Stände hatte man indeß mit Recht diesen dreistufigen Organismus
für zu schwerfällig und zwei Alten von Synoden für ausreichend gehalten.
Statt aber die Bezirkssynoden zu beseitigen, hatte man in der Hoffnung,
gerade durch diese kleineren Versammlungen die verschiedenartigsten localen
Fragen angeregt und dadurch frischeres Leben in den Gemeinden selbst ge¬
weckt zu sehen, diese bestehen lassen und die Provinzialsynoden aus dem Ge¬
setze gestrichen. — Kaum aber traten die ersten Bezirkssynoden zusammen, so
erkannte man, wie trügerisch die auf ihre Wirksamkeit gesetzte Hoffnung war.
Dieselben bestehen nach dem Gesetze aus den Superintendenten als Vorsitzen¬
den, ferner sämmtlichen Geistlichen des Bezirks, eben so vielen von den Kirchen¬
vorständen aus ihrer Mitte zu wählenden weltlichen Mitgliedern, zwei
Volksschullehrern und zweien von der Kirchenregierung zu ernennenden Mit¬
gliedern. — Das geistliche Element mußte also stets das Uebergewicht haben;
bedenkt man aber, wie, unseren obigen Ausführungen nach, die Kirchen-
Vorstände componirt waren, wie leicht es den Geistlichen, die den Vorsitz
darin führten, werden mußte, die Wahlen zur Bezirkssynode, die nur auf
Mitglieder der Kirchenvorstände fallen durften, zu leiten, so wird man ein¬
sehen, daß die Bezirkssynoden nimmermehr zum Ausdruck der im Bezirk
herrschenden Meinung werden konnten.
Um ja die in jeder größeren Versammlung doch immer leichter sich gel¬
tend machende Selbständigkeit Einzelner thunlichst von vorn herein zu
unterdrücken, verkleinerte die Kirchenregierung vor der erstmaligen Berufung
der Synoden die Jnspectionsbezirke noch ziemlich erheblich, so daß meist nur
sechs bis acht Kirchspiele dazu gehörten. Dazu wurde eine Geschäftsordnung
erlassen, nach welcher die Synoden regelmäßig nur ein Mal jährlich und nur
auf je einen Tag zusammentreten sollen, und wurde ferner den Vor¬
sitzenden ausdrücklich das Recht beigelegt, sogenannte Uranträge aus der
Mitte der Synode bis zur nächsten Sitzung— also auf ein volles Jahr zu
vertagen, auch wenn die Zeit die sofortige Berathung erlaubte.
Dann wurde vorgeschrieben, daß in jeder Synode zunächst eine allge¬
meine Besprechung der kirchlichen und sittlichen Zustände des Bezirks statt¬
finden müsse, daß dann die Erledigung der durch das Gesetz den Synoden
überwiesenen Geschäfte, dann die Berathung über etwaige Regierungsvor¬
lagen, darauf die über etwaige Anträge einzelner Kirchenvorstände stattzu¬
finden habe und nur zuletzt über Uranträge verhandelt werden dürfe.
Daß bei der auf einen Tag beschränkten Zeit der Thätigkeit der
Synoden also ein Urantrag niemals Aussicht hatte, zur Verhandlung zu kom¬
men, lag auf der Hand, und somit war selbst der Möglichkeit, einen unlieb¬
samen Gegenstand zur Erörterung gebracht zu sehen, ein Riegel vorgeschoben.
Für die unbedingt vorgeschriebene allgemeine Besprechung der kirchlichen und
sittlichen Zustände wurde den Superintendenten eine äußerst detaillirte An¬
weisung gegeben, wonach vor Allen auch das häusliche Leben der Einwohner
hinsichtlich der Hausandachten, des Tischgebets, der Lectüre, der Kinderzucht,
des Verhältnisses zu ihren Dienstboten, des Luxus. Spiels, ihrer Haltung
bei öffentlichen Vergnügungen !c. geprüft werden sollte.
So traten denn die Synoden zusammen, und es wurde, um ihnen noch
höhere Feierlichkeit zu verleihen, regelmäßig ein Mitglied des Landesconfisto-
riums zur Theilnahme an denselben committirt. Das Resultat war voraus¬
zusehen. Fast nur die geistlichen Mitglieder redeten; die wenigen weltlichen,
meist dem Bauernstande angehörigen Mitglieder, des Worts ohnehin nicht
genügend mächtig, konnten eingeschüchtert durch die kirchlichen Würdenträger
sich in den kurzen Stunden kaum recht besinnen und stimmten fast aus
nahmslos den Anträgen der Geistlichen zu, die fast in allen Synoden in
leicher Richtung gestellt wurden. Liest man die Verhandlungen einer Be-
zirkssynode, so hat man ein Bild von 90°/<> aller. Ueberall Klagen über den
zunehmenden Unglauben und Sittenverfall, Beschlüsse, bei der Obrigkeit auf
strengere Handhabung der Sabbathsordnung hinzuwirken, Erklärungen darüber,
daß schärfere Kirchenzucht erforderlich und daß das Werk der inneren Mission
mit allen Kräften zu unterstützen sei, das war so ziemlich das Resultat
sämmtlicher Synodalverhandlungen. In einer Synode war sogar ein An¬
trag auf zwangsweise Einführung des Tischgebets in den Familien gestellt,
der indessen abgelehnt wurde.
Außer den gedachten Punkten war noch ein Gegenstand, der in den
meisten Synoden zur Sprache gebracht wurde und durchweg gleiche Be¬
urtheilung fand, nämlich die Herrschaft der Kirche über die Schule, die in
den Synoden aufs Eifrigste verfochten wurde. Hier müssen wir zum besseren
Verständniß etwas zurückgreifen und die Stellung der Geistlichkeit zu den
neuen politischen Zuständen näher beleuchten.
Als im Sommer 1866 der Untergang des Königreichs Hannover immer
mehr zu drohen schien, nahm die Geistlichkeit in ihrer überwiegenden Mehr¬
zahl entschieden Stellung gegen Preußen und agitirte mit allen Kräften für
Aufrechthaltung der Krone Hannover. Zahlreiche Petitionen für die Er¬
haltung der Selbständigkeit des Landes wurden von Geistlichen colpor-
tirt, in der Presse wirkten die Geistlichen in gleicher Richtung, unter der
Landbevölkerung wurde der Haß gegen Preußen geschürt und vor Allem die
Frage der Eidesleistung immer wieder erörtert, schließlich die Eidesweige¬
rung für heilige Pflicht erklärt.
Da erschien wenige Tage nach dem Besitzergreifungspatent die Eides¬
entbindung von Seiten König Georgs, und plötzlich machte sich ein Umschwung
der Stimmung geltend.
Das Landesconsistorium ging mit gutem Beispiel voran und erklärte in
einem allgemeinen Ausschreiben, daß seine sämmtlichen Mitglieder, eingedenk
des Spruches: „Seid Unterthan der Obrigkeit, die Gewalt über Euch hat",
dem Könige von Preußen unbedenklich den Huldigungseid leisten würden und
daß sie es für Pflicht jedes Geistlichen hielten, ein Gleiches zu thun. Genug,
das Resultat war, daß im ganzen Lande nur drei Geistliche den Eid weigerten.
Dann aber begann wieder die bitterste Opposition gegen die Regierung.
Das Landesconststorinm hatte sofort in einer Petition an den König
um Schutz für die lutherische Kirche und Sicherung vor der Union erbeten und
die milde und freimüthige Antwort des Königs (worin dieser die Hoffnung
aussprach, daß der Drang nach Einigung aller Theile der evangelischen Kirche
um so mehr wachsen werde, je freier von allem Druck von oben die einzelnen
Kirchen sich entfalten könnten), in einer schwülstigen öffentlichen Ansprache
publicirt. Es wurde darin auf die der Kirche drohenden Gefahren hingewiesen
und vor Allem Vertrauen zu den Kirchenbehörden verlangt, damit diese im
Stande seien, mit thunlichsten Nachdruck allen Feinden entgegenzutreten.
Auf allen Kanzeln aber wurde, da nun von oben das Signal gegeben
war, gegen die Union gepredigt, dieselbe geradezu als Teufelswerk, als
Sünde wider den heiligen Geist bezeichnet. Die orthodoxen Zeitschriften
wimmelten von den gehässigsten Angriffen wider die Union. Ein Pastor
Grote gab eine Anzahl Thesen wider die Union heraus, die von so un-
flathigen Beleidigungen strotzten, daß gegen ihn die öffentliche Anklage er¬
hoben wurde, welche dann zu seiner Amtsentsetzung führte.
Uebrigens bewies die Regierung eine fast zu weit gehende Langmuth
gegen die Schmähungen und Aussetzungen der Orthodoxen, die leider in rein
kirchlicher Hinsicht einen mächtigen Rückhalt an dem Minister Muster fanden,
welcher ihnen sogar manche politische Sünde vergab, um nur in den Ortho¬
doxen ein Gegengewicht gegen die die Politik der Regierung unterstützenden
Liberalen zu finden.
Wir betrachten es als ein wahres Glück für die liberale Sache in Staat
und Kirche, daß Junkerthum und Geistlichkeit zu fest verbissen in ihrer Welfo-
manie waren und sind, um für die Lockungen der Regierung zugänglich
zu sein.
In den inneren kirchlichen Fragen wußte sich zwar das Landesconststo-
rium in Berlin ziemlich freie Hand zu verschaffen, wie die obige Darlegung
hinsichtlich der Ausführung des Synodalgesetzes zeigt — allein, so bald das
politische Gebiet berührt wurde, war der schärfste Gegensatz da. So hatte
das Landesconsistonum zwar der bestimmten höheren Anweisung entsprechend
den'Geistlichen befohlen, das Kirchengebet für den König zu sprechen, allein
dieselben dabei instruirt, ausdrücklich hervorzuheben, „es geschehe dies auf be¬
stimmten höheren Befehl und es sei eine Pflicht, die zu erfüllen dem Herzen
schwer sei, allein eingedenk des Bibelworts: „Thue Bitte, Gebet, Fürbitte
für alle Menschen, für die Könige und für alle Obrigkeit" könne und
müsse auch dieses Gebet gesprochen werden."
Die Fürbitte für den preußischen Landtag im Kirchengebet anzuordnen
hatte dagegen das Landesconsistonum entschieden verweigert und durch diese
bis zu höchster Stelle verfochten« Weigerung die Sache bis zum Schluß des
Landtages zu verzögern gewußt.
Besonders bitter aber wurde die Opposition gegen die Absicht der Re¬
gierung, die Leitung des Volksschulwesens von den Consistorien auf weltliche
Behörden zu übertragen, geführt. Das Landesconsistorium sprach sich ein¬
hellig dagegen aus und erklärte solche Maßregel für einen Rechts- und Ver-
fassungsbruch. Der bisherige Generalsecretair im früheren hannoverschen
Cultusministerium, Geh. Regierungsrath Bruck, nahm seinen Abschied, um
in Brochüren und Streitschriften das Vorhaben der Regierung zu bekämpfen;
von mehreren Mitgliedern des Landesconsistoriums wurden gleichfalls Streit¬
schriften anonym verfaßt, (ohne daß die Autoren vorher ihre Stellen nieder¬
legten) und in dem Organ der Orthodoxen und der welfischen Legitimisten,
der „Hannoverschen Landeszeitung" erschienen täglich geharnischte Artikel gegen
die „Entchristlichung der Schule".
Die Regierung verfolgte indeß unbeirrt ihren Weg, entzog zunächst
die Schullehrerseminarien den Consistorien und unterstellte sie dem neu er¬
richteten Provinzialschulcollegium. Ein Schrei der Entrüstung erscholl im
orthodoxen Lager. Das Landesconsistorium protestirte gegen diesen Eingriff
in die Rechte der Kirche; die übrigen Consistorien folgten diesem Beispiel
und dies war auch der Moment, wo die Bezirkssynoden mit größter Eile
zusammenberufen wurden. Wie schon oben gesagt, täuschten diese denn auch
die auf sie gesetzte Hoffnung nicht. Fast alle sprachen die dringende Bitte
aus, die Seminarien wieder den Consistorien zu unterstellen und fast alle
protestirten ebenso gegen die serner intendirte Uebertragung der gesammten
Volksschulangelegenheiten auf das Provinzialschulcollegium.
Natürlich blieb die Regierung fest und ließ sich durch das Geschrei
nicht beirren; das gar zu schroffe Auftreten der Geistlichen, welche die Schule
geradezu als ihre Domaine behandelten, bewirkte außerdem, daß die Lehrer
gegen diese Bevormundung auftraten und die meisten Lehrervereine die Aus¬
sicht mit Freuden acceptirten, unter die Aufsicht weltlicher Behörden gestellt
zu werden.
Aber wurde in diesem einen Punkte, Dank den unablässigen Bestrebungen
der Presse und der Bevölkerung, auch der Sieg verfochten, im Großen und
Ganzen blieb die orthodoxe Partei im unerschütterten Besitz der Herrschaft. Die
Volksschulsachen konnten, da die Verwaltungsorganisation noch nicht end¬
gültig feststand, weltlichen Behörden nicht übertragen werden, und es hat,
nachdem die Organisation Ende 1868 endlich definitiv beschlossen wurde, die
Negierung bislang noch keine weiteren Schritte in dieser Richtung gethan.
Desto übermüthiger ist die orthodoxe Partei aufgetreten. Um zunächst
dem Hort dieser Partei, dem Landesconsistorium,, immer größere Macht und
weitergehenden Einfluß zu verschaffen, wurde es gegen den entschiedenen
Wunsch fast aller Betheiligten durchgesetzt, daß die früher den Provinzial-
consistorien zugewiesenen theologischen Examina sämmtlich dem Landes¬
consistorium überwiesen sind. In den Provinzialconsistorien wurden über¬
dies, so weit möglich, Personalveränderungen vorgenommen, die thunlichst
jedes liberale Element ausschlösse«. Das Auftreten der einzelnen Geistlichen
gegen die Union wurde immer schroffer; den Unirten wurde regelmäßig das
Abendmahl verweigert, ja in einzelnen Fällen sogar die Begleitung der Leiche
durch den Geistlichen.
Der principielle Gegensatz gegen die Union aber trat am schärfsten in
dem Verhalten des Landesconsistoriums selbst hervor und zwar bei Gelegenheit
einer Predigerwahl in Goslar. Hier hatte der Magistrat den altpreußischen
Pastor Topf zu Schmiedeberg zum Prediger erwählt. Derselbe gehört der
lutherischen Kirche an und erklärte sich ausdrücklich bereit, die sür die lutheri¬
schen Prediger der Provinz Hannover vorgeschriebene Verpflichtungsformel
zu vollziehen. Trotzdem verweigerte das Landesconsistorium Topf's Be¬
stätigung, weil er bislang im Dienste der unirten Kirche gestanden und damit
bewiesen habe, daß er der lutherischen Kirche nicht angehöre. Daß er sich
Lutheraner nenne und bereit sei, sich als lutherischer Prediger verpflichten zu
lassen, komme der Thatsache gegenüber, daß er der Union factisch diene, nicht
weiter in Frage. — Der Magistrat in Goslar wandte sich wider diese von
der starrsten Intoleranz dictirte Entscheidung beschwerend an das Cultus¬
ministerium in Berlin und erlangte hier eine abändernde Verfügung.
Allein nun begann das Landesconsistorium den offenen Kampf gegen
die Staategewalt. Es erklärte dasselbe nämlich ganz entschieden, nach der
ihm verliehenen Stellung habe der Minister in inneren Kirchenangelegen-
heiten überall nicht das Recht, seine Entscheidungen abzuändern; der Minister
sei höchstens berechtigt, etwaige Differenzpunkte dem Könige zur Entschei¬
dung vorzulegen, der dann nach Anhörung des vom Landesconsistorium zu
haltenden unmittelbaren Vortrages bestimmen könne. Allein im vorliegenden
Falle müsse auch die königliche Berechtigung zur Entscheidung bestritten
werden; es habe nach den in fraglicher Beziehung noch nicht aufgehobenen
Bestimmungen des hannoverschen Landesverfassungsgesetzes über die canoni¬
schen Eigenschaften der anzustellenden Prediger ausschließlich die kirchliche
Behörde zu entscheiden. Die Zugehörigkeit zum Bekenntniß der Kirche sei
nun die wichtigste canonische Eigenschaft jedes Predigers, diese sei vom
Landesconsistorium dem Pastor Topf aberkannt und könne diese Entscheidung
von der Staatsgewalt, selbst von deren höchstem Inhaber nicht abgeändert
werden, und werde behandelst im voraus gegen ein etwa beabsichtigtes der¬
artiges Verfahren als gegen einen Rechts- und Verfassungsbruch protestirt.
Daß die ganze Deduction eine fehlerhafte, liegt auf der Hand; denn für
die hannoversche Landesverfassung bildet eben das selbständige Königreich
Hannover das nothwendige Substrat, mit dessen Wegfall selbstredend auch
die Verfassung in allen ihren Theilen fiel. Die Krone Preußen konnte un¬
möglich auf wesentliche Theile der Regierungsgewalt zu Gunsten der Kirche
einer einzelnen Provinz verzichten, nur weil die frühere Regierung in die-
ser Hinsicht schwach genug gewesen war, der Kirche übermäßige und mit dem
Staatswohl unverträgliche Rechte einzuräumen. — Statt indeß den Trotz des
Landesconsistoriums zu brechen, schickte der Cultusminister Muster die Ange¬
legenheit zu nochmaliger Erwägung an diese Behörde zurück, welche dann in
einer außerordentlichen Plenarsitzung, an welcher auch sämmtliche außerordent¬
lich« Mitglieder Theil nahmen, an dem früheren Beschlusse einfach festhielt. —
Seit Monaten liegt die Sache nun wieder in Berlin und es soll dort, wie man
hört, beschlossen sein, vor Abgabe einer Entscheidung die hannoversche Landes¬
synode darüber zu hören.
Wir bedauern diesen Entschluß und hätten ein sofortiges entschiedenes
Zurückweisen des Landesconsistoriums in seine Grenzen, für richtiger gehalten.
Hoffentlich wird nun wenigstens jener Entschluß die gute Folge haben, daß
die Landessynode, auf deren Zusammentritt das Land seit nunmehr fast fünf
Jahren vergeblich wartet, endlich einmal einberufen wird. Stoff genug liegt
vor für ihre Arbeiten und — wenn wir auch wahrlich nicht überschwengliche
Hoffnungen auf ihre Wirksamkeit setzen.— frischeres Leben, als in den Be-
zirksshnoden wird jedenfalls in ihr herrschen; die Aufmerksamkeit der Be¬
völkerung wird wieder mehr auf die wunden Punkte gerichtet werden, zu
deren Heilung einmüthiges Zusammenwirken allein helfen kann.
Eben hatte ich vorstehenden Bericht geschlossen, als ich aus den Zeitungen
ersah, daß eine e^UL« eelöbr«, die ein Helles Streiflicht aus die Orthodoxen
wirft, ihren gerichtlichen Abschluß gefunden hat.
Angeklagt sind wegen Amtsehrenkränkung der orthodoxe Pastor S.
(Stromburg) in N. (Novinthien), dessen Schwiegervater, ein Schullehrer
M. (Müller) und 19 Bauern.
Der Thatbestand ist folgender: Pfarrer in N. ist der alte seit 46 Jahren
in Amt stehende treffliche, ehrenwerthe — aber trotz aller Beeinflussung von
oben den freisinnigen Anschauungen seiner Jugendzeit treu gebliebene —
Pastor D. (Drechsler). Seit zwei Jahren ist ihm der junge hyper-orthodoxe
Pastor als Collaborater beigegeben; derselbe wohnt bei ihm im Hause und
wird als Sohn behandelt. Allein der alte Herr ist doch immer noch In¬
haber der Pfarrstelle und rüstig genug, noch manches Jahr zu leben. Es
wird also versucht, ihn vom Amt zu entfernen: jede unvorsichtige Aeußerung,
welche er macht, wird heimlich registrirt und gesammelt. Endlich scheint ge¬
nug Material gegen ihn vorhanden zu sein.
Der künftige Schwiegervater des Pastors S. setzt also eine Eingabe an
das Consistorwm auf, in welcher Pastor D. beschuldigt wird, „seit Jahren
geflissentlich den schändlichsten Unglauben in der Gemeinde zu verbreiten;
er behaupte, die Religion führe zum heidnischen Aberglauben, er glaube nicht
an die Göttlichkeit Cyristi" ze. Dann wird in der Eingabe gebeten, den
Pastor D. seines Amts zu entsetzen und dem Pastor S., der die allgemeinste
Liebe, Verehrung und Anerkennung genieße, die Pfarrstelle zu verleihen."
Diese Schrift wird von dem Schullehrer Müller-abgeschrieben und es
werden — während Autor und Abschreiber sich wohl hüten, sie selbst zu
unterschreiben — heimlich in der Gemeinde eine Anzahl Bauern dahin be¬
arbeitet, daß sie ihren Namen darunter setzen; so geht die Schrift nach
Hannover ab.
Zufällig findet in denselben Tagen eine Localverhandlung der sogenannten
Kirchencommisston, bestehend aus dem Bezirks-Superintendenten und einem
Beamten, mit dem Kirchenvorstände statt. Bei dieser Gelegenheit wird auch
mündlich die Beschwerde gegen Pastor D. wegen angeblich unchristlicher
Aeußerungen vorgebracht und namentlich von dem Lehrer M. in so heftiger
und maßloßer Form, daß die Kirchencommission sich genöthigt sieht, dem
Lehrer eine scharfe Rüge zu ertheilen und auch im Uebrigen darauf hinzu¬
weisen, daß die Beschwerde wider Pastor D. anscheinend eine leichtfertige
und unbegründete sei und jedenfalls diese Art, den alten würdigen Seelsorger
bei der Oberbehörde zu verklagen und die Gemeinde wider ihn aufzuregen,
Mißbilligung verdiene.
Das hatte Herr S. nicht gewollt und nicht erwartet; um indeß ja einem
ungünstigen Bericht der Kirchencommission zuvorzukommen, entwirft er sofort
eine neue Eingabe an das Landesconsistorium, in welcher die Kirchencom¬
mission beschuldigt wird, in dem fraglichen Termin „mit himmelschreiender
Parteilichkeit, Gewissenlosigkeit und Ungerechtigkeit" verfahren zu sein und
allerlei unchristliche Aeußerungen, wie „es sei einerlei, was Jemand
glaube" !e. gemacht zu haben.
Diese Schrift läßt Herr S. ebenfalls von dem Lehrer Müller abschreiben
und, wiederum zu feige, um ihre Namen dazu herzugeben, wissen sie zwei
Bauern zu der Unterzeichnung zu bewegen, und die Schrift wird abgesandt.
Während das Consistorium nun vom Pastor D. eine Vertheidigung und eine
Erklärung über sein Glaubensbekenntniß einfordert, auch von der Kirchen¬
commission wegen der ihr zur Last gelegten Parteilichkeit :c. Bericht verlangt,
legt diese, rasch entschlossen, das ganze Gewebe gründlich enthüllt zu sehen,
die Angelegenheit der Kronanwaltschaft vor und bittet um Einleitung der
gerichtlichen Untersuchung. Diese wird beschlossen und damit ist natürlich die
Thängkeit des Consistoriums einstweilen sistirt.
In der gerichtlichen Verhandlung wurden nun obige Thatsachen durch
die Aussagen beeidigter Zeugen constatirt und schließlich von sämmtlichen
Angeklagten, auch von dem Herrn Pastor S., zugestanden, obwohl derselbe
wenige Wochen vorher seinem Superintendenten gegenüber jede Betheili¬
gung, ja jede Mitwissenschast von der Sache auf Ehre und Gewissen
abgeleugnet, ja sein Leugnen noch durch das Hinzufügen verstärkt hatte,
die Gemeinde habe ihm absichtlich und aus zarter Rücksicht auf seine Stel-
lung Alles verschwiegen, was geschehen sei. Und dieser Aeußerung gegen¬
über muß der Pastor kurz nachher in öffentlicher Gerichtssitzung zugestehen,
daß er selbst das fragliche Schriftstück verfaßt habe!
Wahrhaft vernichtend war der Eindruck der öffentlichen Schlußverhand-
lung vor dem Obergericht zu Celle, in welcher Schlag auf Schlag die ganze
Intrigue enthüllt wurde. Besonders peinlich aber wirkte auf Gerichtshof
und Publicum die Zeugenaussage, daß die Art des Vorgehens wider Pastor D.
durch Beschwerden — anscheinend aus der Gemeinde heraus — mit Vorwissen, ja
auf Anrathen des Oberconsistorialraths U. (Uhlhorn) zu Hannover geschehen sei.
Allgemeine Entrüstung aber zeigte sich, als Pastor S. sich erbot, für die
gegen seinen Amtsbruder geschleuderte Verleumdung, derselbe bemühe sich, den
schändlichsten Unglauben in der Gemeinde zu verbreiten, den Beweis der
Wahrheit anzutreten und als er diesen Versuch nun wirklich machte.
Nie ist uns der schneidende Gegensatz der Orthodoxen gegen den Geist
des 19 ten Jahrhunderts schärfer zum Bewußtsein gekommen, als in dieser
Verhandlung. Die incriminirten Aeußerungen des Pastor D.. durch welche
derselbe eben den schändlichsten Unglauben in der Gemeinde verbreitet haben
sollte, waren nämlich folgende gewesen:
Zunächst hatte er in einer Predigt geäußert: die Hyper-Orthodoxie. wie
sie heutigen Tages stellenweise gelehrt werde, führe zum Aberglauben und
die Bibel müsse vernünftig ausgelegt werden.
Mit feiner Ironie fragte der Gerichtsvorsitzende den Angeklagten S.:
»Also die Forderung, die Bibel vernünftig auszulegen, finden Sie anstößig
und gegen die Grundlehren der lutherischen Kirche?"-
„Gewiß", war die mit eherner Stirn gegebene Antwort, „nur die sym
bolischen Bücher geben die Norm für die Bibelauslegung und nicht die
irrende Vernunft des Einzelnen."
Als zweite ketzerische Aeußerung wurde der Ausspruch angeführt: „Durch
die Nachfolge Christi kommen wir in den Himmel."
Hier fragte der Präsident mit wirklich ernstlichem Erstaunen: „Und das
ist eine unchristliche Aeußerung und verstößt wider die Bibel?"
„Gewiß", war wiederum die Antwort, „denn nur durch den Glauben
werden wir gerecht."
Welch' entsetzlichen Eindruck es aber machte, einen Mann, der eben als
Lügner und feiger Urheber aus dem Hinterhalt treffender Pamphletist ent¬
larvt ist, mit erhobenem Haupte und mit dem Tone stolzer Unfehlbarkeit
Aeußerungen wie die obigen als unchristliche und schändliche verdammen zu
hören — das läßt sich eben nur fühlen, nicht beschreiben.
Eine förmliche Beklemmung bemächtigte sich des Publikums, und selbst
der Gerichtshof konnte sich eines ähnlichen Gefühls nicht erwehren. Nach
einer sehr milde gehaltenen Anklagerede und einer sehr geschickten Vertheidi¬
gung wurde zwar Seitens des Gerichts das Urtheil ausgesetzt, aber das
Publicum hatte sein Verdammungsurtheil bereits mit Einstimmigkeit fertig.
Jetzt ist nun auch das gerichtliche Erkenntniß dem öffentlichen Urtheil
nachgefolgt und Pastor S. zu 2 Monaten, die übrigen Betheiligten zu 4—6
Wochen Gefängniß verurtheilt worden.
Allgemein ist jetzt die Frage, wie das Consistorium sich zu seinem gericht¬
lich verurtheilten Glaubensbrüder stellen wird.
Die Wogen des Parteikampfes sind während dieses Monats im Lande Baden
höher als gewöhnlich gegangen. Unsere Gegner boten alle ihnen zu Gebote
stehenden Kräfte auf. In Freiburg scheint man. berauscht durch den glück¬
lichen Ausgang des Processes Kübel, sogar einige Zeit der Hoffnung gelebt
zu haben, in einem erneuten Anlaufe und durch verdoppeltes Geschrei einen
Umschwung in den höchsten Kreisen der Regierung hervorzubringen. Der
Erfolg ist aber, wie schon jetzt feststeht, ein höchst unerwarteter gewesen und
die Stellung des Ministeriums Jolly heute zweifellos weit fester, als vor
vier Wochen. Eröffnet wurde der Angriff durch einen von allen Führern
der ultramontanen Partei unterzeichneten Aufruf an das badische Volk, wel-
cher die alten Klagen über Knechtung der katholischen Kirche, Ueberlastung
des Landes und Beeinträchtigung der freiheitlichen Institutionen Badens
wiederholte. Freie Lebensluft für die Kirche, gleiches Recht für Alle, volle
Selbständigkeit der Kirche in der Verwaltung ihres Vermögens und der Be¬
setzung kirchlicher Aemter, allgemeine Vereinsfreiheit — behufs der Errichtung
von Klöstern — entschiedene Schulfreiheit, — im Gegensatze zu den welt¬
lichen Schulen des Staates — „mit diesen Grundsätzen allein wird die Ge¬
wissensfreiheit gewahrt, ächte Toleranz geübt und der confessionelle Friede
wieder hergestellt"! Wer Gewissensfreiheit, Toleranz und confessionellen Frie¬
den auf der Fahne begeisterter Anhänger des Syllabus und der Encyclica
schimmern sieht, kann freilich nicht staunen, wenn erhört, daß der norddeutsche
Bund nur zur Verarmung des Volkes und zur Verkümmerung seiner Frei¬
heit führe und in Baden „klägliche Reactionszustände und das System des
Stillstandes" herrschen. Als das einzige Mittel zur Rettung des erkrankten
Vaterlandes wurde die Einführung des allgemeinen Stimmrechts durch einen
außerordentlichen Landtag und Entlassung des Ministeriums Jolly verlangt,
welches das Vertrauen des badischen Volkes nicht besitze. Dieses Begehren
sollten in Adressen aus allen Theilen des Landes dem Großherzoge vorgetragen
werden und zur Belebung der Agitation in rascher Folge wurden überall
große Volksversammlungen berufen. Der Anfang wurde sofort am 9. Mai
in Bruchsal gemacht, dem Mittelpunkte der früher zu dem Bisthum Speier
gehörigen, sehr katholisch gesinnten Bezirke, woselbst an einem zahlreichen Zu¬
gang nicht zu zweifeln war. In der That zählte die Versammlung gegen
2000, nach clericalen Berichten sogar 6000 fast ausschließlich der Land¬
bevölkerung angehörige Theilnehmer. Als Vorsitzender eröffnete der greise
Freiherr von Andlaw, als eifriger Kämpe des Ultramontanismus schon seit
den vierziger Jahren bekannt, die Verhandlungen mit „Gelobet sei Jesus
Christ" und ging alsbald dazu über, durch eine geistreiche Erklärung der
Begriffe von Staat und Kirche den Gesichtskreis seiner Zuhörer zu erwei¬
tern. Der Kirche als der Vereinigung aller Rechtgläubigen mit einem sicht¬
baren Oberhaupte stehe der Staat gegenüber, der eben nichts Anderes sei,
als die Vereinigung der Kirchenfeinde gleichfalls unter einem sichtbaren
Oberhaupte — dem Ministerpräsidenten. Trefflich waren hiermit die nun
folgenden Schimpfreden vorbereitet, welche das eigentliche Feld der Thätig¬
keit des Herrn Jacob Lindau bildeten, des.Zollparlamentsabgeordneten, der
durch die Tücken des Bureaus in der letzten Session niemals zum Worte
kam, früher Kaufmann in Heidelberg, jetzt badischer O'Connell. Wiewohl
derselbe darauf hinwies, daß es bei Fortdauer des Jollyschen Regiments
dahin kommen müsse, daß eines Tages der Katholik nur noch gegen Vor¬
zeigung eines Aeciszettels zur Messe dürfe, wurde der Eindruck von Lindau's
Rede doch erheblich in den Schatten gestellt durch den Erguß seines College»
vom Zollparlamente des Dr. Bissing, Docenten der Geschichte an der Uni¬
versität Heidelberg — wenn mit diesem Titel der halbjährlich erneute, stets
vergebliche Versuch, ein Collegium zusammenzubringen, bezeichnet werden darf.
Er begab sich auf das Gebiet der hohen Politik und fand in den nationalen
Bestrebungen des Ministeriums die Quelle alles Uebels. Das Volk will
eine badische Politik, es will alles Andere, nur nicht preußisch werden, von
der Eider bis nach Mainz dringt ein Schmerzensschrei und nun geht die
Regierung gar damit um. die Einwohnergemeinde einzuführen! Das heißt
nichts Anderes, als alle Gemeinden zu Lumpengemeinden machen, denn aus
allen Himmelsgegenden werde man in das badische Land strömen, um am
Bürgernutzen Theil zu nehmen, besonders werde man aus Altpreußen recht
viele liebe Gäste bekommen. Die Aussicht auf diesen Besuch konnte freilich
nicht wirkungslos bleiben, mit tausendstimmigem Nein wurde die Frage, ob
Jolly das Vertrauen der Versammlung besitze, beantwortet und die Adresse
mit Unterschriften bedeckt. Um ihr die gewünschte allseitige Zustimmung zu
verschaffen, wurden aber noch andere Mittel in Anwendung gebracht, die für
die Kampfweise der ultramontanen Partei bezeichnend genug sind. An alle
katholische Pfarrämter des Landes wurde ein Schreiben folgenden Inhalts
versendet: „Indem wir uns erlauben, Ihnen beifolgenden Kopfbogen der von
der Versammlung in Bruchsal beschlossenen Adresse an S. K. Hoheit den
Großherzog zu übersenden, ersuchen wir Sie, im Interesse der Sache die
Unterzeichnung derselben in Ihrem Orte gefälligst baldigst veranlassen zu
wollen. Nachdem dies geschehen, ist die Adresse per Post an das Großh.
Geheime Cabinet in Karlsruhe abzusenden und bitten wir. Herrn Jakob
Lindau von dem Abgang der Adresse, sowie von der Zahl der Unterschriften
gefälligst Kenntniß geben zu wollen. Heidelberg, den 14. Mai. Namens
der katholischen Volkspartei: Jakob Lindau."
Die Bewegung war also im besten Zuge und der demokratische
Bundesgenosse säumte nicht, dem schwarzen Bruder eifrigst beizuspringen.
Bereits am 14. April hatte die demokratische Partei sich neu constituirt und
in ihre Mitte waren neben Theilnehmern an dem Aufstande von 1849 und
einigen neuen Namen zweifelhaften Klanges die Herren von Berlichingen,
k. k. östreichischer Uhlanenrittmeister a. D., und v. Edelsheim, früher in Kur¬
hessen, dann badischer Gesandter in Wien und als Minister von 1866 der treue
Schildknappe des Freiherrn v. Beust, getreten. Herr v. Edelsheim, der hoch¬
geborene und hochfahrende Baron,° neben dem Sohne aus dem Volke, Herrn
Eichelsdörfer, „Redacteur" in Mannheim! Die Verbindung war so wunder¬
bar, daß man glauben konnte, sie müsse noch vornehmere, viel vornehmere
und mit mächtigeren Mitteln ausgerüstete Genossen zählen.—In einer so selt¬
sam zusammengesetzten Allianz sind, wie sich bald ergab, von Anfang an
kleine Reibungen nicht zu vermeiden. Nachdem man eine Adresse mit der
Bitte um Wahlreform veröffentlicht und mit Entrüstung die Beschuldigung
des Einverständnisses mit den Clericalen zurückgewiesen hatte, wollte man
auch mit Volksversammlungen nicht zurückbleiben. Der Erfolg des ersten in
Mannheim gemachten Versuches war freilich niederschlagend, denn der ohne
Zweifel nicht sehr zeitgemäße Tadel, den ein junger Redner sich gegen Ar¬
beitseinstellungen entschlüpfen ließ, brachte die anwesenden Lassalleaner unter
der Leitung des Studiosus Ricks in solche Erregung, daß dem bewährten
Volksfreunde Eichelsdörfer der Vorsitz entzogen und die Herzen solcher Partei-
genossen, die ihrer finanziellen Verhältnisse wegen gegen alle socialistischen
Experimente nur tiefgehende Abneigung hegten, mit gerechtem Schrecken er¬
füllt wurden. Der hohe Adel aber, Herr v. Edelsheim und Rittmeister von
Berlichingen, in dem die Gesinnungen seines Ahnen gegen das Bürgerthum
fortleben mögen, hatte die Versammlung mit seiner Gegenwart nicht beehrt.
Dem Bürgerthum aber schwand die Geduld. Mit vollem Rechte hatte
die Karlsruher Zeitung darauf hingewiesen, daß in dem Bürgerthum der An¬
griff des Ultramontanismus einen unüberwindlichen Gegner finden werde,
da die Lust und die Fähigkeit zu jeder Arbeit der Hand und des Geistes
im deutschen Bürger ein Gefühl der persönlichen Würde, ein Bewußtsein
der Verantwortlichkeit und ein Bedürfniß der persönlichen Freiheit groß ge¬
zogen habe, dem gegenüber die extravaganten Theorien, welche unsere
Ultramontanen aus den Rüstkammern des Mittelalters hervorsuchen, macht-"
los im Winde verwehen. Schon am 13. Mai wurde eine von 130 der an¬
gesehensten Einwohner Mannheims unterzeichnete Erklärung veröffentlicht,
welche den von der demokratischen und ultramontanen Partei in das Land
geschleuderten Unwahrheiten und Anmaßungen entgegentrat und dafür Zeugniß
ablegte, daß das Volk im Einklang mit der Regierung eine freisinnige und
nationale Politik wolle und unabweisbar die Errichtung des deutschen, auf
Einheit und Freiheit gegründeten Bundesstaates fordere. Wie sehr diese
Erklärung der Gesinnung und Stimmung des gebildeten Bürgerstandes ent-
sprach, zeigte sich augenblicklich. In allen Städten und in zahlreichen Land¬
orten fanden alsbald Versammlungen und Berathungen statt, in denen theils
der Beitritt zu der Mannheimer Erklärung, theils ähnliche Kundgebungen
und Adressen an den Großherzog beschlossen wurden. Ueberall wurde aber
auch die Frage aufgeworfen, ob es nicht endlich an der Zeit sei, die Mi߬
Helligkeiten, welche innerhalb der liberalen Partei durch die leidigen Offen¬
burger Händel entstanden waren, hintanzusetzen und in gemeinsamer Thätig¬
keit den gemeinsamen Gegner zu bekämpfen. Unmöglich konnte man sich in
Offenburg der Einsicht entziehen, daß das Verlangen nach einem Ausgleiche
jener Spannungen täglich allgemeiner und lebhafter geworden, und daß man
bald genug in die Alternative versetzt sein werde, diesem Verlangen entgegen¬
zukommen oder den offenen Bruch mit einem großen und einflußreichen Theil
der Bevölkerung zu vollziehen. Der geschäftsführende Ausschuß der Offen¬
burger säumte nicht, auf den 23, Mai eine Einladung nach Offenburg zu
erlassen, um dort über das fernere Verhalten der ganzen liberalen Partei
zu berathen.
Die ultramontane Agitation war inzwischen eifrig fortgesetzt worden.
Der Bisthumsverweser Kübel bemühte sich auf einer Rundreise im Oden-
Walde durch den Glanz seiner Erscheinung, die Salbung seiner Reden und
herablassenden Verkehr mit allen Dorfgrößen die Gesinnung seiner An¬
hänger zu befestigen. Die Ovationen bei seiner Heimreise, bei welcher aus
allen Halteplätzen der Eisenbahn die Menge seiner Erscheinung harrte, er¬
litten Mir einige Störungen durch den Muthwillen zufällig mitreisender Musen¬
söhne, die ihrerseits ihrer Hochachtung für den ercommunicirten Bürger¬
meister Strohmeyer lauten Ausdruck verliehen und bei dem Fackelzuge nach
seiner Ankunft in Freiburg betheiligte sich nur ein verschwindender Theil der
Bürgerschaft. Dafür ging aber die am 17. Mai in Freiburg veranstaltete
Volksversammlung noch glänzend von statten. Die Zuhörer zeigten weit
lebhaftere Theilnahme, als acht Tage vorher die schwerfälligen Bruchsaler
und die Redner tobten noch weit heftiger. Zu den Bruchsaler Acteurs,
welche auch hier wieder auftraten, gesellte sich ein k. k. östreichischer Lieute¬
nant Freiherr von Rink, der „für seine Ueberzeugung, daß dem altehrwür¬
digen Hause Habsburg die Führerschaft in Deutschland historisch und recht¬
lich gebühre, gern auf dem Schlachtfelde von Königgrätz geblutet hätte"
und jetzt zu der weniger gefährlichen Beschäftigung, bei einer Besserung der
kirchlichen und politischen Mißverhältnisse in Baden mitzuhelfen, überge¬
gangen war, Herr Lindau aber debütirte als Interpret des Syllabus und er¬
läuterte seinen ländlichen Zuhörern, weshalb sie Feinde des modernen Staates
sein müßten. — Die dritte Aufführung sollte am 23. Mai in Engen im See¬
kreise stattfinden, gestaltete sich aber unverhofft zu einem Zwischenspiel in
einem weit größeren Schauspiele. Die. Liberalen hatten nämlich gleichfalls
zur Betheiligung an dieser Versammlung aufgefordert, damit einmal offen¬
kundig festgestellt werde, welchen Ansichten die Bevölkerung jenes Landes¬
theiles huldige. Zwar vereitelten die Clericalen die ihnen vorgeschlagene ge¬
meinsame Berathung, indem sie rechtzeitig das Versammlungslocal mit ihren
Anhängern besetzten. Vor diesem aber tagten im Freien in zehnfacher Mehr¬
heit, 3000 Köpfe stark, die aus allen Orten herbeigeeilten Anhänger der
national-liberalen Sache und erklärten den dort gefaßten Beschlüssen gegen¬
über, daß die gegen die Regierung hervorgerufene Agitation ungerechtfertigt
und verwerflich und mit allen gesetzlichen Mitteln zu bekämpfen sei.
Von weit größerer Bedeutung war aber die am gleichen Tage in Offen¬
burg abgehaltene liberale Versammlung. Hatte man anfänglich nur eine
vertrauliche Berathung einflußreicher Parteimitglieder im Auge gehabt, so
zeigte sich bald, daß die Versammlung von über 2000 Männern besucht,
und jeder Landestheil durch besonders hierzu gewählte Abgeordnete und die
beinahe vollzählig erschienenen Mitglieder der zweiten Kammer vertreten war.
Noch erfreulicher aber war die Wahrnehmung, daß überall eine vollständige
Uebereinstimmung der Ansichten herrschte und daß man sich auf allen Seiten
bemühte, persönliche Rücksichten zurücktreten zu lassen, um mit vereinten Kräften
für die Sache des großen deutschen Vaterlandes und die freie innere Ent¬
wickelung Badens einzustehen. Die patriotische und schwungvolle Rede, mit
welcher der Abgeordnete Kiefer den Entwurf einer Adresse an den Gro߬
herzog befürwortete, fand einen Wiederhall an der bewegten Ansprache, mit
der Professor von Treitschke aufforderte, allen Parteihader zu vergessen, die
in warmer, deutscher Weise gebotene Hand zu einmüthiger Arbeit für den
deutschen Staat und seine freiheitliche Entwickelung, in gleicher Gesinnung zu
ergreifen und die Adresse einfach anzunehmen. Diese Adresse, die sofort ein¬
stimmig gebilligt wurde, betont, wie das badische Volk die Fortschritte
zu würdigen wisse, welche seit 1860 durch die liberale Politik des Groß-
herzogs Friedrich auf allen Gebieten des Staats gemacht wurden, sie
verbreitet sich über die weiteren Reformen, die zunächst das Wohl des Lan¬
des zu erfordern scheine, und betheuert, daß Baden unverrückt an dem Ziele
festhalte, eine staatliche Verbindung mit dem Norden zu erreichen und den
Verlockungen einer Partei kein Gehör geben werde, die als patriotische
Pflicht anpreise, die Sache des Vaterlandes inmitten der ernsten Gefahren
der Gegenwart der Wehrlosigkeit zu überliefern. Der Großherzog möge, wie
im Jahre 1860, so auch jetzt dem edlen und guten Geist des getreuen Volkes
vertrauen und alle patriotischen Kräfte zu freudigem Zusammenwirken auf¬
rufen; dieser erhabene Ruf werde, wie immer, einen gewaltigen Wiederhall
im Lande finden, und die Bestimmung Badens, in furchtloser Treue zur großen
Sache des einheitlichen deutschen Staates zu stehen, werde im Herzen des Volkes
eine mächtige und dauernde Stärkung empfangen. Die gleichzeitig geneh¬
migten Resolutionen sichern der Regierung volle Unterstützung zu und stellen
die Grundzüge zu einer Organisation der Partei fest. Der hohe und freu¬
dige Ernst, der die ganze Versammlung durchdrang, berechtigt aber auch zu
der Hoffnung, daß nicht nur eine plötzliche Erregung und die Anforderungen
der augenblicklichen Lage die Einigung vollbracht haben, daß vielmehr auf
allen Seiten die redliche Absicht besteht, in dieser Einigung zu beharren und
mit gegenseitigem Vertrauen zu einer ehrenvollen Lösung der unserem Lande
gestellten politischen Aufgabe mitzuhelfen. Wie diese Gesinnung aber auch
von unserem verehrten Fürsten getheilt wird, möge der Inhalt des an den
Staatsminister Jolly gerichteten Handschreibens erweisen, das soeben als Be¬
antwortung der Offenburger Adresse zur öffentlichen Kenntniß gebracht wird.
„Mit aufrichtiger Befriedigung empfing ich heute die Adresse, welche die
aus allen Theilen des Landes in Offenburg versammelten Männer am
23. Mai beschlossen haben. Indem ich Ihnen dieselbe zur Mittheilung an
das Staatsministerium übersende, beauftrage ich Sie. den Unterzeichnern der
Adresse auszusprechen, wie dankbar ich die hingebende, thatkräftige Unter¬
stützung schätze, welche sie, mit Hintansetzung jeder anderen Rücksicht, für die
ungeschwächte Fortführung der freisinnigen und nationalen Politik meiner
Regierung verheißen. Ich stütze darauf das Vertrauen, es werde mit der
Kraft, welche die Eintracht verleiht, gelingen, mein Volk zu dem Ziele zu
führen, das ich mir als höchste Regeritenaufgabe gestellt habe: ein freies
Staatsleben im Innern, ruhend auf der sicheren Grundlage geistiger Bil¬
dung und sittlich-religiösen Ernstes und muthige, entschlossene Theilnahme
an der nationalen Wiedergeburt Deutschlands.
Vielleicht zu keiner Zeit haben deutsche Staatsmänner und Officiere
einen so gewaltigen Einfluß im Auslande geübt, als in der Zeit der tiefsten
politischen Verkommenheit ihres Vaterlandes, der zweiten Hälfte des 17ten
und der ersten Hälfte des 18ten Jahrhunderts, da das römische Reich deutscher
Nation an den Folgen des dreißigjährigen Krieges so tief darniederlag. daß
seine Wiederaufrichtung von dem tiefen Falle, den es gethan, für alle Zeit
unmöglich geworden schien. Während die deutsche Staatskunst die Fähig¬
keit verloren zu haben schien, sich auf ihre Aufgaben auch nur zu besinnen,
den jungen preußischen Staat allein ausgenommen, kein Theil des Reichs
im Stande war, sich in militairischer Beziehung über das rohe und zugleich
schwache Landsknechtthum zu erheben, welches Westdeutschland den Franzosen
Preis gegeben, schwangen deutsche Auswanderer sich zu unumschränkten Be¬
herrschern fremder Reiche auf, die Welt mit dem Ruf ihres politischen Scharf¬
blicks und ihres militärischen Genies erfüllend. Ein pfälzischer Edelmann
kommandirte der Reihe nach die Heere Frankreichs, Portugals und Englands,
der natürliche Sohn des sächsischen Kurfürsten galt für die größte Zierde der
französischen Armee, der verlaufene westfälische Baron Neuhof wurde zum
Könige von Corsika aus gerufen, wenig später ein deutscher Arzt zum Premier¬
minister von Dänemark und im Nordosten handelte es sich ein halbes Jahrhun¬
dert lang nur darum, welcher der drei deutschen „Väter der russischen Monarchie"
der Alleinherrscher über das ungeheure Reich sein sollte, welches Peter der
Große in das europäische Staatensystem eingeführt hatte. Wir haben kei-
nen Grund, die Tage zurückzuwünschen, da der Deutsche sich nur im Aus¬
lande hervorthun und die Größe seiner Race bethätigen zu können schien, da
er die stolzesten Lorbeeren gerade im Kampf gegen die heimathliche Erde
erwarb. Seit wir wissen, wo die Wurzeln unserer Kraft ruhen, haben die
Talente der Nation würdigere Zielpunkts gefunden, als die Ritterschaft in
fremder Herren Länder, ist die Lehre, daß der deutsche Stamm kein eigenes
Ackerfeld zu bilden habe, sondern bestimmt sei, den „Dung der Welt", den
Civilisationshumus für die ganze Erde zu bilden, geworden, was sie von je
gewesen, eine Fabel, von der Verzweifelung ausgesonnen und vom Klein¬
muth nachgesprochen.
Aber der Reiz, der das mächtige Thun jener nach Norden, Süden und
Osten versprengten Heldengestalten, vergangener Jahrhunderte umgibt, hat
darum nicht aufgehört, Anziehungskraft auf den Freund vergangener
Dinge zu üben. Gerade weil das Beispiel dieser Auswanderer aufge¬
hört hat, gefährlich und verlockend zu sein, dürfen wir dem Interesse nach¬
geben, das jene mächtigen Gestalten der Vorzeit, vor Allem die Ostermann,
Mummies und Biron in Anspruch nehmen. Das Contingent, das Nord¬
deutschland und ganz besonders der Küstenstrich an der Nord- und Ostsee zu
damaliger Zeit in die Cabinette und Armeen Rußlands lieferte, ist so be¬
deutend, daß die Namen vieler Männer, welche in ihrer neuen Heimath nach¬
haltigsten Einfluß auf die inneren und äußeren Geschicke derselben übten, kaum
bekannt geworden sind. Neben und hinter dem deutsch-russischen Triumvirat,
das wir oben genannt, steht eine ganze Legion streitbarer und staatskluger
Männer, welche ihre Namen in die Blätter der russischen Geschichte gegraben
haben, nicht immer sittlich reine Charaktere, oft sogar mit den Fehlern der alten
und der neuen Landsmannschaft behaftet, aber stets hervorragend durch
Thatkraft, weiten Blick, zähe Ausdauer und unerschrockenen Muth — im
Durchschnitt Menschen mit geborenen Beruf zur Herrschaft über andere
Menschen.
Von der Mehrzahl dieser deutsch-russischen Glücksritter des 18. Jahr¬
hunderts läßt sich nicht einmal sagen, daß sie ihre" Nationalität aufgegeben
hätten. So groß war das Gefühl des Uebergewichts, das diesen Emigranten
aus der Herrschaft über ihre Umgebung erwuchs, daß sie sich ihrer Natio¬
nalität erst in der Fremde recht bewußt wurden und ihren Stolz darin setzten,
Deutsche zu bleiben. Wohl ließen sie sich mit Land und Leuten in Nu߬
land beschenken und mit den von Peter gestifteten Ordenszeichen schmücken;
wenn es sich aber darum handelte, sie mit Rang und Wappen zu ehren, so
bedangen sie sich Diplome des heiligen römischen Reichs aus und die russi¬
schen Herrscher mußten die Gefälligkeit des Wiener Hoff in Anspruch nehmen,
um den Wünschen der stolzen Fremdlinge zu genügen. Von einem Aufgeben der
Sprache und Religion war nicht die Rede, die Meisten von ihnen verschmähten
es, das Idiom des Volks, das sie beherrschten, auch nur vollständig zu er¬
lernen — wer mit ihnen verhandeln, ihnen näher treten wollte, mußte ihre
Sprache oder die französische Weltsprache annehmen. Der nationale Hoch¬
muth dieser Machthaber stieg nicht selten in das Maßlose. Mummies durfte
Biron bei offener Tafel fragen, wie er dazu gekommen, einen Soldaten, wie
Wolinski (einen Schwager Peters des Großen) zum Minister des kaiserlichen
Cabinets zu machen und erhielt — gleichfalls vor versammeltem Hof — die
Antwort: „Diese Russen sind so unfähig, 5aß wir zufrieden sein müssen, wenn
einer von ihnen überhaupt zu irgend etwas zu brauchen ist." — In kirch¬
licher Beziehung haben diese norddeutschen Emigranten sich stets als strenge
Lutheraner bewährt. Mummies war der Hauptbegründer der deutschen Petri-
kirche zu Petersburg, Mitglied des Kirchenraths und eifriger Schirmherr der
von ihm ernannten Prediger und Lehrer derselben; setzte dieser wunderbare
Mensch doch seinen Ruhm darin, als „Beter" ebenso stark und unermüdlich
zu sein, wie als Feldherr und Administrator.
Selbst eine Art deutschen Heimaths- und Bürgerrechts wußten diese
Männer, die Catharina II. Väter des russischen Staats genannt hat, sich zu
schaffen. An der Hand jener deutschen Adelsbriefe, die sie mitgebracht oder
durch die Gefälligkeit des Wiener Hoff erworben hatten, bewarben sie sich
um die Aufnahme in die baltischen Ritterschaften, die natürlich gern bereit
waren, so einflußreichen Gönnern ihrer Sache die „Mitbrüderschaft" zu Theil
werden zu lassen und dieselben dadurch in ihr Interesse zu ziehen. Die un¬
geheueren Vermögen, welche sie erworben und erbeutet, wurden dann in lip-,
est- oder auch kurländischen Rittergütern angelegt, für alle Fälle Familien¬
sitze unter Stammes- und Glaubensgenossen, Gräber in protestantischer Erde
erworben. Die Matrikelbücher der baltischen Provinzen Rußlands zählen
manchen deutschen Namen, der auf dem Umwege über Petersburger und
Moskaner Palläste auf diese Weise an der Ostsee heimisch geworden ist.
Eine besonders interessante Figur aus dem Kreise der Männer, die Peter
nach Nußland zog, um mit ihrer Hülfe sein Reich zu civilisiren, wenn auch
im Vergleich zu Mummies und Ostermann bloßer rMsr miliormu Zerlinen, ist
der Flensburger Bürger Heinrich Fick, später wirklicher Etatsrath, Jhro
Majestät und des Reiches Vicepräsident des Commerzcollegii, hoher und höch¬
ster Orden Ritter, dann Jahrelang Staatsverbrecher in Sibirien, schließlich
Erbherr großer Güter in Liv- und Estland und auf Grund römisch-kaiser¬
lichen Adelsbriefs, baltischer Baron. Nicht nur, daß dieser Mann auf die
Finanz- und Steuereinrichtungen seines neuen Vaterlandes nachhaltigsten
Einfluß übte — er bildet eine Ausnahme von der Regel, indem er sich nicht
der den zaarischen Absolutismus vertretenden deutschen Partei anschloß, son-
dern für eine Zeitlang an die Spitze der altrussischen Adelspartei stellte und
dieser die leitenden Gedanken für ihr Thun und Lassen eingab. — Hören
wir zunächst was der Pommer Conrad Madebusch, weiland Bürgermeister von
Dorpat und Verfasser einer deutschen Neichsgeschichte, in seiner ungedruckten,
bändereichen livländischen Adelsgeschichte von dieses merkwürdigen Mannes
Politischen Anfängen erzählt: „Herr Heinrich Fick war, wie man mir gesagt
hat, Rathsherr zu Flensburg, ehe er bei der holsteinischen Armee Dienste
that. Es ist eine Verleumdung, wenn man sagt, daß er ein schwedischer
Musterschreiber gewesen, ob ihm gleich solches in einer Schrift bei dem liv-
ländischen Hofgerichte vorgeworfen worden. Er war aber in holsteinischen
Diensten zuerst Commissär. hernach Regimentsquartiermeister, ehe er in des
russischen Monarchen Peters I. Dienste trat. Dieser Fürst brauchte ihn in
sehr geheimen Verrichtungen und schickte ihn nach Schweden. Unter anderen
Aufträgen mußte er von den schwedischen Einrichtungen in Commerz-, Polizei-
und Finanzsachen sich einen Begriff machen und alle dahin einschlagende
Verordnungen sich anschaffen, damit er in Rußland eben diese Einrichtungen
machen möchte, welches er auch that und dafür mit ansehnlichen Gütern in
Livland belohnt ward. Der Kaiser änderte zwar hernach diese Einrichtung
in einigen Stücken, weil er wohl sah, daß sie sich auf Rußland nicht passen
wollte, allein Fick ward Kammerrath und blieb im guten Wohlstande bis
zur Zeit der Regierung der Kaiserin Anna. Im Jahre 1721 und 1722 be-
fand er sich zu Moskow und war bei dem Herzoge Karl Friedrich von Hol¬
stein, der sich daselbst aufhielt, sehr beliebt. Er wohnte nicht weit von dem
fürstlichen Quartiere und war so oft bet Hofe, daß Berkholz ihn unsern
oder des Herzogs ordinairen Gast nennt. Am 13. Januar 1722, so meldet
derselbe Berkholz*), ging der Herzog gegen Abend zum Geheimenrathe Basse-
witz, wo er starcken, Fick und Negelein in aller Andacht bet einem guten
Glase Champagnerwein antraf, wobei sie sich allerhand lustige Histörchen
erzählten. Der Herzog setzte sich an einen besonderen Tisch, verlangte Tinte,
Feder und Papier und sagte, es wäre Schade, daß alle diese artigen und
saftigen Histörchen vergessen werden sollten; er wolle dieselben zum Protocoll
nehmen und bei anderen wichtigen Sachen im Archive wohl verwahren.
Da nun der Herzog anfing, ein ordentliches Protocoll zu halten, jene aber
herzlich vergnügt bei ihrem Wein saßen und einander die lächerlichsten Histör¬
chen erzählten: so ist nicht zu beschreiben, was darin verzeichnet ward. Der
Herzog blieb bis gegen eilf Uhr in dieser Gesellschaft, und als er sich nach
Hause begab, nahm er das schöne Protocoll mit sich, um es am folgenden
Tage ins Reine zu bringen und ein wenig damit die Zeit zu verbringen.
— Auch sonst berichtet Berkholz's Tagebuch an mehren Stellen von diesem
Manne. Am dritten Pfingsttage ebengedachten Jahres mitten unter der Pre¬
digt, welche ein aus Sibirien zurückkehrender schwedischer Prediger in dem fürst¬
lichen Quartier hielt, entstand bei dem Kammerrath Fick Feuer im Schorn¬
stein, welches aber bald durch die Flügel einer Gans, welche lebendig von
oben durch den Schornstein hinuntergelassen worden, gelöscht ward.
Ehe noch dieses vorging, schenkte Peter I. am 26. des Christmonats 1720
dem damaligen Kammerrath Heinrich von Fick das Kirchspiel Oberpahlen mit
den dazu gehörigen Gütern Schloßoberpahlen, Nemmenhof, Woiseck, Pajes,
Kurrista. Eistfer, Addafer, Lustifer, Kalliküll und Teppik. Es ging aber
mit diesem ansehnlichen Geschenk eine große Veränderung vor, denn Katha¬
rina I. schenkte 1723 und 1726 Oberpahlen, Nemmenhof und Addafer dem
schwedischen Generalfeldmarschall Grafen von Ducker; die Güter Kurnsta,
Lustifer, Kalliküll und ein Theil von Tappik dem Vicepräsidenten von Wolf,
das Gut Pajös dem Generalfeldwachtmeister, nachmals Generallieutenant
und Ritter Iwan Bibikow, und Woiseck, Eistfer und einen Theil von Tappik
dem wirklichen Staatsrath von Fick. Bald darauf erlaubte ihm Peter II.,
daß er die geschenkten Güter von Dückern, Bibikow und dem Freiherrn von
Wolf käuflich an sich bringen möchte. In der That kaufte er von dem
Grafen Ducker die Güter Oberpalen, Nemmenhof und Addafer. Peter II.
aber schenkte ihm die Güter Sosarr und Susfifer. Alle diese Güter aber
wurden 1732 bei seinem Falle eingezogen. — Er ward 1726 Vicepräsident im
Commerzcvllegium. Man fand nach einer genauen Untersuchung im Kam-
mercollegium, daß durch seinen Fleiß die jährlichen Zolleinkünfte mit
200,000 Nub. vermehrt worden. Nachdem er Staatsrath und Vicepräsident
im Reichscommerzcollegium geworden war, ward er 1728 Kirchenrath bet
der Se. Petrigemeinde zu Petersburg. Fick fiel im Jahre 1731 in die Un¬
gnade der Kaiserin Anna und ihres Lieblings, des Birons. Ein Brief des
rigischen Rathsherrn von Caspari, welcher damals die Angelegenheiten der
Städte Riga, Dörpat und Pernau am Hofe besorgte, aus Moskow vom
5. April 1731, der in dem dörpatischen Stadtarchive verwahrt wird, meldet
folgendes: „Der Senatssecretair Schulz sitzt in seinem Hause bis in die
sechste Woche noch in Arrest, im gleichen so ist dessen Schwiegervater Fick
in der Inquisition; was selbiges vor ein Ende nehmen werde, weiß Gott
und die Kaiserin am besten."
Wir haben diesem Bericht des alten Dorpater Chronisten, auf den wir
in der Folge wieder zurückgehen, mancherlei hinzuzufügen, sowohl bezüglich
der Vorgeschichte des ehemaligen Rathsherrn der guten Stadt Flensburg,
wie in Sachen seiner Einziehung nach der Thronbesteigung der Kaiserin
Anna Jwanowna, jener denkwürdigen Katastrophe von 1731, welche be-
kanntlich einen entscheidenden Sieg der deutschen Partei über die altrussische
Fronde und deren oligarchisch-aristocratische Bestrebungen bedeutete.
Als Heinrich Fick nach Rußland kam, war das nsubegründete Peters¬
burg wenig mehr als ein Haufen in finnischen Sumpf verstreuter Gebäude,
welche ein kaiserlicher Machtspruch mit widerwillig ausgewanderten Bewoh¬
nern anderer russischer Städte bevölkert hatte. Fick, der mit dem Kaiser in
persönliche Berührung gekommen war und wissen mochte, wie viel diesem an
dem Wachsthum seiner neuen Metropole gelegen war, ließ sich in Peters¬
burg nieder und sein Haus sah den russischen Herrscher (der, wie die Sage
wissen will, an einer der Töchter seines neuen Unterthanen gnädiges Gefallen
fand), öfter unter seinem Dach, als mancher Pallast, der von Abkömmlingen
Ruriks oder Juri Dolgoruki's bewohnt war. Durch die glänzenden Erfolge
seiner Sendung nach Schweden war der ..Kammerrath" ein wohlhabender
und angesehener Mann geworden, dem es leicht fiel, seine Töchter durch vor¬
nehme Heirathen zu versorgen. Die älteste heirathete den Senatssecretair
Schulz (der, wie wir erfahren haben, das Loos seines Schwiegervaters theilte),
die zweite einen livländischen Edelmann, den Kammerherrn Otto Heinrich
v. Zöge-Manteuffel, die dritte wurde mit einem Freiherrn v. Vietinghoff, die
vierte an den Legationsrath v. Lilienfeldt und die fünfte, trotz ihrer Blind¬
heit, an einen Oberwachtmeister v. Lauw („Eine wunderliche Dame, sie schlief,
wenn andere wachten, und wachte, wenn andere schliefen. Sie verbrauchte so
viel Thee, daß 18 andere Personen damit auskommen können") vermählt. Wie
angesehen Fick schon damals war, geht aus dem Umstände hervor, daß als
Pathen eines seiner Kinder' der Herzog von Holstein, Fürst und Fürstin
Menschikow, Frau Generalin Lefort, die Gräfin Bruce und die Ministerin
Jagushinski genannt werden und daß die älteste Tochter sich nach dem Tode
ihres ersten Gemahls mit der Hoffnung schmeichelte. Gräfin Ostermann zu
werden. Von dem Umfang seines Vermögens wird man sich eine Vorstellung
machen, wenn man erfährt, daß die ihm geschenkten livländischen Güter schon
im vorigen Jahrhundert etwa eine Million Thaler werth waren und daß er
außerdem baares Vermögen genug besaß, um den ihm wieder abgenommenen
Theil dieser Güter wieder anzukaufen — und das Alles war in wenigen
Jahren erworben worden.
Aber gerade dieses rasche Aufsteigen und die engen Verbindungen, die
der kühne und ehrgeizige Mann mit den Häuptern der angesehensten russi¬
schen Adelsfamilien geschlossen, sollten ihm zum Verderben werden. Während
seines, wie es scheint mehrjährigen Aufenthalts in Schweden, hatte der ehe¬
malige Rathsherr von Flensburg noch andere Studien getrieben, als die ihm
vom Zaaren aufgegebenen Untersuchungen über „schwedische Commerz-, Po-
lizei- und Finanzsachen". Er hatte, wie Mannstein in seinen bekannten Me-
moiren erzählt, „Geschmack an der republikanischen Regierung in Schweden",
d. h. an dem Treiben der oligarchischen Parteien, welche nach dem Tode
Carls XII. um die -Herrschaft über die skandinavische Halbinsel haderten, ge¬
wonnen, und die damalige schwedische Constitution ebenso gründlich studirt,
wie die Kunst, den Ehrgeiz der Großen für diese Form des Staatsdienstes
zu wecken.
Rußland, dessen wilder und stolzer Adel das eherne Joch seines für
westeuropäische Ideale begeisterten Zaaren nur widerwillig trug und allen
Schreckensgerichten zum Trotz immer wieder die Zügel zu zerreißen versuchte,
an denen er gelenkt wurde — Rußland schien für die Verpflanzung des in
Schweden herrschenden Oligarchenregiments einen besonders günstigen Boden
abzugeben. Zwar konnte, so lange Peter im Regiment saß. nur von der
urtheilslosesten Thorheit an eine Aenderung der Regierungsform gedacht wer¬
den — aber, wie wahrscheinlich erschien damals, daß das große Werk des
despotischen Reformers seinen Schöpfer nicht überleben und mit dem Ende
desselben eine ungeheure Reaktion Platz greifen werde. Was versprach diese
nicht dem Ehrgeiz eines kühnen und in den Geschäften erfahrenen Mannes,
der sich den moskowitischen Großen an Bildung und Geist unendlich über¬
legen wußte, jenen Halbbarbaren, die nur instinktiv ahnten, daß liberaler
Despotismus und Bojarenthum nicht mit einander gingen und die von dem
kunstreichen Gefüge der königlichen Adelsrepublik jenseit des baltischen Mee¬
res kaum etwas gehört haben mochten.
So lange Peter lebte, wußte Fick die Resultate seiner schwedischen Po¬
lizei - und Cameralstudien in seiner Brust zu verschließen. Nach dem Tode des
Mannes aber, der der erste Beamte seines Reichs, die halbe Kraft seines
Staats gewesen war, trat ein, was sein kluger Kammerrath in der Stille vor¬
hergesehen. Während die Ausländer und Peters nächste Günstlinge sich der
Kaiserin-Wittwe anschlössen und durchsetzten, daß diese den Thron bestieg,
ging die altrussische Partei mit dem Plane um, den unmündigen Gro߬
sohn Peters, nachmaligen Peter II. (Sohn des im Gefängniß verstorbenen
Alexei) als Kaiser auszurufen und die Negierung durch eine aus ihrer Mitte
gewählte Regentschaft führen zu lassen. Mentschikow aber, der sich für eine
Zeit lang mit seinem Todfeinde, dem Herzog von Holstein ausgesöhnt hatte,
kam seinen a'ristocratischen Feinden zuvor. So lange Katharina lebte, stand
er an der Spitze der Geschäfte, nach ihrem Ableben führte er die Regent¬
schaft für Peter II. Kurz vor dem Tode des Letzteren erbleichte der Glücks¬
stern des ehrgeizigen Mannes aber, der sich aus dem Staube zum Beherr¬
scher eines mächtigen Reichs aufgeschwungen hatte. Während er die bekannte
Straße nach Nordosten zog, die er so manchem seiner Feinde gewiesen, be¬
mächtigte die Familie Dolgoruki sich der Negierung und als wenig später
Peter II. in das Grab sank, das der 14jährige Knabe sich durch seine Zügel-
losigkeit gegraben, traten diese Führer des malcontenten hohen Adels mit
ihrem Programm hervor.
Dieses Programm war die Beschränkung der absoluten Zaarengewalt durch
einen aus acht hohen Würdenträgern zusammengesetzten „geheimen Rath",
ohne dessen Zustimmung kein Geld verausgabt, kein Vertrag geschlossen, keine
Beförderung vorgenommen werden sollte. Der sächsische Legationsrath Lefort
und Mannstein berichten übereinstimmend, daß man dabei schwedische Ein¬
richtungen zum Muster genommen, und wir wissen bereits, wer das „moäöls
8ur leg Lueäois", das die Russen sich vorgesteckt, mitgebracht hatte — der
inzwischen zum Vicepräsidenten des Commerzeollegiums beförderte Kammer¬
rath v. Fick. Ob Fick gerade jene „acht Punkte", die die Kaiserin Anna im
Januar 1730 zu Mitau unterschrieb (um sie fünf Wochen später zu zerreißen
und ihren Urhebern vor die Füße zu werfen) aufgesetzt hat, wissen wir nicht,
und er selbst hat sich gehütet, jemals darüber Aufschluß zu geben, vielmehr
über sein Verhalten ein ebenso discretes Schweigen beobachtet, wie über die
Untersuchung, welche ihn nach dem Sturz seiner Freunde traf; der erfahrene
Hofmann mochte wissen, daß Staatsgeheimnisse dieser Art nicht für das Volk
bestimmt seien, in dessen Namen man doch zu handeln vorgab — von seiner
directen Betheiligung zeugt Mannstein. Nach dem Sturz der umdenSchwie-
gersohn Peters, den Herzog Karl Friedrich von Holstein, gruppirten holsteinfchen
Partei, mit der er es Anfangs gehalten, war Fick in das Dolgorukische Lager
übergegangen, namentlich mit dem Fürsten Dimitri Michailowitsch Galyzin, einem
der Häupter dieser stolzen Oligarchie, in nahe Beziehung getreten und diesem als
Rathgeber an die Hand gegangen. Die Zeitgenossen maßen ihm eine wichtige
Rolle bei den Plänen zu, die dieser einflußreiche Mann (er war Senator,
Geheimer Rath und Bruder des Generalfeldmarschalls) zur Ausführung brachte;
der Fürst war nämlich nicht nur einer der Urheber der „acht Punkte", welche
die Souverainität Anna's einschränken sollten, sondern er hatte diese Fürstin
in Vorschlag gebracht, als über die Besetzung des erledigten Throns verhan¬
delt und Anfangs Katharina Dolgoruki, die Braut des eben verstorbenen
Kaisers, als Candidaten aufgestellt worden war. Dann war Galyzin als
Vertreter des Senats nach Mitau gereist, um in Gemeinschaft mit Wassili
Dolgoruki, dem Deputirten des geheimen hohen Raths und Leontjew, dem
Bevollmächtigten der Generalität und Garde, die Herzogin, spätere Kaiserin
zur Annahme der ihr gestellten Bedingungen zu bewegen und diese Be¬
dingungen als Ausdruck des Volkswillens zu bezeichnen. Fick — so heißt
es in Gadebusch's erwähnter Handschrift — soll darnach gestrebt haben,
bei dem geheimen hohen Rath eine „wichtige Person vorzustellen" und zu
diesem Zwecke Galyzin „Anschläge gegeben haben, das neue System zu be-
festigen". Für den Charakter dieses „Systems" ist der Schlußsatz des letzten
der „acht Punkte" (der u. A. feststellte, daß keine neuen Auflagen erhoben
werden sollten) typisch: „Wenn ich nach obgeschriebenen acht Punkten nicht
thue, so werde ich verlustig der russischen Krone."
Anna besann sich keinen Augenblick, die ihr vorgelegten Bedingungen
zu unterschreiben. Der Bote der Gegenpartei, Capitain Sumarokow, der
ihr abrathen sollte, war drei Stunden zu spät in Mitau eingetroffen,
sein Geleitbrief in die Hände Leonthews gefallen. Triumphirend kehr¬
ten die drei Bevollmächtigten in die altrussische Hauptstadt zurück. Aber
die konstitutionelle Herrlichkeit, zu welcher die Dolgoruki es mit Hilfe
ihres schleswigschen Rathgebers gebracht hatten, war von kurzer Dauer.
Kaum war Anna in Moskau angelangt, so setzte sie sich mit Hilfe Oster-
mann's der übrigen Ausländer und der Gegner des Geheimen Raths in
den Besitz der unbeschränkten Gewalt und die Dolgoruki wurden als Hoch¬
verräther bestraft und Fick mußte das Loos seiner Freunde theilen. Ihm
war zur Last gelegt, nicht nur mit den Oligarchen conspirirt, sondern auch
lose Reden über den aus Kurland mitgebrachten kaiserlichen Günstling
Biron geführt zu haben, und nach längerer Gefangenschaft mußten er und
sein Schwiegersohn Schulz die Reise nach Sibirien antreten. — Ueber die
wider ihn geführte Untersuchung und deren Resultate herrscht das übliche
Schweigen. Der kluge deutsche Glücksritter scheint seine Sache aber mit Geschick
geführt zu haben; nachdem er den Kopf gerettet, war ihm nur noch darum
zu thun, zu den Vornehmsten der Verurtheilten gezählt und als großer
Herr behandelt zu werden, eine Politik, die sich in der Folge als durchaus
richtig bewies. Wir besitzen ein interessantes, von ihm selbst geschriebenes Acten¬
stück, in welchem er viele Jahre später zur Geltung brachte, daß er keiner von den
Kleinen gewesen, denen es so leicht an Hals und Kragen geht. In einem vom
ö. November 1744 datirten Schreiben an das livländische Landraths-
collegium, bei welchem er sich um die Ausreichung des livländischen Jnoige-
nats-Diploms bemühte, erzählt er folgendes über seinen Proceß: „Damit
wegen meiner ehemaligen unglücklichen Sache und den dabei gehaltenen
irioclis xroeeuäi wegen Verletzung meiner Horreur kein Verdacht entstehen
möge; so ist es ganz Moskau und Petersburg, insbesondere dem kaiserlichen
Hofe, dem Senat und dem Justizeollegio bekannt, als bei welchem meine
Sache tractirt worden,
1) daß ich damals von einem General en Chef, Senateur und Ritter arretirt
und in dem Czarischen Prinzessin Maria Alexewna ehemaligen Zimmer, auch
täglich aus der kaiserl. Küche und Keller honorablement tractirt und wohl
gehalten worden,
2) daß in oberwähnten Arrestzimmern Männer vom ersten Rang jeder
Zeit bei Paaren über viermal zu mir gekommen sind und sich mit mir von
der Sache ohne Protokoll und Canzleibedienten häufig und gütig besprochen,
und da sie nichts gefunden, der Kaiserin Anna hochseligen Gedächtnisses
meine Unschuld berichtet und ich nach 10 Monaten nach Se. Petersburg
ans deutsche Justizcollegium gesandt und daselbst gleichfalls zu vier malen
blos über einige nichtssagende Discourse exciminirt und vom Anfange bis
zuletzt jederzeit mit einem Stuhl beehrt, auch zu Petersburg in einem
adelichen Hause in meublirten Zimmern bis zur Abschickung logirt worden,
3) daß auch das Justizcollegium damals an die Hochselige kaiserliche
Anna und im verwichenen Jahre an den dirigirenden Senat schriftlich be¬
richtet, es wäre in meiner Sache kein crimen, sondern nur DiseourLen sans
Loki8<z<zu<;ne6 gefunden worden, auf welche Unschuld sich auch nun der Se-
natsvortrag und meine Restitution gegründet hat,
4) und obzwar meine teutsche Verfolger insoweit über meine Un¬
schuld triumphirt, daß ich entfernt werden sollen, so habe ich dennoch gleich¬
wohl auch bei der Abschickung gleiche Ehre mit den staatsgefangenen vom
ersten Rang empfunden, indem ich durch einen Capitain von der Garde bis
Tobolsko geliefert und der Instruction gemäß, als ein honneter Arrestant
bis zu meiner Befreiung gehalten worden bin."
Von den sibirischen Geschicken des zum „sonneten Gefangenen vom ersten
Rang" beförderten Schleswiger Bürgerssohnsund dessen Ende, soll das nächste
Mal berichtet werden.
Kunsthistorische Studien von Wilh. Lübke. Stuttgart. Verlag von
Ebner u. seubert. 1869.
In der vorliegenden Sammlung kunsthistorischer Aufsätze, die bereits früher
einzeln veröffentlicht, hier in neuer Bearbeitung erscheinen, müssen diejenigen von be¬
sonderem Interesse sein, die sich auf bisher nur wenig beachtete Specialitäten der
Kunstgeschichte beziehen. Der erste derselben, „eine Reise in Mecklenburg", behan¬
delt in sehr eingehender Weise die hervorragendsten gothischen Bauwerke dieses Lan¬
des, als deren originellstes die im ersten Decennium des 14ten Jahrhunderts be¬
gonnene Klosterkirche zu Doberan erscheint. Nach dem Vorbilde derselben wurden
von den reichsten Städten des Landes während der Blüthezeit ihrer Macht die
alten, wahrscheinlich geringeren Kirchen umgebaut. Als die wichtigsten Grundzüge
in der Constvuctionsweise dieses Baues, wie sie sich in den Anlagen der Marien-
und Nicolaikirche zu Wismar, des Schweriner Domes und der Marienkirche zu
Rostock wiederholen, bezeichnet der Versasser die mächtige Erhebung des Mittelschiffs
über die Seitenschiffe, die eine selbständige Beleuchtung desselben bedingt und die
Anordnung eines Capellenkranzes um den Chor mit gemeinsamem Dach, Eigen¬
thümlichkeiten, für welche die Grundmotive jedenfalls von Bauwerken rheinischer
oder französischer Gothik entlehnt wurden. Nach den Angaben der Jahrbücher des
Vereins für mecklenburgische Geschichte und Alterthumskunde besitzt das Land auch
aus anderen Epochen, namentlich aus der „Uebergangszeit" einen großen Reichthum
an Baudenkmälern, welche sämmtlich noch keiner genauen und zusammenhängenden
Forschung unterzogen worden sind. — Gegenstand der folgenden Abhandlung sind
die alten Oefen der Schweiz, wiederholt aus den Mittheilungen der antiquarischen
Gesellschaft in Zürich. Von einer künstlerischen Gestaltung des Ofens, der in der
Cultur des mittelalterlichen Nordens frühzeitig an die Stelle des alterthümlichen
Heerdes trat und in der karolingischen Epoche nachweislich etwas Bekanntes war,
haben sich aus der späteren Zeit des Mittelalters einzelne Beispiele im südlichen
Deutschland erhalten. Die ältesten Oefen der Schweiz tragen bereits das Gepräge
der Renaissancekunst. Die meisten derselben sind Kachelofen, Werke des Hafners.
In ihrer Geschichte werden vom Verfasser drei Epochen unterschieden; in der ersten
erscheint der Ofen rein als architektonisches Werk, monochrom und mit einfachen
plastischen Gliederungen, die zweite entwickelt in demselben in stark vortretenden
Reliefs eine große Fülle bildnerischen Schmuckes, die dritte drängt das Plastische
zurück und gibt dem Ösen eine reiche malerische Verzierung. — Ein dritter Aufsatz
beschäftigt sich mit den alten Glasgemälden der Schweiz, unter welchen außer den
berühmten Fenstern im Chor der Kirche zu Königsfelden besonders die Glasmale¬
reien in Profanbauten des töten Jahrhunderts das kunstgeschichtliche Interesse in
Anspruch nehmen. Auch der wesentliche Inhalt dieser Abhandlung ist bereits früher
in den „Mittheilungen der antiquarischen Gesellschaft in Zürich" und in den „Denk¬
mälern des Hauses Habsburg" enthalten. Lag ein genügender Grund vor, diese
Arbeiten hier zu reproduciren? — Die übrigen Aufsätze bewegen sich nicht auf dem
Gebiet der Specialstudien, sie haben nach der Erklärung des Verfassers die Absicht,
aus einer Summe kunstgeschichtlich sichergestellter Thatsachen für die sinnige Be¬
trachtung bleibende Ergebnisse zu ziehen. Die einen schildern das Leben und die
wichtigsten Werke Michelangelos, Tizians, Paul Veroncses und Cornelius', zwei
andere den gothischen Stil in seinen nationalen Unterschieden und die moderne
Berliner Plastik. Der besonders ansprechend geschriebene Aufsatz über die Frauen
in der Kunstgeschichte gibt nicht, wie man erwarten könnte, eine Schilderung der
Frauen, welche selbst künstlerisch thätig waren, sondern einer Geschichte des weib¬
lichen Ideals, wie sich dasselbe in den künstlerischen Hervorbringungen verschie¬
dener Zeiten und Völker, namentlich in den Werken christlicher Kunst aus¬
gesprochen hat.
Da in diesen Wochen die Ritter und Senatoren unseres Staates nicht
verschmähen, von der ernsten politischen Arbeit auf der Rennbahn Erholung
zu suchen, möchten gern auch die Grenzboten ihrer Pflicht, Zeitinteressen prü¬
fend zu begleiten, durch einen kleinen Sportartikel genügen. Leider haben
die Rennpferde, welche wir aus 'unseren Ställen auf die Bahn zu bringen
vermögen, ein sehr geisterhaftes Aussehn, denn es sind nur die Schattenbilder
jener Rosse, die vor sechshundert und wieder vor sechszehnhundert Jahren in
den Schranken liefen. Und wir fürchten, statt der Schilderung frischen Le¬
bens nur eine farblose Erinnerung an vergangene Zustände bieten zu kön¬
nen. — Noch ist das Jahr dem jetzt lebenden Geschlechte nicht vergessen, wo
in Deutschland die ersten Wettrennen mit jährlicher Wiederkehr eingerichtet
wurden nach englischem Muster, als Vergnügen anspruchsvoller Kreise, dem
Volke ein neuer Anblick. Seitdem haben die deutschen Pferderennen so zu¬
genommen, daß jetzt schwerlich einer ansehnlichen Stadt oder Landschaft der
Rennverein fehlt. Wenn der bedächtige Landwirth noch heute mit gemisch¬
ten Empfindungen auf die eingebürgerte Zucht von Rennpferden blickt, auf die
Summen, welche bei Rennwetten umgesetzt werden, und auf Abenteurer aus
alten Familien, welche ihre Stallknechtpassionen und zuweilen die entsprechende
Gesinnung mit dem werbenden Capital ihrer Rosse von einer Landschaft zur
andern führen, so sind seine Bedenken gegen die Rennbahn fast so alt, als die
Nennspiele selbst. Denn es ist keine neue Beobachtung, daß eine spielende Hin¬
gabe an virtuose Leistungen bei Menschen und Thieren die praktische Brauch¬
barkeit für dieselben Zwecke, welche das Spiel fördern soll, selten begünstigt,
Unwesentliches wird die Hauptsache, selbst die Zucht für das Spiel vermin¬
dert die Tüchtigkeit für den Ernst. Auch unleugbarer Nutzen wird vielleicht
aufgewogen durch die Unarten, Verirrungen und Laster, welche mit jeder
leidenschaftlichen Spielfreude unzertrennlich verbunden sind. Das erfuhren schon
die Tjostreiter des Mittelalters, welche ungepanzerten Bauern unterlagen, und
vor ihnen die römischen Kaiser, welche das weiße Tuch in den Circus warfen
und für ihre Kriege Reiterei und Fußvolk von den Barbaren miethen mußten.
Aber ob man die Wettrennen mit warmer Theilnahme oder kritisch be¬
trachte, sie haben unleugbar, seit in Europa überhaupt Cultur besteht, eine
bedeutsame und glänzende Geschichte; sie waren fast in jedem Jahrhundert
charakteristischer Ausdruck der herrschenden Neigungen und Bildung, in man¬
chen Zeiträumen von entscheidenden Einfluß auf die Politik und die Geschicke
der Staaten.
Das moderne Interesse an der Rennbahn reicht bei weitem nicht an
die Bedeutung, welche die Rennbahn im 12. und 13. Jahrhundert und
wieder tausend Jahre früher in der römischen Welt gewonnen hatte. Jetzt
fordern wir vom gerittenen Pferde Schnelligkeit und Dauer des Laufes in
ebener Bahn und durch Terrainhindernisse, wir schätzen vorzugsweise Blut und
Training, welche durch die Kunst des Reiters zur Geltung gebracht werden.
Im Mittelalter war Hauptsache die gewandte Speerkunst des Reiters, erst in
zweiter Linie die Wucht des beschleunigten Nosselaufes. Im Alterthum waren
es auch die Schnelle und kunstvolle Ablichtung des Rosses, aber nicht vor¬
zugsweise des Reitpferdes, sondern des Gespannpferdes und daneben die
schwere Kunst des Bahnlenkers, welche bewundert wurden.
Wer über die römische Rennbahn Ausführliches in anmuthiger Schil¬
derung lesen will, möge in „Darstellungen aus der Sittengeschichte Roms
von Ludwig Friedländer" den Abschnitt „Schauspiele" aufschlagen, für
die byzantinische Zeit: „Wilken, die Parteien der Rennbahn". Hier soll Ein¬
zelnes von dem römischen Brauch hervorgehoben werden, was in dem Wett¬
rennen der modernen Bahn sein Seitenbild findet, oder dazu in nicht immer
verständlichen Gegensatz steht.
Die Wettrennen waren, wie alle öffentlichen Schauspiele des Alterthums,
meist officielle Acte, welche an Festen der Götter und des Staates und großen
Gedächtnißtagen von den Kaisern und den höchsten Beamten veranstaltet
wurden, zuweilen auch von reichen Privatpersonen; nicht nur in Rom, son¬
dern fast in allen großen Städten des Kaiserstaates. Der Spielgeber er¬
öffnete das Fest, wenn er ein hoher Würdenträger oder die Veranlassung
eine festliche war, durch feierliche Processton (pompg.) und Einzug in die
Rennbahn, er hatte den Vorsitz und vertheilte die Preise. In Rom war
nicht nur der Luxus der Rennfeste am großartigsten, auch die Wiederkehr am
regelmäßigsten. Bis zur Regierung Mare Anton's scheint sich dort die Zahl
der jährlichen Renntage fortwährend vermehrt und in dieser Zeit wohl 40
bis SO Tage des Jahres betragen zu haben. Daß seit Marc Aurel im
Ganzen keine Zunahme stattgefunden habe, schließen wir nur aus der be¬
drängten Lage des Staates, nicht aus Ueberlieferung. Es war also in guten
Rennjahren des zweiten Jahrhunderts jeder siebente bis achte Tag des Jahres
zu Rom ein Renntag. Schon solche Ausdehnung läßt auf einen ungeheuren
Rennaparat schließen. Diese ganze Ausrüstung aber war in der Hand von
vier großen Rennclubs.
Die römischen Renngesellschaften haben eine tausendjährige Geschichte.
Von der letzten Zeit der Republik bis in das Jahrhundert der Kreuzzüge
besorgten sie zu Rom und Constantinopel, überall wo die römische Herrschaft
antike Cultur verbreitet hatte, die größten Schaufeste der Völker; durch länger
als ein Jahrtausend waren sie das aufregendste, regelmäßig wiederkehrende
Interesse in dem alternden Kaiserstaate. Die großen Trainirschulen der
Gladiatoren hörten mit der Einführung des Christenthums auf. aber die
Clubs für Rennsport beschäftigten unter dem heiligen Kreuz von Byzanz
ebenso leidenschaftlich, wie unter der Herrschaft des Vater Jovis. welcher
selbst aus einem Viergespann von der Höhe des Capitals auf die große Renn¬
bahn seiner Römer herabsah.
Die Rennclubs der Römer und Byzantiner waren Gesellschaften von
Sportmen und Capitalien, welche Rosse, Wagen und Jokey's, Gestüte, Trai-
niranstalten, Handwerker und Sclaven für die Dienste der Rennbahn unter¬
hielten und an die Unternehmer der Spiele vermietheten. Sie hatten allmälig
eine Art Privilegium für Beschaffung des gesammten Rennapparats er¬
worben; wer öffentliche Spiele geben wollte, mußte sich mit ihnen über den
Kostenpreis verständigen, und sie scheinen die Tyrannei privilegirter Unter¬
nehmer schon früh in einer lästigen Weise geübt zu haben. Seit es auf¬
gekommen war, die Rennen ganze Tage dauern zu lassen, weigerten sie sich
Wohl, für eine kleinere Anzahl von Rennen ihren Apparat zu leihen, und der
Prätor A. Fabricius ließ im Jahre S4' n. Ch. ihnen zum Spott Hundegespanne
rennen, weil er ihre ausschweifenden Forderungen nicht befriedigen wollte.
Die Kaiser selbst wußten sich ihrer Tyrannei nicht zu entziehen; sie unter¬
hielten zwar wenigstens in den ersten Jahrhunderten n. Chr. eigene Gestüte
und Trainiranstalten, aber ihre Rosse liefen doch unter den Abzeichen einer
Partei; der Versuch, welchen Domitian machte, eigene kaiserliche Clubs ein¬
zurichten, hatte keine Dauer.
Wir wissen wenig von ihren Anfängen. Die beiden ältesten Renn¬
vereine in Rom, welche schon zur Zeit der Republik erwähnt werden, waren
der Club der Schimmel und der Braunen (taetio aldata und russkta,). Sie
mögen sehr alt sein und schon vor Einrichtung der großen Rennbahn, des
Lireus maximus, die Bauerschaften der Siebenhügelstädte bei dem alten
Volksfest des Roßlaufs, den Equirien, am Ufer der Tiber in Parteien ge¬
theilt haben. Die Clubnamen werden im Deutschen ungenau in „Weiße"
und „Rothe" übersetzt, dem Römer drückte ihr Name vor Allem,die beiden
Pferdefarben weiß und braun aus. Ebenfalls ungenau ist die deutsche Ueber-
tragung der späteren Sportvereine in „Blaue" und „Grüne". Wenn die dritte
Gesellschaft, der Club der Veneder (k. vevsw) zuerst in die Bahn trat, wissen
wir nicht. Da der altitalische Volksstamm dieses Namens, welcher unter
Galliern im Norden der Pomündung wohnte, nach sagenhafter Ueberlieferung
mit dem Ahnherrn des Julischen Kaiserhauses aus Troja eingewandert war,
und da Virgilius, der große Hofdichter des Julischen Geschlechts, diese Stamm¬
verwandtschaft hervorhebt, so ist nicht unwahrscheinlich, daß der Clubname
unter Cäsar oder Augustus in Aufnahme gekommen ist, und daß nicht die
Farbe, welche der Club führte, der Faction zuerst ihre Namen gegeben hat,
sondern daß die Farbenbezeichnung, venotus color. erst durch die Rennbahn
in die lateinische Sprache eingeführt wurde. Die Farbe war die des blau¬
grünen Meeres, aus welchem einst Venus, die Ahnfrau des Kaiserhauses, auf¬
getaucht war. Eine Nuance der Farbe, die lauchgrüne, kam mit dem vier¬
ten Club, taetio piÄsina, unter den Claudischen Kaisern auf, und dieser Club
wurde durch kaiserliche Gunst schnell der angesehenste. Wir wissen nicht, ob
irgend welche Opposition des Claudischen Hofes gegen Julische und republi¬
kanische Erinnerungen mitgewirkt hat. Daß aber solche stille Gunst und
Abneigung auch in der Rennbahn während des ersten Jahrhunderts der
Kaiserzeit eine Rolle gespielt hat, ist unzweifelhaft. Kaiser Galba, der gegen die
Claudier heraufkam, begünstigte wieder die meergrünen Veneder, ebenso Vitellius,
der sich auf die Anhänger des Galba stützen wollte. Unter den späteren Kai¬
sern wurden die ursprünglichen Hausbeziehungen der Clubs gleichgültig, aber
die maßlose und leidenschaftliche Parteinahme des Publicums und der Kaiser
für eine und die andere Farbe war doch nicht ohne politischen Hintergrund.
Es ist wahr, die Factionen der Rennbahn trieben keine Politik, die Clubs
selbst bestanden aus Pferdezüchtern und hart gesottenen Speculanten, die sich
in ihrem wohlverstandenen Interesse auf der Rennbahn Concurrenz machten,
außerdem gegen das Publicum und die Festgeber zusammen zu halten wußten.
Aber die gesammte Bevölkerung der Städte, welche den Sport nicht gewerb-
mäßig trieb, vom Kaiser bis zum obdachlosen Straßenbuben, war in Par¬
teien getheilt, schlechte Kaiser brachten siegreiche Wagenlenker feindlicher
Factionen um, und der kleine Mann beroch ängstlich den Mist der Renn¬
pferde, um daraus zu folgern, ob die Nenner seiner Partei das richtige Futter
erhalten hatten. Mehr als' einmal entbrannte in Rom und Constantinopel
durch die Excesse des Circus ein Aufruhr, welcher dem kaiserlichen Thron
furchtbare Gefahr drohte. Die Rennbahn war der Ort, wo das Volk sich
am meisten als Masse fühlte gegenüber seinen Gewaltigerm, und wo es sich
die Freiheit herausnahm, durch Zuruf, Beifall und Spottreden auch die höchsten
Machthaber zu kritisiren; dort wagte es, durch Acclamationen wahres oder
officielles Wohlgefallen auszudrücken, aber auch Forderungen zu stellen, welche
mit der Rennbahn nichts zu thun hatten, die Verurtheilung von Verbrechern,
die Begnadigung von populären Angeklagten zu fordern. Für die Vorbereitung
solcher Massendemonstrationen muß sich sehr früh eine bestimmte Methode
ausgebildet haben, über welche wir nichts wissen, die aber zu den merkwür¬
digsten Erscheinungen des Straßenlebens im spätern Alterthum gehört. Wenn
im römischen Senat mehrere Hundert Stimmen den Kaiser mit langen Rede¬
sätzen emphatisch begrüßten, so kann man sich wohl denken, daß die Worte,
soweit sie nicht als formelhaft und herkömmlich in Jedermanns Gedächtniß
waren, von den Führern und Einpeitschern des Senats vorher schriftlich
mitgetheilt wurden. In einer Circusversammlung von 2—300.000 Menschen
war dies Ablesen unmöglich, und doch mußte eine organisirte Verabredung statt¬
finden, welche durch Claqueure der Rennclubs und durch Helden der Straße
vermittelt worden sein mag. Was auf abgelegene Mauerwinkel gekritzelt,
in hundert Osterien umhergetragen, in den zahlreichen Innungen und Brüder¬
schaften des alten Roms besprochen wurde, das klang zuletzt wie Donnersturm
von den Sitzreihen des Circus, und zwar nicht als unverständliches Geschrei,
sondern deutlich, in sicheren Absätzen, mit gleicher Modulation der Stimme,
erschütternd in das Ohr. Groß war die Bedeutung dieser Zurufe für die
Machthaber. Schon die Biographen der späteren Kaiser verzeichnen lange
Acclamationen. Als das römische Reich des Westens getilgt war und ger¬
manische Könige über die alten Provinzen des Kaiserstaats herrschten, dauerte
in den Stadtgemeinden derselbe römische Brauch, und mit ängstlicher Kritik
wurde von den gothischen und fränkischen Königen jedes Wort eines solchen
Zurufs erwogen, den die Bruderschaften der Bürger überdacht und her¬
gesungen hatten.
Bei solcher Bedeutung der Rennbahn für das Volk und seine Herrscher
war es natürlich, daß der Hof nicht nur aus leidenschaftlicher Freude am Sport
einzelne Clubs begünstigte, welche gerade populär waren, und daß diese Partei¬
nahme der Kaiser und ihrer Günstlinge die Unzufriedenen und den Oppo¬
sitionsgeist der Bürgerschaft um die entgegengesetzte Partei sammelte.
Wenn dann das Volk in auffälliger Weise für Meergrün Partei nahm,
während die Freunde des Kaisers dem Lauchgrün zuriefen, so war nicht zu
verwundern, daß ein schwacher Fürst darin persönliche Beleidigung sah und
gelegentlich den herausfordernden Trotz eines Jockey mit tödtlichen Haß
verfolgte. Die Pflicht, das Volk unablässig zu amüsiren, gehört zu den alten
Leiden des Imperialismus, und ebenso die Versuchung, in jeder Unart der
Straße und des Schauspiels einen persönlichen Angriff auf die Person des
Herrschers zu finden.
Die vier Parteien der Rennbahn bestanden bis in die Byzantinerzeit,
je zwei derselben, die Schimmel und die Lauchgrünen, und wieder die Braunen
und die Meergrünen standen in engerer Verbindung, doch scheinen die schwächeren
nie in den beiden großen Clubs von Lauchgrün und Venetischgrün ganz auf¬
gegangen zu sein, da die Vierzahl der rennenden Gespanne bestehen blieb und
ohne Gegensatz der Parteien die Farben und Sprichwörter wesentlich an Reiz
verloren hatten. Die Clubs gaben der Schaulust Material und Farben, aber
der menschliche Antheil des Publicums galt nicht den Theilhabern der Clubs
selbst, sondern ihren Jokey's und den Pferden.
Den Römern war das Pferd weniger vertraulich in Hof und Wirth¬
schaft gesellt, als irgend einem andern größeren Culturvolk, etwa die Aegypter
ausgenommen. Es wurde ihnen zu keiner Zeit in der Weise Nutzthier, wie
uns. Vor dem Pfluge, zu Fuhren der Landwirthschaft, am Lastwagen diente
dem römischen Landwirth das Rind, das Roß war ein Luxus der Vornehmen,
die Ehre der Ritter, lange Zeit fast nur für Krieg und Spiel. Auch die
Vornehmen benutzten das Wagen- und Reitpferd in Italien nur ausnahms¬
weise, sogar im Kriege hat die römische Reiterei selten die Kühnheit des
geschlossenen Angriffs auf stehendes Fußvolk gezeigt, welche das gepanzerte
Reiterheer des Mittelalters und die Schwadronen Ziethen's bewährten.
Dafür wurden die großen Gestüte zur Kaiserzeit eine lohnende Spekulation,
sie züchteten außer edlen Kriegsrossen vornehmlich Rennpferde und erstrebten die
Entwicklung der Sportvirtuositäten für Rirt und Gespann mit größter Sorg¬
falt. Und die Bewunderung, welche ausgezeichnete Pferde im Circus fanden,
war gerade vielleicht darum weit größer, als jetzt, weil die ganze Gattung dem
Römer weniger alltäglich blieb, als dem Germanen. Die Eigenschaften guter
Rennpferde, ihre Gescheidheit und die Sicherheit ihrer Dressur wurden das
Entzücken der ganzen Stadt. Die Kenntniß ihres Stammbaums, ihrer
Pflege und Trainirung galt bei Vornehm und Gering als modisches Wissen,
wodurch man sich als Mann von Welt und Stall zu erweisen hatte. In der
That dürfen wir aus einzelnen Anecdoten schließen, daß die systematische
und fortgesetzte Zucht für den Sport ganz außerordentliche Resultate gegeben
habe an Gestalt, Dauer, Feuer und Intelligenz der Pferde.
Auch auf die Farbe achtete der Römer, er forderte sie rein und bestimmt,
liebte nicht die Abzeichen. Für die Götterwagen, welche bei großen Festen
im Zuge gefahren wurden, müssen seit frühster Zeit Rosse von bestimmter
Farbe gewählt worden sein, dem Jupiter z. B. weiße, dem Apollo Füchse.
In der Kaiserzeit galt für das bei weitem schönste Pferd daäiu-z, der Fuchs;
seine Farbe wurde gern mit der Farbe der Dattel verglichen, welche durch
die Sonne noch nicht völlig gar gekocht ist. Nächst ihm aurons, der Gold¬
fuchs*). Dann russeus der Braune; murteus der Kirschbraune, dessen schöne
Farbe den Römern als Mischung von Purpur und Schwarzbraun erschien;
esrvinug der Rehbraune. Ferner Zilbus die Jsabelle, deren charakteristische
Glasaugen um 620 nach Christi der spanische Bischof Jsidor genau beschreibt;
Lia-neuf bei den Griechen ursprünglich wohl der Blau- und Hechtschimmel,
den Römern wurde das Wort aber gleichbedeutend mit ihrem elavus der Falbe
(Gellius II-, 261). Darauf die Schimmel: seuwl-los der Apfelschimmel,
albus der Weiße, guttatus der Fliegenschimmel, eg-näiciissimus der Atlas¬
schimmel. Endlich niger der Rappe, pressus der Sommerrappe. Im ge¬
ringsten Ansehn standen varius der Schenke und Tiger und e^iius, die Art
von Schimmeln, Mausefahlen und Gestichelten, bei denen Fahlgrau mit Schwarz
gemischt war.
Die höchsten Leistungen in der Bahn wurden von den Gespannpferden
gefordert, und die allerhöchsten im großen Circus von Rom, wo die edelsten
Rosse der ganzen Welt mit einander rannten. Nächst der Schnelligkeit und Dauer
des Laufes war das gewandte Durchdrängen durch den engsten Zwischenraum
der anderen Gespanne, schnelles Ausweichen und scharfes Biegen in der innern
Bahn um die beiden Wendestellen Hauptsache. Da die innere Bahn immer
zur linken Hand lag und die schweren Bahnwendungen von rechts nach links
gemacht wurden, hatte das linke Pferd des Gespanns bei weitem die schwerste
Aufgabe und der Erfolg hing zum großen Theil von seiner Geschicklichkeit
ab. Dafür erhielt es auch die volle Ehre des Sieges, es hieß das Leitpferd,
sein Name war in aller Munde und wurde als der des siegreichen Gespanns
verzeichnet; und wenn einem ruhmvollen Viergespann durch Testament eine
Alterspenfion ausgesetzt worden war, so sollte diese nach der Meinung weiser
Rechtskundiger so lange ausgezahlt werden, als das Leitpferd lebte. Auch
die Dauer berühmter Rennpferde war erstaunlich. Wenn der Tuskus als
Leitpferd des Jockey Fortunatus von dem Lauchgrünen 386mal, und der
Braune Victor des Jockey Gutta von demselben Club 429 mal siegten, so
müssen sie nach allen überlieferten Zahlenverhältnissen wenigstens viermal so
oft am Viergespann gerannt sein, also circa 1600—1700mal, im großen
Circus fast ebensoviel Meilen. Und diese Leistungen waren nur die Thaten
ihrer gereiften Kraft, denn alle Rennen im Zweigespann sind dabei gar nicht
gerechnet. Doch galten schon hundert Siege eines Rennpferdes für eine aus¬
gezeichnete Leistung, ein solches Roß wurde durch den Titel eeutellaiius
geehrt, wahrscheinlich auch durch besonderen Schmuck.
Die beste Ehre der Bahn wurde den Jockey's zu Theil. Gefahr und
Kunst derselben waren wohl größer, als auf unserer Bahn. Aber das Preis¬
geben der Person bei öffentlichen Schauspielen jeder Art war in Rom ein an¬
rüchiges Thun; der Jockey war nicht in der Weise unehrlich, wie der unfreie
Gwdiator, aber bürgerlich respektabel wurde seine Thätigkeit zu keiner Zeit,
auch dann nicht, wenn sein Ruhm in Aller Munde war, wenn er als Günst¬
ling liederlicher Kaiser und Kaiserinnen mit einem Schweif vornehmer Clien¬
ten durch die Straße zog, wenn Kaiser und Senatoren an seinem Gespanne
die Dienste von Stallknechten verrichteten. Nur bei seltenen Rennen an hohen
Götterfesten oder auf Befehl eines eigenwilligen Herrschers oder als verlorene
Söhne betraten einmal Dilettanten aus den höheren Ständen griechischem
Brauche gemäß die Rennbahn; dergleichen fiel im Kreise römischer Natio¬
nalität immer als ein grobes Wagniß auf. Das hinderte die Jockeys natür¬
lich nicht, nach Zeitgeschmack berühmte Leute zu werden, welche auf einen
Consul und Senator übermüthig herabsahen und sich auf den Straßen Roms
Frevel und Gewaltthat erlaubten, ohne daß die Polizei einzuschreiten wagte.
Sie kamen vielleicht aus dem Sclavenstand herauf, aber sie blieben schwerlich
Sclaven, denn wenn sie den Beifall der schauenden Menge gewonnen hatten,
forderte diese im Circus selbst ihre Freilassung, und wir sind zu der An¬
nahme geneigt, daß das Meisterstück ihrer Kunst, der Sieg auf dem Vier¬
gespann, ihnen die Freiheit vermittelte, ja daß sie selbst nur Freigelassene auf
der summa yug>at'iAg, duldeten. Im Ganzen ist ihre sociale Stellung und
ihr Wesen am ersten mit dem unserer Kunstreiter zu vergleichen. — Nicht
alle übten die gleiche Kunst; sie waren, soweit ihre Thätigkeit erkennbar
ist, entweder Abspringer, clesultorös, welche als Reiter mit zwei Rossen
rannten, und während des Rennens die Rosse wechselten, oder Kutscher, sgi»
es-toiW. Beide traten in ähnlicher Jockeytracht und in den Farben ihrer
Partei auf, aber die Kutscher waren seit der Kaiserzeit die Abtheilung, an
welche sich das leidenschaftlichste Interesse heftete. Als Sieger erhielten sie
im Circus das Siegeszeichen, die Palme, und die ausgesetzten Preise; ihr
Name wurde in die Zeitungen (aetg) und durch Stutuen auf die Nachwelt
gebracht, und berühmte Kutscher müssen selbst Rennpferde als Eigenthum ge¬
habt, oder unabhängig von den Clubs als Vorsteher von Gestüten reicher
Privatleute besorgt haben. Denn ihre Abhängigkeit von dem Club, dem sie
zugehören, ist keine dauernde, sie gehen von einer Partei zur andern über
und nehmen dann ihre Leitpferde mit. Dieser Wechsel der Partei scheint
bei berühmten Jockey's so lange erfolgt zu sein, bis sie selbst als Capita¬
lien unter die Mitglieder eines Clubs aufgenommen wurden. Sie bil¬
deten alle zusammen zu Rom eine Brüderschaft unter Vorstehern mit Heilig-
thum und Lade. Ihre Laufbahn ist nicht ohne Interesse, früh begann die harte
Schule des Stalls, sie übten sich auf den Privatbahnen, welche ihre Clubs
oder vornehme Römerin den großen Gärten angelegt hatten, und traten als
Anfänger im Circus zuerst mit dem Zweigespann auf. Hatten sie darauf
eine große Anzahl Siege gewonnen — der Jockey Diokles z. B. tausend Siege
auf der Biga, — so erwarben sie das Bürgerrecht des Circus durch einen
Sieg auf dem Mergespann. Jetzt wurden sie vielbesprochene und umworbene
Männer, erwarben eigene Rosse, gewannen vielleicht hohe Preise und konnten
wohlhabende Leute werden. Das höchste Ziel des Ehrgeizes aber war, auf der
hohen Quadriga tausend Siege zu gewinnen und den seltenen Ehrentitel will«,
varius zu erreichen. Der Jockey Pompejus Musclosus im zweiten Jahr¬
hundert gewann sogar 3359 Siege, die höchste sicher überlieferte Zahl. Zu-
weilen glückte ihnen, sich bei guten Jahren aus dem gefährlichen und auf¬
reibenden Beruf in das Stillleben der Provinz zurückzuziehen. Aber wir er¬
fahren auch, daß einzelne berühmte Jockey's ihr schweres Athletengewerbe bis
in das Greisenalter forttrieben.
In der Rennbahn auf leichtem zweirädrigen Wagen, der hinten offen,
vorn mit halbrunder, niedriger Brüstung versehen war, stand der Jockey,
in eng anliegender Tunika ohne Aermel, einen Lederhelm auf dem Haupt, die
Zügel der Rosse am breiten Gurt befestigt, ein Messer zum Lösen der Riemen
für den Nothfall an der Seite, die Peitsche mit Schlagriemen in der Hand.
Die Schwere und Höhe seiner Rennwagen scheint nach der Zahl der vor¬
gespannten Pferde verschieden gewesen zu sein. Geraume wurde im Circus,
einem langen offenen Raum, dessen zwei geradlinige Langseiten durch parabo¬
lische Bogen verbunden waren. Der gesammte Raum wurde durch die
Architektur der Sitzreihen eingefaßt, welche am großen Circus zu Rom
nach verschiedenen Neubauten in der letzten Kaiserzeit mehr als 300,000
Plätze boten. In der Mitte der Bahn lief eine Schranke, später'niedriges
Mauerwerk, entlang, welches in der Sportsprache später Zeit sMa, Rück¬
grat, hieß. Die Wendestellen oben und unten waren durch je drei kegel¬
förmige Zeichen, die meos, markirt. Die Bahn lief vom Ausgangspunkte
an-der rechten Seite der sxiim hinab, um die Hinteren Kegelmarken herum,
auf der linken Seite zum Ausgangspunkt zurück. Abgerannt wurde von der
oberen Schmalseite, diese war durch eine Mauer geschlossen, in deren Mitte das
große Eingangsthor und daneben rechts und links im großen Circus je sechs
Rennthore waren durch Schranken gesperrt, von denen die Wagen ausliefen.
Die Zahl der Thore aber war nicht in jedem Circus dieselbe, zwölf die
höchste Zahl. Im großen Circus scheint die Mauer, aus deren Oeffnungen
abgefahren wurde, rechtwinkelig gegen die Bahnachse gestanden zu haben, auf
anderen Bahnen lief auch sie in einer Curve, was günstiger war, denn bei
gerader Abfahrtlinie waren die Wagen zunächst der äußeren Bahneinfassung
in beträchtlichem Nachtheil. Die Thore des Abrennens wurden ausgelost.
Der gewöhnliche Lauf eines Rennens ging siebenmal um die ganze Bahn.
Ein Kreidestrich auf der Abfahrtseite bezeichnete das Ziel.
Die Länge der Rennbahn ist auffallend, sie betrug in dem großen Circus
bet sieben Umläufen fast eine Meile, und wenn auch die Zahl der Umläufe
gelegentlich auf fünf verkürzt wurde, so muß doch jedes Rennen bei zwei
Dritteln einer deutschen Meile 8 bis 12 Minuten gedauert haben. Die Zahl
der Rennen aber wurde seit dem ersten Jahrhundert unablässig vermehrt, von
10 und 12 seit Caligula bis auf 24, 25, 30, zuweilen wurde sogar die Nacht
zu Hülfe genommen und in glänzend erleuchteten Circus gerannt. Die
Schnelligkeit, mit welcher die Rennen auf einander folgten, und die Be¬
hendigkeit der Vorbereitungen muß deshalb größer gewesen sein, als bei uns.
in einer Stunde zuweilen drei Rennen; fast unbegreiflich groß aber die Kraft
und Ausdauer der kutschirenden Jockey's. Der Kutscher Diokles zur Zeit
des Kaiser Hadrian hat in 24 Jahren 5251 mal mit dem Mergespann ge¬
rannt. Rechnet man auf das Jahr mit Friedländer etwa 50 Renntage, so
würde derselbe an jedem Renntag 4 bis 5 mal gerannt sein, aber man wird;
da nicht jedes Jahr für diese Feste günstig war, die Zahl der jährlichen
Renntage zu Rom im Durchschnitt schwerlich höher als auf 40 setzen dürfen,
also auf eine Tagesleistung von 6 bis 6 Nennen. Da dies undenkbar ist, so
müssen die Jockey's an freien Tagen in der Provinz gearbeitet haben.
In den Rennen war weit mehr Abwechslung, als gegenwärtig. Sie
wurden unterschieden zuerst nach der Zahl der Gespannpferde. Das Wett¬
rennen im Zweigespann war sehr gewöhnlich, es galt für die Schule junger
Jockey's, wurde verhältnißmäßig wenig geachtet und die dabei erfochtenen
Siege unter den ruhmvollen Thaten großer Bahnhelden gar nicht mitgezählt.
Dagegen muß das Rennen mit Dreigespann von Kennern als feine Kunst¬
arbeit geschätzt worden sein, denn es wurden dafür auch hohe Preise aus¬
gesetzt, und die Wagenlenker rühmen sich dieser Siege. Aber Hauptsache aller
Cireusfeste waren die Rennen vom hohen Wagen des Viergespanns. Auch
größere Zahl von Pferden wurde zusammengespannt, 6, 7, 8, sogar 10, als
seltene Rennen berühmter Virtuosen um besondere hohe Preise, bei denen die Ab¬
fahrt nicht aus den Thoren, sondern von einem weißen Strich der Bahn erfolgt
zu sein scheint. Die Pferde wurden stets in eine Reihe nebeneinander gespannt.
Ferner war die Zahl der Wagen, welche zugleich rannten, verschieden.
Das gewöhnliche Rennen der Viergespanne war, daß jede der vier Parteien
eine Quadriga in den Kampf stellte, dann hatten die Wagen reichlichen
Raum, die Schnelligkeit und Schulung der Pferde und die Kunst des Lenkers
vermochten sich am deutlichsten zu zeigen, die Siege darin wurden von den
Kutschern als besonders ehrenvoll aufgezählt. Die Rennen von je zwei
Viergespannen der einen Partei, also von acht Wagen, waren nicht selten,
auch hier wechselte der Zeitgeschmack, sie scheinen am Ende des 2. Jahr¬
hunderts besonders beliebt gewesen zu sein; seltener waren Rennen zu je
drei Gespannen, sie konnten nur im großen Circus und da stattfinden, wo
12 Rennthore vorhanden waren, bei ihnen war die Abfahrtstellung der letzten
Wagen eine sehr ungünstige, wir dürfen annehmen, daß diese Schwierigkeit
durch eine andere aufgehoben wurde, durch das Mele stürzender Wagen und
Rosse, durch den Aufenthalt und die unvermeidlichen Umwege der Glück¬
licheren.
Selbstverständlich betheiligten sich nicht an jedem Renntage und Rennen
sämmtliche Parteien. Zwar ruhte die ganze Organisation der Feste bis in
die Byzantinerzeit auf ihrer Vierzahl, aber Feindschaft der Festgeber, Zwist
der Parteien, schlechte Finanzlage eines Clubs, Unfälle der Rosse und Jockey's,
oder gar Haß der Kaiser mußten einmal die Zahl- der rennenden Parteien
vermindern, dann rannte von den Uebrigen eine größere Wagenzahl. Nur
zweimal werden Fälle erwähnt, wo die rennenden Clubs je vier Wagen
zu demselben Rennen stellten.
Außerdem gab es Rennen, welche besonders ausgezeichnet wurden.
Zunächst das erste Rennen nach der Procession, es stellte auch den Kutschern
und Pferden die stärkste Zumuthung, wenn sie nämlich selbst stundenlang dem
ermüdenden Zuge der Procession als Theilnehmer ausgesetzt waren, was wir
nicht sicher wissen. Noch größere Ehre hatten heilige Rennen an hohen
Gedächtnißtagen des Staates, welche in längeren Zeiträumen wiederkehrten.
In besonderem Rennen liefen zuweilen Rennpferde, welche die Bahn noch
nicht betreten hatten (novi) im Mergespann, und außerdem nicht trainirte
Pferde (anaMnes), ähnlich wie bei uns. Auch die Kutscher erwiesen ihre Kunst
in besonderem Nennen ohne Peitsche, mit erschwerender Anschirrung der Pferde,
so daß z. B. im Sechsgespann die Pferde ohne Joch nur mit Riemen an ein¬
ander gebunden waren. Im Uebrigen muß man festhalten, daß die römische
Rennbahn den Trab und andere gemäßigte Gangarten nicht kannte, sondern
nur den vollen Carrierelauf, und zwar den der edelsten Pferde aus der
ganzen bekannten Welt. Die Beschreibungen stimmen darin überein, daß,
dem einzelnen Zuschauer das Detail des Anblicks sich windschnell entzog, um
ebenso plötzlich wiederzukehren.
Die verschiedenen Operationen des Jockey's, durch welche der Sieg ge¬
wonnen werden konnre, wurden im römischen Sport durch besondere Redens¬
arten bezeichnet. Der Wagenlenker Diokles hat in dem Denkstein, welchen
er sich um 148 n. Chr. setzte, nicht nur genau bemerkt, wie oft er den Sieg
gewonnen habe, wenn er aus. dem ungünstigen vierten und dritten Thor
rannte, die am weitesten von der innern Bahn entfernt waren; er hat
auch den Verlauf seiner Rennen verzeichnet, ob er gleich von Anfang die
Führung nahm (815mal unter 1462 Siegern, dies war also der häufigste
Sieg), ob er die Führung überließ (67mal), ob er Vorsprung gab (36mal),
und verschiedene andere Weisen (42 mal).
Die Zahl der Unfälle muß bei den Wagenrennen groß und der Fall
nicht selten gewesen sein, daß keiner der Wagen an das Ziel kam. Auch todte
Nennen, wo der Jockey durch zweite Aussendung (reinissus) gewann, sind
als sehr selten notirt. Deshalb muß römische Spielregel gestattet haben, daß
im Nothfalle jedes Erscheinen der Clubfarbe beim Pfosten, in römischer Sport¬
sprache etwa Mimus a.ä crewm, den Sieg entscheiden konnte, gleichviel wie
die Farbe durch die Bahn zum Ziele kam. Wenigstens war, wie man aus
Reliefs und Mosaiken sieht, längere Zeit Brauch, dem rennenden Gespann
einen Reiter in Jockeytracht und den Farben des Clubs zu gesellen; stürzte
das Gespann, so behielt der Reiter der Gesellschaft die Chance, wenn nicht
ein anderes Gespann am Ziel eintraf. Ja wenn auch die Reiter in das
Hurly eines Sturzes verwickelt wurden, oder wenn sie nicht in der Bahn
waren, dann konnte der Wagenlenker sogar zu Fuß seine Farbe an den
Pfosten und zum Siege bringen. Ein solcher Sieg zu Fuß wird allerdings
nur einmal erwähnt. Umgekehrt konnten die Gespannpferde ohne Kutscher
den Sieg erhalten. Als Kaiser Claudius das 800 jährige Jubiläum Roms
durch Rennspiele feierte, wurde der Jockey vom Club der Schimmel schon an
den Schranken aus dem Wagen geworfen, da nahm sein Gespann unter dem
Leitpferde Korar die Spitze, behauptete sie, drängte die Gegner ab, warf sie
zur Seite, that gegen sie Alles, was es ihnen unter dem kundigsten Lenker
hätte zufügen können, vollendete die sieben Umläufe eines regelrechten Rennens
und hielt zuletzt als Sieger am Kreidestrich an. — Von anderem Rennbrauch
wissen wir leider wenig, zum Theil deshalb, weil uns bisher die Hülfe ge¬
fehlt hat, welche ein Weiser unserer Rennbahn bieten könnte; es wäre er-
freulich, wenn diese Zeilen dazu anregten.
Eines zumal möchten wir gern verstehen. Die Hauptsache bei jedem
Rennen war offenbar der Kampf um die innere Bahn. Was schon auf dem
gerittenen Rennpferd fast das Wichtigste ist. muß bei Gespannen von je vier
und mehr nebeneinander geschirrten Rossen weit schwieriger und gefährlicher,
und wenn es gelang, in der Regel sichere Bürgschaft des Erfolges gewesen
sein. Um von dieser kürzesten Rennlinie den Gegner abzudrücken, oder in sie
hinein vorzufahren, konnte die Berührung mit dem Gegner gesucht werden,
wenn man mit der Stärke des Gespanns an die Schwäche des Gegners kommen
konnte, oder vermieden, wenn ein Anlauf des Gegners auf die Schwäche
drohte. Es scheint nun, daß der feindliche Wagenlenker selbst den besten
Gegenstand zu einem Angriff bot und daß ihn im Anfahren aus der Quadriga
zu werfen, für erlaubt galt. Aber wir wissen doch gar nicht, wie weit die
Bahnlicenz bei solchem Angriff ging. Man möchte vermuthen, daß sie groß
gewesen ist, denn der römische Sport hatte mehrere verdächtige Bezeich¬
nungen für die Trennung des fahrenden Jockey von seinem Sitz: öxeuters,
ellundsre*) eripere, zu deutsch: herausschütteln, herausschwenken, heraus¬
reißen. Namentlich das letzte Wort macht nachdenklich, denn Diokles rühmt
sich, daß er bei 1462 Siegen als Jockey der Braunen 502 mal eripuit et
viele, d. h. den Sieg durch Herausreißen davongetragen habe, und zwar
2l6mal über die Lauchgrünen, 20Smal über die Meergrünen und 81mal über
die Schimmel. War diese besondere Anstrengung gegenüber einem in Vor-
theil rennenden Gegner nur ein Entreißen der günstigsten Bahnlinie, oder
war es ein sehr gewaltthätiges, sehr häufiges und sehr ungentiles Heraus-
schmeißen des Gegners? Die Forschung zweifelt. Jedenfalls galt diese Me-
thode für die ruhmvollste, denn Diokles rühmt sich ihrer wiederholt.
Den genauesten Einblick in das Treiben der römischen Rennbahn ge.
währen uns zwei Steininschriften von Grabdenkmälern römischer Jockey's;
die eine, des erwähnten Gaius Appulejus Diokles (rannte von 122—148). ist
für vollständige Mittheilung zu lückenhaft, die andere, des Publius Aelius
Gutta. aus dem Ende desselben Jahrhunderts, soll hier zum Schluß folgen.
Der Stein, auf dem sie einst zu Rom an der Flaminischen Straße zu
lesen war, ist jetzt verschwunden. Daß sie uns in guter Abschrift erhalten
blieb, verdanken wir einem sehr merkwürdigen Umstand. Im 9. Jahr¬
hundert n. Chr., also vor tausend Jahren, sammelte ein Germane, wahr-
scheinlich ein langobardischer oder angelsächsischer Mönch, zu Rom solche
Steininschriften, welche ihn nicht durch ihren heidnischen Inhalt allzusehr
verletzten, in einer sorgfältigen Handschrift. Die Verwunderung über dieses
antiquarische Interesse in der Karolingerzeit wird gesteigert durch die philo¬
logische Genauigkeit der Niederschrift. Sie ist ein neuer Beweis, wie groß-
artig die Anregungen waren, welche Kaiser Karl den Germanen zur An¬
eignung antiker Bildung gab. Die Sammlung des unbekannten Mönches
ist uns in einer guten Abschrift aus demselben 9. Jahrhundert erhalten, die
zuerst zu Pfeffers, dann zu Einsiedeln aufbewahrt wurde, und deren Inhalt in
mehrere handschriftliche Sammlungen alter Steininschriften überging, welche
seit dem Is. Jahrhundert in Italien gemacht worden sind.
Leider hat der alte Abschreiber nicht mehr die ganze Steininschrift gelesen;
sie bestand ursprünglich aus zwei größern und zwei kleinern Parallelcolumnen.
in den größern hatte der Jockey seinen eigenen Ruhm, in den kleinern den
seiner Rennpferde verzeichnet. Davon ist die erste größere Columne nicht über¬
liefert, sie enthielt, wie wir nach Analogie anderer Inschriften schließen dürfen,
Name und Herkunft des Jockey, die Zeitangaben über sein erstes Auftreten
und seinen Uebergang aus einem Club in den andern, zuletzt die Zahl der
gewonnenen Siege. Wir theilen im Folgenden das Erhaltene, und was
sich von dem Verlornen sicher ergänzen läßt, in getreuer Uebersetzung mit:
Monument des Wagenlenkers Publius Aelius Gutta an der Via Flamiftea.
1. (verloren)
Publius Aelius Gutta Cal-
purnianus. Sohn des Ma-
rius Rogatus, Wagenlenker
im Club der. Lauchgrünen
gewann 1127 Rennsiege.
2.
Von den obigen 1127 Palmen habe ich ersiegt
im Club der Schimmel 102; darunter nach unent¬
schiedenen Kampf durch zweites Rennen 2; um Preis
von 30,000 Sesterzen 1, von 40,000 Sesterzen 1; im
ersten Rennen nach der Procession 4; mit nicht trai-
nirten Pferden 1; im Nennen einzelner Viergespanne
83, im Rennen von je zwei Viergespannen 17, von je
drei Viergespannen 2.
Im Club der Braunen habe ich Siege gewonnen
78; darunter nach unentschiedenen Kampf durch zweites
Rennen 1; mit Gewinn von 30,000 Sesterzen 1; im
Rennen einzelner Viergespanne 42; im Rennen von
je zwei Niergespannen 32, von je drei Viergespannen
3, von je vier Viergespannen 1.
Im Club der Meergrünen habe ich Siege gewonnen
683; darunter um Preis von 30,000 Sesterzen 17
und zwar Imal im Sechsgespann; um Preis von
40,000 Sesterzen 9, von 50,000 Sesterzen 1; im ersten
Rennen nach der Procession 35; im Dreigespann um
Preis von 15,000 Sesterzen 2, im Dreigespann um
P.v. 20.000 Seht. 6. Mit nicht trainirten Pferden 1,
im heiligen Rennen des fünfjährigen Wettkampfs 1;
nach unentschiedenen Kampf durch zweites Rennen 1;
im Rennen einzelner Viergespanne 334, im Rennen
von je zwei Viergespannen 184, von je drei Vier«
gespaltnen 65.
Im Club der Lauchgrünen habe ich Siege gewon¬
nen 364; darunter um Preis von 30,000 Sesterzen
1, um Preis von 40,000 Seht. 2; auf meinen Füßen
zum Wagen mit Gewinn von 60,000 Sesterzen 1; im
ersten Rennen nach der Procession 6; im Rennen ein¬
zelner Viergespanne 116, im Rennen von je zwei Vier¬
gespannen 184, von je drei Viergespannen 64.
Dies Denkmal habe ich bei Lebzeiten errichten lassen.
Ich Publius Aelius Gutta Calpur-
nianus, Sohn des Marius Rogatus
habe im Club der Meergrünen mit diesen
Pferden gesiegt:
Geminator, Rappe, Afrikaner 92mal
Silvanus, Brauner, Afrikaner 105mal
Nitidus, Jsabelle. Afrikaner . . 52mal
Saxo, Rappe, Afrikaner .... 60mal
und habe an großen Preisen ersiegt Imal
50,000 S.. 9mal 40.000 S., 17mal
30.000 Sesterze*).
Ich Publius Aelius Gutta Calpur-
nianus, Sohn des Marius Rogatus habe
im Club der Lauchgrünen die tausend
Siege vollgemacht mit diesen Pferden:
und habe an großen Preisen ersiegt 3mal
40.000 S., 3mal 30.000 Sesterze.
So weit die Zuschrift, welche der alte Abschreiber vortrefflich copirt hat.
Die acht Pferde, deren Siege Gutta aufzählt, sind die Leitpferde seiner sämmt-
lichen Siege, worauf schon Mommsen aufmerksam machte. Denn wenn man
die einzelnen Siege derselben zusammenzählt (1123) und dazu rechnet die zwei
verzeichneten Siege, welche Gutta mit nicht trainirten Pferden gewonnen hat.
einen Sieg, den er nicht durch sein Gespann, sondern durch seine eigenen Füße
erhielt — er rechnet seinen Pferden auch den gewonnenen Preis nicht zu —
und endlich noch den Sieg im heiligen Capitolinischen Wettkampf, bei welchem
Gutta mit Rossen besonderer Zucht und Farbe gerannt sein mag. so erhält
man genau die Summe seiner sämmtlichen Siege. Er hat diese Siege zwar
bei allen vier Parteien gewonnen, nennt aber bei den Rossen, die er symme¬
trisch in zwei Viergespanne zusammenordnet, nur seine beiden Hauptfactionen.
Aus der Zahl der einzelnen Pferdesiege ist ersichtlich, daß Gutta seine Seit-
Pferde nicht gewechselt hat, wenn er von einer Partei zur andern überging,
und die Clubangabe bedeutet nur, daß die ersten vier Pferde seiner frühern
Zeit, die letzten der spätern angehören. — Bei den Preisen, die er darunter setzt,
hat er die bei den Meergrünen gewonnenen, offenbar die seiner besten Zeit,
besonders aufgeführt, bei der Columne der Lauchgrünen war ihm peinlich,
daß der großen Preise so wenig waren, und er schlug daher die im Club der
Schimmel und Braunen gewonnenen 3 Preise dazu. Die auffällige Ver¬
mehrung der wüsten Rennen mit vielen Gespannen in seiner letzten Zeit und
das spärliche Aussetzen großer Preise berechtigen zu dem Schluß, daß der^
Ruhm des Gutta in die Zeit fällt, in welcher die Verwilderung und Ver-
armung des Staates begann, also frühstens unter die letzten Jahre des Mare
Aurel und unter Commodus. Dafür spricht auch die merkwürdige Benen¬
nung eines Leitpferdes mit dem deutschen Volksnamen Saro. der uns zuerst
von Ptolomäus um 160 nach Christus überliefert ist. Das Pferd muß seinen
Namen nach einem Helden des Stalls erhalten haben, denn von Blut war
es ein Berberroß.
Der Matrose, welcher in die Kriegsmarine tritt, steht zu seinem neuen
Dienst ganz anders als der Rekrut der Landarmee. Hier hat der Soldat
Alles neu zu erlernen, bei der Kriegsmarine ist der Matrose gerade mit
dem schwierigsten Theil der Ausbildung vertraut, er besitzt die wesentlich
seemännische Ausbildung. Das ist ein wichtiger Grund, künftighin nur
wirkliche Seeleute, nicht Flußschiffer und andere Binnenländer als Matrosen
einzuziehn. was früher auf der preußischen Marine der Fall war, die letzteren
vielmehr ausschließlich zu Seesoldaten zu nehmen, gemäß einem früheren
Vorschlage d. Bl.
Diese Aenderung ist aber erst möglich geworden durch die Aufhebung der
Befreiungen vom Seedienst, d. h, durch die Berechtigung der Regierung, auch
die Seeleute von Beruf einzuziehen. Auch für Seeleute ist die Promptheit
der Segelmanöver mit einer Takelage, die viel schwerer zu handhaben ist
und rasches Zusammenwirken zahlreicher Kräfte erfordert, schwieriger, als
die Handhabung der Takelage auf Kauffahrteischiffen: und außer diesem neu
zu erlernenden Theil der Seemannschaft ist die Gewöhnung an eine andere
Disciplin, als sie auf der Handelsmarine herrscht, nothwendig, also ein
strafferes und flinkeres Wesen. Auch kommt noch die Ausbildung am Ge¬
schütz, mit dem Zündnadelgewehr und in besonderen Manövern hinzu. Dies
Alles macht eine besondere, allerdings nur kurze Ausbildung im Frieden
nöthig, wenn der Matrose im Kriegsfall brauchbar sein soll. Aber die Aus-
bildung am Geschütz ist viel leichter als bei der Artillerie des Landheers,
weil das Geschütz stets an einer Stelle bleibt, also kein Ererciren mit Be¬
spannung nöthig wird, und weil andererseits der Seemann nur auf wenige
Geschützsysteme einexercirt wird, gegenüber den zahlreichen Kalibern '^ der
Festungsartillerie. Auch die Ausbildung mit dem Zündnadelgewehr und den
Enterwaffen ist nur von secundairer Bedeutung, während der schwerste Theil
der Ausbildung der Landinfanterie, die Ausbildung in der Taktik, ganz
wegfällt. Man kann also Wohl annehmen, und dies wird von verschiedenen
Autoritäten bestätigt, daß die kriegsmäßige Ausbildung des eingezogenen
Matrosen der Handelsmarine sich in einem Jahre völlig durchführen läßt.
Außerdem ist es nicht nöthig, den Mann länger auf dem Schiffe zu behalten,
als seine persönliche Ausbildung erfordert, während bei der Landarmee stets
wenigstens zwei Jahrgänge ausgebildeter Leute bei der Fahne behalten
werden müssen, um den neu eintretenden unsicheren Elementen taktisch Halt
und Anlehnung zu geben. Auf der Flotte ist der eingezogene Matrose von
dem Schiffe schon räumlich viel fester umschlossen und in der Gewalt der
Vorgesetzten, der Halt den er noch braucht, wird ihm durch die Stamm¬
mannschaften gewährt, welche ja auf der Flotte viel zahlreicher sind, als bei
der Landarmee, und außerdem die schwierigsten Posten, die der Geschütz¬
commandeure, besetzen. Schon jetzt wird bei vollbefahxenen Leuten nach
fünfjähriger Fahrzeit ein Dienstjahr, und nach vierjähriger Fahrzeit zwei
Dienstjahre, nach zweijähriger drei Dtenstjahre als genügend betrachtet. Der
Spielraum zwischen dem 20. bis 24. Lebensjahr aber, welcher dem Matrosen
gelassen ist um sich zu stellen, wird durch die besonderen Verhältnisse der
Handelsmarine nöthig gemacht. Eine dreijährige Reserve und eine zwölf¬
jährige Seewehrverpflichtung waren dagegen nur in den ersten Jahren des
Bundes nöthig, wo die Dienstpflichtigen der außerpreußischen Landestheile
noch nicht vollzählig ausgebildet waren.
Für Beförderung zum Matrosen I. Classe ist neuerdings auch nicht mehr
wie früher eine ^einjährige Fahrzeit als Matrose II. Classe nöthig, und für
Beförderung zum Matrosen II. Classe ist nicht mehr vierjährige Fahrzeit über¬
haupt zur See nöthig, wenn der Betreffende sonst das Zeugniß vollständiger
seemännischer Ausbildung hat. Dagegen sind die Bedingungen für die
Matrosen III. Classe dieselben geblieben wie früher, nämlich zwei Jahre
Fahrzeit auf Schiffen oder Briggs der Handelsmarine, oder drei Jahre
Fahrzeit auf kleineren Fahrzeugen derselben. Am günstigsten wäre es aller¬
dings, wenn man vorläufig, so lange die Stammmannschaften noch nicht
zahlreich genug sind, um ausschließlich die Schiffe auf den ferneren Stationen
zu besetzen, die hierfür eingezogenen vollbefahrenen Matrosen der Handels¬
marine — vielleicht mittelst Ersparungen im Mannschaftsstande des See¬
bataillons — in ihrer schon 144 Thlr. betragenden Löhnung so weit erhöhte,
daß sie ebenso gut stehen wie auf den am besten zahlenden, den amerikanischen
Handelsschiffen, denn auch bei uns geht die Heuer schon bis monatlich 15 Thlr.:
die Gleichstellung in der Löhnung mit dem Landmilitair ist ja doch einmal
aufgegeben. Bei hoher Löhnung im Anfang, wo dreijährige Dienstzeit unerlä߬
lich ist, und bei kurzer Dienstzeit späterhin, wo außerdem die an den Dienst
auf Handelsschiffen nicht gewöhnten und von demselben nicht angelockten
Stammmannschaften, mit größerem specifisch militairischen Ehrgefühl aus¬
schließlich die Besatzung auf den außeratlantischen Stationen bilden sollten,
wird man die Desertionen ebenso verhindern, wie auf der englischen Flotte,
wo jetzt ganz im Gegensatz zu früher die Entlassung sogar für eine Strafe
gilt. Ueberdies ist jetzt auch, was früher nicht gestattet war, die Ableistung
des einjährigen Freiwilligen-Dienstes als Matrose für solche Seeleute ge¬
stattet, welche die erforderliche allgemeine Bildung nachweisen. Damit die
Berechtigung auch durch Zeugnisse der Navigationsschulen gewonnen werde,
ist eine gleichmäßigere Organisation der letzter/n wünschenswerth.
Vor Erlaß der norddeutschen Bundesverfassung strebte man in Preußen
vor Allem nach einer Convention mit den Hansestädten, wonach dieselben
keine Soldaten stellen, sondern blos aus ihrer seemännischen Bevölkerung
Leute liefern sollten. Jetzt ist Alles gleichmäßig geregelt, und es werden die
Marine-Ersatzmannschaften einfach nach Verhältniß der concurrirenden Anzahl
von Miiitairpflichtigen auf die Seeergänzungsbezirke oder Staaten vertheilt
und von den betreffenden Brigaden ausgehoben.
Endlich soll, um dies nicht unerwähnt zu lassen, die für viele Seeleute
sehr erwünschte Maßregel getroffen werden, daß die'unter den Tropen zu¬
gebrachten Dienstjahre als Kriegsjahre, d. h. doppelt gerechnet werden, da
der Dienst in jenen Gegenden der Gesundheit so gefährlich ist, daß die Schiffe
genau doppelt so viel Leute durch Krankheit verlieren als in den heimischen
Gewässern.
Mit Recht wird es von den erfahrensten Seeofficieren betont, daß die
Flotte dahin streben müsse, möglichst viel Stammmannschaften heranzuziehen,
wenigstens soviel, daß die Hälfte jeder Schiffsbesatzung aus ihnen gebildet
werden kann, und noch eine beträchtliche Reserve bleibt. Zwar kann man
von Seeleuten der Handelsmarine oft hören, daß diese meist aus Binnen¬
ländern, den Schiffsjungen hervorgegangenen Leute bei Weitem nicht die
seemännische Gewöhnung und Selbständigkeit hätten, wie die Matrosen aus
der Handelsmarine und dies ist bis zu einem gewissen Grade richtig; da beim
Kauffahrteischiff ein Mann sich allein helfen muß, auf den Kriegsschiffen für
jede größere Dienstleistung stets eine ganze Anzahl von Leuten verwandt
wird, weil die Sache schnell ausgeführt werden soll und bei der zahlreichen
Bemannung viele Leute zu Gebote stehn. Andererseits aber spricht bei solchen
Urtheilen doch etwas Rivalität der Handelsmatrosen mit, und dann hatte
dieser Tadel doch nur zu jener Zeit eine wesentliche Berechtigung, als Preußen
noch keine Schiffsjungenbriggs besaß, und die Schiffsjungen nur auf den
selten in Dienst gestellten großen Fregatten - mit ihrer aus Binnen¬
ländern bestehenden unbehülflichen Matrosenbesatzung — eingeschifft wurden, oft
aber während ihrer dreijähigen Dienstzeit nicht über die Danziger Bucht hin¬
auskamen. „Frauenlob" und „Hela" genügten leider nicht für eine tüchtige
Ausbildung der Jungen, und wie schwach es damals mit den großen Schiffen
aussah, zeigt das Beispiel der „Gazelle", welche 1862 in ihrer Besatzung
kaum 2/10, befahrene Matrosen hatte, während für „Gefion" sogar fremde
Matrosen geheuert werden mußten. Die ostasiatische Expedition hatte außer
463 Matrosen 29 Cadetten und 70 Jungen, die „Hela" 20 Jungen an
Bord: aber 27 Cadetten und 167 Jungen waren 1862 noch übrig und
konnten nicht praktisch ausgebildet werden.
Es fehlten hierzu kleinere Segelschiffe, die allein dafür geeignet sind,
wie auch England besonders traming' brigs für die do^s verwendet. Jetzt hat
Norddeutschland seine Schiffsjungen jeden Winter auf zwei (nächstens drei)
schönen Briggs im atlantischen Ocean. Die Jungen werden gründlich in allen
Verhältnissen mit der See vertraut, und außerdem sind die Fahrzeuge nicht
groß, sodaß die Ausbildung der Jungen viel individueller und der auf Han¬
delsschiffen ähnlicher wird. Die 34 Matrosen auf jeder Brigg sollen nur
die Sicherheit des Schiffs in gefährlichen Lagen garantiren. Was dann ihrer
Ausbildung noch fehlen sollte, das wird reichlich durch einen anderen un¬
schätzbaren Vorzug aufgewogen, durch die Gewöhnung in Disciplin zu leben
und diesen „strammen Zug" des Dienstes, die Subordination und das
prompte Wesen, auch bei Anderen aufrecht zu erhalten. Nach dem Urtheil
erfahrener Fachmänner, die die Handels- und Kriegsmarine aus eigenem Dienst
genau kennen, wäre ohne dieses „fixe" Element ein promptes Manövriren gar
. nicht möglich, namentlich wenn im Kriege ein großer Theil der Besatzung aus
den lockeren Elementen neu eingetretener Reserve und Seewehr besteht. Ebenso
kann nur mehrjährige Gewöhnung im Zielen auf See brauchbare Geschütz-
eommandeure^ geben, deren Function heute um so wichtiger ist, als bei den
schweren, wenig zahlreichen Kanonen auf den einzelnen Schuß viel mehr an¬
kommt als früher. Der öfter von uns erwähnte „Fachmann" spricht sich
über die Nothwendigkeit tüchtiger Stammmannschasten im Wesentlichen fol¬
gendermaßen aus. Für den Dienst als Unterofficier und Hauptnummer am
Geschütz sind sowohl technische Ausbildung als gewisse Körper - und Charak¬
tereigenschaften erforderlich, die nicht bei Jedermann zu finden sind. Ein
gutes Corps von Unterofficieren und Geschützeommandeuren ist, nach den
Seeofsicieren und den Maschinisten, der wichtigste Theil der Schiffsbesatzung,
und diesen Theil muß sich die Kriegsmarine zu sichern suchen. Dies thut sie
durch Stammmannschaften, deren Zahl so groß bemessen ist, daß im Frieden
der nöthige Bestand vorhanden ist und im Kriegsfall jedes Schiff in aus¬
reichender Zahl solche Stammmannschaften erhalten kann. Diese Stamm¬
mannschaft bildet sich jede Marine auf ihren Schulschiffen aus, und in Preu¬
ßen ist es seit 1849 durch das Schiffsjungeninstitut („Mercur") geschehen.
Das letztere nimmt Knaben von 14—16 Jahren (mit ganz elementarer Vor¬
bildung) auf, deren vollständige Erziehung der Staat übernimmt, während
sie drei Jahre im Institut verbleiben und dort zwei Jahre als Zöglinge, nicht
als Soldaten behandelt werden. An Bord des Uebungsschiffs werden diese
zu Unterofficieren bestimmten jungen Leute übrigens nicht blos praktisch aus¬
gebildet, sondern auch theoretisch. Für jedes Jahr müssen sie nachher dem
Staat noch drei Jahre dienen und außerdem ihrer dreijährigen Dienstpflicht
genügen, sie sind also im Ganzen Is Jahre im Dienst. Während dieser Zeit
werden sie meistens Unterofficiere und können bis zum Deckofficier I. Classe
mit 600 Thlr. Gehalt ausrücken (die im Range höher stehenden Unterlieute¬
nants zur See erhalten 400 Thlr.). Die Stammmannschaften der preußi-
schen Marine zählten 1864 schon 1300 Mann; für die norddeutsche Marine
wird sie aber noch bedeutend vermehrt werden mSssen. Glücklicherweise ist,
ganz im Gegensatz zu der ungenügenden Capitulantenzahl für die Unter-
officierstellen der Armee, der Zudrang zum Schiffsjungeninstitut überaus be-
deutend, und gegenwärtig decken, nach einer kürzlich erfolgten Bekanntmachung
des Marineministeriums die Anmeldungen schon mehr als den Bedarf der
beiden nächsten Jahre. Da auf schleunige Vermehrung der Stammmann¬
schaften sehr viel ankommt, scheint uns nothwendig, die Zahl der Auf¬
zunehmenden sofort bedeutend zu vergrößern und für ihre Ausbildung sofort
noch eine Segelbrigg von einer fremden Flotte, z. B. der englischen, an¬
zukaufen. Die Kosten der vierten Brigg und der vermehrten Einstellung
von Schiffsjungen würden sich übrigens zum Theil dadurch decken lassen, daß
man die Errichtung der jetzt noch unnöthigen 5. Compagnie des Seebataillons
unterließe. Uebrigens gehört die Schiffsjungenabtheilung, welche in mehrere
Compagnien zerfällt und den Unterofficierschulen der Landarmee entspricht,
zur Flottenstammdivision und steht also nur mittelbar unter dem Stations-
commando, während sie früher als Schiffsjungendivision ebenso wie der da¬
malige Stab der Marinereserve und Seewehr direct unter diesem Commando
stand. Bet den als Schiffsjungen eingetretenen Leuten erfolgt die Vereidi¬
gung erst nach Ablauf des zweiten Jahres, sie treten dann unter die Mili-
tairgesetze und ein Rücktritt ist von da ab nicht mehr statthaft. An der Be¬
fähigung der jungen Leute zum Seedienst ist, obwohl sie meist aus dem
Binnenlande stammen, bei ihrer langen Vorbildung auf See nicht zu zwei¬
feln; dies lehrt nicht blos der Erfolg bei der Kriegsmarine, sondern auch die
Erfahrung der Handelsmarine, bei welcher ein großer Theil und oft der
tüchtigste Theil der Bemannung aus dem Binnenlande gebürtig ist, wie ja
auch die zahlreich zuströmenden Zöglinge der bewährten deutschen Seemanns¬
schule in Hamburg zum größten Theil Binnenländer sind. Bei einer Stärke
von 562 Schiffsjungen, wie sie der Flottenentwickelungsplan von 1865 in
Aussicht nimmt, würde (mit Anrechnung des unvermeidlichen Abgangs)
die Stärke jedes der drei Jahrgänge sich auf etwa 180 Köpfe belaufen, mit¬
hin die Stärke der Stammmannschaft von dem Moment ab, wo auch der
älteste der zwölf Jahrgänge die volle Einstellungsstärke hat. etwa 2000
Mann betragen. Wie oben nachgewiesen, ist diese Stärke ebenso wenig hin¬
reichend, als der jetzige Ersatz, wo der Jahrgang nur etwa 100 Köpfe liefert.
Allein für die Bemannung der jetzt vorhandenen Flotte sind nach den oben
aufgestellten Berechnungen 5720 Köpfe (ohne die Deckosficiere) nöthig, und
für die vom Flottenentwickelungsplan 1865 in Aussicht genommene Stärke
sogar 13.800 Köpfe; es ergibt sich also für die jetzige Flotte ein Bedarf an
Stammmannschaften von zusammen wenigstens 2860 Köpfen, für die künftige
Flotte ein Bedarf von wenigstens 6900 Köpfen, so daß für letztere eine jähr¬
liche Einstellung von 580 Schiffsjungen und eine Etatsstärke von etwa 1750
Schiffsjungen nothwendig ist.
Je zahlreicher die Stammmannschaft ist, desto mehr vermindert sich
erstens die Chance für den eingezogenen Matrosen, zu einer dreijährigen Ex-
Petition verwandt zu werden, und nur wenn diese Chance zu den Selten¬
heiten gehört, wenn der an ungebunderes Leben gewöhnte Matrose nicht
mehr zu fürchten braucht, drei Jahre im strengen und für tüchtige Leute
nicht sonderlich bezahlten Kriegsschiffsdienst festgehalten zu werden, wird er
sich gern zur Erfüllung seiner Dienstpflicht stellen. Ferner vermindert sich
das Bedürfniß der präsent zu haltenden, aus der Handelsmarine eingezoge¬
nen Matrosen; sowohl die Zahl der eingezogenen Individuen als die Dauer
ihrer Dienstzeit kann vermindert werden. Außerdem ist die Heranbildung
möglichst zahlreicher Stammmannschaften noch aus dem Grunde wünschens-
werth, weil nur bet großer Stärke derselben die Flotte im Stande ist, zu
jeder Zeit alle Schiffe genügend zu bemannen. Wollte man sich in dieser
Beziehung blos auf die einzuziehenden Mannschaften der Handelsmanne ver¬
lassen, so würde, wenn im Frühjahr nach Aufgang der Schifffahrt ein Krieg
ausbricht, die Flotte nicht ordentlich bemannt werden können. Denn dann
wäre der größte Theil der Matrosen in fernen Ländern, aus denen sie ent¬
weder nur mit großem Zeitverlust, oder aber während des Krieges garnicht
heimkehren könnten. Endlich sollte man auch die Uebungszeit möglichst bequem
zu legen suchen, wie wir oben im Einzelnen ausführten, d. h. den ersten Theil
der Ausbildung mit dem Gewehr und am Geschütz im Winter vornehmen.
Wo der Matrose wegen Stillliegens der Schifffahrt doch müßig ist, sodaß er,
wenn sein Schiff in See kommt, schon alle Vorbildung hat und nur einen
Sommer in Dienst gehalten zu werden braucht. Durch diese Maßregel würde
man der Abneigung, welche zum Theil auf der Handelsmarine gegen den
Kriegsschiffsdienst herrscht, völlig die Spitze abbrechen, .und die Fälle, wo die
Kauffahrteimatrosen sich der Dienstpflicht entziehen, selten machen. Es ist
also namentlich der Erlaß einer Königlichen Verordnung zu wünschen,
des Inhalts, daß die Matrosen, wo nicht besondere Verhältnisse wie Mohn,
machungen eintreten, nur 16 Monate dienen. Im Kriegsfall aber würde der
Handel die übrigen eingezogenen Matrosen nicht entbehren, da doch nur die¬
jenigen einziehbar sind, welche in unseren Häfen liegen, der Schiffsverkehr in
diesen Häfen dann eben des Krieges wegen ruht.
Unter diesen Bedingungen wird denn auch Deutschland im Stande sein,
nicht blos eine Flotte von der Größe zu bemannen, wie sie nach den Vor¬
lagen der Regierung an den Reichstag in Aussicht genommen ist. sondern
es wird späterhin mit Leichtigkeit möglich sein, eine noch viel größere Flotte
ZU bemannen. Bei den Verhandlungen im preußischen Abgeordnetenhause in
den Jahren 1862 und 1863 wurde von Seiten der Opposition namentlich
betont, daß Preußen nicht die genügende Anzahl Matrosen liefern könne, um
die damals projectirte Flotte zu bemannen, und es lag in dieser Behauptung
ein Theil Wahrheit. ' Jetzt haben sich aber die Verhältnisse in günstigster
Weise geändert. Erstens ist zu der seemännischen Bevölkerung Preußens der
bedeutende Zuwachs aus den neuen Provinzen und dann auch derjenige der
Hansestädte und des ganzen übrigen Norddeutschlands hinzugekommen. So¬
dann hat die Erfahrung, daß in den Seegefechten die Kriegsschiffe sich nicht
mehr unter Segel schlagen, alle die Mannschaften überflüssig gemacht, welche
in den früheren Seeschlachten ausschließlich die Takelage zu bedienen hatten.
Auch für die übrigbleibenden Geschützmannschaften ist durch die Einführung
großer Caliber mit mechanischen Vorrichtungen zur Bedienung und durch die
Verminderung der Zahl der Schiffsgeschütze eine bedeutende Verringerung der
Zahl der Leute eingetreten, und endlich bewirkt das Aufkommen der Panzer¬
schiffe, daß sehr viel weniger Verluste eintreten, mithin weniger Leute ge¬
braucht werden. In den großen Schlachtflotten sind so an die Stelle der
früheren Linienschiffe mit 800, 900 und 1000 Mann Besatzung Panzer¬
fregatten mit 4—600 Mann Besatzung getreten; selbst die größten Panzer¬
schiffe, welche die früheren Dreidecker von 1200—1300 Mann bedeutend über¬
treffen, haben nur 700 Mann Besatzung nöthig. Und wenn auch diejenigen
Flotten, welche, wie früher die englische, in der zahlreichen Bemannung ihrer
Handelsmarine, also dem zahlreichen disponibeln Material seegeübter Mann¬
schaften das Hauptübergewicht über ihre Gegner besaßen, durch diesen Um¬
schwung wesentlich verloren haben, so sind doch auch sie damit zufrieden; die
Engländer sparen dadurch bei ihrem kostspieligen Werbesystem ganz bedeutend,
und den Franzosen hilft die große Zahl ihrer durch die inseriptiou maritime
disponiblen Seeleute auch nicht mehr viel.
Am meisten Ursache, mit diesem Umschwung der Verhältnisse zufrieden zu
sein, hat Deutschland; bei unserer immerhin beschränkten Matrosenzahl haben
wir so die Aussicht, im Kriegsfalle eine bedeutendere Flotte bemannen zu
können, und im Frieden können wir die Handelsmarine um so mehr schonen.
Nach den jetzt geltenden gesetzlichen Verordnungen ist nun die gesammte see¬
männische Bevölkerung des norddeutschen Bundes vom Dienst im Landheer
befreit, dagegen zum Dienst in der Kriegsmarine verpflichtet. Zur seemänni¬
schen Bevölkerung werden gerechnet: Seeleute von Beruf, d. h. Personen,
welche mindestens ein Jahr aus norddeutschen See-, Küsten- oder Hafffahr¬
zeugen oder Booten gefahren sind; See-, Küsten- und Hafffischer, welche
die Fischerei mindestens ein Jahr gewerbsmäßig betrieben haben; Schiffs¬
zimmerleute, welche nachweislich zur See gefahren sind, und Maschinisten,
Maschinistenassistenten und Heizer von See- und Flußdampfern. Nach den
Berechnungen unseres Fachmannes haben die norddeutschen Küstenstaaten .
40,000 wirkliche Seeleute, und zwar Mecklenburg 3000, die Hansestädte
10,000, Preußen 10,000, Schleswig-Holstein 8000 und Hannover und Olden¬
burg zusammen 8000, sodaß hiernach das jetzige Preußen etwa 24,000, die
übrigen Staaten etwa 16.000 Mann besäßen. Diese Zahlen erscheinen in¬
dessen von vornherein etwas hoch gegriffen und dies wird durch die Ergeb¬
nisse der letzten Volkszählung in Preußen bestätigt, bei welchen die Seedienst-
Pflichtigen (zwölf Jahrgänge, normal das 21.—32. Lebensjahr, soweit also
die Militairdienstpflicht reicht) besonders aufgenommen worden sind. Es sind
dies alle innerhalb dieser Altersclassen vorhandenen Leute, welche wenigstens
ein Jahr zur See gefahren, oder Küsten- oder Seefischerei getrieben haben.
Wir geben aus dieser Tabelle im Folgenden einen Auszug, wobei wir aber
diejenigen Provinzen und Regierungsbezirke, welche nicht wenigstens 300 See¬
dienstpflichtige im Ganzen haben, nicht specificiren. und auch bei den anderen
nicht alle einzelnen Jahrgänge, sondern blos den ersten und den letzten an¬
führen. (Zählung vom 3. Dec. 1867.)
Während also das Handwerkeipersonal 2S61 Köpfe, das Maschinen¬
personal 1302 Köpfe und somit die der Werftdivision zufallenden Leute zu¬
sammen 3863 betragen, zählt das der Flottenstammdivision zufallende rein¬
seemännische Personal, obwohl es sich in Preußen durch die Annexion von
Schleswig-Holstein und Hannover verdoppelt hat, doch nur 11.618 Köpfe,
also gerade nur die Hälfte von dem, was die Schätzung des „Fachmannes"
betrug (nicht blos dieser, sondern alle Sachverständigen fast ohne Ausnahme
hatten sich in diesem Punkte getäuscht). Der damalige Contreadmiral Jans,
manu hatte z. B. in der Debatte die disponible seemännische Bevölkerung
Altpreußens auf etwa 12,000 Köpfe angegeben, während die gesammte
seemännische Bevölkerung Preußens 1861 auf 23,000 Köpfe geschätzt wurde.
Wir werden also auch für die übrigen norddeutschen Staaten eine ähnliche
Reduction zu machen haben, und das überhaupt disponible Material auf
nur 20,000 eigentliche Seeleute annehmen dürfen, sodaß demnach auf den
einzelnen Jahrgang etwa 1600—1700 entfallen. Dann ergeben die sieben
Jahrgänge der gegenwärtig zu activen Dienst »verpflichteten und der in der
Reserve befindlichen Seeleute eine Stärke von 11,600 Mann, während bei
genügender Anzahl der Stammmannschaft, wie wir sie oben vorschlugen, auch
unsere künftige Flotte nach Ausführung des Entwicklungsplans nur 7000
Mann braucht, also ohne Besorgniß dem großen Ausfall entgegen zu sehen
vermag, welcher beim Kriegsausbruch dadurch entstehen kann, daß ein großer
Theil der Seeleute dann in überseeischen Ländern ist. Auch für das Friedens'
bedürfniß. nach Ausführung des Entwicklungsplans, genügt die Mannschaft.
Derselbe will 17 Corvetten auf den fünf auswärtigen Stationen, 4 solche und
6 Panzerschiffe in den heimischen Gewässern halten; und nebst 2 Aviso's,
2 Transportschiffe», der Hälfte der Kanonenboote und den beiden Artillerie¬
schiffen und 5 Uebungsschiffen braucht diese Flotte im Frieden etwa 950
Maate und 6300 Matrosen, während die Stammmannschaft nach unseren
Vorschlägen allein 6900^ Köpfe hat. Diese und die 1600—1700 Eingezoge-
nen ergeben 8500 Mann. Davon müssen 230 Maate und 1700 Matrosen,
d. h. die Bemannung der Hälfte der Corvetten, welche auf den beiden Sta¬
tionen Ostasien und Westamerika sind, nur aus Stammmannschaften genom¬
men werden und wo möglich auch die für den Südatlantic, während Nord-
atlantic und Mittelmeer im Nothfall auch eingezogene Matrosen erhalten
können; besser ist es allerdings, die letzteren ganz in den heimischen Ge¬
wässern zu behalten, da sie auf der Handelsmarine genug weite Fahrten
machen und dann im Kriegsschiffsdienst nicht Zeit auf die Reise selbst zu
verwenden brauchen. Noch günstiger würde sich das Verhältniß stellen, wenn
nach dem Vorschlage des „Fachmannes", der Nhederei in allen Küsten¬
staaten gesetzlich aufgegeben würde, auf jedem Handelsschiff über 100 Last
einen überzähligen Schiffsjungen zu führen. Da Altpreußen allein 600
Schiffe über 100 Last besitzt, würden durch diese auch dem Handel sehr dien¬
liche Maßregel allein in den altpreußischen Provinzen jährlich der Handels¬
marine mehrere hundert Matrosen zugeführt werden und der Mannschafts¬
bestand bald bedeutend steigen, die hohe Heuer sinken. (Ebenso wäre viel¬
leicht im Interesse der Handels- wie der Kriegsmarine zu wünschen, daß
jedem preußischen Kauffahrteischiff gestattet werde, nach Belieben im Inlande
wie im Auslande seine Besatzung durch Angehörige fremder Nationen zu er¬
gänzen; dann würden im Kriegsfall weniger norddeutsche, welche dienst-
Pflichtig sind, sich mit preußischen Schiffen außer Landes befinden, und die
Handelsmarine würde die Einziehung der Matrosen weniger spüren). Mit
Hinzuziehung der Seewehr (8.—12. Jahrgang) ist aber auch jetzt schon die
norddeutsche Marine in der Lage, alle ihre Bedürfnisse an Mannschaft im
Kriege decken zu können, wenn auch mit mehr Belästigung des Handels als
es nach Ausführung jener Maßregel möglich sein wird. Der Friedensetat
der aus der Handelsmarine eingezogenen Matrosen aber würde sich, wenn
unser Vorschlag 1^/« jähriger Dienstzeit durchgeführt würde, bei 1600—1700
Mann Stärke der Jahrgänge auf etwa 2100 Mann stellen, also eine Zahl,
deren Einziehung der Handelsmarine kaum fühlbar werden würde, namentlich,
da die oben angegebene Zahl von 20,000 Seeleuten eben nur die dienstpflich¬
tigen Classen umfaßt, während mit Einrechnung der älteren Leute wenigstens
46.000 Seeleute in Deutschland vorhanden sind. Nach amtlichen Aufnahmen
(gelegentlich der Volkszählung 1867) waren Seeleute (incl. der nicht dienst¬
pflichtigen Jahrgänge) vorhanden: 12,005 in Altpreußen (bei 263.016 Köpfen
Küstenbevölkerung). 17.420 in den drei neuen Provinzen (407,701 K), also
zusammen in Preußen 29,425 Seeleute (670,717 K.), 3462 in Mecklenburg
(56.576 K.). 2440 in Oldenburg (58.124 K.), 600 in Lübeck, 7243 in Ham-
burg. 6150 in Bremen (384,706 Köpfe Küstenbevölkerung in den Hanse¬
städten), also zusammen in Norddeutschland 48.320 Seeleute bei 1.170,121
Küstenbevölkerung. Wir sehen also, daß, wenn die geeigneten Maßregeln
getroffen werden, die Bemannungsfrage für unsere Kriegsmarine gar keine
ernstlichen Schwierigkeiten macht, und am wenigsten die Folge haben kann,
die Bemannung der Handelsmarine zu beeinträchtigen. .Im Gegentheil,
durch die vielfache Anregung in den neuen Verhältnissen und besonders durch
die Disciplinirung der Leute, durch die Gewöhnung an Gehorsam, Ordnung,
Reinlichkeit und Schnelligkeit, wird sie die gedienten Matrosen brauchbarer
und mehr gesucht machen, als die anderen, ebenso wie im Binnenlande für
viele Verhältnisse die Leute gesucht sind, welche beim Militair gedient haben.
Die Tüchtigkeit des norddeutschen Seemanns wird dadurch noch höher stei¬
gen, er wird denen fremder Nationen noch mehr überlegen werden, als bis¬
her, wo der öfters von uns erwähnte, im Dienst der Handels- wie der Kriegs¬
marine gleich erfahrene „Fachmann" das folgende Urtheil aussprechen konnte:
„In Deutschland selbst ist man gewohnt, den englischen Seemann als den
Typus eines solchen hinzustellen, der für jede andere Nation unerreichbar
bleibt. Es ist dies aber ein großer Irrthum, und wir sind gegen uns selbst
ungerecht, wenn wir diese Ansicht theilen. Der englische Seemann ist un¬
zweifelhaft tüchtig, aber der deutsche ist ihm überlegen, und von Niemand
wird dies bereitwilliger anerkannt, als von den Engländern selbst, vielleicht
nicht öffentlich und in Zeitungsartikeln, aber durch die That, Wenn ein
englischer Schiffscapitain eine Besatzung für sein Schiff nehmen soll, so wird
er unter allen Umständen deutsche Matrosen vorziehen, sobald er sie bekom¬
men kann. Diese sind fachlich nicht nur ebenso tüchtig, ebenso ausdauernd
und muthig, wie die Engländer, sondern sie sind außerdem fleißig, willig und
arbeitsam zur Tages- wie zur Nachtzeit, und — sie besitzen nicht den großen
Fehler des Trunks, der den englischen Matrosen oft zum Thier herabwürdigt,
der ihn der größten Rohheit in die Arme treibt, ihn zu Meutereien ver¬
anlaßt und Schiff und Mannschaft in kritischen Momenten in die größte
Gefahr bringt. Der große Vorzug der deutschen Matrosen besteht gerade,
darin, daß sie im Augenblicke der Gefahr durchaus verläßlich sind, keiner An¬
regung bedürfen und von selbst so viel leisten, als irgend in ihren Kräften
steht. Was es aber heißt, in solchen Augenblicken auf seine Mannschaft sich
ganz und gar verlassen zu können, das vermag nur der zu beurtheilen, der
sich in Lagen befunden hat, wo die Rettung des Schiffs allein durch die
Zuverlässigkeit der Besatzung ermöglicht worden ist.
Außerdem sind die deutschen Seeleute den englischen auch geistig über¬
legen und intelligenter. Zu dieser Ueberzeugung gelangt man nicht nur,
wenn man sich kurze Zeit unter beiden Nationalitäten bewegt, sondern sie
drängt sich uns namentlich bei einer Vergleichung der Leistungsfähigkeit der
Matrosen auf den beiderseitigen Mariner auf. Ein englisches Kriegsschiff
bedarf mit neuer Mannschaft eines Zeitraums von drei Jahren, um die Be-
satzung so auszubilden, daß sie allen Anforderungen genügt und, wie man
sagt, ausexercirt ist. Ein preußisches dagegen braucht dazu unter gleichen
Umständen nur ein Jahr, was nur in der größeren Intelligenz der deutschen
Seeleute begründet sein kann. Wir dürfen ohne Ueberhebung die Behauptung
aufstellen, daß die deutschen Seeleute die besten der Welt sind. Seitdem
unser Seehandel und unsere Schifffahrt einen bedeutenden Aufschwung ge¬
nommen haben, reicht die Küstenbevölkerung zur Deckung des Bedarfs an
Mannschaften nicht mehr aus. Das Binnenland begann deshalb seit den
letzten zwanzig Jahren sein Contingent zu liefern. Allmälig ist dieses zu
Tausenden angewachsen, aber der Umstand, daß diese Leute, welche früher
nie ein Schiff oder die See gesehen, eben so tüchtige Seeleute geworden sind
und werden, wie die Küstenbewohner, gibt das beste Zeugniß dafür, daß das
deutsche Volk die Befähigung besitzt, um eine seefahrende Nation zu werden,
und daß es ihm nicht an den nothwendigen Elementen gebricht, um sich zu
einer Seemacht ersten Ranges emporzuschwingen."
Gleich den übrigen Häuptern der Verschwörung, welche Annas Souve-
rainität einzuschränken versucht hatte, wurde Heinrich Fick zum Tode ver¬
urtheilt und dann zur Versendung nach Sibirien begnadigt. Während die
schuldigster Glieder der Familie Dolgoruki nach Beresow verbannt wurden
(die Fürstin Katharina, Braut des verstorbenen Peter II. und nach dessen
Ableben Concurrentin Anna's bei der Kaiserwahl, genas unterwegs eines
Knäbleins, als dessen Vater Lefort einen jungen Gardeosficier Mikterow
bezeichnet), war unserem Fick eine Ortschaft des Gouvernements Tobolsk an¬
gewiesen worden. Auf dem Wege dorthin erlag sein mitverurtheilter Schwieger¬
sohn Schultz den Strapatzen der Reise, der Kammerath selbst gelangte aber
wohlbehalten an Ort und Stelle.
„Wie er dort angekommen war," — heißt es bei Gadebusch, „gereichte es
ihm zu großer Freude, daß er unter seinen wenigen mitgebrachten Sachen
einen Jahrgang französischer Zeitungen fand. Diese übersetzte er aus dem
Französischen ins Deutsche, und aus dem Deutschen ins Französische und
vervollkommnete sich also in dieser Sprache. Dann schaffte er sich ein Paar
Kühe an, beschickte sie selbst, melkte sie und machte Butter. Einmal ging er
zu Fuß nach Tobolsk, und brachte dem Gouverneur von seiner frischen
Butter. Dieser nahm solches so wohl auf, daß er ihm eine Magd zulegte,
welche die Kühe beschicken mußte. Es trug sich zu, daß er seine Suppe ein¬
mal mit einem silbernen Löffel umrührte und dieser davon schwarz ward.
Er setzte die Suppe seinem Hunde vor, welcher bald hernach,verrenkte.— In
dieser Gefangenschaft ließ er den Hausprediger des Vicegouverneurs Lorenz
Lange, mit Namen Königshaven aus Jrkutsk zu sich kommen." — Er empfing
von ihm das Sacrament, bei welcher Gelegenheit er indessen so unziemliche
und unchristliche Reden führte, daß dieser Geistliche als er später nach Livland
kam, noch Gadebusch gegenüber dessen Erwähnung that.
Der erfahrene Kenner russischer Hofzustände scheint sein Exil um so
leichter getragen zu haben, als er sich bei dem trefflichen Zustande seiner
Gesundheit wohl sagen konnte, daß dasselbe mit dem Leben der Kaiserin
Anna ein Ende haben werde und daß das System, welches ihn gestürzt hatte,
ebenso wenig von langer Dauer sein werde, als es die Systeme gewesen,
durch welche er emporgekommen. In dieser Hoffnung hatte er sich nicht
betrogen. Während der neun Jahre, die er in Sibirien zubrachte, starb
nicht nur die Kaiserin Anna, sondern erfolgten zwei Thronrevolutionen,
eine plötzlicher und gewaltsamer als die andere. Bei ihrem Ableben hatte
die Kaiserin den unmündigen Sohn ihrer Schwestertochter, der Herzogin Anna
Leopoldowna von Braunschweig (den unglücklichen Iwan IV.) zum Thronerben
und ihren Liebling den Herzog Ernst Johann Biron von Kurland zum
Regenten ernannt. Birons barsche Strenge führte bald zu einem Bruch mit
der herzoglichen Mutter des in der Wiege liegenden Kaisers und diese wandte
sich an den Feldmarschall Mummies, der sofort versprach, Abhilfe zu schaffen,
Biron zu beseitigen und die Herzogin zur Regentin zu machen. Ohne irgend
Jemand ins Geheimniß gezogen zu haben, ließ Mummies am Abend des
20. November 1740 seinen deutschen Adjutanten, den durch seine Memoiren
bekannt gewordenen Obristen v. Mannstein zu sich kommen und eröffnete ihm,
daß er willens sei, diese Nacht den Regenten zu stürzen und die Herzogin
an die Spitze der Negierung zu stellen. Mannstein suchte eine Compagnie
zuverlässiger Grenadiere aus. mit der die Staatsumwälzung in aller Stille
fertig gebracht wurde. Am Morgen des 21. November erfuhr Nußland, daß
Biron nach Schlüsselburg geschickt worden sei und daß die Herzogin, jetzt
Großfürstin Anna „zur allgemeinen Freude und Zufriedenheit", die Regierung
der Staaten ihres Sohns übernommen habe.
Fünfzehn Monate später wurde dasselbe Stück noch ein Mal in Scene
gesetzt — nur daß die Acteure dieses Mal andere waren. Elisabeth. Peters
des Großen einzige überlebende Tochter nahm in der Nacht vom 5. auf den
6. December 1741 mit Hülfe von 200 Soldaten des preobrashenskischen
Garderegiwents (desselben, das am 20. Nov. 1740 die Pallastwache gehabt
hatte), die Regentin sammt Familie, Mummies, Ostermann, Löwenwolde
Mengden und alle übrigen Häupter der deutschen Parthei gefangen und
bestieg zur Freude der altrussischen Fraction, die zwölf Jahre lang von den
Geschäften entfernt gewesen war, den Thron ihres Vaters. Schon drei
Monate früher hatten Vietinghoff'und Zöge, Fleth Schwiegersöhne, die Be¬
gnadigung des ehemaligen Etatsraths und^Vice-Präsidenten bei der Regentin
durchgesetzt. — Für die Kürze und Einfachheit des damals bei Verurtheilungen
und Begnadigungen üblichen Verfahrens ist der Mas, dem Fick seine Be¬
freiung zu danken hatte, so charakteristisch, daß wir ihn in seinem Wort¬
laut mittheilen:
„Jhro Kaiserl. Majest. Selbsthalters aller Reußen Befehl aus dem dirt-
girenden Senat an den Hrn. Generalmajor, Major der Leibgarde und
Gouverneur des sibirischen Gouvernements Hrn. Schipoff".
„Auf Jhro Kaiserl. Majest. ausdrücklichen Befehl vom 4. September a, c.
so von Jhro Kaiserl. Hoheit der regierenden Großfürstin aller Reußen Anna
im Namen Jhro Kaiserl. Majest. eigenhändig unterschrieben worden und auf
allerunterthänigstes Anhalten des Landshauptmanns der Oeselschen Provinz
Erich Johann von Vietinghof sowohl als des Kammerherrn Otto Reinhold
Zöge, um aus Jhro Kaiserl. Majest. allerhöchsten Gnade die Zurückberufung
aus dem Exilio des gewesenen Etatsrathes und Präsidenten des Kommerz-
collegii Fick zu verlangen, ertheilt worden, hat ein dirigirender Senat zur
Folgeleistung dessen verfügt an den Hrn. Gouverneur den Befehl ergehen zu
lassen, daß. zufolge obgedachten Jhro Kaiserl. Majest. allerhöchsten Befehls,
belegter Fick des Exilii befreit werde, und er sich allhier zu Se. Petersburg
im dirigirenden Senat stelle. Es hat also der Hr. Generalmajor und Major
der Leibgarde und des Sibirischen Gouvernements Gouverneur nach dieser
Jhro Kaiserl, Majest. Ukase sich zu richten. 1741. den 15. Sept."
In den ersten Tagen des März 1743, also nachdem inzwischen die zweite
Thronrevolution stattgefunden, kam Fick in Se. Petersburg an und ward
— wie es in der Gadebusch'schen Handschrift heißt — „von den Großen sehr
Wohl empfangen, aufgenommen und getröstet, wie er an seine Tochter, die
Landeshauptmännin von Vietinghof unterm 12. März 1743 aus Se. Peters¬
burg meldet. An eben dem Tage" — so fährt unser Berichterstatter sort —
„schrieb er an den Landeshauptmann Vietinghof und dankte ihm für seine
gehabte Mühe. Aus diesem Briefe sieht man, daß er die letzte Zeit seiner
Gefangenschaft hinter Jrkutsk zugebracht hatte und auf seiner Rückreise in
Jrkutsk gefährlich krank gewesen war. — Als er zum ersten Mal bei der Kai¬
serin Elisabeth vorgelassen ward, empfing diese ihn als ihres großen Vaters
Liebling sehr gnädig und fragte ihn, was er in seiner langen Gefangenschaft
gemacht hätte. Er antwortete: er hätte Gott Tag und Nacht auf den Knien
angefleht, die Erbin des großen Peters auf Rußlands Thron zu setzen. Diese
Antwort gefiel und ward sehr gnädig aufgenommen, welches ihn bewog, eine
andere Frage an die Monarchin ergehen zu lassen, nämlich: ob man ihn zu¬
rückberufen hätte, um ihm Gerechtigkeit oder Gnade wiederfahren zu lassen.
Als die Kaisern sich huldreich erklärte, es wäre ihm Gerechtigkeit geschehen,
so flößte ihm solches die Zuversicht ein, um die Wiedergabe seiner eingezo¬
genen, theils geschenkten, theils gekauften Güter zu bitten. Dieses gewährte
ihm die Monarchin und befahl dem Senat, die Sache abzumachen. Fick ge¬
dachte schon im Heumonate 1743 wieder im Besitz seiner Güter zu sein.
Das schlug aber fehl. Am 9. des Heumonats 1743 schrieb er an seine Tochter,
die Kammerherrin Zöge aus Se. Petersburg: er hätte schon angefangen über
das lange Zögern schwermüthig zu werden, und also zum Senatssecretär
gesandt, sich zu beklagen, daß er nicht den vorigen Tag frühe im Senat ge¬
wesen, da doch alle Herren sich schon um fünf Uhr versammelt hätten. Der
Secretär schickte ihm einen trostvollen Zettel. Weil Fick ihm nur halb
glaubte, so fuhr er zu einem Herrn ins Haus, um hinter die Wahrheit zu
kommen. Dieser versicherte ihm, daß die gekauften und geschenkten Güter
ihm völlig zuerkannt wären. Das Haus in Se. Petersburg wäre ihm zwar
auch zugebilligt, jedoch Ihrer Kaiser!. Majest. allergnädigsten Wohlgefallen
und Ausspruch überlassen worden, weil die Kaiserin Anna es dem Hrn. von
Keyserling? auf ewig gegeben hätte, ob ihm das Haus abgenommen, oder
dem Fick eine Wiederlage gegeben werden sollte. Fick fuhr hierauf zu dem
Secretär und bat ihn, die Sache beim Vortrage also zu lenken, daß ihm des
Hauses wegen 3000 Rubel Baukosten gut gethan werden möchten. Man
hatte ihm versichert, daß in der folgenden Woche Protocoll, Resolution und
aller schriftliche Vortrag, unter aller Senatoren Unterschrift, an Ihre Kaiserl.
Majestät fertig sein sollte. Er wünschte, daß solches vor Ausgang dieses
Monates geschehen möchte, und setzte hinzu, die Großen des Hofes hätten ihm
zwar versprochen, es dahin zu bringen, daß die Kaiserin solchen Vortrag nach
Peterhof fordern sollte; allein er befürchtete, es möchte ihm dort ein deutscher
Collegiensecretär schädlich sein; was aber Ihre Majestät im Senate abmachten,
darin dürfte er sich nicht mischen. Man hätte kein Beispiel, daß die Kaiserin
den Ausspruch des Senates in Privatsachen abgeändert hätte. In der That
glaubte Fick dem Ziele seiner Wünsche schon recht nahe zu sein. Er war
noch ziemlich weit davon entfernt. Inzwischen trug es sich zu, daß bei Hofe
in Gegenwart der Kaiserin die Frage aufgeworfen ward, ob der russische
Kalender gut wäre, oder nicht? Der eine sagte dies, der andere jenes. Die
Kaiserin ward des Etatsraths Fick gewahr und sagte: da ist Fick, das ist
ein verständiger Mann; wir wollen ihn, des Kalenders halber um seine Mei¬
nung fragen. Der Kalender ist recht gut. äußerte Fick, aber es ist leider kein
Dienstag darin. Darüber konnte sich die Kaiserin nicht genug verwundern
und fragte, wie das zu verstehen wäre. Wäre ein Dienstag im Kalender ge¬
wesen, erklärte Fick, so wäre meine Sache, woran mein und meiner Familie
Wohl und Weh hängt, abgemacht. Der Dienstag jeder Woche war nämlich
der Tag. an welchem die livländischen Sachen im Senate erörtert und ent¬
schieden wurden. Dieser Einfall hatte eine erwünschte Wirkung. Es erfolgte
die Resolution: Wir begnadigen den wirklichen Etatsrath Fick mit der Re¬
stitution seiner 1732 confiscirten oberpahlischen Güter. Nichts desto weniger
mußte Fick gewahr werden, daß diese Resolution mißgedeutet ward, und als
er am 3. August 1744 im Senat war, sah er mit Kummer, daß die Resti-
tutionsukase allein an die rigische Gouvernementscanzlei gehen sollte und
nicht auch an die estländische, die Senatscanzlei, also die in Estland liegenden
Güter Poll und Waiküll ausschließen wollte, weil man nach dem Buchstaben
der Begnadigung gehen wollte und dieser nur von livländischen Gütern
sprach."
Die Ausführlichkett, mit welcher unser Dorpater Gewährsmann sich
über all die weiteren Mittel und Wege verbreitet, die der unermüdliche Bitt-
steiler einschlug, um se!n Ziel zu erreichen, zwingt uns. ihm das Wort zu
nehmen und einfach dem Resultat nachzugehen. Wie es bei einem Manne
von der Zähigkeit und dem Geschicke Fleth nicht anders sein konnte. — er
bewirkte wirklich, daß ihm im August 1744 die reichen Güter von Ober-
pcchlen, Neu-Oberpahlen, Kawershof, Nemmenhof. Woiseck u. s. w., deren
Werth schon damals reichlich eine Million ausgemacht haben muß, restituirt
wurden; er wußte sogar zu bewirken, daß ihm das Allodialeigenthum an
diesen Besitzungen zugesprochen wurde, obgleich die damalige Form des Besitzes
an lip- und estländischen Rittergütern noch die lehnrechtliche war und Allo-
dien eine seltene Ausnahme bildeten. Mit der Unersättlichkeit, die Glücks¬
rittern dieser Art eigenthümlich zu sein scheint, blieb Fick aber nicht bei dem
Erreichten stehen. Er verlangte, daß ihm die während der Zeit seines Exils
entmißten Einkünfte dieser Güter ihrem vollen Betrage nach ersetzt werden
sollten, und gab sich erst nach vieljährigem Petitioniren und Jntriguiren
damit zufrieden, diesen Wunsch unerfüllt zu sehen. Der Einfluß des „frommen
und feinen" Staatssecretairs-, der ihm bisher in dieser Angelegenheit zur
Hand gewesen war, scheint nicht weit genug gereicht zu haben, um auch diese
Entschädigungsforderung zur Anerkennung zu bringen. Wie groß des Erb¬
herrn von Oberpahlen baares Vermögen trotz des „Erilii" und trotz der
der großen Spesen, die die Restitulionsangelegenheit verschlungen haben
muß, geblieben war, geht übrigens daraus hervor, daß er später noch das
Gut Klein-Tappik käuflich erwarb und als Allodialeigenthum seiner Familie
bestätigen ließ.
Seine im Jahre 1730 gewaltsam unterbrochene Hofcarriere nach der
Rückkehr aus Sibirien wieder aufzunehmen, scheint Fick nicht versucht zu
haben. Er mochte das Gefühl haben, zu schwer compromittirt zu sein, um
einen neuen Kampf mit den „teutschen" Gegnern, deren er wiederholentliche
Erwähnung thut, ohne Gefahr aufnehmen zu können; schloß das Uebergewicht,
das die altrussische Partei seit der Thronbesteigung Elisabeths erlangt hatte,
doch nicht aus, daß jede Erinnerung an den einstigen Versuch, den zaarischen
Absolutismus zu beschränken, von den ernstesten Folgen begleitet war und daß
die Frau, welche sich für die Erbin und Testamentsvollstreckerin ihres großen
Vaters ansah, ihre Souveränität eifrig bewachte. Nachdem er seine An¬
sprüche der Hauptsache nach durchgesetzt hatte, zog Fick auf seine Güter, in
deren ungestörtem und, wie es scheint, ungezügelten Genuß er noch bis zum
Frühjahr 1750 lebte.
Nicht nur in Bezug auf die politische Richtung, die er genommen und
die ihn in die Mitte des Lagers geführt, das von jeher die Quelle der er¬
bittertsten Feindschaft gegen das deutsche wie das baltische Element in Ruß-
land gewesen, auch in anderer Beziehung erscheint Heinrich Fick von den
übrigen Deutschen, die unter Peter dem Großen an den Zaarenhof gekommen,
durchaus verschieden. Bei ihm ist von der stolzen und barschen Art, mit
welcher die Mummies und Biron ihren Weg gingen und ihre eigene Politik
trieben, ebenso wenig zu spüren, wie von der vornehmen diplomatischen
Kälte und Feinheit, durch welche Ostermann sich in allen Phasen seines be¬
wegten Lebens auszeichnete, — die Stunde nicht ausgenommen, in der
dieser hervorragendste, ächteste Repräsentant der auswärtigen Politik Peters
auf dem Schaffst stand. Verglichen mit diesen stolzen Gestalten, in denen
selbst ihre Gegner Personificationen staatsmännischer Weisheit und Tapfer¬
keit verehren mußten, erscheint der Kammerrath und Vicepräsident des
Commerzcollegiums, der es bald mit den Petrinern, bald mit den Holsteinern,
endlich mit den oligarchischen Altrussen hielt, als brutaler, blos auf einen
möglichst reichen Beuteantheil bedachter Plebejer, als Glücksritter im eigent¬
lichsten Wortverstande. Geschmeidig weiß er sich stets in die Formen zu
schicken, welche in der Mode sind, jedes Mal die Umstände zu seinem Vor¬
theil zu benutzen und kein zum Ziel führendes Mittel zu verschmähen —
darin der Typus des Deutsch-Russen, den das Jung- und Altrussenthum
gleich tief gehaßt, gefürchtet und verachtet haben, ein „ächter Mameluk der
Regierung". Aber die Fähigkeiten und Kräfte dieses Mannes können
nicht gemeiner Art gewesen sein und geben uns eine Vorstellung davon,
wie groß das Geschick und die Menschenkenntniß gewesen sein müssen,
welches der Schöpfer des modernen Nußland bei der Wahl seiner Leute be¬
wiesen. Der in den beschränkten Verhältnissen einer schleswigschen Stadt ge¬
borene, unter engem Gesichtskreis aufgewachsene Rathsherr von Flensburg,
von dem nicht ein Mal feststeht, ob er nicht in seiner Jugend „Muster¬
schreiber" gewesen, weiß sich in der Sphäre, in die er plötzlich gerückt ist, so
rasch zu acclimatisiren, daß Peter ihn schon nach wenigen Jahren der Bekannt¬
schaft mit einem diplomatischen Auftrage betraut, bei dem es' sich um Nichts
weniger, als das Studium des gesammten schwedischen Finanz- und Ver¬
waltungswesens und dessen Anwendung auf russische Verhältnisse handelt.
Nicht nur, daß dieser Auftrag so tüchtig ausgeführt wird, daß Peter seinen
Träger mit Zeichen der Zufriedenheit überhäuft, seine Entwürfe der Haupt¬
sache nach ausführt, — der Emporkömmling, der diese rasche Laufbahn gemacht,
ist so selbständig geblieben, daß er neben der officiellen noch private Politik
treibt und Studien über die Anwendbarkeit schwedisch-„republikanischer"
Muster auf dem Boden des altrussischen Bojarenthums anstellt und den ge¬
hörigen Augenblick wahrnimmt, den Moskowitischen Aristokraten zu sagen,
woran es bei ihnen eigentlich gebricht. Vergleicht man diese kühle und
skeptische Haltung mit der Hingebung, welche die übrigen in Rußland zu
Macht und Ansehen gelangten deutschen Gehilfen Peters ausnahmslos der
Sache zaarischen Absolutismus und zaarischer Herrlichkeit bewiesen, bedenkt
man, daß alle diese Parteigänger wenigstens an dem Begriff der Lehnstreue
gegen den Souverain, dem sie sich verdungen, mit heiligem Eiser festhielten,
so erscheint Fick als ein aus völlig anderem Holz geschnitzter Mann, als
von all' den gemüthlichen und ungemüthlichen Vorurtheilen seiner Zeit
emancipirter Freigeist.
Und ein solcher ist er in der That gewesen. Während selbst der
eiserne Mummies, der unbedenklichste, selbstwilligste und kühnste dieser Männer
an den religiösen Anschauungen seiner Zeit ehrfurchtsvoll festhielt, alle Vor¬
schriften des strengen orthodoxen Lulherthums gewissenhaft beobachtete, sein
„Familienbuch" mit frommen Sprüchen („Der ewige und lebendige Gott, der
der rechter Vater ist über Alles, was da Kinder heißt, im Himmel und auf
Erden" — „Dem allein weisen Gott sei Ehre. Lob, Preis und Dank von
nun an bis in Ewigkeit") begann und schloß, und sicher keine seiner sittlich
mehr wie zweifelhaften Unternehmungen angriff, bevor er nicht mit seinem
Gotte „zu Rathe gegangen" — hatte Fick mit den religiösen Schranken sel¬
ner Zeit ebenso vollständig kehraus gemacht, wie mit den sittlichen Rück¬
sichten, welche ihrem Wesen nach zu aller Zeit dieselben geblieben sind. Daß
er den Pastor, der ihn in Sibirien besuchte (und von dem ausdrücklich be¬
merkt wird: er sei kein Kopfhänger oder Eiferer gewesen), durch seine Fri¬
volität verletzte, wissen wir bereits — noch sehr viel charakteristischer für
Fick's Libertinismus ist aber, was Gadebusch. der ihn 1749 kennen lernte, von
seinen persönlichen Begegnungen mit dem Herrn „Etatsrath" erzählt. Gleich
bei der ersten Bekanntschaft fordert Fick den ehrbaren Gelehrten zu einem
religiösen Dispüt heraus, in dem er bei Tafel behauptet, „daß alle Re¬
ligionen, die christlichen nicht ausgenommen, durch, List. Gewalt. Krieg und
Blutvergießen ausgebreitet worden seien", und „da er gern viel redete und
sich selbst hörte, auch sehr verdrießlich war, wenn er nicht zu Worte kam",
so weiß er über dieses Thema einen ganzen Vortrag zu halten. Obgleich
Gadebusch wenig Neigung für Auseinandersetzungen dieser Art bewiesen zu
haben scheint, sucht Fick einen Briefwechsel mit ihm anzubinden, in dem er
ihm de la Mettrie's „I'domine mackme" zukommen läßt und eine Meinungs¬
äußerung über dieses, von ihm besonders geschätzte Buch verlangt, die Gade¬
busch denn auch wirklichZabgeben muß. Wenn man in Betracht zieht, daß
das de la Mettrie'sche Buch erst ein Jahr früher erschienen und selbst in
Deutschland wenig bekannt war, auch neben den Mandeville'schen „kensees
libres" (1723) die erste eigentlich materialistische Kundgebung war, die im
18ten Jahrhundert gewagt wurde, so läßt Fick's Bekanntschaft mit demselben auf
ganz besonders „vorgeschrittene" Anschauungen und ein sehr lebhaftes Interesse '
für den Encyklopädismus schließen. Die Anschauungen dieser Philosophie
müssen bei ihm schon früher Fuß gefaßt und so mächtig geworden sein, daß
es ihn trieb, seine „Freigeisterei" unter allen Lebensverhältnissen und gegen
Jedermann zu bekennen. Gadebusch führt dafür einen Beleg an, der um so
interessanter ist, als er einen Ausspruch Peters des Großen über den reli¬
giösen Zweifel enthält und auf Fleth eigenes Zeugniß zurückgeht.
„Im 17S0sten Jahre" — so heißt es in unserer Handschrift - „bekam
Fick die Wassersucht. Er.Zbediente sich des dörpatischen Arztes Dr. Pauls,
Sohn und seines Bruders, des Ritterschaftschirurgen, welche sich alle acht
Tage abwechselten, immer um ihn waren und ihm das Wasser mit großer
Behutsamkeit abzapften. Ich war damals zu Oberpahlen, um meiner Reise
wegen (Gadebusch reiste auf Fick's Wunsch nach Hennersdorf, um die Vie-
tinghof'schen Kinder, die daselbst erzogen wurden, abzuholen) mit dem Landes¬
hauptmann Vietinghof Abrede zu nehmen. Ich wohnte auf Fleth Verlangen
einmal der Abzapfung bei, welche des Morgens und Abends also geschah,
daß jedesmal nur ein Bierglas voll abgezapft ward. Bei dieser Gelegenheit
erzählte er mir, daß er einmal bet Hofe mit einigen Russen einen Streit
über die Geschichte der Gergesener gehabt hätte. Fick, welcher an keinen
Teufel glaubte, behauptete, Jesus hätte keinen Teufel ausgetrieben, sondern
die Krankheit des vorgegebenen Besessenen auf die Schweine gelegt. Die
streitenden Parteien wurden dabei so laut, daß der Kaiser (Peter I.), der
nicht weit von ihnen stand, es vernahm und überlaut fragte: was hat Fick
nun wieder vor? Nachdem ihm nun die Materie des Streits bekannt ge¬
macht worden, äußerte der Kaiser sich gegen ihn also: ob er das Wesen sei¬
ner eigenen Seele kenne, und wenn er solches nicht kenne, wie ex die Natur
und die Kräfte des Teufels beurtheilen wollte?"
Wie das bei den Materialisten der französischen Schule des achtzehnten Jahr¬
hunderts nicht selten vorkam, so scheint auch bei Fick der Glaube an die Allein¬
herrschaft für die Materie Hand in Hand mit einer ausgesprochenen Vorliebe für
die Gaben gegangen zu sein, welche diese Göttin zu bieten vermag. Ihr
allzu eifriger Cultus war der Grund davon, daß er sein „Leibesleben nur
bis zu 71 Jahren brachte und a. 28. des Brachmonats 17S0 den Weg alles
Fleisches ging". Die Wassersucht an der er litt, war von den beiden Dor-
pater Aerzten, die ihn behandelten, so glücklich bekämpft worden, daß diese
Besserung und noch einige Lebensjahre in Aussicht stelltenwenn der Patient
strengere Diät halten und namentlich dem Weine abschwören wolle Das
Eintreffen eines neuen Vorraths an guten Champagner und Burgunder,
weinen stellte den alten Herrn aber auf eine Probe, der?er nicht gewachsen
war — er wollte die neue „Ladung" mindestens kosten und trank — ob¬
gleich der Arzt höchstens ein Gläschen zugelassen hatte — eine ganze Flasche
aus. „Zween Tage" darauf war er todt.
Das durch ihn begründete Geschlecht blüht noch heute in Estland.
Heinrich Fick's Sohn Timotheus hat als Erzieher des Kaisers Paul, später
als wirklicher Geheimrath und Senateur eine gewisse Rolle gespielt, aber
weder er noch die übrigen Nachkommen haben es zu der Bedeutung ge-
bracht, welche dem Genossen Peters I. und Verschwörer von 1730 nicht ab¬
gesprochen werden kann; die Mehrzahl hat sich damit begnügt, innerhalb des
Landes und Standes, in welchem der Schleswig'sche Ex-Rathsherr seine alten
Tage verlebt. Landwirthschaft und „Landespolttik" zu treiben.
Im Widerspruch mit der allgemeinen, selbst in torystischen Kreisen ge¬
theilten Erwartung, daß das Oberhaus sich dem klar ausgesprochenen Willen
der Nation fügen und die irische Kirchenbill annehmen werde, hat eine von
400 conservativen Peers besuchte Parteiversammlung bei dem Herzog von
Marlborough beschlossen die zweite Lesung zu bekämpfen. Vergebens erhoben
die einsichtigeren Mitglieder der Partei wie Lord Stanhope, Marquis von
Salisbury und Graf Carnarvon ihre Stimmen gegen dies Beginnen, das
nur dem Hause selbst schweren Schaden zufügen könne, aber den Sieg der
Gladstone'schen Politik niemals hindern werde. Auf ihre Vorschläge, daß man
die zweite Lesung gestatten und dann versuchen solle im Comite' die Bill zu
amendiren, erwiderte man, daß Gladstone sich auf keine Abänderung einlassen
wolle, daß man das Princip nicht opfern dürfe und schließlich wenn das
Unterhaus auf seinem Willen bestehe, ja noch nächstes Jahr nachgeben könne;
die große Mehrheit entschied sich für Verwerfung. Die Verantwortlichkeit
hierfür trägt vornehmlich Lord Derby, der bereits unberechenbaren Schaden
über seine eigene Partei gebracht hat, seit der Zeit da er sie im Kampf gegen
die Kornzölle anführte. Als er sich 1867 durch Disraelis Manöver dahin
bringen ließ „den Sprung ins Dunkle" zu thun und das Haushaltswahlrecht
auf die Fahne der Eonservativen zu schreiben, hätte er voraussehen sollen,
daß das Resultat dieses Experiments ein Unterhaus sein werde, dem die
Tory-Majorität im Oberhause sich fügen müsse. Es läßt sich unzweifelhaft
gegen Gladstones irische Politik viel sagen wie das in diesen Blättern schon
früher hervorgehoben ist. aber in der Politik handelt es sich nicht um abstraktes
Recht oder Unrecht, sondern um das relative Beste und die richtige Beurtheilung
der Umstände. Die Gladstone'sche Methode die irischen Kirche abzuschaffen
ist aber jedenfalls unendlich besser als ihr Fortbestehen, und gegen das Fort¬
bestehen hat sich die Nation mit unzweideutiger Entschiedenheit ausgesprochen.
Deshalb wird der Widerstand des Oberhauses zu einem Kampf zwischen
dem stärksten Faktor des Staates und einem unvergleichlich schwächeren.
Dem gegenüber die verfassungsmäßige Befugniß der Lords zur Verwerfung zu
betonen ist thöricht, denn die wirkliche Vertheilung politischer Macht kann
nicht durch constitutionelle Formen geändert werden. Der Schwerpunkt einer
Regierung liegt in dem stärksten Theile des Staatslebens und heuzutage ist
das Unterhaus so unzweifelhaft der stärkste Theil, daß wenn eine große
Majorität desselben, durch einen fähigen Mann, wie Gladstone geführt, sich
in einer wichtigen Frage für die eine Seite entschieden hat, das Oberhaus
wie die Krone zustimmen müssen. Die conservativen Peers mögen ehrlich
überzeugt sein, daß Gladstones Bill Staat und Kirche gefährdet, aber nach¬
dem dieselbe im Unterhaus mit 114 Stimmen Majorität durchgegangen,
bleibt ihnen nichts anderes übrig, als nachzuahmen was ihre Väter auf den
Rath des eisernen Herzogs 1832 bei der Reformbill gethan haben, sich der
Abstimmung zu enthalten, aber sich zu fügen. Wollen sie des Princips
wegen dagegen stimmen, so handeln sie wie ein Mann, der sich einem wüthen¬
den Stier entgegen wirft, weil derselbe kein Recht habe in seinen Garten zu
kommen. Es liegt am Tage, daß sie damit die conservativen Interessen selbst
schädigen würden, der Unmuth der Nation würde sich gegen die Institution
wenden, welche einen Fortschritt aufhält, über den sie entschieden hat und
die Forderungen an das Oberhaus würden wie die der Sybille steigen.
Hätte man rechtzeitig einigen großen Städten das Wahlrecht gegeben, so
hätte man nicht die Bill von 1832 zugestehen müssen, hätte man 1866
Gladstones Reformbill angenommen, so hätte man nicht 1867 die viel .
weitergehende Disraelis zugestehen müssen, verstockt sich jetzt die conservative
Partei gegen die Nothwendigkeit die irische Kirchenbill passiren zu lassen, so
wird sie damit in Irland wahrscheinlich Aufstand und Blutvergießen, im
ganzen Königreiche aber einen Sturm gegen das Oberhaus heraufbeschwören,
der sich vielleicht nicht wieder beschwichtigen läßt: die Stimmung ist für
dasselbe schon jetzt nicht günstig.
Wir wollen noch hoffen, daß die Besonnenheit im letzten Augenblick
siegen und die englische Aristokratie nicht den Geist der Mäßigung verleug¬
nen werde. für den sie seit Montesquieu mit Recht gepriesen ist. Wenn diese
Zeilen die Presse verlassen wird die Entscheidung gefallen sein.
Der folgende eigenhändige Brief Blüchers, nach der Originalschrift treu
copirt, an unbekannte Adresse, wird dem Blatt von einem werthen Freunde
eingesandt. Derselbe ist so charakteristisch sür den Mann und die Zeit, und
eine so heitere Illustration zu dem gegenwärtigen Kampf um die Communal-
steuern des Militärs, daß wir durch den Abdruck unseren Lesern zu gefallen
hoffen, selbst wenn uns entgangen sein sollte, daß der Brief schon irgendwo
gedruckt ist. Derselbe lautet wie folgt:
Ich erhallte in diesem augenblick Ihr verEhrlicheS Schreiben und bin
ihnen HEchlich dankbahr daführ, die Post geht in diesem Moment ab ich
kann also rühr einige Wohrte Schreiben.
niemahls konnte eine grössere Zwitracht unter das militair und Civill
geworffen werden als die neue Servic Verordnung, die emsige Hoffnung daß
durch die Übereinstimmung dieser beiden stände noch einmahl daß Vaterland
in seiner Selbst Ständigkeit wider sichtbahr werden könnte, ist auch dahin, den
der Haß ist unbeschreiblig der enstanden und entstehen muste.
indessen der Monarch komt er nicht mich weg Jagen, oder meinen ge¬
regten Vorstellungen gehör geben, so lange ich in der Armee bin soll sie
nicht beschimpfst und unter die Füße getreten werden. —
hier bezahlt der Jüngste Regierungs Rath 130 Rthlr. vor sein quartir
und der würklige Captain soll inclussive Feurung 96 Thlr. haben wo bleibt
die gleichheit, man nimmt dem Militair la alles Juresdiction Service und
Policy wird von selbigem getrent ein Gouverneur ist die misserabellste Creatur
die ich kenne. —
Der Minister des Innern hat sich auf mein Sujet ein verfahren erlaubt
waß mich beleidigt, ich habe es dem könig angezeigt er giebt mich nicht die
gebührende genugtuhung, ich muß nun den weeg ein Schlagen den meine
Emfindung und die Ehre mich befihlt. er kent der Graf Dona sein unrecht
nicht, erklärt er sich nicht zu metner zu Friedenheit. so verläßt er die weld
oder ich, so wahr ein gott über mich ist, und wenn er am alltahr stände
so würde ich ihm auch da zu würgen bedacht sein.
Fuhr mich ist es nicht genug daß man sacht es ist ein Fehler in der
Canzely geschehen, waß ich unterschreibe muß ich wissen muß davor hafften.
ich Freue mich übrigens liebster Freund daß wir uns sehen und behallte
mich alles übrige vor, mein HErtz ist sehr beklommen, ich sehe ein Staate
dem ich so lange diente, seinem untergank sich nahen, ein stand den ich und
die gantze weld Ehrten verachtet und verhöret, daß ist bitter
Stargard den 2ten December 1809.
Es scheint, dieselben Maßregeln, welche der alte Held im Jahr 1809
für Ruin und Schimpf des Heeres hielt, halfen dazu, das preußische Heer
und den zornigen Blücher selbst im Jahr 1813 zu Rettern des Vaterlandes
zu machen.
Diese vor kaum drei Wochen erschienene Schrift hat bereits eine ganze Ge¬
schichte hinter sich. Die sehr starke erste Auflage ist binnen weniger Tage voll¬
ständig vergriffen, der Autor, Professor an der Dorpater Universität, sofort nach
dem Erscheinen des Buchs seiner Stellung enthoben und aus dem russischen Staats¬
dienst entlassen worden.
Schon diese Umstände deuten auf den Inhalt hin: es handelt sich um die
Abfertigung eines Moskaner Pamphletisten, der das moralische Existenzrecht des deut¬
schen Wesens an der Ostsee ebenso geleugnet hatte, wie die Verbindlichkeit der Ver¬
träge, durch welche Peter der Große für sich und seine Nachkommen den baltischen
Provinzialstaat, die lutherische Religion, deutsches Recht und deutsche Sprache den
Liv- und Estländern garantirte — um einen Protest baltisch-deutschen Wesens gegen
die Verunglimpfung durch russischen Haß und russische Verleumdung. Der Verfasser
hat sich zur Aufgabe gemacht, seinen Gegner Schritt für Schritt zu widerlegen und
aus einer Position in die andere zu drängen; er weist nach, daß nur Gewissen¬
losigkeit die Willigkeit der Verträge von 1710 leugnen, nur Barbarei den Anspruch
erheben könne, ein 700 Jahre altes deutsches Gemeinwesen über Nacht zu einem
russischen gemacht, seine Traditionen moskowitischem Nationalitätsdünkel geopfert
zu sehen.
Auf den Inhalt dieser Schrift, die, obgleich nur zwölf Druckbogen stark, die
verschiedensten Fragen und Gebiete berührt, können wir nicht näher eingehen, zumal
wir wissen, daß die in Rede stehende Materie in^Deutschland nur auf das Interesse
eines kleinen Kreises zu rechnen hat. Aber constatiren müssen wir, daß diese Schrift
nicht in die Kategorie der gewöhnlichen Brochüren, noch weniger in die Rubrik der
„offenen Briefe" gehört. Sie ist mit einem Talent geschrieben, wie wir ihm in der
neueren politischen Literatur nicht so leicht begegnet sind. Aus jedem Satz, ja aus
jeder Zeile tritt uns das Bild des ganzen Mannes entgegen, eines Mannes,
der von der. edelsten und männlichsten aller Leidenschaften, der Hingabe an die Sache
seines Vaterlandes, nicht nur bewegt, sondern ergriffen ist. Es handelt sich natür¬
lich nicht um die Widerlegung eines einzelnen Gegners, sondern um eine Abrechnung
mit der Halbheit, Unwahrheit und Prinzipienlosigkeit des gesammten russi¬
schen Regierungssystems, das weder den Muth hat, den Verbindlichkeiten, die
es übernommen, gegen den Willen Jungrußlands gerecht zu werden, noch die Ent¬
schlossenheit, einen offenen Rechtsbruch zu vollziehen. Die Sätze, in denen die
Summe des gegenseitigen Soll und Habens gezogen wird, sind mit einer Gluth
geschrieben, die sich dem Leser unwillkürlich mittheilt und ihm eine Vorstellung von
der Erbitterung gibt, mit der im baltischen Norden der ungleiche Kampf zwischen
einer kleinen Zahl zäher Kolonisten und der Regierung des ausgedehntesten euro¬
päischen Staates geführt wird. Das Buch macht den Eindruck, nicht nur Um¬
ständen ungewöhnlicher Art, sondern auch einem ganz ungewöhnlichen Talent ent¬
sprossen zu sein, einem Talent, das nicht nur auf außergewöhnliche geistige Be¬
gabung, sondern noch mehr auf eine Temperatur des Herzens zurückzuführen ist,
wie man sie im hohen Norden am wenigsten vermuthen möchte.
Die fesselnden Gespräche zwischen Tasso und den beiden Leonoren in dem
Garten von Belriguardo stört kein Mißton politischer und religiöser Fragen; zwar
kehrt Antonio, der Staatssecretär des Fürsten Alfons, mit einer Botschaft des
Papstes von Rom»nach Ferrara zurück, aber der heilige Vater liebt den Frieden
und verlangt weder Peterspfennige noch Schlüsselsoldaten. Auch findet sich in dem
Schauspiele Goethes keine Andeutung, daß ein verwegener Staatsmann die günstige
Gelegenheit abwartet, um die historischen Grundlagen der italienischen Monarchieen
zu erschüttern. Ueberhaupt enthält die reizende Dichtung keine Zeile, welche ein
treues Kalter-Gemüth verwirren oder beängstigen könnte. — Somit war es Vilmar
vergönnt, bei Besprechung dieses Schauspieles frei von gehässiger Einseitigkeit die
erfreulichen Seiten seines Talentes zu entfalten und sich als anregenden, feinsinnigen
Beurtheiler und trefflichen Stylisten zu erweisen.
Nach einigen unerquicklichen Bemerkungen über das Verhältniß Goethes zu seinem
Stoffe bespricht Vilmar die Aufeinanderfolge der einzelnen Aufzüge in Tasso und findet,
daß sich die Handlung ruhig und einfach, in unmerklichen Wachsthum entwickelt und daß
sich im schönsten Ebenmaße künstlerischer Vollendung Scene an Scene schließt. Von den
fünf Charakteren der Dichtung sagt er: „Wir wir in der aus mehreren farbigen
Blättern bestehenden Blumenkrone voll stillen Sinnes die zarte Einstimmung von je zwei
Blättern in Farbe, Schattirung und Stellung bewundern und wie wieder eine neue
Harmonie anderer Art zwischen den beiden einander an Farbe und Stellung un¬
ähnlichen Paaren und nochmals zwischen dem ersten und dritten und dem zweiten
und vierten einzelnen Blüthenblatt stattfindet und wie ein fünftes verschiedenes Blatt
durch zarte Schatten, feine Fäden und zierliche Linien mit den beiden Paaren und
mit jedem einzelnen Blatte derselben in wunderbarer Regelmäßigkeit, die zugleich
Einheit und Verschiedenheit, Disharmonie und die geheimnißvollste Harmonie ist —
sich auf das engste verbindet, so bewundern wir in unserem Drama eine solche
künstlerisch vollendete dichterische Blüthenkrone mit ihren fünf in die zartesten
Farbenschatten getauchten Blättern.--An Ebenmaß der Form ist dieses Drama
nur der Antike zu vergleichen und es steht der Antike gleich".
Als loyaler, gut monarchisch gesinnter Literaturhistoriker beginnt Vilmar die
Charakteristik der einzelnen Gestalten des Schauspieles mit der Hoheit von Ferrara,
dem Herzoge Alfons. Mit Vorliebe verweilt er bei der Schilderung Antonios und
sucht nachzuweisen, daß Goethe auch in diesen Charakter entschieden etwas von dem
eigenen hineingelegt. Als der junge Frankfurter im ersten Rausche der Dichter¬
kraft und des Dichterruhms und dazu noch der Genie-Jugend jener Zeit an den
Weimarischen Hof kam, sind ihm ohne Zweifel Staatsmänner entgegengetreten,
„welche nach gethaner schwerer Arbeit den Schatten, in dem sie ruhen wollten, von
einem Müßiggänger breit besessen" fanden, und Alles, was Feindliches in Antonios
Charakter liege, ist diesem Quell entsprungen. Die andere Seite des Antonio-
Charakters, die höhere und edlere Ansicht von demselben, wird sich später aus den
eigenen Zuständen Goethes entwickelt haben, denn er selbst war mit entschiedener
Anlage zum Weltmanne begabt und diese Anlage hatte sich bis zur Vollendung des
Tasso reichlich ausgebildet. Nunmehr konnte der Dramatiker den heißblütigen
Tasso und den kühlen Staatsmann „aus der zuträglichen poetischen Ferne betrachten
und in reinen, von der dumpfen Wirklichkeit nicht mehr berührten und gestörten
Formen darstellen." Entschieden bestreitet Vilmar, daß zu manchen Zügen An¬
tonios Herder gesessei» habe. Solche Entdeckungen, meint er, sind nur denen mög¬
lich, „welche alles sehen". Auch von Neid gegen fremde Auszeichnung und Un-
muth über nicht genügende eigene Anerkennung findet der Kritik»r bei Antonio keine
Spur. Liebevoll behandelt Vilmar den Charakter Tassos und mit anziehender Fein¬
heit die beiden Leonoren. — Getreu dem in der Einleitung ausgesprochenen Be¬
kenntnisse, daß dieses Schauspiel Goethes sein „Liebling" sei, widmet ihm der
fromme Literarhistoriker begeisterte, schwungvolle Anerkennung und der „Gesinnungs¬
genosse", welcher gegenwärtig damit beschäftigt ist, den Nachlaß Vilmars heraus¬
zugeben, hätte dieses mit wohlthuendster Wärme geschriebene Büchlein „der reife¬
ren Jugend" empfehlen sollen, nicht aber die durch politischen und religiösen Fana¬
tismus verzerrten „Lebensbilder deutscher Dichter".
Mit Wr. TV beginnt diese Zeitschrift ein neues Quartal,
welches durch alle Buchhandlungen und Postämter zu be-
ziehen ist.
Leipzig, im Juni 1869. *
Die Werlagshandlung.
5
Der Ausschuß des deutschen Handelstages will sich das Verdienst er¬
werben, zu endlicher Herstellung der nationalen Münzeinheit auf zeitgemäßer,
dauerhafter Grundlage den entscheidenden Anstoß zu geben. Im Anfang
vorigen Jahres setzte ein von ihm ausgeschriebener Preis eine Anzahl guter
Köpfe in Bewegung, um die bis dahin etwas vernachlässigte Frage zu er¬
örtern, wie der Uebergang aus der herrschenden Silberwährung zu der all¬
gemein als Ziel angesehenen Goldwährung zu finden sei, insbesondere wie
es mit der Umsetzung von Silberwährungsschulden in Goldwährungszahlungen
gehalten werden solle. Im letzten Herbste verhandelte dann der Handelstag
selbst auf seiner Versammlung zu Berlin über die Sache; wobei sich u. a.
herausstellte, daß außer ein paar ganz unbedeutenden Plätzen nur der Berliner
Handelsvorstand noch an der Silberwährung festhielt. Jetzt endlich, wo das
Zollparlament zum zweiten Male tagt, hat der eigentliche Fachmann des
Ausschusses, Dr. Soetbeer in Hamburg, das Material abermals trefflich zu¬
sammengestellt, um einen praktischen Beschluß so leicht wie möglich zu machen,
und der Ausschuß als solcher geht einerseits das Präsidium des norddeutschen
Bundes und die süddeutschen Regierungen, andererseits das Zollparlament
an, den ersten thatsächlichen Schritt durch Niedersetzung einer untersuchenden
und berichterstattenden Commission zu thun. Bei dieser Gelegenheit hat der
sehr thätige Vicepräsident des Ausschusses, Herr A. G. Mosle aus Bremen,
Besprechungen mit dem Reichstags- und Zollparlamentspräsidenten Simson,
dem Präsidenten Delbrück vom Bundeskanzleramt und verschiedenem Räthen
des preußischen Finanzministeriums gehabt, welche ergaben, daß auf allen
Seiten jetzt Geneigtheit besteht, dem überlieferten chaotischen und veralteten
Zustande ein Ende zu machen.
Wir haben gegenwärtig in Deutschland noch folgende Münzsysteme:
den Dreißig-Thaler-Fuß, d. h. je 30 Thaler auf ein Zollpfund feines Silber,
im größten Theile des norddeutschen Bundes, jedoch mit verschiedenem Ab¬
weichungen in der Eintheilung, indem nämlich der Groschen in Preußen und
der Mehrzahl der Kleinstaaten 12, in Sachsen, Gotha, Altenburg und Braun¬
schweig nur 10 Pfennige hält, während Hamburg und Lübeck den Thaler
in Mark Courant oder 40 Schillinge zu je 12 Pfennigen theilen; ferner
den Zweiundfünfzigundeinhalb-Gulden-Fuß, d. h. je S2^/z Gulden auf ein
Zollpfund feines Silber, (der Gulden in 60 Kreuzer getheilt), in ganz Süd¬
deutschland einschließlich Oberhessen, Coburg, Meiningen und Rudolstadt;
die Hamburger Bank-Valuta, 89Vs Mark auf das Zollpfund feines Silber,
die nur im dortigen Großhandel, Hypotheken- und Staatsfchuldenwesen
Geltung hat; endlich auch noch ein Stück isolirter und imaginärer Gold¬
währung, nämlich in Bremen, wo die längst so gut wie verschwundene
Pistole (Louisd'or) die Grundlage für einen fünfmal so kleinen „Thaler Gold"
abgibt, der nur bei feierlichen Gelegenheiten, dann aber in Silber ausgeprägt
wird, und der sich in 72 Grote zu je 5 Schwären theilt.
Das ist das deutsche Münzchaos, über das nun endlich das Werk eines
ordnenden schöpferischen Geistes kommen soll.
Es ist eine nothwendige Consequenz der wenn auch noch nicht vollständig
hergestellten, doch in der Hauptsache gesicherten nationalen Einheit, daß ein
einziges Münzwesen vom Meer bis zu den Alpen herrsche. Wollte Süd¬
deutschland sich dieser vorwegzunehmenden Folgerung dereinstiger, vollstän¬
diger Staatseinheit entziehen, so würde wenigstens der norddeutsche Bund
gewiß nicht bis zum Ablauf des Wiener Münzvertrags mit dem Jahre 1878
warten, um einen würdigeren Zustand zu gewinnen, sondern behaupten, daß
schon seine Entstehung aus einem inneren nationalen Kriege ihm die volle
Autonomie in Münzsachen zurückgegeben habe. Indessen ist gerade auf diesem
Gebiet von Süddeutschland keine spröde Zurückhaltung zu besorgen. Ein¬
gekeilt wie es ist zwischen die französisch-schweizerische Goldwährung, den
norddeutschen Silberthalerfuß und das östreichische Papiergeldwesen, empfindet
es das Unleidliche der Fesseln, in welche der Münzvertrag von 1857 uns
Alle geschlagen hat, viel schärfer als der größte Theil Norddeutschlands, wie
ja die Haltung der Berliner auf dem letzten Handelstage beweist. Wo fließen
so, wie in süddeutschen Cassen, Silbermünzen aller Art und des veraltetsten
Gepräges, deutsche, französische, holländische, östreichische, russische, englische
und amerikanische Goldmünzen. Papiergeld endlich aus allen Staaten und
Banken des vielgetheilten Vaterlandes zusammen? Gleiche endlose Weitläufig¬
keiten, wie der süddeutsche Kaufmann oder Fabrikant, hat am Ende nur der
Bewohner Bremens, der beständig zweierlei Geld mit sich führen muß, weil
schon an seinem eigenen Platze Posten. Telegraphen und Eisenbahnen ^nur
Courant annehmen, und der alljährlich einmal mehrere Wochen hindurch unter
einer Münzknappheit leidet, die dadurch entsteht, daß im Spätsommer die Bauern
für ihre Früchte, Torf u. s. f. das wenige baare Geld des kleinen Staats
aus der Stadt wegholen, während das mangelnde Verhältniß zwischen der
Bremer Goldwährung und der Silberwährung des umgebenden Gebiets die
Ergänzung aus den unerschöpflichen Vorräthen des letzteren hindert.
Einheitliches Münzwesen ist demnach das erste aller Erfordernisse, die
bei der Reform ins Auge zu fassen sind. Das nächste ist die Durchführung
des modernen Decimalsystems, wie im Maß und Gewicht, so nun auch in
der Münze. Ob die Zehntheilung streng bis auf die unterste Stufe durch-
zuführen sei, darüber scheiden sich allerdings noch die Ansichten. namhafte
Stimmen halten hier im Interesse des kleinsten Verkehrs an der Zwölftheilung
fest. Allein daß oben und in der Mitte Zehn die Theilungsziffer sein müsse,
nicht 30 wie in Norddeutschland, oder 60 wie in Süddeutschland, oder 40
wie in Hamburg und Lübeck, und gar 72 wie in Bremen, darüber sind Alle
einverstanden.
Das dritte, ebenfalls nur noch vereinzelt bestrittene Erforderniß für die
Münzreform ist der Uebergang zur Goldwährung. Der volkswirtschaftliche
Congreß in Hamburg 1867 hat diesen einhellig verlangt; daß hinterdrein
ein paar seiner bedeutendsten Mitglieder, die zugleich in der volkswirthschaft-
lichen Gesellschaft zu Berlin den Ton angeben, von der reinen Goldwährung
ab- und der Doppelwährungs-Theorie Wolowski's zugefallen sind, darf man
vielleicht als eine Art ideeller Maskirung der nothgedrungenen Unthätigkeit
ansehen, in welcher das Bundeskanzleramt bisher zu der Sache verharrte.
Ernsthaftere Folgen wird es schwerlich nach sich ziehen, zumal Dr. Faucher
im neuesten Bande seiner Vierteljahrsschrift diese Velleitäten seinerseits
desavouirt hat, indem er sich mit Herrn Weibezahn, dem münzverständigen
Secretair der Kölner Handelskammer, für den Anschluß an das französische
Goldwährungssystem in der Form des Goldguldens (— 2^2 Franken Gold)
ausspricht. — Dr. Soetbeer verweilt in seiner neuesten Denkschrift nicht lange
bei den allgemeinen und immergültigen Gründen für die Goldwährung. Er
erörtert hauptsächlich diejenigen Gründe, welche für einen möglichst baldigen
Uebergang Deutschlands zu ihr sprechen. Als solche betrachtet er theils die
zunehmende Jsolirung der an der Silberwährung Hangenden Länder, theils
die voraussichtlich zunehmende Entwerthung des Silbers. Ueber die letztere
freilich urtheilt er mit der den Meister bezeichnenden Vorsicht. Er gibt zu,
daß sich eine so verwickelte Zukunftssrage mit Sicherheit nicht vorab ent¬
scheiden lasse; darum aber dürfen die Anzeichen, welche auf eine bestimmte
Lösung hindeuten, doch nicht übersehen werden. Es ist vor Allem die ins
Unabsehbare wachsende Herrschaft der Goldwährung, welche die Nachfrage nach
Silber vermindert, die Nachfrage nach Gold vermehrt, folglich den Werth des
ersteren im Verhältniß zu dem Werth des letzteren drücken muß. Wirkliche
Silberwährung haben jetzt außer Deutschland nur noch die Niederlande und
die skandinavischen Staaten; letztere heben den Fuß schon auf, um in das
Lager der Goldwährung überzugehen. Aber auch Frankreich, das gesetzlich
noch Gold- und Silberwährung neben einander hat, wenn auch thatsächlich
seit 1830 weit mehr Gold- als Silberwährung, schickt sich an, der Silber¬
währung endgültig Valet (oder vielmehr Valuit) zu sagen. Dann wird die
Frage: wohin mit unserem überschüssigen Silbergelde, welche jetzt kurzsichtige
unentschlossene Praktiker abschreckt, die Münzreform überhaupt ins Auge zu
fassen, eine verhängnißvolle Bedeutung erlangen, und in dem Maße, wie die
Schwierigkeit wächst, auch in den Kreisen der jetzt noch widerstrebenden
Finanzmänner der Drang, ihr zu entrinnen, wachsen.
Der Verkehr auf seinen höheren Stufen erheischt Goldmünzen; darüber
ist so ziemlich alle Welt einig. Die kleinen Papiergeldzettel und Banknoten,
welche gegenwärtig in Deutschland ihre Stelle vertreten, sind nur ein mangel¬
haftes und bedenkliches Surrogat, dessen man sich sobald als möglich zu ent¬
äußern trachten muß. Goldmünzen aber in hinlänglicher Fülle und stetig,
keit im Umlauf zu erhalten, erlaubt nur die Goldwährung, nicht die Silber¬
währung. Der letzte in Deutschland angestellte Versuch, bei fortbestehender
Silberwährung den Verkehr mit den ihm nöthigen Goldmünzen zu speisen,
die Goldkronen des Wiener Münzvertrags von 1857, ist bekanntlich vom ersten
Tage an fehlgeschlagen. An sich hatte die Krone ihre Vorzüge, sie stand in
einem einfachen Gewichtsverhältniß zu dem Zollpfund oder dem Kilogramm
feinen Goldes, was zwar wichtiger für die Münzstätten und den Edelmetall-
Handel als für den Verkehr im Allgemeinen ist, in unserer Zeit aber doch
einem gewissen principiellen Ideal entspricht. Wir sehen daher auch nicht
nur Michel Chevalier bei jeder neuen Discussion der Frage auf diese ein¬
fache Gewichtsableitung der Normalmünze aus dem Kilogramm Gold zurück¬
kommen, sondern neuerdings sogar die Krone selbst in Amerika zur Grund¬
lage eines frischen Weltmünzplanes werden. Diese Auferstehung im Geiste
wird sie nun allerdings von ihrem fleischlichen Untergange diesseits des atlan¬
tischen Meeres nicht retten. Sie ist nicht geworden, was sie werden sollte:
die Handelsgoldmünze Deutschlands und Oestreichs. Sie hat weiter keine
wesentliche wirthschaftliche Bedeutung erlangt, als daß sie in dem Umfange,
wie sie überhaupt ausgeprägt worden, statt der ausgegangenen Louisd'ors
oder Pistolen der Bremer Bank als Metalldeckung für ihre Noten dient, die
ihrerseits dem Bremer Geldwesen das einstweilige Festhalten an seinem ganz
isolirten Goldwährungssystem ermöglichen. Von Bremen fließen die deutschen
Kronen, soweit man sie da nicht festhält, nicht etwa ins innere Deutschland
zurück, sondern nach Straßburg in den französischen Münztiegel, um zu
Napoleonsd'ors umgeschmolzen zu werden.
Das alte Preußen hatte bis Ende 1867 überhaupt nur 91,811 Kronen
ausgemünzt, seine neuen Landestheile 795.142. Sachsen 43.009, Braunschweig
45,298, Bayern 2927^2, Deutschland zusammen also 980,187^2. wozu dann
noch die östreichischen kommen. Im Umlauf kommen sie bekanntlich so gut wie
gar nicht vor. Wäre ihr schwankender Cours dem Umlauf nicht geradezu
feindlich, so würden natürlich weit mehr ausgeprägt worden sein, denn jene
Summe ist nur gleich 8,821.687V« Thaler Cre.. oder noch nicht ^ Thaler
Goldumlauf auf den Kopf der deutschen Bevölkerung, während derselbe in
England auf 70—80 Millionen Pfund Sterling oder 15—16 Thaler auf
den Kopf, in Frankreich auf 3—4 Milliarden Franken oder 20—27 Thaler
auf den Kopf angeschlagen wird.
Einen Goldumlauf uns anzueignen, der mindestens der niedrigeren dieser
Verhältnißziffern entspricht, und von unserem Silberumlauf den Ueberschuß zu
guten Preisen loszuwerden, — das ist das Problem, welches Deutschland
jetzt zu lösen hat. Soetbeer nimmt den Betrag an Silbermünzen, welche
der Uebergang zur Goldwährung überflüssig machen würde, auf mehr als
400 Millionen Thalern an. Wohin damit? — Das ist die Frage, welche
die Leiter der preußischen Bank und andere Finanzpraktiker in Amt und
Würden den Fürsprechern der Münzresorm zwischen die Beine zu werfen
pflegen. Allein diese letzteren sind um Antwort nicht verlegen. Sie fragen
zurück, welche Sicherheit dafür bestehe, daß dieser kostbare Besitz seinen Werth
behalten werde, wenn alle Großstaaten zu reiner Goldwährung übergegangen
sein werden. Die Nothwendigkeit, sich des Silberüberflusses zu entledigen,
wird früher oder später sicher eintreten; und weise Voraussicht gebietet daher,
diesen Augenblick heute schon ernstlich ins Auge zu fassen. Wir mögen
immerhin den Zeitpunkt des wirklichen Uebergangs noch eine Weile unent¬
schieden lassen, um irgend eine unerwartete günstige Conjunctur zu benutzen,
aber um diese dann auch wirklich rasch entschlossen benutzen zu können, müssen
von Stunde an die gar nicht so einfachen Vorbereitungen getroffen werden.
Der Handelslagsausschuß schlägt vor, daß der norddeutsche Bund und
die süddeutschen Staaten ungesäumt gemeinschaftlich eine Commission von
Sachverständigen niedersetzen, um die Vorfrage zu untersuchen, ob man füg¬
lich ohne weitere Rücksicht auf die im Werden begriffene universelle Münz¬
einigung, aber selbstverständlich in sorgsamer Berücksichtigung der Beschlüsse
der Pariser Münzconferenz von 1867, ein neues nationales Münzwesen
schaffen könne, oder ob es besser sei, zuvor eine zweite Weltmünzconferenz
zu berufen oder abzuwarten. Auf bloßes Abwarten im letzteren Sinne würde
der Bericht einer solchen Commission wohl keinenfalls hinauslaufen. Wenn
in der von England her empfohlenen abermaligen Berufung einer europäisch¬
amerikanischen Conferenz ein unentbehrlicher oder wenigstens Wünschenswerther
Durchgangspunkt gefunden werden sollte, so müßten von Berlin «Wald
Schritte zur Herbeiführung derselben geschehen. Ob dies durch eigne Ein¬
ladung oder einen Appell an Frankreich als die früher einladende Macht
auszurichten wäre, erscheint,, Gleichheit des Erfolges vorausgesetzt, ziemlich
gleichgültig. Einen nationalen Ehrenpunkt sehen wir nicht darin verflochten.
Die zweite Weltmünzconferenz würde uns aber nur dann dem praktischen
Ziele näher bringen als die erste, wenn die Bevollmächtigten der Haupt¬
städten auf ihr mit wirklicher Vollmacht zur Vereinbarung erschienen. Soweit
müßten bis dahin in den einzelnen Ländern die Ansichten geklärt und die
Entschlüsse gereist sein. Durch einen bloßen theoretischen Meinungsaustausch
dürfen wir uns in der Gestaltung der nationalen Münzeinheit nicht auf¬
halten lassen.
Von allen Veränderungen, welche die preußische Regierung an unseren
Einrichtungen vorgenommen hat, ist keine mit größerem Mißbehagen auf¬
genommen worden, als die Umgestaltung unserer Justizorganisation. Ver¬
schiedene Umstände haben dazu beigetragen, dasselbe weit über die Grenzen
der Fachmänner hinaus auszudehnen, obwohl die Wirkung dieser Ma߬
regel nicht so allgemein empfunden wurde als z. B. die Erhöhung der
Steuern. Die angesehensten Führer der national-liberalen Partei haben daher
auch nicht umhin gekonnt, in den stärksten Ausdrücken über sie den Stab zu
brechen. Fr. Oetker hat wiederholt über „Nechtsverwüstung" geklagt und
trotzdem, daß jetzt nun schon Jahr und Tag über die Einführung der Neue¬
rungen hingegangen ist, bildet gerade diese reformirende Thätigkeit des preu¬
ßischen Ministeriums fortwährend noch einen Stein des Anstoßes.
Es ist im Allgemeinen bekannt, daß Kurhessen seit längerer Zeit schon
ein Recht darauf hatte, auf den Zustand seiner Rechtspflege stolz zu sein.
Die Unabhängigkeit der Gerichte hatte sich hier schon zu einer Zeit aus¬
gebildet, wo noch ringsumher mehr oder weniger Cabinetsjustiz geübt wurde.
Die Gerichte entschieden selbstständig über die Frage, ob eine Angelegenheit
vor ihr Forum gehöre oder im Verwaltungswege zu erledigen sei; sie sprachen
dem Bürger auch das Recht, wo er mit den Verwaltungsbehörden in Aus¬
übung öffentlich-rechtlicher Functionen in Conflikt gerieth. Der oberste
Gerichtshof in Cassel genoß eines weit über die Grenzen seines kleinen
Rechtsgebietes hinausgehenden Rufes der Tüchtigkeit. Auch an ihm war
freilich die Hassenpflug-Vilmarsche Mißregierung nicht spurlos vorübergegangen.
Man hatte Männer zu seinen Mitgliedern gemacht, die nicht als bedeutende
Juristen, sondern in erster Linie nur als gesinnungstüchtige Anhänger des
zeitweiligen Regimes galten. Doch selbst auf diese wirkte die Tradition des
Gerichtshofes assimilirend und fördernd ein, so daß es nach Wiederherstellung
der Verfassung den vereinten Bestrebungen der Regierung und der Stände
verhältnißmäßig leicht gelang, ihn nicht nur in dem alten Geiste wieder¬
herzustellen, sondern auch den Bedürfnissen des modernen Lebens entsprechend
umzugestalten. Ein neues Gerichtsorganisationsgesetz vereinigte die Vortheile
des Einzelrichterwesens und der collegialischen Behandlung. In den gering¬
fügigen, zur Competenz der Einzelrichter verwiesenen Strafsachen wurden den¬
selben Schöffen an die Seite gegeben, die wichtigeren Strafsachen aber zur
Aburtheilung durch die Collegialgerichte bestimmt. Diese bildeten zugleich die
zweite Instanz für die von den Einzelrichtern entschiedenen Sachen. Auch
der Civilproceß war im Jahre 1863 durch Erlaß einer Novelle neu geordnet
und dabei dem Princip der Mündlichkeit Rechnung getragen worden. An¬
gesichts der Bestrebungen um Herstellung einer allgemeinen deutschen Civil-
proeeßgesetzgebung hielt man den Zeitpunkt nicht für gegeben, um selbst¬
ständig grundsätzliche Aenderungen des Rechtszustandes vorzunehmen. Unser
Proceßverfahren war seitdem ein rasches und dabei doch der Gründlichkeit
nicht entbehrendes. Wenn gleichwohl Klagen über Rechtsverschleppung gehört
wurden, und bei Verlegung des Oberappellationsgerichts nach Berlin eine
ganze Anzahl rückständiger Sachen hier vorgefunden wurde, so lag das
weniger an den Einrichtungen als an Personen, die als Erbstücke der Hassen-
pflugschen Reactionsperiode mit herübergekommen waren. Der Strafproceß
war im Jahre 1848 auf Grund des rheinischen Vorbildes vollständig um¬
gestaltet, später von Hassenpflug wieder verschlechtert, und im Jahre 1863
durch Erlaß einer umfassenden Proceßordnung neu geregelt worden. Dadurch
wurden jene Verunstaltungen wieder entfernt und dazu die Erfahrungen be¬
nutzt, die man seitdem in Deutschland nach der Einführung des mündlichen
öffentlichen Verfahrens gemacht hatte. Minder befriedigend war freilich der
Zustand des materiellen Strafrechts, das die Carolina zur formellen Grund¬
lage hatte, dagegen in Wahrheit zum größten Theile auf der Praxis der Ge¬
richte und auf einer zahllosen Reihe von Speeialgesetzen aus den verschiedensten
Entwickelungsstufen der Volkswirthschaft und des öffentlichen Lebens be¬
ruhte und schon lange einer Umgestaltung dringend bedürftig gewesen war.
Endlich war der von Hassenpflug geschaffene, mit dem größten Mißtrauen
aufgenommene Competenzgerichtshof von dem unbeugsamen Willen der Stände
wieder zu Fall gebracht worden. Der alte Grundsatz, daß dem Richter die
Prüfung der Verfasfungs- und Gesetzmäßigkeit der Anordnungen der Ver¬
waltungsbehörden und darunter auch der Verbindlichkeit gesetzgeberischer Er¬
lasse für den Einzelnen zustehe, war noch neuerdings dadurch wieder zur
Geltung gelangt, daß die Gerichte eine zur Hasfenpflugschen Zeit einseitig
erlassene Verordnung für ungültig erklärt hatten.
Daß an diesem Zustande unserer Rechtspflege während der Dictatur-
periode etwas geändert werden werde, hatten sich selbst die Pessimisten nicht
träumen lassen. Glaubte man doch allgemein, unsere neue Regierung habe
Arbeit genug, wenn sie nur das unumgänglich Nothwendige gründlich vor¬
bereiten und ausführen wolle; das was bei uns wohlgeordnet sei und im
Interesse des Staatsganzen keiner Umgestaltung bedürfe, werde sie gewiß
schon allein aus Staatsklugheit und im Interesse eines ächten Conservati-
visinus ruhig bestehen lassen. Selbst als die ersten Nachrichten über
die Reformpläne des Grafen zur Lippe hierherkamen, konnte man den¬
selben kaum ernsten Glauben schenken. Man vermochte absolut keine zwin¬
genden Gründe für das Borgehen des Justizministeriums ausfindig zu
machen und war überdies zu sehr von dem Glauben beherrscht, in einem
Verfassungsstaate, wie Preußen, werde keine Umbildung der Rechtspflege ohne
Mitwirkung der Stände möglich sein. Aber der Graf zur Lippe, dem damals
eine Machtfülle zu Gebote stand, wie sie in der Gegenwart niemals wieder
einem Justizminister zur Verfügung gestellt werden wird, dachte anders. Als
habe er seinen Drang nach reformirender Thätigkeit in Preußen selbst nicht
befriedigen dürfen, stürzte er auf uns arme Hessen ein. Der Graf glaubte
bei uns reformiren zu müssen, ohne daß wir den Grund dazu einsehen konn¬
ten, oder daß derselbe uns nachgewiesen wurde. Das Gerücht, daß wir und
alle neu erworbenen Provinzen mit dem in den Bezirken Greifswald und
Ehrenbreitstein, in welchen nicht das allgemeine Landrecht, sondern gemeines
Recht gilt, geltenden Prozeßrecht beschenkt werden sollten, nahm immer festere
Gestalt an. Die öffentliche Meinung protestirte zwar sofort höchst vernehm¬
lich gegen diese Maßregel. Am lautesten opponirten die Hannoveraner, wo
man eine ausgezeichnete Proceßordnung seit den SOer Jahren besaß. Ihre
Stimmen fanden auch in Berlin Gehör, wo man die politischen Antipathien
eines großen Theiles der Bevölkerung des Welfenreiches nicht mehr reizen zu
sollen für zweckmäßig fand. Die guten Hessen, die sich ohne viel Murren in
die neue Situation gefunden hatten, waren weniger gefährlich und darum
auch weniger verücksichtigenswerth. Die eindringlichsten Vorstellungen der
zur Anhörung des neuen Entwurfs nach Berlin berufenen hessischen Juristen
blieben ohne alle Wirkung. Obwohl ihnen die Presse, die einstimmige Mei¬
nung der hessischen Juristen, das einstimmige Gutachten des höchsten Ge¬
richtshofes des Landes zur Seite traten, und auch der mit den Verhältnissen
des Landes vertraute Administrator abmahnte, beharrte man nicht nur in
Berlin bei dem einmal gefaßten Vorsatze, sondern erweiterte man seine Plane
allmälig immer mehr, so daß auch die Gerichtsverfassung, das Stvafrecht,
der Strafproceß und die Vorschriften über die Zuständigkeit der Gerichte in
das Bereich des schöpferischen Umbildungsprocesses mit hineingezogen wurden.
Es ist möglich, daß man in Berlin geglaubt hat, den neuen Provinzen
eine Wohlthat zu erweisen, indem man ihnen preußische Institutionen gab.
Es würde das wenigstens der Art und Weise entsprochen haben, wie ein
großer Theil der Berliner Bureaukratie ziemlich allgemein über Alles, was
nicht preußisch ist, urtheilt. Mit dem Aufziehen allgemeiner Kategorien, wie
kleinstaatlich, veraltet u. f. w., unter die dann Alles, was man nicht mag,
sofort subsummirt wird, meint man alle unangenehmen Dinge, und wären es
die einfachsten Rechtsfragen, beseitigen zu können. In unserem Falle wen¬
dete man aber vornehmlich die „höhere Staatsraison" als Motiv für die
Umgestaltung des Rechlswesens an. Die amtlichen Blätter suchten glauben zu
machen, die Sicherheit des Staates werde darunter leiden, wenn in den ver¬
schiedenen Regierungsbezirken abweichend von einander processirt und anders
als in Berlin in letzter Instanz Recht gesprochen werde. Der Graf zur Lippe
wurde nicht müde, sich auf den bekannten Paragraphen der preußischen Ver¬
fassung zu berufen, der von der Einheit des obersten Gerichtshofs für die
Monarchie handelt. Ohne im Geringsten den für alle Zeiten unveränderten
Fortbestand der damaligen Einrichtungen und Normen in Anspruch zu nehmen,
machte man von hessischer Seite hiergegen geltend, daß, da die neue Bundes¬
verfassung den Erlaß einer neuen Proeeßordnung in Aussicht gestellt habe, der
gegenwärtige Augenblick nicht zu Neuerungen auf dem Gebiete des Processes
geeignet erscheinen könne; man hob hervor, daß eine neue Proceßordnung
auch Aenderungen der Gerichtsverfassung zur Folge haben werde, und damit
das, was jetzt geschaffen werde, wieder beseitigt werden müsse; daß mit der
Einführung des fraglichen Processes doch keine Einheit des Rechts geschaffen
werde, daß die bloße Einheit des obersten Gerichtshofes, dessen Mitglieder
aus den verschiedenen Rechtsgebieten bunt zusammen gewürfelt würden, bei
fortbestehender Verschiedenheit des materiellen Rechtes, für die Rechtssprechung
sehr bedenklich sei u. s. w. Aber alle diese Gegenvorstellungen, die Berufung
auf die feierliche Zusage der Schonung „berechtigter Eigenthümlichkeiten",
die Voraussagung einer ungeheuren Rechtsverwirrung prallten an dem re-
formatonschen Eifer im Justizministerium ab, und so brachten uns denn die
Monate Juli und August 1867 eine solche Fluth von Verordnungen auf dem
Gebiete der Rechtspflege, daß buchstäblich genommen am 1. September, wo
dieselben in Kraft treten sollten, in Kurhessen Niemand wußte, was Rech¬
tens war. Erst allmälig konnte man den ganzen Schaden überblicken, der in
Folge der Eile und mangelhaften Kenntniß des hessischen Rechtszustandes hier
angerichtet worden war. Die Verordnungen waren theilweise aus «ltpreußischen
Gesetzen einfach abgeschrieben und paßten nicht vollständig auf andere Sach¬
verhältnisse, zum Theil waren sie auch den hessischen Juristen in ihren Aus¬
drücken dunkel und mißverständlich. Oft setzten sie eine genaue Kenntniß des
preußischen Rechtes zu ihrem Verständnisse voraus, die man sich doch nicht
innerhalb weniger Tage, wo man Tausende von Gesetzesparagraphen zu studi-
ren hatte, noch nebenbei aneignen konnte. Oft wurde einfach auf die Vor¬
schriften im Geltungsgebiete des preußischen Landrechts oder auf preußische
Gesetze von dem und dem Datum Bezug genommen, während in Hessen die
preußischen Gesetzsammlungen bis dahin wenig verbreitet und kaum zugänglich
waren. Die Eile, mit der man zu Werke ging, war so groß, daß noch am
30. August eine Verordnung über die Gerichts- und Anwaltskosten erlassen
wurde, die am 1. September in Kraft treten sollte, während die betreffende
Nummer des Gesetzblattes erst am 5. September in Berlin ausgegeben wurde
und noch mehrere Tage später in das Land gelangte. Die Form derselben
war noch dazu so corrupt, daß erst eine anderweitige officielle Ausgabe der
Kostenbestimmungen veranstaltet werden mußte. Das Strafgesetzbuch nebst
einer großen Anzahl von Strafgesetzen wurde ebenfalls nicht förmlich publi-
cirt, sondern nur durch Bezugnahme auf die altpreußischen Bestimmungen in
Kraft gesetzt. Von der Ausgabe des betreffenden Gesetzblattes bis zur Jnkraft-
tretung seiner Bestimmungen wurde der Bevölkerung kaum mehr als vier
Wochen Zeit gelassen, um sich mit den neuen Strafbestimmungen bekannt zu
machen. Abgesehen von dieser durch Nichts gebotenen Eile war bei dem
oben geschilderten Zustande unserer Strafgesetzgebung die Einführung des in
den alten Provinzen geltenden materiellen Strafrechts trotz dessen unverkenn¬
baren großen Härten immerhin noch am Ersten zu ertragen, zumal sich hier
doch gute Gründe dafür anführen ließen.
Man kann die Wirkung dieser Berliner Gesetzesfabrieation auf unseren
juristischen Beamtenstand und das rechtsuchende Publicum, sowohl was die
unmittelbaren nothwendigen Folgen als was den allgemeinen Eindruck derselben
betrifft, nicht drastisch genug darstellen. Zweifel und Bedenken schössen bei
dem Studium der Verordnungen unter den Richtern und Anwälten wie
Pilze aus der Erde. Es trat eine allgemeine Rechtsverwirrung und Un¬
sicherheit ein, wie sie in althessischem Zeiten nach allen Justizreformen nie
eingerissen war, da man hier stets für zeitige, genügende Bekanntmachung,
für ausreichende Jnstructionen und das nöthige Personal gesorgt hatte.
— Man konnte eben an allen Ecken und Enden sehen, daß man sich in
Berlin nicht die geringste Mühe gegeben hatte, die hessischen Zustände zu
studiren, während man sämmtlichen hessischen Juristen und Nichtjuristen zu-
muthete, die eingehendsten Studien über das preußische Recht einzelner Pro¬
vinzen zu machen.
Es liegt auf der Hand, daß diese Art von legislativer Eilfertigkeit dem
hessischen Volke keinen sonderlichen Begriff von der Solidität der preußischen
Zustände beibringen konnte, und daß oftmals die Frage aufgeworfen und in
nicht allzugünstiger Weise glossirt wurde, warum gerade dem Rechtsvolk der
Hessen so etwas geboten werde, während man sich doch in Berlin darüber
keine grauen Haare wachsen lasse, ob nicht der Fortbestand der hannoverschen
Gerichtsverfassung, Proceßordnung und Gerichtskostengesetze die Existenz und
Einheit der preußischen Monarchie gefährde. Die Annahme, daß man in
Berlin desto mehr durchsetze, je ungeberdiger und feindlicher man sich gegen
die Ereignisse von 1866 anstelle, daß man mehr Rücksichten gegen solche
nehme, die sich als Freunde der alten Zustände gerirten, als gegen die
Freunde des neuen Staates, schien durch ein eclatantes Beispiel bewiesen
werden zu können, nachdem man dieselbe Annahme schon im Allgemeinen mit
Sicherheit aus der natürlichen Stellung der in Preußen herrschenden Partei
zu den in den untergegangenen Staaten vor und während des Krieges
von 1866 dominirenden Coterien ableiten zu können, geglaubt hatte. Ab¬
gesehen von diesen allgemeinen Erwägungen, wodurch der Inhalt und die
Art und Weise der Publication der neuen Gesetze in weiten Kreisen angeregt
wurden, und die gewiß der Verschmelzung unseres Ländchrns mit Preußen
nicht zuträglich waren, wurde das Recht suchende Publicum noch fortwährend
durch die mit der neuen Organisation verbundene Steigerung der Proce߬
kosten zu unliebsamen Vergleichen mit früheren Zeiten aufgefordert und ganze
Beamtenclassen durch Zurücksetzung und Schmälerung ihres Einkommens zu
Feinden der neuen Zustände gemacht. Die Kostenrechnungen nahmen näm¬
lich gegen früher ungewöhnliche Dimensionen an. In der freiwilligen Ge¬
richtsbarkeit betrugen jetzt die Kosten im Durchschnitte das dreifache gegen
früher. Bei Kaufverträgen u. s. w. erhöht sich allein der Stempel um das
Doppelte, die Kosten des Zwangsversteigerungsverfahrens steigen auf das
Vierfache.
Und wie viele Privatinteressen wurden rücksichtslos verletzt! Wir wollen
nicht reden von Degradationen höherer Justizbeamten, denen zugemuthet
wurde, aus Richterstellen höchster Instanz zu denen zweiter Instanz hinabzu-
steigen ze. Die am rücksichtslosesten auf diese Weise Betroffenen wurden schlie߬
lich mit vollem Gehalt zur Disposition gestellt; andere nahmen, nur um
thätig sein zu können, geringere Richterstellen an, als sie früher bekleidet
hatten, nachdem die Rechtsfrage entschieden war. Während man tüchtige
Beamte genug im Lande finden konnte, setzte man an einige Directorial-
stellen Altpreußen; ja ein Nassauer, der einen Verwandten im Ministerium
hatte, wurde Kreisgerichtsdirector. Noch Schlimmeres als einzelne Richter
hatten die sämmtlichen hessischen Gerichtsactuare zu erleiden. Diese Männer,
welche bis auf ganz wenige Ausnahmen aus alter Zeit sämmtlich eine aca-
demische Bildung erhalten hatten, genossen bisher einen festen Gehalt von
400—700 Thalern und daneben für die ihnen gesetzlich übertragenen Nota¬
riatsgeschäfte u. s. w. Gebühren, die bei Vielen jener fixen Summe gleich¬
kamen, bei Manchen sie überstiegen. Die neuen Gesetze entzogen ihnen dieses
Uebereinkommen und der Justizminister, der sie den altpreußischen, nichtstudirten
Secretairen ohne Weiteres gleichstellte, wies ihnen Alles in Allem einen fixen
Gehalt von 460—700 Thalern zu. Dadurch kamen eine Menge Familien,
deren Einnahme auf die Hälfte reducirt wurde, in die bitterste Noth. Sie
beriefen sich aus Recht und Billigkeit. Aber es dauerte fast ein Jcihr, bis
ihre Ansprüche wenigstens theilweise anerkannt wurden und ihnen eine Ent¬
schädigung zu Theil wurde, deren Vertheilung vielleicht dem strengen Recht
entspricht, aber doch manche unverschuldete Wunde offen läßt. — Nicht besser
erging es den Unterbeamten und sast am schlimmsten den Advocaten an den
kleineren Orten, deren Haupteinkommen aus den der Competenz der Einzel¬
richter entzogenen Processen geflossen war und denen das Gesetz daneben
noch die Befugniß zum Auftreten vor Gerichten zweiter und dritter In¬
stanz entzog.
Daß Erfahrungen und Eindrücke so peinlicher Art nicht sofort verwun¬
den werden können, versteht sich von selbst. Desto bedeutsamer ist aber, daß
man in Hessen nicht bei denselben stehen geblieben ist, sondern daß der ma߬
gebende Theil der hessischen Bevölkerung neben diesen noch andere Kriterien
zur Beurtheilung des Umschwungs gehabt hat, der sich seit den letzten drei
Jahren auf heimischer Erde vollzogen. Man hat über dem Ungemach und
den Jnconvenienzen, die man an eigener Haut erfahren, nicht vergessen, daß
der große Proceß, der sich seit 1866 in Deutschland vollzogen dem Ganzen
unberechenbare Vortheile gebracht hat und daß die Rechnung auf eine für
alle Theile opferlose und bequeme Lösung der deutschen Frage nur von denen
gemacht werden konnte, die in politischen Dingen überhaupt nicht zu rechnen
verstehen und denen es mit ihren Calculationen nie rechter Ernst gewesen.
Diese Fähigkeit, wo es die große vaterländische Sache gilt, noch andere als
specifisch hessische Gesichtspunkte heranzuziehen, hat man sich bei uns trotz
Allem und Allem dem, nicht nehmen lassen. Hoffen wir, daß der gesunde
und patriotische Sinn, den das hessische Volk bewiesen, nicht zum zweiten
Mal aus so harte Proben gestellt werde, wie es die vom Herbst 1867 waren
und daß man in Berlin einsehen lernt, das Maß der durch den Umschwung
von 1866 nothwendig geforderten Opfer sei groß genug, als daß diese
ohne ernsten Schaden durch Forderungen gouvernementaler Bequemlichkeit
und ministeriellen Vorurtheils erhöht werden dürsten.
Sie wünschen, so schreiben Sie mir, bald einmal wieder etwas von
Ihrem Korrespondenten aus Schleswig-Holstein zu Hörers Wenn doch auch
in solchen gegenseitigen Beziehungen „der Wunsch des Gedankens Vater"
sein könnte — das Schreiben von hier aus würde mir sicherlich um vieles
behender von der Hand gehen. Es ist heutzutage unter der Fülle großer
und kleiner Tagesereignisse, mit denen die Zeitungen sich und uns ernähren,
an sich schon ein Stück Arbeit der Abstraction und Beobachtung nöthig, in
Zusammenfassung des Wesentlichen einem gewissen Kalender-Zeitabschnitt die
charakteristische Signatur aufzuprägen. Wie viel mehr Mühe muß sich der
Provinzbewohner geben, der in seinem beschränkten Bereich nicht einmal jene
ephemeren Ereignisse als Stoff und Anregung für eine periodische Korrespondenz
zu verwerthen vermag! Denn daß sich hier zu Lande in den Monaten, die
seit meinem letzten Bericht verflossen sind, absolut gar nichts hat ereignen
wollen, was über das dürftigste locale Interesse hinausgegangen wäre, selbst
dies wird ihnen keine mittheilenswerthe Neuigkeit sein. Wollen Sie es mir
hiernach verargen, wenn ich an jene allgemeinen Betrachtungen wieder an¬
zuknüpfen geneigt bin, mit denen ich vor fast Jahresfrist für die grünen
Blätter zu correspondiren anfing? Was mich damals am meisten interessirte,
die Formen und der Geist preußischer Politik, die jetzt hier an der inneren
Annexion arbeiten, ist es nicht auch heute noch der dankenswertheste Stoff?
Wenn Preußen einmal durch ein thatsächliches Experiment an einem
großen lebenden Körper der Welt beweisen wollte, welche unverwüstliche
Kraft seiner Justiz und welche Impotenz seiner gegenwärtigen Administration
innewohnt, so kann es sich auf Schleswig-Holstein berufen. Mir ist's noch
täglich ein Gegenstand des Erstaunens und der Bewunderung, unsere Ge¬
richtsorganisation zu beobachten, wie sicher und fest etablirt sie nach so un¬
endlich kurzer Zeit dasteht, wie schnell Land und Leute sich in sie hinein¬
gelebt haben. Unsere Amts- und Kreisgerichte, Schöffen- und Schwur¬
gerichte, die ganze Maschinerie des Civil- und Strafprocesses, all' das functio-
rire heute im Großen und Ganzen so glatt und zuversichtlich, als läge der
1. September 1867 bereits außerhalb des Gedächtnisses der Lebenden. Dabei
sind wir unter uns durchaus nicht der Meinung, nur Vortreffliches in der
neuen Justizversassung zu besitzen. Im Gegentheil raisonniren, nergeln und
quängeln wir im Einzelnen laut, wie noch mehr im Stillen endlos daran
herum und freuen uns stets kindlich, wenn wir irgend einen noch so winzigen
Punkt entdeckt haben, der mit einigem Schein zu der befriedigten Bemerkung
Anlaß geben kann: darin war es früher doch besser. Auch brauchen wir in
der That dringend weitere Reformen auf dem Gebiet der Civilproceßordnung,
des formellen, wie materiellen Creditrechts (Concurs-, Pfand-, Hypotheken¬
rechts), und das organische Verhältniß der Kreis- zu den Amtsgerichten muß
gleichfalls wesentlich umgebildet werden. Darum handelt es sich aber nicht
in meinem Sinne. Worauf es mir ankam, war nur, die unleugbare That¬
sache zu constatiren, daß bei allen von den Fachleuten beregten Reform¬
bedürfnissen die Grundzüge der geltenden Gerichtsordnung bei Freund wie
Feind als dauernde Errungenschaften gelten, die durch nichts Besseres zu er¬
setzen und durch keine politische Veränderung mehr zu erschüttern sind. Sie
würden selbst die preußische Herrschaft überdauern.
Kann man dasselbe von der neuen Verwaltungsordnung sagen? Kann
man da überhaupt von einer Ordnung sprechen, wo lediglich eine plan - und
systemlose Vielregiererei sich breit macht, ein zerfahrenes, wirres, willkürliches
Hin - und Herzerren in der Administration, wo nichts von bleibendem Werth
geschaffen wird. Schleswig-Holstein ist entschieden die am schlechtesten admi-
nistrirte Provinz des ganzen Staates. Die Schuld davon soll nicht dem
Grafen Eulenburg, nicht dem Oberpräsidenten, nicht den altländischen und
auch nicht den eingeborenen Mitgliedern der Schleswiger Regierung impu-
tirt werden. Die preußische Administration von heute ist überhaupt ohne
Mark und Nerven, alt und abgenutzt und überreif, um der Selbstverwaltung
Platz zu machen. Wo sie sich nicht, wie hier in Schleswig-Holstein, in dem
ausgetretenen Geleise alter Traditionen und Instruktionen bewegen kann, fällt sie
ins Taumeln, Tappen und Spielen. Selbst auf den Gebieten, wo im Grunde
nur die Organisationen und Reformen der alten Provinzen mit einigem
Verstand nachzubilden sind, in Ordnung des Kirch. und Schulwesens, der Me¬
dizinal- und Baubehörden, der Steuerveranschlagungen, in Regulirung und Ab¬
lösung der Jagdgerechtigkeiten, Zwangs- und Bannrechten, ländlichen Com¬
munionen herrscht eine entsetzlich schleppende, schlendrige, zusammenhangslose
Methode des Vorgehens. Durch die ungeschickte und unüberlegte Art, mit
der man beispielsweise neuerdings in den Bureaus der Regierung in Schleswig
die von den Bezirkscommissionen eingeschätzten Arten der direkten Steuern
systematisch in die Höhe zu schrauben für gut fand, hat man es verstanden,
die Commissionen derartig vor den Kopf zu stoßen, daß die schwachen An¬
fänge kreisständischer Selbstverwaltung völlig desorganifirt werden mußten.
Die Landräthe, die ohnehin noch an dem Räthsel ihres Daseins zu grübeln
haben, werden durch endloses Rescribiren und Berichten thunlichst beschäftigt.
Die im Lande aufgezogenen vormaligen Amtmänner sollen sich in dieser
Thätigkeit sehr wohl fühlen. Von einem der aus den alten Provinzen hierher
versetzten Landräthe wird erzählt, er habe sich bereit erklärt, zu Fuße wieder
nach seiner schlesischen Heimath zurückzuwandern, wenn man ihm sein altlän-
disches Amt zurückgeben wollte.
Trotz alledem wächst die Provinz unverkennbar schnell mit dem Staate
zusammen. Die Logik der Thatsachen, die Natur der Dinge ist denn
doch stärker als alle Mißgriffe des Regiments und alle Elemente der
Unzufriedenheit, die aus jenen ihre kümmerliche Nahrung ziehen. Ver¬
sorgten wir nicht selbst unsere Gegner mit Stoff zum Kritteln und nergeln,
es bliebe ihnen ja absolut nichts Positives übrig, das sie der preußischen Herr¬
schaft, außer ihren eigenen Fehlern, entgegenzusetzen wüßten. Denn Bevölke¬
rung in Stadt und Land vergißt es zusehends immer vollständiger, die
Blicke nach rückwärts zu kehren in die grauen Nebel unklarster politischer
Strebungen, und ein rüstiges Vorwärtsstreben auf dem Boden der gegebenen
Politischen Gestaltungen ist allerwärts zu beobachten. Die materiellen In¬
teressen, durch die Verbindung mit dem Zollverein an das große Vaterland
fest geknüpft, arbeiten schließlich am stärksten für die Verschmelzung. Im
August soll in Altona eine Landes-Industrieausstellung mit internationaler
Erweiterung eröffnet werden. Wem, glauben Sie wohl, hat man das Pro-
tectorat mit Erfolg angetragen? Keinem geringeren Mann, als dem Grafen
Bismarck! Und wenn auch diese Demonstration wesentlich einer Persönlich¬
keit zu danken ist, die hervorragend durch kaufmännische Intelligenz und
Tüchtigkeit seit lange zu den treusten Vorkämpfern der preußischen Herrschaft
in den Herzogthümern gehört, dem Vertreter der ersten deutschen Firma in
Ostasien W. v. Pustau in Altona, so ist es doch bemerkenswerth genug,
daß Schleswig-Holstein i. I. 1869 sich bereits Solches vom Grafen Bismarck
gefallen läßt!
Am langsamsten geht selbstverständlich der nationale Assimilirungsproeeß
auf dem Gebiet der intellectuellen Cultur vor sich, die doch schließlich sowohl
dem politischen, wie dem wirthschaftlichen Fortschritt die allein sichere Basis
abgibt. Die allgemeine Bildung steht hier zu Lande entschieden sehr erheblich
unter dem Niveau der bürgerlichen Intelligenz in Mitteldeutschland, und die
selbstgenugsame dünkelhafte Art, mit der man auch hierin sich gern als
Normalmensch betrachtet, ist nicht das geringfügigste Symptom dieser intel¬
lectuellen Schwäche. Ein weiteres möchte ich beiläufig in dem Charakter
unserer Frauenwelt finden. So unhöflich es klingt, aber mir ist selten in
Deutschland unter den gebildeten Ständen ein auffälligerer Mangel an Geist
und Gemüth, verinnerlichten Interesse für Kunst, Poesie oder schöne Literatur
begegnet, wie unter den Frauen Schleswig-Holsteins. Ein grobschlächtiger
Materialismus, der endemisch hier das geistige Leben der gebildeten Classen
beherrscht, spiegelt sich unschön in den Lebensgewohnheiten und Bedürfnissen
des schwächeren Geschlechtes ab. Es ist ganz erstaunlich, wie gut ein tüch¬
tiger gesunder Menschenverstand, Kenntniß fremder Länder und Menschen,
praktische Weltklugheit und Erfahrung neben einer Verkümmerung aller höheren
geistigen Interessen einhergehen können. Auch mit der eigentlich gelehrten
Bildung ist es schlecht bestellt. Der hervorragendste Platz ist unbedingt
den Aerzten einzuräumen, die in der Wissenschaft, wie in der Praxis ihres
Fachs keinen Vergleich mit ihren Berufsgenossen außerhalb zu scheuen haben.
Desto ungünstiger würden bei solchem Vergleich die anderen Facultäten fahren,
vor allem die theologische und die juristische. Die Philologen sind durch
ihre altherkömmliche Freizügigkeit im Provincialtypus weniger kenntlich. Aber
ein engherzigeres, beschränkteres Lutherthum, und ein handwerksmäßigerer
Geschäftsbetrieb, als unter den Geistlichen und Juristen hier zu Lande
grassirt, sie sind sonst wohl nur noch in Mecklenburg zu Hause. Selbständiges
Studium der Quellen, Kenntniß der Literatur, Durchdringen der wissenschast-
lichen Methode, Beherrschung der technischen Form wird man bei dem Durch¬
schnitt der richterlichen Beamten im landrechtlichen Altpreußen in viel höherem
Grade entwickelt finden, als auf diesem günstigen Boden des gemeinen Rechts.
Die Hülfswissenschaften, auf die der heutige Jurist so dringend angewiesen
ist, Nationalökonomie, die politischen und socialen Doctrinen liegen gänzlich
brach. Hierin aber kann erst Wandel eintreten, wenn der nothwendige, jetzt
noch ganz fehlende Austausch im Beamtenthum und den gebildeten Elementen
überhaupt zwischen Schleswig-Holstein und den anderen Provinzen des Staates
stattfindet, und vor Allem, wenn die Universität Kiel aufgehört hat der
jüngeren Generation ihren eigenthümlichen Stempel aufzudrücken. Daß die
jungen Leute nicht mehr, wie früher, verpflichtet sind, zwei Jahre ihres
Studiums in Kiel zuzubringen ist schon Gewinn. Besser wäre es, sie würden
der Versuchung, aus Bequemlichkeit, Sparsamkeit, oder landsmannschaft¬
lichem Interesse in Kiel zu studiren, überhaupt enthoben. Die von den
..Grenzboten" zuerst angeregte Frage einer Verlegung der Universität von
Kiel nach Hamburg kann, glaube ich, nur nach der einen Seite zu ernsthaften
Meinungsverschiedenheiten Anlaß geben, ob gerade Hamburg sich dazu eignet,
der Wissenschaft und ihren Jüngeren als Pflanzstätte zu dienen. Daß
Kiel dazu nicht, oder nicht mehr angethan ist, scheint mir außer allem
Zweifel zu liegen. Fern ab von allen Mittelpunkten und Brennpunkten des
geistigen Lebens, in den Winkel gedrückt, kleinstädtisch, eingesponnen in einen
höchst engen Partieulariswus politischer wie unpolitischer Art ist diese Hoch¬
schul« so recht darauf angelegt, Lehrern, wie Schülern den geistigen Horizont
beschränkt zu erhalten, eine quietistische, selbstgenugsame Richtung zu ent¬
wickeln. Selbst als Durchgangsstation für die Professur jüngerer Docenten
erscheint sie nicht geeignet; strebsame Kräfte fliehen sie möglichst. Sie leidet
ohnehin an Dürftigkeit der Frequenz. Was ist das für eine Universität mit
8 Docenten, 30 Studenten der Jurisprudenz, im Ganzen über SO Lehrern
und etwas über 130 Schülern! Man sollte diesen Universitätsflecken getrost
eingehen lassen und die Studirenden für die Staatsämter schon jetzt ver¬
pflichten, mindestens die letzten Semester unbedingt nicht in Kiel, sondern
in Berlin oder einer anderen wirklich universellen Universität Altpreußens
zuzubringen. Schleswig-Holstein würde ein Bedürfniß nach Ersatz für den
Verlust des Christian - Albrechts - Instituts wohl nur in der Einbildung
fühlen, in Wahrheit aber reiche Entschädigung in dem frischeren Einströmen
der freien, universellen, nationalen geistigen Bildung erhalten. Für die
Pastoralen Bedürfnisse der 900,000 Schleswig-Holsteiner könnte man ja
immer eine theologische Facultät als berechtigte Landeseigenthümlichkeit
irgendwo, vielleicht am Sitze eines der Landesklöster, bestehen lassen.
So lange der durch die haldinsulare Lage unserer Provinz entwickelte
Bann, der auf der Intelligenz der Bevölkerung lastet, nicht gehoben ist,
werden wir auch keine respectable Presse erhalten. Noch ist wenig zu merken,
daß die Gedankenöde, Trivialität und geschmacklose Form in unseren Zei¬
tungen an Breite verliere. Der „Altonaer Merkur", das älteste und lange
Zeit wohl immer beste, Blatt der Provinz, ist inzwischen in die Hände eines
Hamburger speculativen Buchhändlers gefallen, der auf Hamburger Seite
Eigenthümer der vielgelesenen , in demokratischen Sinne redigirten „Reform",
ist —eine Straßenbreite davon entfernt den Verleger des in preußisch-officiöser
Manier von der Berliner Centralpreßstelle und Herrn Edgar Bauer redigirten
Altonaer Blattes abgibt. Derartige politische Charakterköpfe findet man hier
ganz natürlich. Obwohl das Blatt fortgesetzt durch die officiellen Anzeigen
sämmtlicher Behörden subventionirt wird, ist seine Abonnentenzahl auf einige
hundert heruntergekommen, und es bleibt ziemlich unbegreiflich, wer eigentlich
noch dabei seine Rechnung findet. Die Regierung scheint sich von dieser
Seite her besondere Erfolge auch nicht mehr zu versprechen. Sie hat dafür
in Kiel mit dem „Kieler Correspondenzblatt" ein neues ossiciöses Pre߬
unternehmen versucht, das seit dem 1. April d. I. um sein Dasein kämpft.
Als Redacteur fungirt Dr. Julius Schladebach, der, irre ich nicht, vor zehn
Jahren die „Posener Zeitung" in officiösen Sinne leitete, dann im Berliner
Centralpreßbureau beschäftigt wurde, dann in Hannover einige Jahre die
Welfenpolitik in der Presse vertrat, dann kurze Zeit nach der Katastrophe
des Jahres 1866 im Preßbureau des Generalgouverneurs thätig war und
endlich am „Altonaer Merkur" ein Unterkommen fand. Von Akkon« ver¬
schrieb man ihn nach Kiel. Sollte der Mann uns wirklich eine tüchtige
Provinzialzeitung schaffen können? Und wenn er das Unmögliche leistete,
wann und wo werden sich die Kräfte finden, die eine tüchtige Zeitung
dauernd unterstützen, wo wird das Publieum sein, das sie liest?
So aufgeregte Wochen wie die letzt vergangenen hat Paris nicht erlebt,
seitdem das eiserne Scepter des dritten Napoleon alles öffentliche Leben
niedergeschlagen, das freie Wort ertödtet hatte. Die Wahlen zum Oorps
I^ZiLlÄtik haben gezeigt, daß in dem großen, scheinbar erstarrten Körper eine
dumpfe Währung herrschte, eine um so schlimmere, als sie sich auf keine Weise
Luft machen konnte. Zwar sind wir weit davon entfernt, die Hoffnungen
sanguinischer Republikaner oder die Befürchtungen ängstlicher Bürger zu
theilen, die sich am Vorabend einer großen politischen und socialen Revolu¬
tion wähnen; daß aber die letzten Ereignisse mehr zu fürchten als zu hoffen
geben, das kann nicht geleugnet werden.
Schon lange war die Wahlcampagne eingeleitet, schon lange fingen die
Parteien an sich scharf zu zeichnen, und man konnte ahnen, wie heftig der
Kampf werden würde. Im vorigen Sommer bereits erschien das Buch von
Eug. Te'not. einem Mitarbeiter des „Siecle", über den Staatsstreich vom
2. December, das über die Vorgänge des grauenvollen Togs, über die Hal¬
tung der Provinz namentlich viel Neues und Interessantes brachte. Un¬
mittelbar daran schloß sich die Sammlung für Baudin's Denkmal, und bei
dieser Gelegenheit wurde der junge feurige Advocat Gambetta (den eben erst der
Herzog von Persigny als besonders gefährlich hinstellte), den Parisern durch
seine glänzende Rede bekannt. Denn man darf nicht vergessen, wie viel
empfänglicher als wir unsere westlichen Nachbarn für die Gewalt des Wortes
sind; wer von den diesjährigen Candidaten nicht ein bedeutendes Redner¬
talent besaß, der hatte einen schweren Stand seinen Zuhörern gegenüber, und
eine bei den förmlichen dialectischer Tournieren, welche bei den Wahlversamm-
lungen aufgeführt wurden, erlittene Schlappe konnte alles verderben, was
frühere Siege und dicke Bücher genutzt hatten.
Sodann wurden die unteren Stände den ganzen Winter über durch die
bekannten Versammlungen der Redoute, des Latte Noliöriz, des ?r6 a,ux
Llsros, der uns Rout?Leg,ra?c. in Athem gehalten. Das unvollkommene
Gesetz des 19. Januar hatte zwar nur sociale Fragen zu behandeln erlaubt
und politische Erörterungen ausgeschlossen; namentlich ist ja durch die Ver¬
fassung verboten, über diese zu discutiren. Aber durch alle mögliche Auswege
und Hinterthüren streifte man immer wieder auf politisches Gebiet hinüber,
und es hing wesentlich von der größeren oder geringeren Strenge des an¬
wesenden Polizeicommissairs ab, ob er Anstoß daran nehmen wollte oder
nicht. Was für unglaubliche Thorheiten, oft mit den besten Regungen und
Absichten vermischt, in diesen Versammlungen (in denen auch Frauen auf¬
traten; gerade ihre Reden waren die heftigsten!) vorgebracht wurden, ist be¬
kannt. Und wie wäre es anders möglich gewesen! Die aus Paris immer
mehr verdrängten Arbeiter, zu denen Niemand mit einem freien Worte hinab¬
steigen durfte, waren ihrer eigenen Unwissenheit, ihrem anwachsenden Grolle
überlassen, oder den gefährlichen Wühlereien gewissenloser Demagogen preis¬
gegeben, die ihnen vorhielten, wie sie, die immer unterdrückten, die eigent¬
lichen Herren des Landes, das wahre Volk seien. Welche Summe von un¬
klaren Gedanken und Wünschen aufgehäuft, zugleich welche tiefe sittliche
Corruption in diesen Ständen groß gezogen war, kam mit einem Male zum
Vorschein. Ein großer Fortschritt ist aber in den letzten Jahren von den
Arbeitern trotzdem gemacht worden; sie haben angefangen zu lesen, gern und
viel zu lesen. Man hat mit vollem Rechte die kleine Presse, die „vollendete
Albernheit" des ?edle Journal aufs härteste verurtheilt, aber ein Gutes haben
sie gehabt, das freilich nicht in der Absicht ihrer Gründer lag; sie haben die
unteren und untersten Stände eben daran gewöhnt, zu lesen; als nun der
„National 6e 1869" und andere politische Blätter aufkamen, die ebenfalls
zu nur 1 oder 2 Sous zu haben waren, da verlor das „?<zeit -lournal" seine
Leser tausendweise und jetzt ist der erste Schritt geschehen, der Arbeiter kauft
sich seine Zeitung ebenso gut wie der kleine Bürger: welche große Verant¬
wortlichkeit daher die liberale Presse trägt, leuchtet ein; es würde uns zu
weit abführen, genauer aus diese Lebensfrage einzugehen. Bücher wie die
Jules Simon's haben bei denen, von welchen sie handeln, ihren Eingang ge¬
funden und ihre Wirkung ist unermeßlich.
Ollivier's Buch machte seinen Autor, wie vorauszusehen war, noch mi߬
liebiger, und über die maßlose Eitelkeit*), die darin zur Schau getragen wird,
vergaß man die wirklichen Verdienste des ehrgeizigen Mannes. Seit einigen
Monaten endlich gingen die Fluthen immer höher, bis zudem entscheidenden Tage
der Wahlen. Die oppositionellen Parteien haben eine Taktik befolgt, die sich
als vortrefflich erwiesen hat, die nämlich, viele Candidaten zu gleicher Zeit
aufzustellen. Dadurch wird eine größere Zahl von Wählern interesstrt, weil
diese ihre speciellen Wünsche und Ansichten vertreten sehen können; freilich
tritt in den meisten Fällen Zersplitterung der Stimmen ein (und es waren
auch in der That 59 Ballotagen), aber die Mitglieder der Union liderals
sind verpflichtet, zu Gunsten des Candidaten derselben Partei, der die meisten
Stimmen hat, zurückzutreten. Wer das erste Mal angestimmt hat, bleibt
das zweite Mal nicht gern zurück und gibt dann seine Stimme für denjeni¬
gen ab, der ihm, wenn nicht der beste, doch der wenigst schlechte erscheint.
Nun, nach dem Gesammtergebnisse zählt die Opposition aller Art
89 Mitglieder; da aber vier von ihnen doppelt gewählt sind, so wird ihre
Zahl auf 93 steigen. Auf diese Weise wird es wohl auch möglich werden,
Glais-Bizoin und Lavertuchon (Bordeaux), die ihren officiellen Gegnern
unterlegen sind, in die Kammer zu bringen. Verhängniszvolle Zahlen, diese
89 und 93! Die officiellen und gouvernementalen sind' 199 Mann stark.
Aber wie ist diese Majorität erreicht? Vor Allem darf man nicht außer Acht
lassen, daß die gesammte Mehrheit nur ca. 800,000 Stimmen beträgt, wäh¬
rend es noch im Jahre 1863 derer 3Vü Millionen waren! Von 7^2 Millio¬
nen Wählern haben also in diesen sechs Jahren ca. 2^ Millionen die Re¬
gierung verlassen, um auf die Seite der Opposition zu treten. In vielen Be¬
zirken siegte der officielle Candidat mit kaum hundert Stimmen, ja in der
Häute-Saone mit nur 17! Bei den Wahlprüfungen werden wohl allerlei
merkwürdige Dinge ans Licht kommen!
Jedermann weiß, welche Pression eine vielarmige Verwaltung zu üben
im Stande ist; hier besitzt der Kaiser eine Zuckerfabrik; den Bauern wird
gedroht, ihre Rüben würden ihnen nicht mehr abgekauft, wenn sie nicht für
den bezeichneten Candidaten stimmten. Da wird ein Vicinalweg versprochen,
hier eine Eisenbahn; da verbietet der Maire, die Aufrufe des liberalen
Comite's anzuschlagen, in Besancon werden die Wahlprogramme des oppo¬
sitionellen Candidaten Ordinaire vom Polizisten ohne Weiteres herunter¬
gerissen. Die schnödeste Art aber ist die Eintheilung der Wahlbezirke, die
allein von der Regierung ausgeht: die Städte sind natürlich oppositionell;
da werden einfach ein Stadtviertel und mehrere benachbarte Dörfer in einen
Wahlbezirk zusammengekoppelt, wobei die Bauern die Mehrzahl zu Gunsten
des Officiellen bilden. Auf solche listige Weise sahen sich Städte wie Bordeaux
und Nantes um den Mann ihrer Wahl betrogen. Was Wunder, wenn die
Wuth über solche schmähliche Behandlung sie zu offener Empörung treibt!
Und wer weiß, wie viele Fälschungen mit den Zetteln getrieben wurden?
Ein Dorfwirth erzählte mir ganz ruhig, daß er andere Namen auf die Zettel
geschrieben als diejenigen, um welche ihn die des Lesens und Schreibens un¬
kundigen Wähler gebeten hatten. Eine lehrreiche Zusammenstellung*) machte
der „Rappel", das Blatt der äußersten Linken und der Familie Hugo, die
den Einfluß der Negierung auf ungebildete Wähler deutlich beweist. In
18 Departements beträgt die Zahl derer, die weder lesen noch schreiben
können (illöti'6s) 0—10 Proc.; hier wurden 34 oppositionelle, 27 officielle
Abgeordnete gewählt. In 28 Departements beträgt dieselbe Classe 10 bis
25 Proc.; sie wählten 28 oppositionelle, 43 officielle Abgeordnete. In 48
Departements sind der Ungebildeten 25—66 Proc., und hier setzte die Oppo¬
sition nur 52, die Regierung 107 der Ihrigen durch. Daß unter diesen
letzten sich auch der Gerf befindet, Herrn Granier's aus Cassagnac gelobtes
Land, ist selbstverständlich. Das hübsche Kunststück, vermittelst dessen sich
mehr Stimmzettel als Wähler vorfinden, scheint auch mehrere Male aufgeführt
worden zu sein.
Besonders merkwürdig war die Haltung der Pariser Wähler, namentlich
in der Zeit zwischen den ersten und den engeren Wahlen. Im Jahre 1852
wählte Paris 7 officielle Abgeordnete, 2 liberale: es waren Carnot und
Cavaignac; 1847 standen 5 Liberale gegen 5 Regierungsmänner; für diese
Wahl wurde 1863 die Hauptstadt um einen Wahldezirk verkürzt, schickte aber
9 Gegner der Regierung in die Kammer. Dieselbe Zahl hat sie auch heute,
aber von diesen 9 ist die Mehrzahl radical, die wenigsten sind liberal! Diese
Erscheinung ist es, die sür dies Jahr charakteristisch ist — freilich nicht erfreu¬
lich, wenig Gutes für die Zukunft der französischen Opposition versprechend,
die ihren factiösen Charakter einmal nicht ablegen kann.
Es war als hätte sich eine große Verrücktheit eines Theiles der Presse
bemächtigt! Jules Favre ein Reactionair! Garnier - Pages ein Agent des
Orleans! Thiers ein Clericaler! Alle mehr oder weniger bereit der Regierung
nachzugeben! Jules Favre, der seit 12 Jahren Paris so ruhmreich, so ehren¬
voll vertrat! Thiers, der erbitterteste Feind des persönlichen Regiments! Die
Deutschen haben keinen Grund gerade für Thiers Sympathie zu hegen, denn
er hat das neue Deutschland von 1866 noch nicht acceptiren können, seine
schutzzöllnerische und seine Gleichgewichtspolitik sind längst veraltet, aber eine
der eminentester Arbeitskräfte in der Kammer bleibt er, und der gefürchtetste
Gegner Rouhers, des Vicekaisers; dieser gestand auch ganz offen: „Wie
viele schlaflose Nächte (nuits blanc-Iles) würden mir die Pariser ersparen,
wenn sie Thiers nicht wiederwählten!" Thiers aber war sehr daran gelegen
wieder in die Kammer zu kommen, denn, sagte er ,M encors quelqaeg
xetitss euoses ä aire."
Und wer stand diesen erprobten Kämpfern gegenüber? D'Akkon-She'e, ein
Edelmann, von dem man nichts wußte, als daß er 1852 mit Morny auf
Du und Du stand und daß er sein ganzes Vermögen in Amerika verloren!
Raspail, der alte Störenfried, der durch seinen frevelhaften Einbruch in die
Nationalversammlung am 15. Mai 1848 einer der Urheber der Junitage wurde!
Rochefort endlich, ein unwissender Pamphletist von zweifelhaftem Geschmack,
der nichts liest, nichts lernt, aber in maßlosester Weise den Kaiser persönlich
angegriffen und beschimpft, hat! Und gerade deshalb, weil er so maßlos ge¬
wesen, ist er von den Arbeitern vorgeschlagen worden, wird er von ihnen auf
den Händen getragen. Und für wessen materielles Wohl hat der Kaiser besser
gesorgt als für das des vierten Standes? Rochefort's Candidatur war eine
unnütze und fehlerhafte Demonstration, aber als solche von Bedeutung. In
einem Wahlbezirke, den die Regierung bereits verloren gegeben hatte, kam
es nicht darauf an, energisch zu Protestiren (wie man es gegen eine unent¬
rinnbare Majorität gethan haben würde), sondern eine tüchtige Wahl zu
Stande zu bringen, und dazu taugte doch Rochefort nicht! Glücklicherweise
haben die Wähler des 7. Bezirks noch in letzter Stunde diese Einsicht ge¬
habt und die Ehre des Pariser bon Lens gerettet. Jules Favre's Brief an
sie war ein Muster von Adel und männlicher Würden
Die Stellung eines Pariser Candidaten war keine Sinekure; in der kurzen
Zeit, die von der Verfassung zu Wahlversammlungen eingeräumt wird, mußten
sie an demselben Tage oft an mehreren von einander ziemlich entfernten Orten
auftreten und wurden von ihren Wählern dabei einem förmlich inquisitorischen
Verfahren unterworfen. Ihre Ansichten über Gott, Religion, Kirche, Familie,
Besitz, kurz Alles mußten die Candidaten beichten; es war als ob sie sich
mit Leib und Seele ihren Wählern ergeben sollten; und oft waren sie den
ärgsten persönlichen Beschimpfungen ausgesetzt. Thiers war der einzige, der
sich als bekannt genug voraussetzen durfte, um sich den persönlichen Anstren¬
gungen der Candidatur zu entziehen.
Was nun diese neue Kammer für eine Wirksamkeit haben wird, darüber
sind alle Vermuthungen unnütz; es fehlt ihr an einem Centrum; sie hat nur
Extremitäten, die eine durch ihre Masse bedeutend, die andere durch ihre Be¬
weglichkeit; sie wird Mühe haben in eine richtige stetige Bahn zu kommen.
Unklar ist vor Allem die Politik der neuen Opposition; als Ollivier Aussicht
auf ein Ministerium hatte, war sofort die Devise der Linken: „Mit dieser
Regierung kein Compromiß!" Ja! aber wie wollen die tapferen Kämpen sonst
etwas erreichen? Sie leiden an demselben Uebel, an dem ganz Frankreich
krank liegt; sie möchten gern Freiheit haben, sie wissen aber nicht wie sie
dazu kommen sollen!
Alle Parteien rufen nach Frieden: darüber soll man sich im deutschen
Reiche nicht täuschen! Zwar findet das verjüngte Deutschland, speciell
Preußen, keine Sympathien in Frankreich, und das ist begreiflich genug;
aber bis zum Wunsche nach einem Kriege versteigt man sich doch nicht, mit
Ausnahme etwa der Ultramontanen! Die Schwarzröcke haben immer den
richtigen Jnstinct, von welcher Seite her sie etwas zu fürchten haben. Das
Liebäugeln des Univers mit der Kreuzzeitung ist bedeutsam genug. Uebrigens
hat die Art, wie die officiösen preußischen Blätter von den französischen
Wahlen sprachen, hier einen üblen Eindruck gemacht, und in Deutschland
selbst wird er wohl nicht besser gewesen sein. — Es war wieder eine hohe
Befriedigung für den Pariser, daß „ganz Europa" mit gespanntester Auf¬
merksamkeit die Unruhen der Hauptstadt verfolgte. Und in der That, diese
Unruhen sind eine merkwürdige Erscheinung, ein unaufgelöstes Räthsel. Wir
meinen die der letztvergangenen Woche, seit dem 7. Juni; denn die des
13.—18. Mai waren nur Folgen der Wahlaufregung, und wären trotz
Marseillaise und Lanterne ganz unschuldig geblieben, wenn die unkluge An¬
wesenheit zahlreicher Polizisten nicht erst gereizt, und besonders wenn die
rohe Brutalität derselben nicht die Leidenschaften erhitzt und Alle, auch die
Friedfertigsten, empört hätte. Was schadete denn die arme Marseillaise? Das
Lied, von dessen unglaublich hinreißender Gewalt man sich keinen Begriff
machen kann, wenn man es nicht von Tausenden und Tausenden hat an¬
stimmen hören, das Lied, das die Heere der Republik zum Siege geführt, ist
jetzt polizeiwidrig! Aber tödtet sie auch nur einen Serganten? Brauchten
denn die Banden des Herrn Pietri gleich, ohne vorgehende Sommation,
dreinzuschlagen mit Stühlen, Tischen, ja, wie es unmittelbar neben uns
geschah, den Degen zu ziehen, in Brauereien einzubrechen und da alles zu
zerschlagen was vor ihnen stand, die darin anwesenden Leute auf die Straße
zu werfen, um sie niederstoßen und abführen zu können! Es waren em¬
pörende Scenen, denen wir beigewohnt! Und wer sich damals wehrte erhält
jetzt, nach einmonatlicher Untersuchungshaft, noch einen, zwei, sechs Monate
Gefängniß. Doch wie gesagt, diese Aufregung war nicht von tiefgehender
Bedeutung. Selbstverständlich aber zog die Regierung ihren Nutzen davon;
das bekannte rothe Gespenst wurde wieder einmal aus der Rumpelkammer
der Maires und Präfecten ans Licht gezogen, um den noch schwankenden
Provinzialen einen heilsamen Schrecken einzujagen. In einem Dorfe, fünf¬
zehn Stunden von Paris, wurden wir allen Ernstes am Tage vor den
Wahlen gefragt, ob es wahr sei, daß man sich in Paris schlage und daß
Barricaden errichtet seien. Wer die Nachricht verbreitete, war natürlich der
Maire und sein rechter Arm, der Flurschütz!
Ganz anderer Art waren die Ereignisse nach den engeren Wahlen; hier
war beabsichtigter und planmäßiger Aufruhr. Am Montag begann schon die
Währung, die Menschenmasse auf dem Boulevard Montmartre — historischen
Angedenkens — war kolossal; ein Zusammenstoß mit der Polizei war unver¬
meidlich. Am Dienstag wuchs die Bewegung. Am Mittwoch durchzogen schon
am hellen Tage Banden von zerlumpten Kerls mit verdächtigen Gesichtern,
wie sie nur an solchen Tagen aus den Steinbrüchen und Kalköfen der
Umgegend herauskommen, die Arbeiterviertel von Charonne und Belleville,
zerschlugen die Gaslaternen, und. was das Merkwürdigste bleibt, vergriffen sich
sofort an Privatbesitz. Ein Theil dieser Schaaren war Abends auf den Bou¬
levards und riß die ungeheure Zahl der anwesenden Neugierigen mit sich;
die berittene Municipalgarde räumte, die Straße. Alles wurde weggefegt,
nicht ohne daß es einige Verwundungen beiderseits abgab, alle Zugänge
wurden abgesperrt. Es gelang mir indeß, durch das Militair hindurch
wieder auf den Boulevard zu gelangen, — es war ein unheimlicher Anblick;
wo sonst so reges Leben herrscht, Todtenstille; alle Häuser geschlossen, die
Lichter erloschen, nicht ein Mensch weit und breit zu sehen, nur die Ausgänge
der Nebenstraßen durch die Garde besetzt, deren Helme und Gewehre in der
Dunkelheit allein schimmerten. Nur von Zeit zu Zeit hörte man dumpfes,
verworrenes Geschrei oder laute Commandorufe. Ich war froh, als ich mich
wieder im Menschengedränge befand!
Der schlimmste Tag war der Donnerstag: man hatte Nachricht von den
Unruhen in Bordeaux, Nantes und Se. Etienne erhalten, die Bewegung ver¬
breitete sich immer weiter. Schon am Morgen waren in den aufgeregten
Stadttheilen die Läden geschlossen; immer wieder dieselben Banden versetzten
durch ihre Zerstörungen die ganze nordöstliche Seite der Hauptstadt
in Schrecken; durch einige Bayonnetangriffe der Infanterie zerstreut,
fanden sie sich doch wieder zusammen; eine Weinhandlung und ein öffentliches
Haus werden geplündert, an einer Markthalle die Eisenstäbe zerschlagen, und
nun zog es nach dem Boulevard. Die Zahl der Neugierigen war wie immer
ungeheuer, von Polizei nichts zu sehen; die Aufrührer zerstören die Kiosques.
zerschlagen die Gaslaternen, Scheiben, Bänke auf den Trottoirs, von Polizei
nichts zu sehen. Eine Schaar von 20—30 Gamins zieht brüllend an einer
ganzen Compagnie von Polizisten in einer Nebenstraße vorbei, bewaffnet sich
mit Brettern und Stangen aus einem der vielen demolirten Häuser und
fängt an, auf dem Boulevard einen ganz kleinen, unbedeutenden Anfang zu
einer Barricade zu versuchen. Da erst griff das Militair von allen Seiten
ein, die Mehrzahl der Zerstörer und Schreier wurde gefangen und abgeführt.
ohne daß es zum Schießen kam. Den ganzen Abend hindurch machte die
Polizei nun wahre Razzias auf den Straßen.
Als am Freitag der Kaiser und die Kaiserin durch die Straßen von
Paris fuhren, wurden sie wirklich acclamirt; es war diesmal keine Phrase des
Journal okkeiel. Der Bourgeois hatte Angst gehabt, Alles war gewonnen.
Am Abend standen zwei Kürassierregimenter aus Versailles, die Jäger- und
Husarenregimenter, die Municipalgarde auf dem Platze! Vor solcher Macht¬
entfaltung bebte Jeder zurück; zwar war die Masse der müßigen Zuschauer
und Zuschauerinnen ebenso groß wie zuvor, aber sie war ruhig und ließ sich
Schritt vor Schritt von der Cavallerie zurückdrängen; ein schwacher Wider¬
stand wurde nur gegen die verhaßten Sergants versucht, die mit Brettern
und Stöcken bewaffnet überall wütheten, wo sie sich die Stärkeren fühlten.
Die Zahl der arretirten Personen beträgt nicht weniger als 2000; frei¬
lich wurden viele bald wieder entlassen, aber noch mehr werden in den die
Stadt umgebenden Forts festgehalten.
Was war nun der Zweck dieser Unruhen? Von wem gingen sie aus?
Daß die meisten der Emeutiers bezahlt waren, steht fest. Dies genügt, um
die fabelhaftesten Vermuthungen möglich erscheinen zu lassen. '„Pays" und
„Patrie" freuen sich der willkommenen Bestätigung ihrer Hirngespinnste von
der großen belgisch-republikanischen Invasion, die mit solchem ,,6etat 6ö rirs"
aufgenommen worden war. Die bekannten „gut unterrichteten" Leute
wollen wissen, der Scherz sei von den Orleans ausgegangen und habe sie
20 Millionen gekostet!! „Rappel" und „Reveil" machten sich zum Echo
des allgemein verbreiteten Gerüchts, das die Regierung selbst als Anstifterin
der ganzen Geschichte bezeichnet: es sollte damit ein Vorwand geschaffen wer¬
den, um nachher strammer auftreten zu können. Dafür wurden die genannten
Blätter mit Beschlag belegt, fast die gesammten Redactionen arretirt. Merkwürdig
bleiben mehrere Thatsachen. Was hatte jenes Gesindel vor, als es namentlich
Privatbesitz angriff? Warum ließ man die Tumultuanten so lange gewähren,
da doch die Caserne du Prince Eugene die ganze Gegend strategisch beherrscht,
und die Polizeiagenten auf den Boulevards sonst die waffenlosen Neugierigen
Mit Faust- und Stockschlägen, Fußtritten'und Stößen aller Art freigebig
tractirten? Warum ließ man es am Donnerstag zum Aeußersten kommen,
statt von Anfang an durch imponirende Macht jede Möglichkeit einer ernsten
Collision zu vermeiden? Ein Paar Dutzend Polizisten reizen zum Wider¬
stände, denn die Hoffnung sie durchzuwalken ist für den Pariser zu verlockend,
als daß er sich nicht auch selbst einiger Gefahr aussetzte, um sich dies Ver¬
gnügen zu leisten! Ein Regiment Cavallerie dagegen schreckt auch die.toll¬
sten zurück. Und warum hat man namentlich nicht sofort die Nationalgarde
aufgeboten, wie alle liberalen Zeitungen es verlangten? Vielleicht eben des-
halb, weil die Liberalen es wünschten! Wozu ist sie denn da? Im Fau-
bourg Saint-Antoine hatte sich an den letzten Tagen eine Anzahl Bürger
zusammengethan, um sich selbst zu helfen und Jeden, der sich an ihrer Habe
vergriff, sofort selbst abzustrafen. Das war das Beste!
Hatten wir also im ersten Falle der Regierung vorzuwerfen gehabt, daß
sie unnützer Weise unschuldige Demonstrationen durch brutales Eingreifen
verschlimmerte und verbitterte, so müssen wir ihr diesmal Schuld geben, daß
sie gefährliche Excesse zu lange duldete, die Aufregung wie geflissentlich ver¬
mehrte, und in beiden Fällen meistens die Unschuldigen für die Schuldigen
büßen ließ.
Auf den 28. Juni ist die Kammer einberufen. Es heißt, es werde keine
Thronrede geben! Dies nimmt uns nicht Wunder, denn trotz seiner eminenten
Kunst doppelzüngig zu reden, müßte Napoleon sich aussprechen, wie er die
durch die Wahlen gemachte Situation aufnimmt, und das wäre gegen seine
Gewohnheit.
Geschichte der evangelischen Kirchengemeinde in Bukarest. Von W. Se. Teutschländer,
Pfarrer. Bukarest 1369 8». 141 S. Text und 92 S. diplomatische Beilagen.
Der Verfasser entrollt uns in seinem mit ansprechender Wärme geschriebe¬
nen Buch ein Stück deutschen Lebens voll Hindernisse, Noth, Zwist, Intrigue
und trotzdem gedeihlichen Wachsthums, das mit Fug und Recht als ein Bei¬
trag zur Illustration der Nachtheile gelten kann, die die politische und reli¬
giöse Zerrissenheit des Vaterlandes unseren in die Ferne strebenden Lands¬
leuten gebracht hat. Darf das Buch schon deshalb allgemeineres Interesse
beanspruchen, so steigert sich dies noch durch die neuesten Ereignisse, da die
Thronbesteigung eines Hohenzollern das rumänische Land unserer Theilnahme
ja so viel näher gerückt hat. Es dürfte daher ein Rückblick auf die Schick¬
sale unserer protestantischen Landsleute in Bukarest den Lesern dieser Zeit¬
schrift wohl nicht unwillkommen sein.
Deutsche Einwanderer, seit dem 16. Jahrhundert verschiedener Confession,
lassen sich wie überall im Osten schon im Laufe des Mittelalters in Rumänien
nachweisen; doch stammt die Bildung einer deutschen evangelischen Gemeinde
erst aus dem Anfang des vorigen Jahrhunderts, wie denn auch Bukarest erst
seit 1700 Hauptstadt der Wallachei ist. Die Möglichkeit einer Gemeinde-
bildung ist der Intervention des eifrig protestantischen Karls XII. von
Schweden zu verdanken, der in seinem Allianzvertrage mit der Türkei den
evangelischen Christen sowohl in Constantinopel wie in Bukarest freie Reli¬
gionsübung und die Erlaubniß zum Kirchenbau ausbedang. Daher blieb
auch die Bukarester deutsche Gemeinde, obwohl sie überwiegend aus einge-
wanderten „Sachsen" aus Siebenbürgen bestand, von dieser Zeit an (die ge¬
nauere Zeit der Begründung ist nicht mehr zu ermitteln) bis 1839 unter
schwedischen Schutz, und wir können (mit dem Verfasser) der schwedischen Ge-
sandtschaft in Constantinopel das Zeugniß nicht versagen, daß sie sich lebhaft
für ihre evangelischen Glaubensbrüder interessirt hat. Das erste fürstliche
Privileg für die Gemeinde, das uns der Verfasser nebst allen folgenden im
Anhange in rumänischer und deutscher Sprache mittheilt, datirt zwar erst
aus dem Jahre 1751, doch ist schon früher die Existenz eines Pfarrers Wagner
beglaubigt. Dieser stammte, wie fast alle seine Nachfolger und auch der Ver¬
fasser der vorliegenden Schrift, aus Siebenbürgen, und es wird demnach nicht
ausfallen, daß im Laufe der Zeit mehrmals, aber immer vergeblich der Ver¬
such gemacht wurde, die Bukarester Gemeinde in eine Filiale der Superin-
tendentur zu Kronstäbe zu verwandeln. Sicherlich lag der Grund zur Ab¬
weisung der von Bukarest ausgehenden Gesuche in der Furcht der Kron¬
städter Kirchenbehörde, sich dadurch auch ewe Verpflichtung zum Unterhalt
der Kirche und des Pfarrers aufladen zu müssen. Die Gemeinde war keines¬
wegs reich, sie bestand und besteht größtentheils aus Handwerkern, neben
diesen scheint die Zahl der Kowines literati im weiteren Sinne, die der Kauf¬
leute zu überflügeln.
Ueberhaupt bietet die Geschichte der Gemeinde mehr einen Beweis für
die passive Energie, als etwa für die glänzende Leistungsfähigkeit des deut¬
schen Volks. Die Gemeinde hatte immer mit Noth Und Elend zu kämpfen
und schwebte beharrlich in einem Zustande zwischen Leben und Sterben, ob¬
wohl sie 1734 bereits 75 Familien zählte. Die Erlaubniß zum Bau einer
Kirche war schon 1751 von dem Fürsten der Wallachei bewilligt aber wegen
der folgenden Kriegszeiten nicht benützt worden; 1774 aber bestimmte Artikel
16 des Friedens von Kutschuck-Kainardschi von Neuem, daß die Pforte in
beiden Donaufürstenthümern die freie Ausübung der christlichen Religion,
sowie die Erbauung neuer und Herstellung alter Kirchen gestatte. Bald
darauf ward auch der Kirchenbau in Angriff genommen. Es war ein Glück
für die Gemeinde, daß sie in Johann Glöckner einen Mann fand, der an-
fangs als Informator, dann als Pfarrer, endlich mit dem Titel eines Supe-
rintendenten bei den Gemeinden zu Bukarest und Jassy 49 Jahre lang in
dürftiger, schwieriger, ja gefährlicher Stellung ausharrte. Als er 1778 nach
Bukarest kam. war er noch nicht zum Geistlichen ordinirt, und da die Ge.
meinte keine Mittel besaß, ihn zur Ordinarien nach Deutschland oder etwa
nach Constantinopel zum schwedischen Gesandtschaftsprediger zu schicken, so
ordinirte sie ihn selbst durch ihren Vorstand. Als er dann im folgenden
Jahre heirathete und weder ein katholischer noch ein griechischer Geistlicher
die Copulation vornehmen wollte, traute er sich selbst.
Seit 1783 hält Oestreich in Bukarest einen Consularagenten, was von
Seiten Siebenbürgens schon längst gewünscht war. Es bestand neben der
evangelischen Gemeinde auch eine katholische, die ebenfalls überwiegend öst¬
reichische Unterthanen zählte. Ueber erstere äußerte sich der östreichische Haupt¬
mann Sulzer, der eben seine „Geschichte des transalpinischen Daciens" (Wien
1782. 3 Bände) verfaßt hatte, in einem Gutachten über die Errichtung einer
k. k. Consular-Agentur: „Ich möchte den Lutheranern diesen kaiserlichen Schutz
um so lieber vergönnen, nicht blos, weil es nach meiner Ansicht sich nicht
schicket, daß die lutherisch-evangelische Gemeinde der siebenbürger Sachsen
unter dem schwedischen Residenten in Constantinopel steht, als vielmehr,
weil diese Leute, abgesehen von ihrem Gewerbfleiß, auch zur Landwnthschast
im transalpinischen Dacier aufgelegt sind, welche dem siebenbürgischen und
dem östreichisch-ungarischen Handel überhaupt ungemein zu Statten kommen
würde." Indeß der bald- darauf ausbrechende russisch-östreichische Krieg gegen
die Türkei brachte unsere Gemeinde eben durch ihr Verhältniß zu Oestreich
in die größte Gefahr. Da die meisten Mitglieder noch im östreichischen Unter-
thanenverbande standen, so mußten sie auf einen Befehl ihrer Regierung
das Land verlassen, unterwegs wurden sie aufgegriffen, und nur der energi¬
schen Berufung des Pfarrers Glöckner darauf, daß er und die Gemeinde
unter königlisch'schwedischen Schutze stehe, verdankten die meisten, daß sie der
Sclaverei oder dem Gefängniß entgingen. Der schwedische Gesandte in Constan¬
tinopel hatte zwar sofort zu Gunsten seiner Schutzbefohlenen intervenirt, aber
zwei großherrliche Fermans schlug der Hospodar in den Wind, erst auf den
dritten ließ er seine Gefangenen frei. Mit der Eroberung Bukarests durch
die Oestreicher kehrten die Deutschen zurück, und nach dem Frieden erhielten
sie in dem k. k. Consular-Agenten Merkelius, einen evangelischen sieben¬
bürger, einen treuen Beschützer, obwohl die kirchliche Gemeinde als solche
nach wie vor auf den schwedischen Schutz angewiesen blieb. Im Uebrigen
nahm die Zahl der Deutschen zu. Der Graf Batthyany, der im Anfang
unseres Jahrhunderts das damals 80,000 Einwohner zählende Bukarest be¬
schreibt, sagt in seinem Bericht: „Die vorzüglichsten Classen ihrer Bewohner
sind griechische und türkische Handelsleute, deutsche Handwerker und eine große
Zahl von Bojaren." Aber auch in den ersten Jahrzehnten unseres Jahr¬
hunderts litten die Stadt und die deutsche Gemeinde durch wiederholten Krieg,
durch Erdbeben und durch die Pest, doch befanden sich in der russischen Armee,
die 1812 die Stadt besetzte, viele protestantische Officiere, die sich der Ge-
meinte kräftig annahmen. Dann kam 1821 die griechische Revolution mit
ihren Folgen, dann von 1824 — 1830 jährlich die Pest, 1831 die Cholera,
aber die Gemeinde war jetzt durch Zuzug aus allen Theilen des deutschen
Vaterlandes so herangewachsen, daß sie Alles überstand.
Es beginnt aber um diese Zeit eine zweite Periode ihrer Geschichte. Die
Gemeinde war nicht nur gewachsen, sondern sie war durch den Zuzug aus
verschiedenen Gegenden bunter und mannigfaltiger geworden, damit aber auch
uneiniger und schwieriger zu leiten und zusammenzuhalten als bisher. Die
alten patriarchalischen Verhältnisse, wie sie zur Zeit von Glöckner's Ankunft
bestanden, waren nicht mehr, die Stellung des Pfarrers als die eines natür¬
lichen Oberhauptes der Gemeinde wurde von den neuen Mitgliedern nicht
mehr respectirt. In der ersten Gemeindeordnung von 1753 stehen neben
dem Geistlichen nur zwei Kirchenväter, die nach seinem Belieben aus der
Gemeinde gewählt werden; 1785 wird bestimmt, es sollen in Zukunft
zwölf Aelteste der Gemeinde sein, aus deren Zahl die Kirchenväter zu nehmen
seien. Noch hatte die Kirche nur ein sehr geringes Vermögen, die Einkünfte
des Geistlichen waren natürlich auch sehr gering und zumal unsicher. Außer
den Zinsen verschiedener Stiftungen von Seiten der königl. schwedischen Ge¬
sandten in Constantinopel war er auf die Beiträge der Gemeindemitglieder
angewiesen, die häufig säumig waren und unter mancherlei Vorwänden und
Vorwürfen über die Verwaltung?c. sich ihren Verpflichtungen zu entziehen
suchten. Das führte 1818 zur Abfassung neuer Statuten, welche neben den
Kirchenvorstehern die Wahl von sechs Gemeindevorstehern einführten. Diese
konnten Gemeindeversammlungen berufen, an denen die Kirchenvorsteher nur
als Gemeindemitglieder Theil nahmen, und ohne ihre Genehmigung durften
letztere Nichts mehr beschließen. Die Einsammlung und Verwaltung der Ein¬
nahmen sollten zwar beiden gemeinschaftlich sein, aber die Führung der Ge¬
meindelisten fiel den Gemeindevorstehern zu, die Ausschließung aus der Ge¬
meinde den Gemeindeversammlungen. Gleichzeitig ward eine neue Stolar-
taxe entworfen.
Der Pfarrer sträubte sich zwar gegen diese Statuten, aber sie wurden
durchgeführt und g»ven bald Veranlassung zu einem langen Streite, der
schließlich zur Aufhebung dtzs schwedischen und zur Einführung eines gemischten
Preußisch-östreichischen Patronates führte. Man kann nicht sagen, daß die
neue Gemeindeordnung glücklich war, auch waren ihre Bestimmungen nicht
scharf gefaßt. Es konnte nicht ausbleiben, daß Gemeindevorstand und Kirchen-
vorstand in Conflict geriethen. Dies geschah schon 1824, als man zur Aus¬
besserung der Kirche eine Deputation ins protestantische Ausland zur Samm¬
lung einer Collecte auszusenden beschloß. Da die Deputation aus einem
Kirchenvorsteher und dem seit einigen Jahren als Glöckners Gehilfen ange-
stellten zweiten Pfarrer Sarai bestehen sollte, so protestirten vier Gemeinde¬
vorsteher bei der Gemeinde dagegen, mit dem Verlangen, daß noch ein Hand¬
werker als drittes Mitglied die Deputation begleite. Der Streit ward bald
so bitter, daß die protestirende Partei den Pfarrer überhaupt ausgeschlossen
wissen wollte. Sie unterlag, aber die Spaltung in der Gemeinde war da
und blieb. Sie war hauptsächlich durch den Standesunterschied hervorgerufen
worden, die Handwerker wollten neben den „Honoratioren" Antheil am
Regiment gewinnen. Es ist der alte Gegensatz der Zünfte und Patricier in
modernerer Form; dazu scheinen sich noch landsmannschaftlicher Particularis-
mus und die Eifersucht der übrigen Deutschen gegen die „Sachsen" gesellt zu
haben. Da Glöckner bald darauf starb, wollten mehrere Gemeindevorsteher
im Einverständniß mit dem englischen Consul ein Mitglied der englischen
^ Bibelgesellschaft zu seinem Nachfolger verschreiben, doch gelang es dem öst¬
reichischen Consul die Wahl Sarais — er war siebenbürger — durchzusetzen.
Dieser war leider nicht der Mann, der durch ein unangreifbares Auftreten
seine Gegner versöhnte oder wenigstens zum Schweigen brachte. Es er¬
scheint unzweifelhaft, daß er sofort die neue Gemeindeordnung auf ungesetz¬
liche Weise zu stürzen suchte. Die schwedische Gesandtschaft in Constantinopel
hatte inzwischen dem östreichischen und brittischen Agenten in Bukarest den
Schutz der Gemeinde übertragen. Mit Berufung darauf erließen letztere am
17. März 1829 ohne Befragung der Gemeinde ein neues Statut, das ver¬
nünftigerweise die Doppelvertretung aushob und eine neue aus acht Mit¬
gliedern bestehende einsetzte, wovon vier aus der Classe der Honoratioren
und Artisten und vier aus der der Professionisten sein sollten, daneben aber
keine Gemeindeversammlung gestattete, da die Gemeinde alle ihre Rechte auf
die acht Vorsteher durch deren Wahl übertrage. Der Pastor sollte in der Ver¬
sammlung der Vorsteher den Vorsitz führen, aber keine Stimme haben; dagegen
durfte diese Versammlung nur über die Leitung der Gemeindeangelegenheiten
berathen, „mit Ausschluß jeder anderen selbst kirchlichen Frage, deren Er¬
kenntniß nur der betreffenden Oberbehörde zukommt." Vier Wochen später
erließen beide Consuln eine Verordnung, daß jeder, der ferner noch zur Ge¬
meinde gehören wolle, in eine cursirende Liste seinen Namen und den Bei¬
trag, zu dem er sich verpflichte, einzeichnen solle. So sollte die beinahe
hundertjährige Autonomie der Gemeinde von Behörden vernichtet werden,
die ihr nur stellvertretend Schutz angedeihen ließen. Die Unzufriedenheit und
die Spaltung wurden so groß, daß viele Mitglieder sich der seit 1816 be-
stehenden ungarisch-reformirten Gemeinde anschlössen. Da Pfarrer Sarai auf
Seite der Agenten stand und 1832 die vor acht Jahren projectirte Collecten-
reise endlich antreten wollte, hatte zwar von den acht neuen Vorstehern
fünf für sich, aber den größeren Theil der Gemeinde gegen sich. Er kehrte
sich jedoch nicht daran. Zuerst ging er nach Constantinopel. um sich mit
den nöthigen Legitimationen Seitens der schwedischen Gesandtschaft zu ver¬
sehen, kam dann wieder zurück, ging darauf nach Rußland, wo er von
Petersburg aus das von der russischen Regierung eben ausgearbeitete Gesetz
über die evangelisch-lutherische Kirche in Rußland zur Annahme nach Bukarest
schickte, und reiste weiter nach Schweden. Hier bewirkte er, daß der Erz-
bischof von Upsala dem König die Einführung des russischen Gesetzes mit
gewissen Modifikationen für die Bukarester Gemeinde empfahl. Er erreichte
ferner, daß die schwedische Regierung der russischen die Theilnahme an ihrem
Schutzrecht über die Gemeinde antrug, welche die Russen merkwürdigerweise
sich nicht anzunehmen beeilten.
Mittlerweile hatte sich Tükei, der Pfarrer der bereits erwähnten reformir-
ten Gemeinde, an die sich unzufriedene Mitglieder der lutherischen Gemeinde,
darunter eine Anzahl Preußen, angeschlossen hatten, auch auf eine Collecten-
reise begeben, sich dabei als Pfarrer einer unirten lutherisch-reformirten Ge¬
meinde gerirt und besonders in Preußen eine reiche Sammlung gemacht.
Preußen hatre seit einigen Jahren auch einen Agenten in Bukarest, außer¬
dem kamen dem Pfarrer Tükei die preußischen Unionsbestrebungen zu Gute.
Als beide Pfarrer wieder nach Bukarest heimgekehrt waren, wurden nun
mannigfache Versuche zu einer Verschmelzung beider Gemeinden gemacht, und
da auch die preußische Regierung die Annahme des russischen Kirchengesetzes
empfahl, so wäre vielleicht eine Einigung zu Stande gekommen, wenn nicht
inzwischen der Widerwille der lutherischen Gemeinde gegen ihren Pfarrer in
Folge seiner Verschwendung auf der Collectenreise aufs Aeußerste gestiegen
wäre. Das russische Kirchengesetz mit den von ihm proponirten Modifikatio¬
nen, welches er nach längerem Sträuben einem Ausschuß der Gemeinde vor-
legte, war für die einfachen Verhältnisse viel zu complicirt. Es enthielt nicht
weniger als 442 Paragraphen, von denen viele im Widerspruch mit den
Landesgesetzen standen, und projectirte höchst kostspielige hierarchisch - bureau»
kratische Einrichtungen. Trotzdem suchte Sarai im EinVerständniß mit dem
inzwischen ernannten schwedischen Viceconsul v. Gaudi einem bisherigen Ge-
meindemitgliede, auch gegen den Willen der Gemeinde das Gesetz zur Geltung
zu bringen, und es entspann sich wie-der ein langer Competenzstreit, der ihn
endlich zu Fall brachte. Die Eigenmächtigkeit des schwedischen Viceeonsuls
ging so weit, daß er ohne Bevollmächtigung Sarai zum Superintendenten
und zum Viceprästdenten des zu bildenden Consistoriums ernannte, während
er sich das Präsidium vorbehielt. Da setzte die -gereizte Gemeinde am 19.
Juli 1837, freilich ohne Rechtsverfahren. Sarai als Pfarrer ab.
Eine directe Nachwirkung dieser unerquicklichen Streitigkeiten war es,
daß 1839 die schwedische Regierung ihr Patronatsrecht auf Preußen und
Oestreich übertrug. Am 17. Juni 1839 wies die Pforte den Fürsten an.
die beiden Mächte als Schutzmächte der Gemeinde anzuerkennen, doch weigerte
sich derselbe mehrere Jahre lang, bis endlich ein dritter Fernau vom 23. Sep¬
tember 1841 seiner Opposition ein Ende machte. Aber auch in der Gemeinde
wollte ein Theil das katholische Oestreich nicht als Schutzmacht anerkennen,
und sich wenn Preußen sich nicht von Oestreich trenne, lieber unter englischen
Schutz begeben. Namentlich erregte aus den zwischen Berlin und Wien ver¬
handelten Statuten der östreichische Vorschlag großes Bedenken, daß nur
preußische oder östreichische Unterthanen Gemeindevorsteher werden dürsten. Es
waren zur Zeit wenig wählbare Preußen da. man fürchtete deshalb einen rein
östreichischen Gemeindevorstand und wies darauf hin, daß Oestreich in Bukarest
zwölf Corporale halten würde, die jeden mißliebigen östreichischen Unterthan
sofort über die Grenze brächten. Leider war der damalige preußische Consul
ein griechisch-orientalischer Kaufmann, Sakelario, der in der Gemeinde natür¬
lich keinen Einfluß hatte. Deutsche aus anderen Staaten standen zum Theil
unter englischem oder russischem Schutz. Da man so nicht vorwärts kam.
übertrug die preußische Regierung 1841 die Sache dem Consul in der Mol¬
dau, dem durch seine literarische Thätigkeit bekannten Neigebaur. Erst im
Jahre 1844 einigte sich die Gemeinde mit den Schutzmächten über die jetzt
noch geltenden Statuten, wonach ihr die möglichste Autonomie gewahrt wird.
Sie verwaltet danach ihre Angelegenheiten durch zehn auf drei Jahre ge¬
wählte Kirchenvorsteher, die jährlich den Schutzconsulaten Rechnung zu legen
haben. Den Pfarrer wählt die Gemeinde auf den Vorschlag der Vorsteher,
diese ordnen die Bedingungen der Anstellung, während die Consulate die
Vocation bestätigen. Nur wenn die Gemeinde sich über die drei Kandidaten
nicht einigen kann, oder acht Monate nach dem Abgang eines Pfarrers zu
keiner Neuwahl schreitet, tritt ein Ernennungsrecht der Consuln ein. die Ab¬
setzung ist nur von ihnen abhängig und zwar nur wegen Vergehen, die den
Pastor eines geistlichen Amtes überhaupt unwürdig machen. Ursprünglich war
bestimmt worden, daß das Stimmrecht in der Gemeindevon einem jährlichen
Beitrage von 10 Zwanzigern an die Kirche abhängig sein sollte, da aber
manche Gemeindemitglieder, die zu große Höhe dieses Ansatzes vorschützend,
die Beisteuer verweigerten und wiederum die Besorgnis? entstand, daß die
hohe Steuer den vermöglicheren Siebenbürgen ein zu großes Uebergewicht geben
würde, setzte man den Beitrag auf 7 Zwanziger herab, eine für die Preise
des Landes nicht bedeutende Summe. Unter den ersten zehn Vorstehern sind
nicht weniger als vier Doctoren und ein Professor. — Jetzt erst wurden der
Gemeinde die in Berlin und Petersburg eingesammelten Collectengelder im
Betrage von etwa 6000 Thlr. ausgezahlt.
Zu den Streitigkeiten und Aergernissen, an denen es auch in der neuesten
Zeit nicht gefehlt hat, gab die Verschiedenheit der Gesetzgebung in Ehesachen
zwischen Preußen und Oestreich und das Verhältniß zwischen der evange¬
lischen und katholischen Geistlichkeit in der Frage der gemischten Ehen Ver¬
anlassung, besonders während der östreichische Consul Laurin fungirte, der
auf strenge Befolgung der in Oestreich durch das Concordat geschaffenen
Ehegesetze für diejenigen Gemeindemitglieder hielt, die östreichische Unter¬
thanen sind. Fast ein Drittel der Ehen find gemischt, und nicht nur in
Bezug auf die Confession sondern auch auf die Staatsangehörigkeit. Der
damalige Pfarrer Neumeister, kein Siebenbürge, sondern aus dem Eoburgi-
schen, sowie der preußische Consul von Meusebach suchten bei dieser Gelegen-
die preußische Regierung zu veranlassen, daß sie Oestreich zum Verzicht auf
das Patronat über die evangelische Gemeinde bewege, selbst aber auf das
über die katholische verzichtete, wie z. B. das Verhältniß in Jassy ist, — vor¬
läufig ohne Erfolg. Der Pfarrer strebte auch dahin, daß von den auf zwei
erhobenen Pfarrstellen die eine königlich preußische Patronatsstelle wurde,
deren Inhaber für seine in Bukarest geleisteten Dienste für sein Alter An¬
spruch auf Versorgung in Preußen gewinnt.
Jetzt befinden sich die Verhältnisse der Gemeinde in günstiger Lage. Sie
hat seit 1853 eine massive Kirche, einen eigenen Friedhof, Pfarrhaus, Knaben-
und Mädchenschule, zwei Geistliche und fünf Lehrer. Stimmfähige Gemeinde-
Mitglieder werden zwar nur 200 gezählt, doch berechnet der Verfasser die
Gesammtseelenzahl auf etwa 3300. Genau feststellen läßt sich die Zahl nicht
wegen der Höhe der fluctuirenden Bevölkerung, wegen der Zugehörigkeit der
Einzelnen zu verschiedenen Consulaten, und weil viele sich weder bei ihren
Consulaten noch bei der Gemeinde melden, um die Matrikelgelder zu sparen.
Die Schulen besuchen 328 Kinder, darunter über 100 römisch- oder griechisch,
katholische.
Hat die Gemeinde ihre Autonomie in schweren Kämpfen bewahrt, so ist
sie durch den Anschluß an die Gustav Adolf-Stiftung doch aus ihrer Jsolirung
gelöst. Der vor einigen Jahren nach Deutschland zurückgekehrte Pfarrer Neu¬
meister hat indeß seine Idee, die Bukarester Gemeinde mit den sieben anderen der
Donaufürstenthümer zu einem Gesammtzweigverein der Gustav-Adolf-Stiftung
zu verbinden, nicht verwirklichen können; auch bleibt die eventuelle Realisirung
des öfter betriebenen Projects der Errichtung einer evangelischen Superinten-
dentur in Bukarest, dessen Gemeinde nicht nur die hauptstädtische sondern auch
die älteste ist, einer weiteren Zukunft überlassen. Es stehen der Durchführung
dieser Pläne mancherlei Hindernisse entgegen, die in der dogmatischen Richtung
des Berliner Oberkirchenraths und in seiner Stellung zu der Selbständigkeit
der Gemeinden liegen. Um seinem Buche die brav durchgeführte Objectivität zu
bewahren, spricht sich der Verfasser über diese Frage der Zukunft nicht weiter
aus. doch läßt seine sonstige Gesinnung, wie sehr er auch in Preußen die
eigentlich berufene Schutzmacht der Bukarester Protestanten erblickte erwarten,
daß er die Autonomie seiner Gemeinde kräftig vertheidigen wird. Vorläufig
können wir als Freunde deutsch-protestantischen Wesens wenigstens hoffen,
daß unter der gerechten und friedlichen Regierung des hohenzollernschen Fürsten
unseren Landsleuten in Rumänien und dem ganzen Lande eine Zeit gedeih¬
licher Entwickelung anbrechen werde.
Die Tage, welche das erste Halbjahr 1869 beschließen, laden unwillkür¬
lich zu einer Rückschau über den Hauptinhalt desselben ein. Aber es scheint,
wir sind im Großen und Ganzen gerade soweit wie vor sechs Monaten;
eine ganze Anzahl von Ereignissen liegt hinter uns, aber kein einziges Re¬
sultat ist gewonnen, welches die Situation geklärt, der Ruhe des Welttheils
Bürgschaft geboten hätte. Das Stimmen dauert fort, das Concert will nicht
beginnen. Deutschlands Beziehungen zu den Nachbarn jenseits des Rhein
und des Böhmerwaldes leben nach wie vor von der Hand in den Mund,
und im Grunde genommen steht es ebenso um das Verhältniß des deutschen
Volks zu der im Jahre 1866 neubegründelen Ordnung der Dinge. Nicht
als ob zweifelhaft wäre, daß der norddeutsche Bund genügende Grundlagen
seiner Existenz gewonnen hätte; aber seine zeitweiligen Formen drängen
gewaltsam vorwärts in neue Bahnen und diese Bahnen sind durch zahllose
Hindernisse, äußere wie innere, gehemmt.
Die Frage nach unserer Zukunft steht, so lange eine definitive Ahrens,
mung mit Frankreich noch nicht stattgefunden, mit der Frage nach der Ge¬
staltung der französischen Dinge im engsten Zusammenhang. In Paris aber
hat jede vernünftige Rechnung längst aufgehört. Nachdem die Hauptwahlen
für den gesetzgebenden Körper zu Gunsten des Imperialismus und des Radica-
lismus ausgefallen waren, siegte bei den Nachwahlen die kurz vorher deutlich
desavouirte liberale Opposition. Ihren Siegen in der französischen Haupt¬
stadt folgte eine Reihe rumultuarischer Auftritte, deren Bedeutung bis jetzt
ebenso zweifelhaft geblieben ist, wie ihre Entstehung. — Während der gebildete
Theil der Nation und die Presse darüber einig scheinen, daß das zweite
Kaiserreich sich durch liberale Concessionen neue Lebensbedingungen schaffen
müsse, stellt Napoleons Schreiben an den Baron Mackau sich auf den Stand¬
punkt des non PV88UMU8 und Alles, was von dem bevorstehenden Rücktritt der
Rouher und Haußmann eolporlirt worden, ist gründlich Lügen gestraft. Den
Pariser Straßenaufläufen sind ernsthafte Arbeiterunruhen in den Bergwerken
von Se. Erienne parallel gelaufen und die öffentliche Meinung weiß nicht
einmal, ob dieselben durch socialistische Umtriebe oder durch bittre Noth
hervorgerufen worden sind, In Marseille feiern die Tischler, in Lyon die
Bäcker, und es kann leicht geschehen, daß die Sorge um die sociale Frage
demnächst die politischen Wirren ablöst. Haben beide Bewegungen doch schon
seit geraumer Zeit nichts mehr mit einander gemein. „Der Kaiser geht in
das Lager von Chalons" lautet die letzte Nachricht aus Paris und den Cor-
jecturen darüber, ob diese Reise eine Antwort auf die wachsende Volks-
Verstimmung oder etwas Anderes bedeutet, ist Thor und Thür geöffnet.
So sieht es am entscheidenden Punkt im Westen aus. Im Südosten
droht das Verlangen der Pforte nach Aufhebung der Capitulationen die
durch die Pariser Conferenz mühsam hergestellte Ruhe zu stören. Der Ar¬
tikel der „Turquie", welcher den Entschluß des Sultans ankündigte, der Ge¬
richtsbarkeit der Consuln auf die eine oder die andere Weise ein Ende gemacht
zu sehen, ist weder zurückgenommen noch modificirt worden, und daß die
russische Presse denselben als angedrohte Verletzung des Völkerrechts betrachtet
hat. ist zunächst ohne Wirkung geblieben. Der Vicekönig von Aegypten hat
der Pforte durch seine Reise an die europäischen Höfe, seine Einladungen zur
Eröffnung des Suez-Canals und seine Vorschläge zur Neutralisirung dieser
wichtigen Weltstraße der Zukunft, entschiedenes Mißtrauen eingeflößt, und da
die Aufhebung der Consulargerichtsbarkeit in Aegypten eingestandenermaßen
bereits Gegenstand von Verhandlungen ist, so glaubt der Sultan seinem
übermächtigen Vasallen unter keinen Umständen einen Vorsprung lassen zu
dürfen. Daß es für den Augenblick in den übrigen türkischen Vasallenstaaten
ruhig ist und daß die griechischen Parlamentswahlen der Actionspartei des
Exministers Bulgaris den Boden unter den Füßen weggenommen haben,
gibt den türkischen Staatsmännern die Hand frei und sie scheinen die Gunst
dieser Pause ausbeuten zu wollen, schon weil sie wissen, daß dieselbe jeden
Tag zu Ende gehen kann.
Die drei europäischen Großmächte, welche in der Erhaltung der Türkei
ihr Interesse sehen und jedem am Bosporus gethanen Schritt mit Aufmerk¬
samkeit zu folgen pflegen, sind in den Juniwochen zu beschäftigt mit innern
Fragen gewesen, um sich über die Capitulationsangelegenheit enogillig zu
äußern. Die französische Regierung hatte mit den Wahltumulten, den Ar-
beiterunruhen und den Arbeiten zur Revision der Zustände Algiers alle Hände
voll zu thun, Oestreich theilt seine Aufmerksamkeit zwischen den Pesther Land-
tagöverhandlungen, dem Proceß des Bischofs von Linz und den Partei¬
kämpfen in Böhmen und Galizien. England hat über der Entscheidung der
irischen Kirchenfrage nicht nur die bevorstehenden Verwickelungen im Orient,
sondern auch den näher liegenden Alabama-Handel aus den Augen verloren.
Gerade weil in England alle Zweifel an dem allendlichen Geschick der
unglücklichen irischen Staatskirche durch das Votum des Unterhauses aus¬
geschlossen waren, sah die Nation der Meinungsäußerung ihrer Pairs mit
ungewöhnlicher Spannung entgegen. Unter andern Verhältnissen hätte die
Gewißheit darüber, -daß der Widerstand der Lords höchstens einen Aufschub
in der Ausführung dieser wichtigen Maßregel bewirken könne, die Theilnahme
der Nation beträchtlich abgeschwächt. Ist die Gewohnheit des Parlamenta¬
rismus doch auf unserem Continent noch so neu. daß alles Interesse sich
darauf richtet, ob der Volkswille überhaupt berücksichtigt wird, die Frage
nach den Modalitäten, unter denen seine Ausführung zu Stande kommt,
eine untergeordnete ist. In ziemlich directem Gegensatz dazu, fragr das eng¬
lische Volk in jedem Falle von Bedeutung nicht nur darnach, ob die parla¬
mentarische Maschine ihre Aufgabe lösen wird, sondern wie die Qualität der
aufgewandten polirischen Arbeit gewesen. In diesem Sinne ist den Ent¬
schließungen des Oberhauses mit ganz ungewöhnlicher, geradezu leidens.'vcut-
licher Aufmerksamkeit entgegen gesehen worden, denn für einen großen Theil
der Zuschauer handelte es sich darum, über die Lebensfähigkeit und Brauch¬
barkeit dieses Maschinentheils ein Urtheil zu gewinnen; die zweite Lsung
der irischen Bill wurde geradezu als Probe dasür'angesehen, was seit den letzten
*
großen Entscheidungen aus der Paine geworden sei und ob sie sich noch als
lebensfähig ausweisen werde. Brights bekanntes Schreiben an seine Wähler
hat diese Frage so direct und in so rücksichtsloser Form aufgeworfen, daß
bereits vielfach angenommen wurde, das Oberhaus werde sich als provocirt
ansehen und seinem Aerger über des radicalen Ministers indiscrete Art durch
eine energische Zurückweisung der Gladstone'schen Bill, Luft machen. Lagen
doch für diese Annahme noch Gründe anderer Art in ziemlich bedeutender Anzahl
vor. Die Hartnäckigkeit der torystischen Wortführer Derby und Harrovby,
welche die Sache wesentlich vom Standpunkt ihres Parteiinteresses ansahen,
traf mit einer altenglischen Tradition zusammen, die nicht nur nach Jahr¬
hunderten zählt, sondern ihren Stammbaum aus den glorreichen Tagen Wil¬
helms III. herleitet. In der beim Herzog von Malborough abgehaltenen
Versammlung sprach die Mehrheit sich so entschieden zu Gunsten der Verwer¬
fung aus, daß die Presse bereits die zunächst zu ergreifenden Maßregeln dis-
cutirte, und die Tage des großen Streites der beiden Häuser über die Par¬
lamentsreform wiederzukommen schienen. Aber das Haus der Lords machte es
nicht wie im October 1830. sondern wie im April des diesem vorhergegangenen
Jahres: sie gab nach. Daß die Majorität dieses Mal nur 33 Stimmen
(1829 waren es deren 105) zählte, und daß es nicht torystische, sondern
whigistische Minister waren, welche als Sieger aus dem Kampfe hervor¬
gingen, waren übrigens nicht die einzigen Verschiedenheiten, welche zwischen da¬
mals und heute obwalteten. Vor vierzig Jahren waren die Versuche der
Pairschaft, dem Rade der Zeit in die Speichen zu fallen, von einer Würde
und Kraft getragen, nach deren Spuren man sich dieses Mal vergeblich um¬
sah. Dieses Mal ist kein protestantischer Führer von dem Kaliber Eldons
für den Fortbestand der „abgeschmacktesten Einrichtung, welche die Welt je¬
mals gesehen", in die Schranken getreten. Alles was die englische Pairie an
Talenten aufzubringen vermochte, hat sich im Gegentheil für die Gladstone-
sche Bill ausgesprochen und dadurch bewiesen, daß der erste Stand des Reichs
wenigstens in seinen hervorragenden Repräsentanten heute genauer als da¬
mals weiß, daß er seine Stellung nur behaupten kann, wenn er sich mit dem Volk
und dessen Bestrebungen identificirt. Die Schwäche der Derbyschen Ausfüh¬
rungen wird von den eigenen Parteigenossen ebenso eingeräumt, wie die Ma߬
losigkeit und blinde Heftigkeit der Rede des Herzogs von Abercron, die sich
hauptsächlich in Persönlichkeiten gegen Gladstone erging. Dagegen haben
Rüssel und Salisbury dem Oberhause den Ruhm erworben, die im Unterhause
zu Gunsten der Bill gesprochenen Reden an Glanz und Bedeutung über¬
troffen zu haben; ebenso hat der Bischof von Se. Davids bewiesen, daß der
englische hohe Klerus nicht allein nach der Zurückhaltung jener Prälaten
von Canterbury und Uork zu beurtheilen ist, „welche in prahlerischer Neutra¬
lität majestätisch hinter dem Wolljack und vor dem Thron standen, während
über die Staatskirche das Loos geworfen wurde." Nicht minder bemerkens¬
werth ist, daß vierzig torystische Pairs in der Stunde der Entscheidung auf die
ministerielle Seite traten und daß einer der muthigsten Anwälte der Bill,
Lord Salisbury, dem conservativen Lager angehört. — Das unerwartete
Resultat, welches in der Nacht vom 18. auf den 19. Juni erzielt worden,
wird den eigentlichen whigistischen Elementen des Cabinets wesentlich zu
Gute kommen und dem noch immer nicht erstorbenen englischen Stolz auf
die Erbweisheit seiner Pairie eine entschiedene Kräftigung bereiten. — Nach¬
dem das Loos der Staatskirche Irlands entschieden worden, wird die durch die
Ankunft des amerikanischen Gesandten Mothley Lothorp in eine neue Phase
getretene Alabama-Angelegenheit einem neuen Lösungsversuch näher rücken
müssen. Die letzten Vorgänge in Paris leisten dafür Bürgschaft, daß eS
nicht französische Einflüsterung, sondern amerikanische Prahlerei gewesen ist,
welche dem Senator Summer seine drohende Rede dictirt hatte. Die Ent¬
schlossenheit und Eintracht, mit der Volk und Presse Englands erklärt haben, sie
würden die Beurtheilung auch der Fehler ihrer Politik niemals in fremde Hände
legen, bat jenseit des Ocean einen gewissen Eindruck gemacht und die Dro¬
hung. Amerika werde Lord Rüssels Anerkennung der Conföderatjon als einer
kriegführenden Macht, zur Grundlage seiner Schadenstandsrechnung machen,
ist bereits zurückgenommen. Immerhin bleiben noch Schwierigkeiten genug
auszugleichen übrig, und es ist zunächst nur ein frommer Wunsch, wenn aus
der Verzögerung, welche diese Angelegenheit erfahren, auf beiderseitige Be¬
reitwilligkeit zu ihrer Ausgleichung geschlossen wird.°
Auf das englische Tapet werden bei so bewandten Umständen tie orienta¬
lischen Dinge wohl erst kommen, wenn Ismail Pascha über den Canal gesetzt ist.
Seine Rundreise hatte der ägyptische Khedive in Wien begonnen — wenige Tage
bevor der Lenker der östreichischen Staatsgeschicke in die Ferien ging. Diese
Ferien gelten indessen nur für das politische Leben der k. k. Haupt- und Re¬
sidenzstadt und der wenigen Provinzen, welche noch von dieser Heil und
Entscheidung erwarten. In Ungarn kann die De'akpartei es trotz des Sieges,
den sie in der Adreßdebatte erfochten, nicht zu einer die Situation beherr¬
schenden Stellung bringen, in Galizien hat das der polnischen Sprache ge¬
machte Zugeständnis) den Muth und die Forderungen der Polen mächtig in
die Höhe geschnellt, in Böhmen steht die czechische Agitation in voller Blüthe.
Wenn Graf Beust wirklich darauf gerechnet hat. durch Einführung der pol¬
nischen Sprache in die galizische Administration eine ruhigere Haltung des
polnischen Elements zu erkaufen, so kann er von der bisherigen Geschichte
der polnischen Frage nicht all' zu viel gelernt haben. Die Dreitheiluna der
ehemals königlichen Republik hat dafür gesorgt, daß die eigentlich treibende
agitatorische Kraft unfaßbar ist und jedes Mal dahin ihren Sitz verlegen
kann, wo man im Augenblick die Gefahr beschworen zu haben glaubt. Die
Erfahrung hat gelehrt.'daß den Polen gemachte Concessionen jedes Mal den
Boden, auf dem sie proclamirt wurden, zum Sammelplatz der rücksichtslos
fortstürmenden Elemente machten. Im vorliegenden Fall scheinen überdies
die Ruthenen. aus der Ruhe, in welche sie seit dem polnischen Fiasko des
Lemberger Landtags gewiegt waren, aufgeschreckt worden zu sein. Russische
Zeitungen wissen bereits von Meetings zu berichten, die abgehalten werden
oder in Vorbereitung begriffen sind, und bei denen es sich darum handelt,
möglichst energisch und vernehmlich gegen die von der Regierung ausgespro¬
chene Entscheidung in der Sprachenfrage zu Protestiren. Der üblich gewor¬
dene weitere Verlauf ist dann, daß die Polen um Repressivmaßregeln gegen
das aufgestachelte Bauernvolk bitten und daß die Presse der russischen Haupt¬
städte für einige Wochen von Klagen über das harte Loos des verlassenen
Bruderstammes überfließt. Die einzelnen polnischen Stimmen, welche sich bis
jetzt für vertrauensvollen Anschluß an Oestreich ausgesprochen haben, werden
bald in diesem Tumult verhallt sein. — Die czechische Agitation in Böhmen
hat ihre Zuflucht zur Legung von Petarden genommen, wahrscheinlich, weil
ihr die sorgfältige Arbeit der jungczechischen Partei zu langsam geht. In
einem andern Lande und unter andern Verhältnissen ließe sich hoffen, die
verbrecherische Ueberstürzung der Prager Meuterer werde der Sache der Ruhe
und Ordnung zu Gute kommen, zur Ausbeutung der von den Agitatoren
begangenen Fehler führen und den Deutschen Gelegenheit geben, den besonne¬
nen Theil der Bevölkerung unter ihr Banner zu sammeln. Aber die Deutsch-
böhmer haben gethan, was sie von jeher zu thun gewohnt waren, — sie
haben nach der Polizei und nach Verstärkung der bewaffneten Macht geru¬
fen und dieser überlassen, das Ansehen und den Einfluß des deutschen Na¬
mens wiederherzustellen.
Vielleicht den Elsaß allein ausgenommen, hat das deutsche Element an
keinem der vielen Punkte, wo es mit fremden Völkern im Kampf liegt, eine
so matte und apathische Haltung gezeigt, so viel an seiner prekären Lage
mitverschuldet, wie in diesem Lande. Seit Jahr und Tag ist die Welt mit
dem Lärm erfüllt, den die böhmischen Nationalparteien gemacht haben; die
Deutschen vermochten es zu keiner einzigen öffentlichen Kundgebung ihres Ent¬
schlusses zu bringen, ihre Rechte auf diesem Boden zu behaupten, sie ziehen
es vor, den ihnen angebotenen Kampf von den Organen der östreichischen
Polizei ausfechten zu lassen, und wundern sich hinterher noch, wenn die
Slawen grade so handeln und reden, als hätten die deutschen Ansprüche auf
Böhmen keinen anderen Titel, als das Habsburgische Hausinteresse anzuführen.
In Deutsch-Oestreich ist der Proceß des Bischofs von Linz das fast aus¬
schließliche Tagesinteresse. Daß der Kaiser die Gerichte ihre Pflicht thun
läßt, wird als Bürgschaft für ein analoges Verhalten in allen künftigen
Conflicten mit der Kirche angesehen. Das katholische Tyrol, das einer Land¬
tagsauflösung entgegensieht, hat in dem Landeshauptmann Haßlwanter
einen seiner rüstigsten Kämpen verloren, beobachtet in der Schulfrage aber
nach wie vor seine ablehnende Haltung. — Die östreichische Diplomatie hat
auch in den letzten Wochen bewiesen, daß sie unbekümmert um die inneren
Nöthen des Kaiserstaates auf der Jagd nach auswärtigen Verwickelungen ist,
natürlich solchen, welche einen preußisch-französischen Conflict beschleunigen
könnten. In aller Stille hat der Staatskanzler in Brüssel wie in Paris zu
verstehen gegeben, daß die von Belgien geäußerte Abneigung gegen eine Zoll¬
einigung mit Frankreich nicht darauf rechnen könne, an Oestreich einen Rück¬
halt zu gewinnen, daß die Napoleonischen Bestrebungen vielmehr von den
besten Wünschen des Wiener Cabinets begleitet seien. Man wird sich das in
London ebenso gut zu merken wissen, wie in Berlin und Brüssel.
Die Annäherung Oestreichs an Italien hat während des letzten Monats
keine Fortschritte gemacht. In Florenz ist man zur Zeit auch kaum in der
Lage, von Anerbietungen der einen oder der andern fremden Macht praktischen
Gebrauch zu machen, denn die innere Auflösung nimmt beständig zu und findet
in der Zerfahrenheit des Parlaments ihr getreues Wiederspiel. Selbst der
Versuch der bairischen Regierung, das italienische Staats- und National-
interesfe gegen Ausschreitungen des nächsten ökumenischen Concils zu engagiren,
hat kein entschiedenes Entgegenkommen gefunden, weil die Regierung von der
Hand in den Mund lebt und zu tief in die Sorgen des Augenblicks ver¬
strickt ist, um ohne dringende Nöthigung an die Zukunft zu denken. Vielleicht
rechnet man darauf, daß die Curie überdies die katholischen Mächte fast aus¬
nahmelos zu Gegnein haben wird, wenn sie die Kreise des Staatsleoens zu
stören versucht. Nicht nur, daß Frankreich Miene macht, seinen Eifer für
das Erbgut Petri abzukühlen, daß der Papst mit Oestreich und Baiern in
offenem Hader liegt, — in Spanien geht die ausschließliche Herrschaft des
Katholicismus auf die Neige. Während die politische Zukunft dieses Staates
trotz der feierlichen Verkündigung der Verfassung und trotz der Annahme des
Regentschaflsgesetzes grade so bewölkt ist, wie vor sechs und vor zwölf Mo¬
naten, und die Republikaner ihr Möglichstes thun, um ein friedliches Ein¬
leben in die neuen Verhältnisse zu stören, — ist auf kirchlichem Gebiet durch
Annahme der Art. 20 und 21 des Lersassungsentwurfs ein großer Fort-
schritt errungen, die Freiheit des religiösen Bekenntnisses proklamirt und in
aller Form anerkannt worden. Trotz des frechen Cynismus, mit welchem
der Materialist Junner Oel in das Feuer der Clericalen zu schütten ver¬
suchte, ist neben den beiden erwähnten Paragraphen noch ein Amendement
zu denselben angenommen worden, welches bestimmt, daß die Confeision auf
die Verwaltung öffentlicher Aemter keinen Einfluß üben soll. Gute Be¬
ziehungen Roms zu dem Cabinet von Madrid sind dadurch allein für die
nächste Zukunft unmöglich geworden, denn nach neu-katholischem Maßstab
fällt es nicht ins Gewicht, daß die Cortes das innige Verhältniß der span¬
nischen Nation zur Kirche besonders betont und die Verpflichtung zur Er¬
haltung des Clerus ausdrücklich anerkannt haben.
Die Gerüchte, nach denen das römische Cabinet auf dem Wege war,
das seit Jahr und Tag gestörte Verhältniß zu Rußland wiederherzustellen,
haben sich weder direct noch indirect bestätigt. Weder hat der Papst bis jetzt in
die Abhaltung russisch-katholischer Gottesdienste in den ehemals politischen
Ländern gewilligt, noch ist Rußland von dem Satze abgegangen, daß ein
Verkehr zwischen der Curie und den Bischöfen nur statthaft sei. wenn er
durch das Petersburger Consistorium vermittelt werde, und der Bischof von
Augustowo, Graf Lubienski, wurde, weil er die Autorität dieser Kirchen¬
behörde bestritt, in ein Exil abgeführt, das bereits sein Grab geworden ist.
Einer Verständigung der beiden streitenden Theile wird dieser Zwischenfall
schwerlich zu Gute kommen. — Auch in den Ostseeprovinzen dauern die kirch¬
lichen und nationalen Kämpfe fort; Prof. Schirren, ein verdienter Dorpater
Universitätslehrer, ist wegen einer Schrift, die die unveränderliche Rechts¬
gültigkeit der lip- und estländischen Privilegien von 1710 behauptete, aus
dem Staatsdienst entlassen worden. Im äußersten Osten des ungeheuren
Reichs ist ein Kalmückenaufstand ausgebrochen, der die Verbindung mit der
neuen Provinz Taschkend für den Augenblick abgeschnitten hat und zu dessen
Niederwerfung die erforderlichen Truppenkräfte nicht zur Stelle geschafft wer¬
den können. — In den Beziehungen Rußlands zum Auslande hat keine
Aenderung stattgefunden; die nationale Presse kommt immer wieder auf ihr Lieb¬
lingsthema, die Alliance mit Frankreich zurück, begnügt sich zur Zeit aber, an
den Ovationen Theil zu nehmen, zu denen die Urlaubsreise des kaiserlichen
Gesandten in Constantinopel, Jgnatjew, die Veranlassung gegeben hat. Der
General gilt bekanntlich für die Verkörperung der „nationalen Politik" im
Orient.
Wenn wir von den deutschen Ereignissen des Juni 1869 reden, so
müssen wir mit der Reise König Wilhelms nach Hannover und Bremen den
Anfang machen. Die glänzende Aufnahme, die der preußische Monarch in
seinen neuen Provinzen, der Schirmherr Deutschlands in der alten Hanse¬
stadt gefunden, beweisen, daß das Bewußtsein des ungeheuren Fortschritts,
welchen die Sache der deutschen Einheit gemacht, bei dem Kern der Be¬
völkerung schwerer wiegt, als Erinnerungen einstiger Sonderherrlichkeit und
als fadenscheinig gewordene historische Reminiscenzen. Gerade weil die schwie¬
rige und complicirte Arbeit an dem Ausbau und der Befestigung des neuen
Deutichland nicht ohne Hindernisse und Stockungen vor sich geht, die unter
den einmal gegebenen Verhältnissen die Befürchtung vor Differenzen unter
den Bauleuten unvermeidlich nahe legen, ist es von Bedeutung, wenn das
Volk eigenstes Zeugniß dafür ablegt, daß ihm der Sieg des 1866 begonnenen
Werks außer Zweifel steht, daß seine patriotische Empfindung unabhängig
ist von den wechselnden und verschiedengefärbten Phasen der parlamen¬
tarischen Auseinandersetzung.
Wesentlich von diesen selben Voraussetzungen gehen die beiden Thron¬
reden aus, mit denen Zollparlament und Reichstag am 22. Juni geschlossen
worden sind. Wenn die Handelsverträge mit Japan und mit der Schweiz,
da Vereinszollgesctze und das Gesetz über die Zuckerbesteuerung auch wichtig
genug sind, um die Zusammenberufung des Zollparlaments als keine vergeb¬
liche erscheinen zu lassen, so steht doch fest, daß das Scheitern der Tarifrevi'fion
für die Regierungen schwer genug wog. um die Befriedigung über jene Er¬
rungenschaften in den Hintergrund zu drängen. Noch ungünstiger stellte
sich das Verhältniß von Erwartungen und Resultaten für die im Norddeut¬
schen Bunde vertretenen Regierungen und ganz besonders für das Präsidium.
Die neue Gewerbeordnung, der Militärvertrag mit Baden, das Gesetz über
Beschlagnahme von Löhnen, das Oberhandelsgericht u. s. w. sind Errungen¬
schaften, welche für das Volk von eminenter Wichtigkeit sind und sein wer¬
den: sür den Bundesrath lag das Hauptinteresse der Session in dem Zu¬
standekommen jener „Maßregeln zur Verminderung der Matrikularbeilräge",
welche sämmtlich zu Boden gefallen sind. Nichtsdestoweniger hat der Ton,
der aus den beiden Thronreden herausklingt, andere Voraussetzungen, als
Entmuthigung und Verdruß über gescheiterte Pläne und Hoffnungen, und
wenn am Schluß der zweiten Rede ausdrücklich hervorgehoben wird, daß das
Bundespräsidium die Haltung des Reichstags als eine entgegenkommende
ansieht, so ist damit festeste Bürgschaft gegen das Rabengekrächz geboten,
welches den seit nunmehr drei Jahren vergeblich erwarteten „großen Con¬
flict" als bereits vorhanden proclamirt hatte.
Die Einzelverhandlungen beider parlamentarischer Körper haben sich,
gerade wo es die entscheidenden Fragen galt, um eine solche Fülle techni¬
scher Details gedreht, daß an dieser Stelle von einem Generalurtheil
ebenso wenig die Rede sein kann, wie von einem die allgemeinen Ge¬
sichtspunkte berührenden Ueberblick. Hervorgehoben muß nur werden, daß
das Scheitern der Präsidialwünsche für die Tarisreform auf wesentlich
anderen Ursachen beruht, wie die Abwerfung der dem Reichstage vor¬
gelegten Steuervorlagen. Die Erklärung des Präsidiums, sie macht die
Petroleumsteuer zur Oonäitio sins pus. von der Tarifreform, schnitt die
weiteren Verhandlungen über diese Frage in einem Zeitpunkt ab, in welchem
von der Mehrzahl der Parlamentsglieder an der Möglichkeit einer Verständi¬
gung festgehalten wurde. Die Verhandlungen mit dem nächsten Landtage
werden zeigen, ob man wohl daran gethan, mit einer so raschen Entschließung
vorzugehen und dem 21. Juni den Schluß des Zollparlaments auf den Fuß
folgen zu lassen.
Mit Ädr. SV beginnt diese Zeitschrift ein neues Quartal,
welches durch alle Buchhandlungen und Postämter zu be¬
ziehen ist.
Leipzig, im Juni 1869.Die Verlagshandlung.