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]]>Zeitschrift sur Politik und Memtur.
28. Jahrgang.
I. Semester. I. Band.
Leipzig,
Verlag von Friedrich Ludwig Herbig.
lFr, Will). Grunow.) '
186S.
Erst jetzt ist der Band des offiziellen österreichischen Berichtes erschienen,
welcher die Kämpfe in Böhmen enthält. Wir sind dadurch in Stand gesetzt,
Ton, Auffassung, Bedeutung der beiden feindlichen Relationen zu vergleichen,
eine aus der andern zu ergänzen.
Wahrscheinlich haben wenige Leser eine Ahnung von den eigenthümlichen
Schwierigkeiten, welche bei jeder Schilderung größerer militärischem Operationen
zu überwinden sind und am schwersten auf offiziellen Beschreibungen lasten.
Die Erzählung wird für den größten Theil des Inhalts zusammengesetzt aus
sehr vielen Einzelberichten, nicht nur der Corps und Divisionen, sondern auch aus
den Rapporten und Relationen kleiner taktischer Körper und Commandos, und
von all' diesen Grundlagen bietet wahrscheinlich keine das Geschehene so, wie
es sich im Zusammenhange mit allen übrigen Thatsachen dem Auge der
obersten Kriegsleitung darstellt. Namentlich die Action einer modernen
Schlacht setzt sich zusammen aus zahllosen getrennten Gefechtsmomenten, welche
zum großen Theil schnell vorübergehen, deren genaue Beobachtung während
der Schlacht keinem einzelnen Menschen möglich ist, die grade den thätigsten
Theilnehmern nur sehr unvollständig und einseitig erkennbar sind. Die
Ereignisse kommen auch dem Führer nur sehr fragmentarisch in sein Gesichts¬
feld, er selbst ist in der leidenschaftlichsten Spannung und wie groß seine
Kaltblütigkeit sei, er wird doch übermäßig befangen von den verhältnißmäßig
wenigen Eindrücken die er selbst erhält, von Erfolg oder Verlusten in seiner
Nähe. Das Urtheil über die Zeit geht, so scheint es, zuerst verloren: die
Minuten dehnen sich zur Ewigkeit und Stunden vergehen wie Secunden.
Selten hat der Commaudirende die Muße und Ruhe, in entscheidenden
Augenblicken nach seiner Uhr zu sehen, und es ist eine gewöhnliche Erschei¬
nung, daß zwei Berichte über dasselbe Ereigniß, z. B. gleichzeitiges Eintreten
zweier Compagnien in ein Dorfgesecht, ganz verschiedene Tagesstunden
angeben. Ob der Feind einmal oder öfter in den Besitz eines wichtigen
Terrainabschnittes gekommen und ob er um Mittag von Bataillon A.
oder um 2 Uhr von Bataillon M. vertrieben worden, bleibt vielleicht jahre¬
lang Gegenstand eifriger Erörterung. Wer zuerst eine Schanze erklettert, in
eine Batterie gedrungen, ist oft gar nicht festzustellen, was gleichzeitig und
was hinter einander geschehen bleibt nicht selten den Handelnden selbst ganz
undeutlich. Oft wird nicht einmal der Ort klar, wo ein wichtiges Ereigniß
stattgefunden. Hat das tapfere Regiment den Feind aus Langenhof, oder
aus Stresetitz herausgeschlagen? - Niemand im Regiment weiß es: erst kam
ein Hohlweg, dann ein weißes Gehöft, dann der Angriff, dann kurze Rast,
dann weiteres Vorrücken. Sucht einige Wochen später nach: es sind mehrere
Hohlwege und viele weiße Gehöfte; vielleicht standen Weidenbäume in der
Nähe: sie sind am Abend jenes Tages von andern Truppen beim Bivouak
gefällt. — Dazu kommt, daß Auge und Ohr in diesen Stunden der höchsten
Spannung eigenthümlichen Störungen unterworfen sind und daß auch sehr
wahrhafte und feste Männer der Gefahr unterliegen, in das, was sie gesehen
und erlebt haben, auffallende Täuschungen der Sinne und der Phantasie
hineinzutragen. Fast Jedem begegnet, daß einzelne Wahrnehmungen ihm
übermächtig werden und die gleichmäßige Auffassung des Gesichtsbildes
beirren. Der Eine sah den Commandeur fallen, der Andere, welcher dicht
daneben stand, ihn fortreiten; der eine Rapport spricht von Wolken feind¬
licher Cavalerie in Schußweite, der andere leugnet vor demselben Ereigniß
jeden Pferdefuß im Gesichtsfelde. Während der Schlacht bei Königgrätz
wundert sich ein tüchtiger Commandeur, daß es so still rings um seine
Truppe ist, gar kein Geschützfeuer zu hören: er reitet wenige Schritte und
sieht dicht neben sich 48 Kanonen in eifriger Arbeit. — Endlich aber — und
dies ist die häufigste Schwierigkeit — wird der Mithandelnde durch die
stärksten Motive des Ehrgeizes und der Selbstliebe getrieben, seinen Antheil
an der Action zu überschätzen, Mißerfolge zu verdecken, errungene Vortheile
als groß und bedeutsam darzustellen, er färbt zuweilen mit Absicht; aber auch
der ehrlichste Bericht erhält leicht einen Zusatz, der erst chemisch auszuscheiden
ist, bevor der Bericht brauchbar wird.
Ein officielles Werk, welches aus solchem massenhaften Detail zusammen¬
gesetzt werden muß, fordert viel Menschenkenntniß, Tact und Scharfsinn des
Schreibenden. Es wird dennoch darauf verzichten müssen, eine genaue und
wahrheitsgetreue Darstellung aller Einzelheiten zu geben. Und es wird wahr¬
scheinlich berechtigten und unberechtigten Ansprüchen der Mithandelnden am
wenigsten genügen. Aus den Verbesserungen und Nachträgen des preußischen
Berichtes vermögen wir zu schließen, wie massenhaft die Reclamationen und
Ansprüche der einzelnen Befehlshaber und Truppentheile sich erheben. Jeder
fordert in der Darstellung des Ganzen seinen Bruchtheil Ehre völlig und
reichlich. Und in Hinsicht darauf mag es kaum eine undankbarere Arbeit
geben,—Auch andere Rücksichten hat solche geschichtliche Arbeit zu nehmen:
sie ist eine. Staatsschrift und in gewissem Sinne soll sie eine Parteischrift sein.
Ihr liegt ob, zu schonen. sie muß Vieles verschweigen, es ist selbstverständ¬
lich, daß die nachtheiligen Gefechtsmomente in ihr zwar ehrlich angedeutet,
aber nicht mit demselben Behagen erzählt sind, mit welchem sie eine Helden¬
that, einen schönen Erfolg hervorhebt. Innerhalb dieser gebotenen Grenzen
nun ist das Werk des preußischen Generalstabs eine sehr gründliche und be¬
deutende Arbeit, des besten Lobes werth. Einfach, klar, sicher und offen im
Urtheil, hochgesinnt auch dem Gegner, macht sie mit großen Umrissen die
gesammte Linienführung in dem Bilde dieses Feldzuges verständlich. Sie ge¬
währt auch dem Laien beste Belehrung und ernste Freude. Das Walten eines
großen Schicksals und was wir Sterbliche Spiel des Zufalls nennen, die
Disposition ungeheurer Massen und das Zusammenarbeiten wohlgegliederter
Truppenkörper zu einheitlichem Plane, und über Allem ein leitender, sicherer,
wundervoll scharfsinniger Geist werden aus dem sausenden Schwunge der
zahllosen Räder, welche die ungeheure Maschine des Krieges bilden, erkennbar.
Kaum geringeres Lob verdient der Band des östreichischen Berichtes,
welcher den böhmischen Krieg bis nach der Schlacht von Königgrätz darstellt;
er zeigt in Ton und Behandlung einen sehr wohlthuenden Fortschritt gegen die
gereizte Polemik des ersten Bandes. Auch er ist mit militärischer Präcision
und Offenheit geschrieben, in der wackern Ueberzeugung, daß dem Geschicht¬
schreiber das Beschönigen und Bemänteln bei so großem Unglück nicht ziemt.
Seine Aufgabe wurde um Vieles erleichtert, weil ihm die früher erschienene
preußische Schrift zu Grunde gelegt werden konnte — man sieht, daß dies
durchgängig geschehen ist und daß sie an vielen Stellen auch die östreichische
Kritik beeinflußt hat. Nach anderer Richtung freilich war die Aufgabe
um so schwerer, denn es galt, ein großes Unglück der eigenen Armee zu
erklären. Der östreichische Generalstab faßte seine Aufgabe so, daß er die
Sache des Heeres als der bleibenden Staatsinstitution, welcher er selbst
angehört, zu vertreten habe, und er opferte deshalb die oberste Führung der
Armee. Mit militärischer Kürze, aber sehr entschieden werden die Maßregeln
des Feldzeugmeisters Benedek verurtheilt, der nicht mehr in dienstlicher Stel¬
lung ist. Und in der Hauptsache so schonungslos, daß wir dieser Beurthei¬
lung Nichts zuzusetzen haben, eher Einiges zu mildern. Ja hier soll nicht ge¬
leugnet werden, daß in diesem Preisgeben der obersten Armeeleitung Etwas
ist, was den Leser verletzt. Es ist wahr. Feldzeugmeister Benedek ist zwei¬
mal einem verhängnisvollen Irrthum versallen. Er hatte am Abend des 27. Juni
und sogar noch am Morgen des 3. Juli kein deutliches Bild von der Gefahr,
welche der Anmarsch der zweiten preußischen Armee seinem Heere bereitete.
Das war ein Fehler des Urtheils, verhängnißvoll für die Kriegsoperarionen
und seinen Feldherrnruf. Aber es war eine schwache Stelle in der Intelligenz
eines tüchtigen Soldaten, welche ihm die Fremden bloßlegen mögen, vorder
aber eine schonende Behandlung durch seine eigenen Kriegskameraden geziemt
hätte; denn wenn er auch die ganze Verantwortung zu tragen hatte, die
Schuld fällt nicht vorzugsweise auf ihn. Daß in dem östreichischen Heere
kein dem preußischen entsprechendes Institut für die Intelligenz des General¬
stabes bestand, dafür ist nicht der Feldherr verantwortlich zu machen, welcher
wenige Wochen vorher zum Oberbefehl befohlen worden war; wie verlautet,
obgleich er selbst Zweifel ausgesprochen hatte, daß er bei der Beschaffenheit
des östreichischen Heeres der Mann für solche Aufgabe sei. Dazu kommt,
daß er sofort nach dem unglücklichen Ausgang des Krieges dafür in einer
Weise gestraft wurde, welche in modernen Staaten unerhört ist. Daß
er von der Presse und durch die schwächliche öffentliche Meinung in
Oestreich unwürdig behandelt ward, war noch nicht so schlimm, als das
officielle Urtheil, welches in einem Tageblatte ihn preisgab, wie ein Sühn¬
opfer, welches dem Volke hingeworfen wurde, um von andern Uebelständen
in Heer und Staat den Unwillen auf ein Haupt zu leiten. Denn an Vielem,
weshalb man ihn außerdem verklagt, war er unschuldig. Jenes berüchtigte
Telegramm vom 30. z. B. über den zerrütteten Zustand des Corps Clam-Gallas
und der Sachsen war keine Unwahrheit, durch welche der Feldzeugmeister
) seine Rückzugsbewegungen rechtfertigen wollte, sondern nur Wiederholung
eines Telegramms, welches er selbst vom Erzherzog Ernst, Commandeur des
dritten Corps, erhalten hatte. Auch-hier rächte sich, daß alle Tageseindrücke,
welche der ungeheure Heerkörper in das Hauptquartier sendete, nicht durch
einen gescheidten Generalstab dem Oberbefehlshaber geordnet und zurecht
gelegt wurden. Sogar Napoleon hörte auf ein siegreicher Feldherr zu sein,
seit Auge und Urtheil seines Generalstabes für ihn die Bedeutung verloren
hatten.
Daß in der östreichischen Erzählung die einzelnen Gefechtsmomente oft
anders aussehen, als in der preußischen, ist selbstverständlich; auch hier ist
das Bestreben natürlich, im Einzelnen die wackere Haltung der eigenen Trup¬
pen hervorzuheben, über Mißlungenes schonend wegzugehen. In den letzten
Resultaten ist zwischen beiden Berichten jede wünschenswerthe Uebereinstim-
mung. Einiges Neue ergänzt in dankenswerther Weise die preußischen Mit¬
theilungen, auch bekannte Hauptsachen treten in schärferer Beleuchtung heraus.
Da die militärischen Ereignisse des Feldzugs in der Hauptsache als be¬
kannt vorausgesetzt werden dürfen, wird genügen, in kurzen Zügen den Ver¬
lauf auf Grund der beiden Staatsschriften zu charakterisiren. Daß Preußen
durch seine Heeresorganisation befähigt war, unmittelbar nach jener ver-
hängnißvollen Bundessitzung vom 14. Juni die militärischen Operationen zu
beginnen, glich zum großen Theil die Ungunst aus, in welche der Staat
durch seine geographische Lage bei jedem deutschen Kriege versetzt werden
mußte. Die Halbsouveränen Staaten des alten deutschen Bundes hatten bis
dahin ohne das Recht über Krieg und Frieden und mit einer durch den
Bund — wenn auch ungenügend — beaufsichtigten militärischen Verfassung
sich in den inneren Angelegenheiten selbst regiert, sie waren dem Ausland
gegenüber in Wahrheit nie selbständig gewesen, in den Principien ihrer Ver¬
waltung und der inneren Gesetzgebung zeitweise durch den Bund beaufsich¬
tigt und beschränkt worden, in dem größten Theil ihrer Verkehrsinteressen
als Mitglieder des Zollvereins fest an Preußen gebunden. Unter dem Schutz
solcher Abhängigkeit hatten sie durch 60 Jahre existirt und waren der fran¬
zösischen oder russischen Herrschaft deshalb entgangen, weil die preußischen
Regimenter am Rhein und an der Weichsel auch für sie auf Wache standen.
Als Preußen ihnen in den letzten Wochen vor der Katastrophe ein neues
Bundesverhältniß anbot, welches den alten und erlauchten Herrscherfamilien
dieser Gebiete ihren Landbesitz garantiren, ihre Landeshoheit nur in einigen
Punkten beschränken wollte, aber Oestreichs Nebenregierung ausschloß, dawaren
die Forderungen Preußens nach preußischem Interesse immer noch ungenügend,
weil Preußen auch dadurch für das ganze Bundesgebiet wohl die gefährlichen
Pflichten, nicht die vollen Rechte der Oberhoheit erhalten hätte. Aber diese
Zumuthung erschien dem fürstlichen Selbstgefühl der kleinen Dynastien den¬
noch unerträglich und es wird einst für sehr merkwürdig gelten, daß so
wenigen von den Regenten und Angehörigen der kleinen Staaten eine deut¬
liche Einsicht in die bisherigen Grundlagen ihrer politischen Existenz ver¬
gönnt war.
Es ist richtig, Preußen war bei jedem deutschen Kriege genöthigt, als
Eroberer aufzutreten, wenn es sich selbst erhalten wollte, und dem Minister
der auswärtigen Angelegenheiten in Berlin wurden kühne, ja abenteuerliche
Pläne zugeschrieben, aber in Wahrheit war die Politik Preußens seit dem
Jahre 1850 auf die Defensive zurückgedrängt; in Oestreich war man nach
den Erfolgen von Olmütz und dem verunglückten Fürstentag von Frankfurt
des Dualismus müde und hielt die Schleswig-holstein'schen Wirren für sehr
geeignet, um mit Hilfe der deutschen Regierungen das alte kaiserliche Prin-
cipat über Deutschland wieder zu gewinnen. Während in Berlin der König
und ein großer Theil der Militärpartei den Frieden aufrichtig erhalten
wünschte und den Schritten des Grafen Bismarck die größte Vorsicht auf¬
erlegte, bestand in Wien das umgekehrte Verhältniß; dort täuschte sich der
damalige Minister Graf Mensdorff durchaus nicht über die Gefahren eines
Krieges für Oestreich und über die Beschaffenheit des Heeres, aber der Kaiser
selbst, ein Theil der Familie und die Generalität des Hofes hofften von einem
Kriege günstige Entscheidung der deutschen Frage, völliges Niederwerfen des
norddeutschen Rivalen.
Und doch wurde man in Wien und an den deutschen Höfen durch die
realen Verhältnisse schon vor dem Kriege gezwungen, die größere Schlag¬
fertigkeit Preußens anzuerkennen. Man mußte trotz der höchst ungünstigen
Configuration des preußischen Landes sich auf die Defensive stellen; überall
wurde als selbstverständlich angenommen, daß Preußen angreifen werde: schon
acht Tage vor dem 14. hatte man, wie aus dem Bericht des östreichischen
Generalstabs hervorgeht, in Dresden den Rückzug der sächsischen Armee nach
Böhmen verabredet, ebenso war den Baiern die von ihnen zurückgewiesene
Zumuthung gestellt worden, ihr Heer, welches mit etwas mehr als der
Stärke eines Armeecorps schlagfertig wurde, nach Böhmen zur Unterstützung
der kaiserlichen Armee hineinzuschieben.
Die beim Beginn des Kriegs für den böhmischen Feldzug disponiblen
Streitkräfte waren, im Ganzen betrachtet, der Zahl nach in beiden Parteien
fast genau gleich. In Böhmen standen sieben Zehntel der östreichischen
Heeresstärke, dazu die Sachsen — acht Armeecorps und eine Division gegen
acht und ein halb preußische Corps, denen die Divisionen und Regimenter
fehlten, welche die Mainarmee bildeten.
Sachsen, Hannover, der größere Theil von Kurhessen werden von den
Preußen in schnellem Anlauf in Besitz genommen, sogar die Bewältigung
der hannöverschen Armee kleineren zerstreuten Truppenkörpern überlassen,
welche unter Commando des General Falkenstein gestellt sind, die ganze
Kraft der preußischen Armee wird für den Einmarsch nach Böhmen bestimmt.
Der große Plan des preußischen Generalstabes, viel bewundert und viel
kritisirt, geht von der Voraussetzung aus, daß die östreichische Armee sich in
Mähren gesammelt habe und im Vormarsch nach Böhmen sei; gegen dieselbe
sollen sich die drei preußischen Heere in Böhmen selbst vereinigen.
Fernere Annahme war. daß die erste preußische Armee unter Prinz Friedrich
Karl bei ihrem Einmarsch aus der Lausitz sofort die Vereinigung mit der
Elbarmee (Herwarth) bewirken werde. Dann, daß ihr nur schwache Kräfte des
Feindes an der Grenze entgegentreten, und drittens, daß sie in energischem
Bordringen dieselben ohne Aufenthalt zurückwerfen werde, um rechtzeitig an
dem zur Vereinigung mit der zweiten Armee profectüten Punkt — etwa
Gitschin — anzukommen und die zweite Armee bei ihrem gefährlichen Vor¬
marsch aus den Gebirgsdesile'en der Grafschaft Glatz vor den Stößen des
übermächtigen Feindes zu schützen. Da der Weg der ersten und der Elbarmee
von der böhmischen Grenze bis Gitschin zwei Märsche länger war, als der
Weg der zweiten Armee, so sollte der Einmarsch der ersten und Elbarmee
um mehrere Tage früher stattfinden; die erste Armee überschritt am 22—24ten
die Grenze, vereinigte sich gleichzeitig mit der Elbarmee und stand so um das
Doppelte überlegen dem Corps Clam-Gallas und den Sachsen gegenüber. Der
zweiten Armee, Kronprinz, war für die beiden am meisten erponirten Flanken¬
corps, das erste und fünfte, der 27te Juni als Tag des Einmarsches festgesetzt.
Wohl blieb auch bei solcher Disposition der Angriff in zwei getrennten Ar¬
meen, welche ihre Vereinigung im Vormarsch gegen ein concentrirtes feind¬
liches Heer durchzusetzen hatten, ein kühnes Unternehmen; aber es war Alles
geschehen, um die Gefahren des Wagnisfes zu vermindern. Gelang es den
Oestreichern wider Erwarten, durch beschleunigte Concentration ihres Heeres
gegen die erste und Elbarmee diese mit Uebermacht anzugreifen, fo mußte
das Vorbrechen der zweiten in die rechte Flanke und den Rücken des Geg¬
ners eine entscheidende Diversion hervorbringen. War, wie zu erwarten
stand, der preußische Einbruch von dem Elbthale und Görlitz her nur durch
ungenügende Heereskraft des Feindes verlegt, fo verhinderte die Nähe der
ersten und Elbarmee wieder den Feldzeugmeister Benedek, seine ganze Kraft
gegen die zweite Armee zu concentriren und dieselbe in die Gebirgspässe
zurückzuwerfen. Und es war die Annahme erlaubt, daß die Armee des Kron¬
prinzen unter diesen Umständen die Hindernisse, welche sich ihrem Heraus¬
treten aus den Gebirgspässen entgegenstellten, überwinden werde.
Es ist sehr merkwürdig, wie dieser Plan, so gut combtnirt und auf ganz
richtigen Voraussetzungen beruhend, in der Ausführung durch die Ereignisse
modificirt wurde und daß zu seinem glänzenden Gelingen ein großer Fehler
des Feindes beitragen mußte.
Zunächst war das Heranziehen der zweiten preußischen Armee an die
Gebirgspässe der Grafschaft Glatz den Oestreichern nicht so unbekannt geblie¬
ben, als man preußischerseits anzunehmen geneigt war. Bereits am 17. Juli,
zehn Tage vor dem Einmärsche, wurde dem Feldzeugmeister v. Benedek von
Wien die Mittheilung, daß die mit Ostentation vorbereiteten Bewegungen
der Preußischen Corps unter dem Kronprinzen gegen die Reiße nur eine De-
monstration sein dürften, um den Einbruch derselben in Böhmen zu verdecken.
Bald darauf meldeten östreichische Kundschasterberichte den Rechtsabmarsch
preußischer Corps nach der Grafschaft Glatz; am 20. Juni gelang den Oest¬
reichern sogar, die Telegramme einer preußischen Station zwischen Görlitz und
Reiße zu erhalten und daraus auf eine Concentration der zweiten Armee
an der glatzer Grenze zu schließen. Aber diese Nachrichten vermochten nicht
dem kaiserlichen Hauptquartier die Ansicht zu nehmen, daß der Hauptstoß
des Gegners von der Lausitz her drohe. Die Anhäufung preußischer Truppen
bei Görlitz, die schnelle Occupation Sachsens hielten dort die Phantasie über¬
mächtig gefangen; man scheint angenommen zu haben, daß der preußische
Vorstoß aus der Grafschaft Glatz nicht viel mehr als eine Demonstration
sei, um der ersten Armee den Einmarsch zu sichern, und daß mäßige Streit¬
kräfte genügen würden, die glatzer Corps in das Gebirge zurückzutreiben.
Andererseits nahm die erste preußische Armee sich nach ihrer Vereinigung
mit der Elbarmee bei ihrem Vormarsch in Böhmen weit mehr Zeit als die
Verhältnisse erlaubten. Sie verlor durch unnöthiges Zusammenziehen und
umständliche Vorbereitungen einer Umgehung, welcher sich der schwächere Feind
doch entzog, zwei werthvolle Tage. Statt mit unwiderstehlicher Kraft das
1. östreichische Corps (Clam-Gallas) und die Sachsen vor sich her zu stoßen,
setzte sie zögernd und vorsichtig Schritt um Schritt. Die Schrift des östrei¬
chischen Generalstabes verschärft das Urtheil über die Bedächtigkeit dieses
preußischen Vorrückens; man erfährt, daß dem östreichischen Corps schon am
Tage des feindlichen Einmarsches der Befehl zugegangen war, nicht zu viel
aufs Spiel zu setzen und sich auf das Gros des Heeres zurückzuziehen; und
wenn dieser Auftrag auch durch Schwankungen in den Absichten des kaiser¬
lichen Oberbefehls auf einzelne Tage suspendirt wurde, so war doch ein
entschlossener Widerstand bis zum Aeußersten selbst vor dem Tage von Gitschin
nicht befohlen. Auch die Annahme bei der ersten preußischen Armee, daß
drei Armeecorps ihr gegenüber stünden, konnte nach mehrfachem Zusammen¬
stoß mit dem Feinde nicht mehr als Grund des langsamen Vorrückens an¬
geführt werden. Jedenfalls war die zweite Armee bei ihrem Einmarsch unter
den schwierigsten Verhältnissen dem Angriff von sechs östreichischen Corps
ausgesetzt.
Auf drei Straßen betraten die preußischen Corps der zweiten Armee am
27. Juni — die Garde am 25. — den böhmischen Boden, auf der Straße
von Nachod, welche durch die Anmarschlinie des östreichischen Corps zuerst
betroffen werden mußte, das 5. Corps (Steinmetz), dahinter als Verstärkung
das schwache sechste. Im Centrum über Eipel das Gardecorps, auf dem rechten
Flügel über Trautenau das erste (Bonin). Fast zu gleicher Zeit nahte die
östreichische Armee den DeWen, das 10. Corps (Gablenz) auf der Straße
nach Trautenau, das 6. (Ramming) gegen Nachod; von der Existenz des
Gardecorps in der Mitte scheinen die Oestreicher am 27. Nichts gewußt zu
haben. Am Abend des 27ten nach den Treffen bet Trautenau und Nachod
hatten die Oestreicher das Gefühl eines erfolgreichen Kampfes. Das erste
preußische Armeecorps war zurückgeschlagen, das Lee zwar hatte sich nach hart¬
näckigem Treffen behauptet, aber der Erfolg des toten östreichischen Corps er¬
schien im Hauptquartier größer, als die Einbuße des 6ten, und man wußte
noch nicht, daß der östreichische Verlust sogar in dem siegreichen Kampf bei
Trautenau zum preußischen wie 4: 1 gewesen war.
Die Stunden vom 27. zum 28. Juni waren die verhängnißvollste Zeit
für den militärischen Ruf des Feldzeugmeisters v. Benedek. Der größte Theil
seines Heeres war herangekommen, fünf östreichische Armeecorps standen von
Skalitz bis Trautenau gegen zwei preußische. Denn das Iste preußische war
ohne Noth bis in die Grafschaft Glatz zurückgewichen und am 28. zu einem
Angriff nicht verwendbar; das 6te war mit Ausnahme der Brigade Hoffmann
noch einen schwachen Tagemarsch zurück, die Garde und das Corps Steinmetz
hätten am 28. einen combinirten Angriff gegen mehr als doppelte Uebermacht
allein aushalten müssen. Es soll nicht behauptet werden, daß das Endresultat
des ganzen Krieges dadurch ein wesentlich anderes geworden wäre, denn im
Ganzen betrachtet sind die Zusammenstöße im modernen Kriege ein gegen¬
seitiges langsames Abbrennen der militärischen Kraft, und da dieser Ver-
nichtungsproeeß das kaiserliche Heer bei allen größern Zusammenstößen drei,
ja fast fünf Mal stärker beschädigte, als das preußische, so ist die Annahme
wohl erlaubt, daß Steinmetz und die Garden am 28ten Juni bei anderer Dispo¬
sition des kaiserlichen Feldzeugmeisters dieselbe Arbeit gethan hätten, welche der
7. preußischen Division Fransecky einige Tage darauf bei Königgrätz zufiel.
Aber es ist wohl möglich, daß die politische Wirkung eines so disponirten
Angriffs für Oestreich günstiger ausgefallen wäre. Die mangelhaften Dispo¬
sitionen des östreichischen Generalstabs in jenen entscheidenden Stunden ver¬
ursachten am 28ten die unglücklichen Gefechte bei Skalitz und Soor; dadurch
wurde der siegreiche Einmarsch der 2. Armee gesichert. Auch die erste preußische
Armee hatte an diesem Tage ihr erstes großes Gefecht mit Clam-Gallas und
den Sachsen vor Gitschin, in welchem preußischerseits nach Concentrirungen
und Umgehungsversuchen zuletzt nur zwei Divisionen den Kampf gegen die
feindliche Streitmacht durchzufechten hatten. Beide Divisionsgeneräle, Tümp-
ling und Werber, thaten in ausgezeichneter Weise ihre Pflicht. Aber die
Vereinigung des 1. Corps und der Sachsen mit der östreichischen Hauptarmee
wurde nicht gehindert.
Am 29ten war, nachdem General Steinmetz noch ein kleineres, aber meister¬
haft disponirtes Treffen bei Schweinschädel bestanden hatte, die Elblinie in
Besitz der zweiten Armee, ihre Vereinigung mit der ersten gesichert; das
kaiserliche Heer hatte in wenigen Tagen 30,000 Mann verloren, 6 Corps
desselben waren stark erschüttert und Feldzeugmeister v. Benedek hatte guten
Grund, diesen Verlust einer verlorenen Schlacht gleichzustellen: er scheint schon
beim Beginn des Krieges kein volles Zutrauen zu seiner Armee gehabt zu
haben; er gab jetzt sein Spiel verloren und bat den Kaiser durch ein lakonisches
Telegramm, welches seine verzweifelte Stimmung sehr deutlich verräth, Frieden
zuschließen, die Armee sei zerrüttet. Seine geworfenen Corps waren jetzt
dicht gesammelt und wenig zu einem Angriff fähig, dazu die Nähe des Feindes.
Die Mahnungen aus Wien und einige Ruhetage, welche die Preußen dem
kaiserlichen Heere gönnten, hoben das östreichische Hauptquartier zu dem
Entschluß einer Desenfivschlacht.
Man hat die Wahl des Schlachtfeldes hinter der Bistritz durch Feld¬
zeugmeister Benedek getadelt, sehr streng und überlegen thut dies die östrei¬
chische officielle Schrift. Uns scheint dieses Urtheil wenig Berechtigung zu
haben, weil sie Eins außer Acht läßt: der Feldzeugmeister hatte auch darin
keine Wahl mehr. Die Corps der Armee, in der Mehrzahl einzeln geschlagen
und auf einen Haufen disponirt in den Tagen, wo man noch keine Kennt¬
niß von der Größe der Verluste hatte, waren nach einem Ruhetage wieder
befestigt, Soldaten und Führer fühlten sich zum ersten Mal als Theile eines
großen Heeres; muthete man den Corps jetzt sofort weiteren Rückzug, das
schwierige Auseinanderziehen und Marschgefechte mit einem energischen Feinde
zu, so ging nicht nur das wiederauflebende Selbstgefühl verloren, sondern
zuverlässig Zusammenhang und Kriegstüchtigkeit der Truppen, und es wurde
aus dem Rückzüge eine wüste Flucht, eine Schmach ohne Entscheidungsschlacht.
Erst am 2. Juli im Laufe des Tages erhielt die erste preußische Armee
vereinzelte Nachrichten, daß ein großer Theil des kaiserlichen Heeres in Ent¬
fernung von nicht viel mehr als einer Meile ihr gegenüber lag. Es war
das große Verdienst des Prinzen Friedrich Karl, daß er sogleich den Angriff
beschloß und dafür im Hauptquartier des Königs, welcher jetzt mit dem großen
Generalstabe bei der Armee angekommen war und den Oberbefehl übernom¬
men hatte, Genehmigung nachsuchte. Im Hauptquartier erkannte man
die volle Bedeutung des Moments und disponirte in den Abendstunden des
2. Juli die Schlacht für den nächsten Morgen. Die erste Armee sollte den
Feind in der Front beschäftigen, bis die zweite in der rechten Flanke und
im Rücken desselben erschienen sei, die Elbarmee die linke feindliche Flanke
ausrotte. Nach dieser Disposition wurde die Schlacht geschlagen. Und dieser
blutigeTag, so ruhmvoll für die Kämpfenden, war zugleich ein Tag des
Triumphes für den preußischen Generalstab, die letzte Vollendung des Feld¬
zugsplans. Auf dem Schlachtfelde zu Königgrätz wurde die thatsächliche Ver¬
einigung der preußischen Armeen bewirkt, und als am Abend der schweren
Schlacht die Fürsten des Hauses Hohenzollern, Vater und Sohn, und die Führer
der beiden Armeen einander auf dem Schlachtfelde begrüßten und ihre Heere
diesen Moment als einen großen in der preußischen Geschichte empfanden, da
durfte General Moltke sich in der Stille sagen, daß er der Reisemarschall
gewesen war, welcher dieses Zusammentreffen und fast genau dieselbe Stelle
schon vor Wochen erschaut und die Etappen dafür allseitig richtig deponirt hatte.
Freilich in der Ausführung wurden die Dispositionen dieses Tages
wieder in sehr merkwürdiger Weise modificirt. Da die Armee des Kron¬
prinzen weit—zu weit —zurückstand, wurde das entscheidende Eingreifen der¬
selben im Hauptquartiere erst gegen Mittag erwartet, immer noch zu früh.
Bei den wenigen Stunden, welche vor der Schlacht für die Befehle blieben, und
bei den regendurchweichten Wegen und dem unwegsamen Terrain vermochte
die Armee nur sehr allmälig heranzukommen, ihre Corps hätten nicht vor
den späten Nachmittagsstunden einen regelmäßigen, und combinirten Angriff
auf die feste Stellung der östreichischen Armee erfolgreich machen können,
auch günstige Entscheidung wäre spät eingetreten und hätte der zweiten Armee
ungleich größere Opfer gekostet. Da geschah es, daß durch ein Ereigniß,
welches von dem Obercommando nicht beabsichtigt war, der rechte Flügel
des östreichischen Heeres schon in den Morgenstunden durch einen ganz außer¬
ordentlichen Kampf zum großen Theil verbraucht wurde.
Die Oestreicher hatten sür ihre Defensive die Höhen hinter dem sumpfigen
Grunde der Bistritz in einem flachen Kreisbogen von etwa IV» Meile Länge
besetzt, zum Theil verschanzt, sie beherrschten das Vorterrain durch ein furcht¬
bares Artilleriefeuer, ihre Stellung war in der Front sehr stark und fast
nicht zu erstürmen. Da die erste Armee die Aufgabe hatte, den Feind fest¬
zuhalten, so überschritten die Divisionen ihres ersten Treffens kurz vor
8 Uhr die Bistritz und oeeupirten das Vorterrain; sie hatten schon bei diesem
Vordringen massenhafte Verluste, welche allerdings durch den Eiser einzelner
Commandos und der Truppen, die zu weit vorbrachen, noch über das Un¬
vermeidliche gesteigert wurden. Während so auf der ganzen Linie der Kampf
bis in die ersten Nachmittagsstunden mit kleinem Terrain-Gewinn und
Verlust hingehalten wurde, hatte sich der Commandeur der 7. preußischen
Division, General Fransecky, auf dem äußersten rechten Flügel des Frontal¬
angriffs der ersten Armee sofort nach dem Befehl zum Angriff in den Wald
von Maslowed geworfen, welcher nahe vor den stärksten Punkten der öst¬
reichischen Stellung lag, hatte dort allein mit seiner Division, nur von
einigen Bataillonen der 8. Division unterstützt, den Kampf gegen eine
immer gesteigerte feindliche Uebermacht aufgenommen und mit einer Zähigkeit
und Tapferkeit durchgeführt, welche in der neuen Kriegsgeschichte wenig
Seitenstücke findet. Durch 6 Stunden behauptete er dies Terrain mit etwa
14 Bataillonen gegen 3 östreichische Armeecorps, circa 80 Bataillone; die
Verluste seiner Division waren ungeheuer, aber er zerrieb auch die Kraft
der östreichischen Streitmacht, welcher die Aufgabe hätte zufallen müssen,
die rechte Flanke des östreichischen Heeres aus günstigster Position gegen
' die Armee des Kronprinzen zu sichern, denn er verleitete durch seine hart¬
näckige Ausdauer und durch das Vorbrechen einzelner Abtheilungen aus dem
Walde zwei österreichische Armeecorps ihre Stellung zu ändern und ihre
Kraft gegen ihn zu concentriren, statt die durch Feldzeugmeister Benedek
befohlene Stellung einzunehmen. Als um Mittag den Oestreichern gelang,
den Trümmern seiner Division den grüßen Theil des Waldes wieder zu
entreißen, da hatte die Tapferkeit der magdeburgischen Bataillone der heran¬
kommenden schlesischen Armee einen Theil des Weges klar gemacht und dieser
ein verhältnißmäßig frühes Eintreten der Entscheidung ermöglicht.
Trotzdem wurde der Kampf ihrer ersten Truppen ein blutiger; die Garde¬
divisionen hatten bei Noßberitz große Verluste und mußten sogar das Dorf
gegen östreichische Uebermacht wieder räumen, aber die allmälig anlangenden
Regimenter und Batterien der zweiten Armee vermochten jetzt jede wie ein
Keil zu wirken, der sich in die zerklüfteten Stämme der feindlichen Armee
hineintrieb. Die östreichische Stellung hatte von Anfang den Uebelstand
gehabt, daß ihre Rückzugslinie nicht in der Mitte, sondern in der am
meisten gefährdeten Flanke lag. Nach 4 Uhr war der Sieg entschieden.
Auch die Elbarmee hatte unterdeß, aufgehalten durch das Terrain, welches
ihr nur einen Zugang verstattete, die Sachsen und das 8. Corps auf dem
linken Flügel der Oestreicher in langsamem Fortschritt zurückgedrängt. Hinter
dem Rücken der ursprünglichen östreichischen Aufstellung kreuzten sich nach
6 Uhr die Bataillone der zweiten preußischen und der Elbarmee. -
Feldmarschall Benedek hatte wieder das Andringen der 2. Armee in die
rechte Flanke seiner Stellung für unwahrscheinlich gehalten und die — nicht
ganz unbegründete — Ansicht gehabt, daß sein rechter Flügel in der von
ihm disponirten Aufstellung einem feindlichen Angriff gewachsen sein würde.
Die unvollständige Ausführung seiner Dispositionen und die selbstwilligen
Angriffe seiner Corpsbefehlshaber auf den Wald von Maslowed sind ihm
nur insofern zuzurechnen, als er selbst den Gang der Schlacht durch eine
rechtzeitige Onentirung der Corpsführer und durch directen Befehl nicht ge¬
nügend zu leiten vermochte. Die einzelnen östreichischen Corps zogen sich,
wie es scheint zum Theil ohne Befehl, aus der Schlachtlinie zurück, das kaiser¬
liche Heer hatte den Schlachttag mit dem Verlust von 44,000 Mann und
187 Geschützen bezahlt, im Ganzen vom 27. Juni bis zum Abend des 3. Juli
fast den dritten Theil seiner Kriegsstärke verloren.
In den Operationen der Preußen dagegen trat jetzt eine charakteristische
Pause ein. Der großen strategischen Aufgabe, welche General Moltke dem
Heere gestellt, war exact und glänzend entsprochen, der König selbst, die
Führer der beiden Armeen hatten mit Hingebung dafür gearbeitet. Jetzt
kam dem Kriege ein neues Pensum, neue Dispositionen waren vorzubereiten
und zu befehlen. Denn die leitenden Gedanken des Krieges waren bei den
Preußen allzu ausschließlich im Generalstabe, während sie es bei den Oestreichern
viel zu wenig waren. Der Kronprinz hatte dem energischen General
Steinmetz mit seinem Corps, das allerdings bereits einen beschwerlichen
Marsch von drei Meilen gemacht hatte, auf dem Schlachtfelde selbst die Ver¬
folgung aufgetragen. Der König änderte die Disposition und bestimmte
eventuell die Elbarmee dafür, welche ihre Pflicht an diesem Tage mit sicherer
Tapferkeit gethan, aber keinen Ueberschuß von Unternehmungsgeist bewährt
hatte. So geschah es, daß die Verfolgung zwei Tage unterblieb, d. h. gar
nicht den weichenden Feind erreichte. Ohne Zweifel war das ein großer
militärischer Uebelstand und diese Unterlassung ist oft genug getadelt wor¬
den; es ist auch gar kein Zweifel, daß das Corps Steinmetz, allenfalls
nach einigen Stunden Ruhe, noch viele Früchte des Sieges hätte einsammeln
können und daß die gewaltigen Resultate der großen Schlacht dadurch ge¬
steigert worden wären. Aber ebenso klar ist, daß nach den ganzen Be¬
dingungen des preußischen Einmarsches nicht die gesammte Armee aus der
Stelle hätte folgen können; die Sammlung und Verpflegung der erschöpften
Truppen forderte bei der schwierigen Communication mit dem Hinterkante
in jedem Fall einige Tage Rast, und so hätte auch die Verfolgung durch
das fünfte Corps sehr bald einen zurückhaltender Zügel gesunden.
Ein weiteres Hinderniß wurde, daß man am Abend des Schlachttages,
ja noch am Morgen des 4ten Juli im preußischen Hauptquartier von der Größe
des eigenen Sieges nicht völlig überzeugt war, und daß schon am 4ten
durch das Eingreifen militärischer und kurz darauf diplomatischer Verhand¬
lungen ein fremdes Element in das Hauptquartier kam, getheilte Aufmerk¬
samkeit und Rücksichten. Zwar in dem neuen strategischen Plan des General¬
stabs wurde wieder ein energischer Vormarsch disponirt, die zweite Armee sollte
sich gegen Olmütz aufstellen, wohin sich Feldzeugmeister Benedek, wie man
annahm, mit der geschlagenen Armee zurückgezogen, die erste und Elbarmee
sollten direct gegen Wien ziehen, um den eingeleiteten Unterhandlungen Nach¬
druck zu geben. Auch dieser zweite Plan, welcher den Versuch Frankreichs
die Operation zum Stehen zubringen, glücklich kreuzte, wurde pünktlich aus¬
geführt. Das Commando der zweiten Armee erwarb sich noch das Verdienst,
daß es eine Modifikation seiner Aufstellung durchsetzte, um die Verbindung
zwischen Olmütz und Wien zu bedrohen, und die erste Armee rückte mit der
Elbarmee unaufhaltsam der kaiserlichen Hauptstadt und der Donau zu. Aber
die volle militärische Energie kam in dem Commando der einzelnen Heere nicht
mehr zur Geltung, die zweite Armee begnügte sich, als der Abmarsch des öst¬
reichischen Heeres von Olmütz nach Wien ersichtlich wurde, bei Tovitschau durch
einen kleinen Avantgardenstoß dem Feldzeugmeister den geraden Weg nach Wien
zu stören, und näherte sich darauf gemächlich dem Gros der Armee zur eventuellen
Wiedervereinigung; die erste Armee suchte ebenfalls die Verbindungen zwischen
dem k> k. Heere und Wien zu besetzen und machte in den letzten Stunden vor Ab¬
schluß des Waffenstillstandes noch eine gewagte Demonstration gegen Preßburg,
welche zwar nicht mißlang, aber nicht mehr völlig zur Ausführung gebracht wer¬
den konnte. In Wahrheit war seit der Schlacht bei Königgrätz der wichtigste
Theil der Kriegführung der Diplomatie zugefallen. Wie in dem Haupt¬
quartier allmälig den französischen Forderungen die Spitze umgebogen, die
ungeheuerliche Cession Venetiens an Frankreich unschädlich gemacht und der
richtige Satz durchgefochten wurde, daß Preußen die Früchte seiner Siege
durch Erwerbungen in Norddeutschland einzuernten habe, das darzustellen ist
nicht Aufgabe der Kriegsgeschichte. Auch ob durch eine Schlacht bei Wien,
durch darauf folgende Ueberziehung Süddeutschlands, sofortige Einfügung
der Südstaaten in den Bund und Aufstellung des Heeres gegen Frankreich
eine definitive Ordnung der deutschen Verhältnisse und ein dauerhafter Friede
mit Frankreich und Oestreich durchzusetzen gewesen, darf hier nicht erörtert
werden; es ist nicht unmöglich, daß dies eine umfangreiche Streitfrage künf¬
tiger Historiker werden wird, es ist noch heut nicht unmöglich, daß durch den
Erfolg bewiesen wird, wie sehr die Leiter der auswärtigen Politik Preußens
Recht gehabt, im Jahre 1866 den Kampf mit Frankreich zu vermeiden.
Es war ein kurzer Krieg von ungeheuren Resultaten: er hat in
Deutschland selbst zerstört, was die Entwickelung der Nation zu einer Gro߬
macht aufhielt und hat den Deutschen die Stellung unter den politischen
Mächten der Erde wieder gegeben, welche ihnen unter den Nachkommen
Kaiser Karl V., des Habsburgers, verloren wurde. Er hat die Grundlagen
geschaffen, auf denen He politische Arbeit der Zeitgenossen und der nächsten
Generation den einigen deutschen Staat ausbauen wird, welcher uns endlich
vor Uebergriffen der Romanen und Slaven sicher stellt. Er hat auch dem
preußischen Kriegsheer den größten Triumph bereitet; seine Bewaffnung und
seine Organisation werden wieder, wie nach dem siebenjährigen Kriege, um die
Wette von den übrigen Mächten nachgeahmt. Aber die beste Bürgschaft für die
Tüchtigkeit des preußischen Heerwesens ist doch, daß das gerechte Selbstgefühl
der Sieger nach keiner Richtung eine Ueberhebung zur Folge hatte. Hinter den
Zeilen des preußischen Generalstabsberichts ist dasselbe zu lesen, was man
überall von den Führern und Soldaten des preußischen Heeres hören konnte.
Als Neulinge zogen die jungen Soldaten der preußischen Linie, zum
ersten Mal auch die meisten Officiere und Befehlshaber in einen Krieg, welcher
über das Schicksal ihres Staates entscheiden sollte. Die sorgfältige Vorbil¬
dung im Frieden vermochte nicht die Kriegserfahrung zu ersetzen. Fünfzig Jahre
hatte Preußen keinen großen Krieg geführt. Gerade in dem ruhmvollen
Kampfe wurden die Mängel des eigenen Heerwesens fühlbar, nicht nur
in der Verpflegung und den Lazarethen, auch in der militärischen Ausbildung
der Truppen und dem Geschick der Führer. Manche taktische Einrichtungen
erwiesen sich als mangelhaft, das Ineinandergreifen der einzelnen Waffen,
die schwerste Ausgabe sür den modernen Feldherrn, welches doch kleineren Trup¬
penkörpern für Marsch und Treffen vorschriftsmäßig geregelt sein soll, war
unvollständig eingeübt. Aber die Preußen haben seit dem Feldzug eifrig gebessert.
Es ist lehrreich das Selbstgefühl zu vergleichen, womit die preußischen
und östreichischen Generalstabsschriften den Werth der eigenen Truppen be¬
trachten. Der östreichische Bericht erkennt stillschweigend die Überlegenheit der
preußischen Infanterie an, welche zumeist ihrer Schußwaffe zugeschrieben wird;
dagegen ist er bemüht, die Tüchtigkeit der östreichischen Artillerie — nach Ge¬
bühr — zu rühmen, und geneigt, eine Überlegenheit der östreichischen Cavalerie
zu behaupten. Man wird ihm preußischerseits das Letzte nicht zugeben. In
Preußen hat der kurze, für die Cavalerie wenig ausgiebige Feldzug die An¬
sicht festgestellt, daß die eigene Reiterei in Berne, Bewaffnung, Intelligenz, ja-
auch in schneidiger Energie der Mannschaften und Regimentsofficiere unzwei¬
felhaft bei den kleinern Zusammenstößen eine Überlegenheit bewährt habe, daß
aber in der Hauptsache, in der Verwendung der Cavalerie während des Tref¬
fens, bei den Preußen großes Ungeschick fühlbar geworden ist. Die Auf¬
gabe der Cavalerie ist durch die modernen Schußwaffen eine wesentlich andere
geworden, sie hat für Infanterie und selbst für Artillerie viel von der alten Furcht¬
barkeit verloren, trotz der starken dramatischen Wirkung, welche noch immer das
wuchtige Anstürmen großer Reitermassen aus den Soldaten im Felde ausübt.
Dem Schnellfeuer der preußischen Bataillone und Compagnien wurde es nicht
schwer, jeden Cavalerieangriff abzuweisen, ohne sich in Carre'es oder Klumps
zu formen. Die kostbare, verhältnißmäßig nicht menschenreiche Truppe gibt
für so weite Distanzen ein Zielobject ab, daß^sie mit großer Wahrscheinlich¬
keit vernichtet wird, bevor sie den Bereich der neuen, fernhin tragenden
Feuerwaffen durchritten hat. Die Momente ferner, in welchen sie gegen
taktisch zerrüttete Infanterie und exponirte Batterien Erfolge hoffen kann,
treten zwar in jedem größeren Gefecht ein, sind aber in der Regel so schnell
vorübergehend, daß sie der Cavalerie. welche jetzt in gedeckter Stellung
weit zurückstehen muß. fast immer entgehen werden, wenn dieselbe den Befehl
des Höchsteommandirenden abzuwarten hat. Und wieder ein selbständiges Ein¬
greifen und schnelle Benutzung eines Gefechtsmoments durch den Befehls¬
haber der Cavalerie mag in nicht wenig Fällen ebensoviel schaden als
nutzen, weil er in die Dispositionen der Gefechtsleitung störend hineinfährt.
Dessenungeachtet wird über den Werth einer guten und zahlreichen Ca-
Valerie nicht nach der Erfahrung des kurzen Gebirgsfeldzugs abzusprechen
sein. Die strategische Bedeutung derselben in den modernen Heeren hängt
vielmehr davon ab, daß sich ein Feldherr findet, welche dieselbe dazu gebrauchen
versteht, wo seine Infanterie nicht hinreicht, in Rücken und Flanke des Fein¬
des. Und obgleich diese Waffe sehr kostbar ist. so wird die Armee des
deutschen Bundes doch eine wesentliche Verminderung derselben wenigstens
so lange aussetzen müssen, bis der an unserer Zukunft langsam heraufsteigende
Conflict mit der Macht, welche auf den weiten Ebenen des europäischen
Ostens lagert, ausgekämpft sein wird.
Seit dem Kriege von 1866 sind mehr als zwei Jahre verflossen; wie
unfertig die politischen Bildungen dieser Neuzeit auch aus anderen Gebieten sein
mögen, für die Fortbildung des deutschen Heerwesens sind die Jahre sehr
thatenreich gewesen und es ist Großes in ihnen geleistet. Das deutsche
Bundesheer ist die große nationale Turnanstalt geworden, in welcher jeder
gesunde Jüngling zum Waffendienst für das Vaterland ausgebildet und
durch die Gewöhnung an eine große Pflicht und durch die eigenthümliche Ent¬
wickelung der Willenskraft, welche militärischer Befehl und Gehorsam ver¬
leiht, für sein bürgerliches Leben gekräftigt wird. Es ist sehr merkwürdig
und ein vortreffliches Zeugniß für die Tüchtigkeit des deutschen Volkes, daß
die allgemeine Wehrpflicht, welche noch vor kurzer Zeit vielen Deutschen be¬
sonders drückend und unerträglich schien, sich überall am schnellsten eingebürgert
hat und grade bei den Anspruchsvollen am ersten populär geworden ist. Sie
übt trotz aller Härten unablässig ihre segensvolle Wirkung, dem neuen Staat
Vertheidiger, Bewunderer, treue und freudige Bürger zu ziehen, und sie, gerade
sie vorzugsweise, wird innerhalb der jetzt lebenden Generation unaufhaltsam
die Nation zu einer politischen Einheit verbinden. Auch dies ist ein Erfolg
des Krieges von 1866, daß die Deutschen des Bundes sich mit Stolz ihres
Heeres als einer großen nationalen Bildungsanstalt bewußt werden.
Den Titeln der beiden Generalstabswerke vor dieser Besprechung ist der
des Werkes von Blankenburg beigefügt. Es geschah dies, um spät eine kleine
Pflicht der Dankbarkeit zu erfüllen. Denn das Werk von Blankenburg war
das erste, welches mit edlem Patriotismus und nicht gemeiner militärischer
Einsicht das Verständniß der Kriegsoperationen dem großen Publicum er¬
öffnete. Die gute Wirkung, welche dasselbe geübt, fordert grade jetzt eine
öffentliche Anerkennung, wo durch die officiellen Schriften eine genauere Ein¬
sicht in Operationen und Motive und größere Kenntniß des Details möglich
geworden' sind. Mit Freuden wird man sehen, wie gut der Verfasser in
vielen wesentlichen Punkten sogleich nach den kriegerischen Ereignissen von
1866 geurtheilt hat.
Die Literatur des Mainfeldzugs fordert gesonderte Besprechung.
Auf den beiden letzten Congressen deutscher Naturforscher und Aerzte
hat die Frage, ob es zulässig sei Resolutionen zu fassen, erregte Verhand¬
lungen hervorgerufen, deren bittere Nachwirkung noch nicht ganz überwunden
scheint. Auf der einen Seite vertheidigte man die Ueberlieferung, welche
gegen Resolutionen spricht, hauptsächlich mit der Unendlichkeit wissenschaft¬
licher Forschung und der Bedeutungslosigkeit von Mehrheitsbeschlüssen in
gelehrten Streitfragen; auf der anderen Seite wurde mit nicht geringerem
Nachdruck behauptet, es gebe allerdings Gegenstände, über welche es auch
auf der Versammlung deutscher Naturforscher und Aerzte nicht allein möglich
sei, sondern hohen praktischen Werth habe, förmlich abzustimmen. Näher
besehen waren dies die Beziehungen der öffentlichen Gesundheitspflege. Der
ganze Streit erwies sich als eine Consequenz' der 1867 in Frankfurt am
Main beschlossenen Bildung einer Section für Gesundheitspflege. Damit ist
in diesen gelehrten Körper sozusagen ein Tropfen fremden Bluts gedrungen,
der sich mit dem Uebrigen nicht recht vermischen will und aller Wahrschein¬
lichkeit nach so lange Unbehaglichkeiten und Störungen hervorrufen wird,
bis man ihn eben wieder ausscheidet.
Für eine Ausscheidung sprechen in der That sowohl die Interessen des
naturwissenschaftlich-medicinischen Congresses, dessen warmes altes Nest zur
Aufnahme dieses Kuckuckseies vorläufig ausersehen worden war, wie die
Interessen des allmälig flügge gewordenen jungen Pflegevogels selbst, der
öffentlichen Gesundheitspflege. Jenem sollte man die erhabene Ruhe und
Objectivität rein wissenschaftlicher Forschungen nicht rauben, in welcher die
Mehrzahl seiner Mitglieder nun einmal lebt. Dieser sollte man ein wuch¬
tigeres, unabhängigeres Organ verschaffen, als eine bloße Section einer Ge¬
lehrtenverbindung jemals werden kann.
Die Section braucht deswegen nicht gänzlich wieder eingezogen zu werden.
Die rein wissenschaftliche Seite der Gesundheitspflege und Alles, was an
derselben nicht ganz öffentlicher Natur ist, gibt immer noch einen sehr guten
und ausgiebigen Stoff für eine besondere Abtheilung des Congresses der
Naturforscher und Aerzte ab. Ihr Fortbestehen wird mittelbar dafür sorgen,
daß die Naturforscher nicht aufhören, einen angemessenen Theil ihrer Zeit
und Kraft hygienischen Problemen zu widmen, und daß die Aerzte auch von
der Seite ihres wissenschaftlichen Studiums her stets angehalten werden, über
der Bekämpfung von Krankheiten nicht die Erhaltung der Gesundheit in der
früher gewohnten Weise zu vernachlässigen.
Für öffentliche Gesundheitspflege dagegen ein eigener selb-
ständiger Congreß!
Indem man einen solchen ins Leben ruft, stellt man für die Behand¬
lung dieser Aufgaben erst die rechte Temperatur und Atmosphäre her. Man
hält fern solche Geister, die für praktische Fragen einmal keinen Sinn haben,
sondern gern alles theoretisch auffassen und behandeln; man zieht ganze Kreise
neu heran, die der specifisch gelehrte, akademische Charakter der Naturforscher-
Congresse immer abhalten wird, diese regelmäßig zu besuchen. Es würde
wenig nützen, wollte man jeden Freund der öffentlichen Gesundheitspflege auf¬
fordern, sich an den Verhandlungen und Arbeiten einer derselben gewidmeten
Section des Congresses deutscher Naturforscher und Aerzte zu betheiligen.
Nur die Wenigsten würden davon Gebrauch machen: theils weil es unbequem
ist, sich aus einer Masse fremdartigen Stoffes ein zusagendes einzelnes Körn¬
chen herauszupicken, theils weil ja selbst in der einzigen Abtheilung des
Ganzen, welche sie anzöge, eine abstract theoretische Behandlung der Sache
leicht überwiegen könnte. Gerade auf diese nicht gelehrten, wenigstens nicht
naturwissenschaftlich-gelehrten Freunde der Gesundheitspflege aber kommt es
wesentlich an. Die Aerzte haben viel geringeren unmittelbaren Einfluß auf
die meisten sanitären Reformen, welche die Zeit verlangt, als manche Staats¬
und alle Gemeindebeamte, sammt den Volksvertretern in den Kammern
und den activen Kräften der Presse. Wenn sie nicht zufällig selbst nebenbei
Politiker sind, entbehren sie meist sogar der gewöhnlichsten agitatorischen
Fähigkeit zur Verallgemeinerung ihrer besseren Einsicht und zur Durchsetzung
der Forderungen des Tags. Die Aerzte zu Trägern dieser letzteren zu machen
ist gut, wichtiger aber, daß man Bürgermeister, Stadträthe und Stadtver¬
ordnete mit dem Bewußtsein ihrer Unabweisbarkeit erfüllt. Denn sie sind
es am Ende vornehmlich, welche Reformen zu verwirklichen vermögen. Wenn
für die mancherlei großen und dringenden Anliegen der öffentlichen Gesund¬
heitspflege, welche in Deutschland fast durchweg noch unerfüllt sind, das
mächtige Mittel eines Wandercongresses überhaupt aufgeboten werden soll,
so wende man es auch unverkümmert an, damit die rechten, wünschens-
werthesten Theilnehmer zusammenströmen und auch der jedesmalige Ver¬
sammlungsort so gewählt werden kann, wie es diesem einen Interesse ent¬
spricht, z. B. Hamburg und nicht Innsbruck — wo 1869 die Naturforscher
und Aerzte tagen werden — wenn es sich um die Oeularinspection einer
längst durchgeführten städtischen Canalisirung handelt, oder München, wenn
man etwa die thatsächlichen Hilfsmittel oder Proben zu Pettenkofer's, Von's
und Buhl's biologischen Theoremen in Augenschein nehmen will.
Die Weimarer Choleraconferenz vom Frühling 1867 auf der einen, die
beiden letzten Naturforscher-Congresse auf der anderen Seite haben die Idee
eines besonderen Gesundheitspflege-Congresses schon außerordentlich nahe ge¬
legt. Sie zu realisiren könnte unmöglich schwer fallen, wenn solche Potenzen,
wie die genannten Münchener Forscher, die ausgezeichneten frankfurter Aerzte
Spieß und Varrentrapp, die Baumeister Hobrecht in Stettin und Lindley in
Hamburg, oder auch die unlängst entstandenen Localvereine für öffentliche
Gesundheitspflege in Bremen und Zürich sich dazu zweckmäßig vereinigen
wollten. Ihrem Ausruf würden Hunderte aus allen Theilen Deutschlands
mit Freuden folgen und ein unabsehbar segensreicher, von Jahr zu Jahr
sich steigernder Einfluß auf die Gesundheitsverhältnisse unserer Städte die
sichere Wirkung sein.
Nur um so früher würden wir voraussichtlich dann auch eine zweite
nothwendige Schöpfung auf diesem Gebiet erhalten: ein allgemein deut¬
sches Gesundheitsamt in Berlin. In England besteht die betreffende
Behörde nun schon seit einem vollen Jahrzehnt und ihre beiden letzten
Jahresberichte, die für 1866 und 1867, müssen dem Zweifelsüchtigsten bewie¬
sen haben, welch' hohen Werth ihr Dasein und Wirken für den öffentlichen
Gesundheitszustand des Landes besitzt. Stadtbaurath Hobrecht zu Stettin
hat in einer kleinen diesen Gegenstand behandelnden Schrift die Tabelle der
vierundzwanzig britischen Städte abgedruckt, in welcher John Simon, der
oberste Gesundheitsbeamte des geheimen Raths in London, mit den frap¬
pantesten Ziffern anschaulich macht, wie unter dem Einfluß von Wasserleitung.
Canalisirung, Drainagen und andern ähnlichen Gesundheitsverbesserungsanlagen
die allgemeine Sterblichkeit sowohl als die besondere aus Typhus, Cholera,
Diarrhöe, Tuberculose:c. gesunken ist. Die Anregung so ersprießlicher städ¬
tischer Unternehmungen ist ein hauptsächlicher Ausfluß der Thätigkeit des
londoner Gesundheitsamts. Ihm steht gesetzlich das Recht zu, allenthalben,
wo die Sterblichkeitsziffer über ein gewisses durchgehendes Verhältniß steigt,
auf Einsetzung eines örtlichen Gesundheitsamts zu dringen, dem dann wie¬
derum durch Parlamentsacte gewisse Besteuerungs- und Ausführungsrechte
zustehen. Die Gesetze, welche hierzu ermächtigen, sind in England bereits
zu einem starken Coder angeschwollen. In Deutschland haben wir noch so gut
wie Nichts dergleichen, obgleich Herr v. Muster in Berlin neben Cultus und
Unterricht dem Namen nach auch die Medicinalangelegenheiten verwaltet.
Ein deutsches, zunächst norddeutsches Gesundheitsamt würde ihm (oder seinem
Nachfolger) nur abnehmen, was nie benutzt worden ist, wenn es zu gesund¬
heitsfördernden Gesetzgebungen Stoff sammelte und Entwürfe ausarbeitete.
Das englische Gesundheitsamt begnügt sich aber nicht damit, aus den
Ergebnissen der Wissenschaft Forderungen an die communale Verwaltung zu
stellen und diesen geeigneten Orts eine unmittelbar eindringende Spitze zu
verleihen. Es gestattet sich auch, der Forschung umgekehrt große brennende
Fragen der Praxis mit der Bitte um baldige Antwort vorzulegen. Es hat
Geldmittel in der Hand, um durch tüchtige Aerzte oder Naturforscher solche
Experimente anstellen zu lassen, welche schwebenden, noch ungelösten Gesund¬
heitsfragen neues nützliches Licht zuzuführen versprechen. So hat sich im
verflossenen Jahre z. B. einerseits der nahe Zusammenhang der Schwindsucht
mit starker Durchseuchtung des Erdreichs, andererseits die Uebertragbarkeit
der Tuberkeln mit krankmachender Wirkung herausgestellt. Unter den von
John Simon so beschäftigten jungen Gelehrten ist auch unser Landsmann
Dr. Thudichum. der vor mehreren Jahren in Frankfurt a. M. gesundheits-
wissenschaftliche Vorträge hielt und gleichzeitig Dr. Varrentrapp unterstützte
in der Durchsetzung der Canalisation, deren Gegner ihn eigentlich be¬
rufen hatten.
Ein deutsches centrales Gesundheitsamt (zu dessen Besetzung der rechte,
praktisch und theoretisch gleich begabte Mann gewiß nicht fehlen würde), con-
trolirt und immerwährend angeregt durch einen selbständigen deutschen Ge-
sundheitscongreß — das ist ein Wunsch, welchen wir dem neuen Jahre nicht
dringend genug mit aus den Weg geben können!
Am Tage vor der heißen Wahlschlacht in Mainz, am 18. März dieses
Jahres, hatte die nationale Partei ein Manifest erlassen, dessen funken¬
sprühende Lebhaftigkeit der Temperatur' der ganzen Situation entsprach.
Namentlich war darin mit schonungsloser Härte die Gedanken- und Charakter¬
losigkeit der' sich so nennenden Demokratie gezüchtigt, welche damals im
Bunde mit der schwarzen Bande Judenhetzen, Preußenhetzen, Jnvocationen
an die Rache Frankreichs und des Proletariats veranstaltete. Das Manifest
behandelte dieses Treiben mit der ganzen Verachtung, welche nur der für
jene Pseudo-Catone empfinden kann, der die Motive und Gesichtskreise
der maßgebenden Persönlichkeiten aus erster Hand kennt. Darob himmelhohe
Entrüstung im Lager der Dalwigk'schen Republikaner; und diese Entrüstung
theilte sich mit elektrischer Schnelligkeit den Wächtern der Justiz mit, welche
sich durchdrungen fühlten von der unwiderleglicher Wahrheit, daß in der
Firma „Bevel, Liebknecht und Compagnie" die Großh. Hessische Regierung
als stiller Theilhaber, als sIsexinZ xarwer interessirt sei. Sofort, am
selbigen 18. März, die Druckerschwärze war noch naß, setzte sich also die
Staatsbehörde nieder und schrieb nach Darmstadt um Ermächtigung, die
Autoren des Manifestes mit der Schärfe des Schwertes verfolgen zu dürfen.
Nun schrie zwar das Blut der so schonungslos gegeißelten und in der
Wahl besiegten Demokraten um Rache zu dem Allerhöchsten in Darmstadt;
allein das Strafgesetz hatte unvorsichtigerweise anno 1840 den Fall der an
der rothen Republik zu begehenden „Amts- und Dienstehrbeleidigung" nicht
vorgesehen, und so mußte jetzt eine Zeile ausgesucht werden, in welcher
H. v. Dalwigk in eigner Person und nicht in Person der von ihm prote-
girten Freiheitshelden angegriffen war.
Glücklicher- oder unglücklicherweise kam eine Stelle vor im Manifest, die be¬
sagte: alle freisinnigen Bürger hätten Jahre lang sich beschwert über das Bündniß
zwischen dem Ministerium und der „kirchlichen Intoleranz". Auf diese zwei
Worte legte der großh. Staatsproeurator den Finger und sprach wie Napoleon,
als er, den Finger auf die Karte legend wo das Dorf Marengo steht, sagte:
„An dieser Stelle werde ich den General Melas schlagen". Am 19. kam
das Schreiben nach Darmstadt und bereits am 20., dem Tag an welchem der
Wahlsieg Bamberger's notorisch wurde, ging vom Minister der Justiz und
vom Minister des Innern unterzeichnet, der Befehl nach Mainz zurück, daß
die Rache des Gesetzes ihren Lauf beginne. So schnell hatte man bei der
Einleitung der Zollparlamentswahlen nicht gearbeitet! Kaum erscholl die
schlimme Post, so vereinigte sich der Ausschuß der nationalen und bekannte
sich Mann für Mann zur Miturheberschaft an dem incriminirten Actenstück.
Es unterzeichneten dreißig der angesehensten Bürger. Hunderte drängten sich
zu, wurden aber als überflüssig zurückgewiesen.
Nun ging die Qual des Untersuchungsrichters an, eines liebenswürdigen
und freisinnigen Mannes, der unter dieser trübseligen Pflicht seines Amtes
offenbar seufzte. So wie er einen der Vorgeladenen nach seinen Mitver¬
brechern fragte, zog dieser den verhängnißvollen Zettel aus der Tasche und
las die dreißig klangvollen Namen mit unerbittlichem Athem ab. Der Unter¬
suchungsrichter accordirte mit seinem Gewissen auf 33°/« und zog nur 10
Sünder in die Verfolgung. Als nun die Sache vor die Rathskammer ge¬
langte, ward aber auch noch bei dieser Zahl von zehn Ungerechten dem
Staatsanwalt für seinen Erfolg bange. Er accordirte seinerseits wie Loth
mit Jehova und brachte die Zahl aus drei herab, außerdem natürlich der
Hauptmissethäter, Bamberger. Die Rathskammer — ohne viel Kopfzer¬
brechens — überwies die Viere dem Gericht.
Aber dem Generalstaatsprocurator am Appellhof schien denn doch diese
Methode des Deeimirens vor nicht ganz standrechtlichen Behörden bedenklich.
Er legte Opposition ein gegen das Verweisungsurtheil der Rathskammer,
indem er demonstrtrte, daß man entweder die zehn Geständigen oder
Niemand vor Gericht ziehen müsse. Diese Opposition und manche andere
intimen Vorgänge im Schooße der darmstädtischen Justiz, über die wir mit
angemessenen Zartgefühl stillschweigend hinausgehen, verzögerten die Ver¬
handlungen bis zum jüngsten 12. November.
Man weiß wie es an diesem Tage des Gerichts herging. Bamberger
vertheidigte sich mit dem allzu guten Humor eines Politikers, der trotz aller
Erfahrung an Andern noch so naiv ist, seine Verurtheilung bei augenschein¬
licher juristischer Unschuld für unmöglich zu halten. Und als er die Dalwigk-
Ketteler'sche Convention besprechen wollte, welche den Sinn der verfolgten
Stelle ausmacht, ward ihm das Wort abgeschnitten. Am 27. November
hat nun das mainzer Bezirksgericht sein Urtheil gesprochen. Diese nach
Form und Inhalt wunderliche, unter vierzehntägiger Anstrengung zu Wege
gebrachte Arbeit verdient auch in weiteren Kreisen Beachtung. Die weit¬
schweifigen Erwägungsgründe zerfallen in zwei Hauptabschnitte. In dem
ersten Theile erkennen die Richter an, daß keine formelle Injurie vorliegt,
sehen aber in der Behauptung, daß das Ministerium mit der kirchlichen In¬
toleranz im Einverständniß gewesen, die „gravste Beleidigung". Warum?
das erklären sie in einer moralischen Promenade, welche auf Entdeckung des
dem Wort Intoleranz zu Grunde liegenden Sinnes ausgeht. Die drei ge¬
lehrten Männer können sich nicht bei dem Gedanken beruhigen, daß ihr Be¬
schuldigter, wenn er von Intoleranz spricht, auch nur von Intoleranz sprechen
wollte. Vielmehr meine er, sagen sie, doch ohne Zweifel jene Intoleranz,
„welche mit den ärgsten Gräueln der vergangenen Zeiten in einem Causal-
nexus gestanden (3le!) und selbst in unserem geistig und sittlich vorangeschritte¬
nen Staatsleben Gehässigkeiten und Anfeindungen hervorzurufen angethan
ist, welche die Staatsangehörigen ihrem christlich moralischen Standpunkt
vollständig entrücken" :e. :c.! Schwerlich hat jemals ein Urtheil sich erlaubt,
in ein einziges, an sich schuldloses Wort mehr hängenswerthe Gedanken hin¬
ein zu interpretiren; schwerlich auch wird Herr Bischof Ketteler, der doch
unzweifelhaft auch für den Richter mit der kirchlichen Intoleranz gemeint
war, für diese officielle Erweiterung der an ihn anknüpfenden Vorstellung
besonders dankbar sein. Wer begeht hier die Schmähung: der Richter oder
der Verurtheilte? Und muß man dabei hier nicht jener Wendung des Ver¬
theidigers erinnern, daß mit dieser Verfolgung die Behörde einen Makel auf
die Kirche werfe?
Noch curioser aber ist der zweite Theil der Erwägungsgründe. Hier
geht das Gericht einen bedeutenden Schritt weiter in der Umarmung der
demokratischen Partei, als selbst das Ministerium Dalwigk gegangen war.
Hatte Letzteres sich begnügt, stiller Theilhaber, simpler Commanditär in der
Firma Bebel, Liebknecht und Co. zu sein, so hält das Gericht sich berufen
ausdrücklich im Namen der Staatsregierung in diese Gesellschaft einzutreten,
ihre Sache zu der seinigen zu machen, deutlich auszusprechen, daß es gelte die
Beleidigung der demokratischen Majestät zu bestrafen. Man lese und staune:
„In Erwägung der Ansicht, daß der incriminirte Wahlaufruf eine Schmähung
großh. Ministeriums enthalte, aber auch durch den ganzen lediglich aus
Jnvectiven gegen die demokratische Partei und deren Führer (!)
bestehenden Tenor des untergebenen Wahlaufrufs wesentlich begründet und
unterstützt wird (sie!), indem der durch den ganzen Aufruf sich ziehende
Faden in der Unterstellung besteht (ein Faden, der in einer Unterstellung
besteht!), daß jene Partei, welche die Intoleranz der Kirche vertrete, die De¬
mokratie zum Deckmantel ihres verabscheuungswürdigen Strebens gemacht:c. :e„
daß als die Vertreter der Intoleranz der Kirche, mit welcher behaupteter
Maßen das Ministerium Dalwigk im Einverständnis) zum Schaden von
Schule und Verwaltung gestanden, nur jene mit den gravsten Epitheta belegte
angegriffene Partei gemeint sein kann (der Bischof geht hier plötzlich in die
demokratische Partei über!), i. E. daß diese Ansicht um so mehr begründet
erscheint, als der incriminirte Passus nicht einen integrirenden Theil einer
kritischen Beurtheilung, sondern eines animösen und injuriösen politischen
Parteiflugblattes bildet" — aus diesen Gründen dictirt die lichtvolle Weis¬
heit dieses Urtheils 1, 2 und 3 Monate Gefängniß! Das nennt man im
Horte der süddeutschen Freiheit deutsche Sprache, Justiz und Logik. Ueber
den betrübend burlesken Charakter des Ganzen wird man erst urtheilen
können, wenn sämmtliche Actenstücke gedruckt in einer Brochüre erscheinen
werden, die dem Juristentag gewidmet -werden soll. Einstweilen ist die
Demokratie als eine der unverletzlichen Staatsgewalten in Hessen anerkannt.
Es fehlt Nichts, als daß noch eine Uniform für sie erfunden werde.
Nachdem einmal die württembergische Kammer beschlossen hatte, die
Thronrede mit einer Adresse zu beantworten, war es nur in der Ordnung,
daß man mit allen gebührenden Förmlichkeiten, mit dem ausgedehnten Ap¬
parat, der in solchen Fällen parlamentarischen Körperschaften zu Gebote
steht, zu Werke ging. Wahl einer Commission von 15 Mitgliedern, Sub-
commission von 3 Mitgliedern. Wahl eines Präsidenten und eines Referen¬
ten. Entwurf des Referenten. Gegenentwürfe der Opponenten, Amende-
ments und Unteramendements. Sitzungen der Commission und der
Subcommission, endlich vier Plenarsitzungen der Kammer — man sieht,
es fehlte Nichts um die Sache mit der ganzen Wichtigkeit zu betreiben, welche
ihrer weltgeschichtlichen Bedeutung entsprach. Leider wollte es die Ironie
des Schicksals, daß schließlich der Liebe und des Hasses Müh umsonst war.
Als das Werk eben aus der Scylla und Charybdis der allgemeinen und der
Speeialdebatte glücklich gerettet ans Land gebracht werden sollte, bohrte ein
tückischer Kobold es erbarmungslos in den Grund. Als sämmtliche Para¬
graphen schon einzeln durchberathen und genehmigt waren, blickte die Kammer
noch einmal auf ihr Werk zurück, und siehe, es war nicht gut. Ein Rest
von Besonnenheit wurde in ihr mächtig, und sie beschloß Nichts zu beschließen.
Das hatte ungefähr auch der Abg. Römer gewollt, der allein die Meinung
verfocht, die Kammer solle überhaupt von einer Adresse Abstand nehmen.
Nur war es ein etwas ungewöhnlicher und mühevoller Umweg, auf welchem
jetzt dieses Resultat erreicht wurde. Wenn es auch von vorn herein nicht
unwahrscheinlich schien, daß bei der eigenthümlichen Zusammensetzung der
neuen Kammer am Ende keiner von den vorgelegten Entwürfen die Mehr¬
heit erlangen werde, so war doch gerade auf diese Entwickelung des Kno¬
tens, wie sie die späte Abendstunde des 19. Decembers brachte, Niemand
gesaßt. Die Annalen des württembergischen Parlamentarismus sind um ein
denkwürdiges Blatt reicher.
Schon die Vorgeschichte der Adresse — sofern sie überhaupt mehr als
eine Vorgeschichte hatte — ist nicht ohne Interesse. Die Adreßcommission
bestand aus Mitgliedern von verschiedenen politischen Standpunkten. Nicht
durch die Schuld der Volkspartei, welche am liebsten wieder den Vorgang
vom September 1866 erneuert hätte, als die damalige Kammermehrheit,
verdrießlich, daß der Krieg nicht nach Wunsch gegangen, den sie wenige
Monate zuvor so siegesfröhlich beschlossen, diesen ihren Unmuth an der natio¬
nalen Partei ausließ, welche das Verbrechen begangen hatte richtiger zu
sehen und nun zur Strafe dafür von der Adreßcommission ausgeschlossen
wurde, in deren Werk kein störender Mißklang gebracht werden sollte und
die denn auch nach Kräften bemüht war, den Krieg, der bei Tauberbischofs¬
heim einen fatalen Ausgang genommen, auf dem minder gefährlichen Weg
einer Adresse muthig fortzusetzen. Solche Erclusivität wurde jetzt bei der
Wahl der Adreßcommission nicht geübt und schon daraus mochte man
schließen, daß die Sache diesmal nicht so ganz schlimm werden könne. Jeden¬
falls war es nicht die äußerste Linke, die Volkspartei, welche das Feld
beherrschte. War doch der Antragsteller selbst, Karl Mayer von Bestgheim,
nicht in die Commission gewählt worden, wie ihm überhaupt bis jetzt, seit
er sich im Namen des Volkes auf den parlamentarischen Boden herab¬
gelassen, das Glück nicht sonderlich gelächelt hat.
In der Commission war neben der Linken, welche wie billig die Mehr¬
heit hatte, die deutsche Partei und die Regierungspartet vertreten. Es war
vorauszusehen, daß von diesen Seiten Gegenanträge gestellt würden gegen
den Entwurf des Referenten Probst. Allein dieser Entwurf wurde der Com¬
mission zuerst in einer Form vorgelegt, über welche die eigenen Gesinnungs¬
genossen erschraken, oder welche sie mindestens unpolitisch fanden. Dieser
Entwurf trug, soviel davon in die Oeffentlichkeit drang, die Farben mit
einer lebhaften Keckheit auf, die auch Diejenigen in Erstaunen gesetzt hätte,
welchen die Erzeugnisse eines unverfälschten schwäbischen Particularismus nichts
Neues sind. Er schien der Ausfluß einer persönlichen Gereiztheit und Ver¬
bitterung und man mochte hierbei weniger an die eben vollzogene Präsidenten¬
wahl denken als vielmehr an jene Scene im Zollparlament, wo eine unbe¬
dachte Aeußerung des schwäbischen Abgeordneten dem Grafen Bismarck
Anlaß zu einem seiner glücklichsten Worte, zu jener Zurückweisung des Appells
an die Furcht gegeben hatte.
Allein die Adresse war, wie sich nachher der Herr v. Varnbüler aus¬
drückte, auf den Abstreich angefertigt. Der Verfasser ließ mit sich handeln.
Die Freunde selbst machten sich daran die stärksten Spitzen umzubiegen,
Oesterlen insbesondere, der seit lange zwischen der Linken und der ministeriel¬
len Partei als Mittelsmann hin und her geht, war bestrebt, mildernde Wen¬
dungen zu ersinnen: und überdies ist Probst selbst ein Meister in der Kunst,
was er nicht direct sagen kann, auf Umwegen und nicht ohne maliciöse
Pointen zu sagen. So wurde nun namentlich eine offen gegen die Verträge
gerichtete Stelle beseitigt, ein gegen die Minister wegen ihrer Untergrabung
der württembergischen Selbständigkeit ausgesprochenes Tadelsvotum hypo¬
thetisch gestellt, der Südbund mehr in eine dämmernde Ferne gerückt.
Immerhin aber blieb noch genug von Groll und Bitterkeit zurück, und wenn
man auch den Wortlaut nirgends mehr direct auf dem Complot des Süd¬
bundes und auf dem Trotz wider die Verträge ertappen konnte, so war er
doch immer noch kräftig genug um auch die äußerste Linke leidlich zu befrie¬
digen und nach der Annahme durch die Kammer als ein imponirender
Protest des schwäbischen Volkes gegen die Verpreußung betrachtet zu werden.
Endlich hatte sich die Mehrheit auf diesen Entwurf geeinigt, während
Sarwey einen Entwurf im Sinn des Ministeriums „bis hierher und nicht
weiter" vorlegte, Hölder in einem dritten Entwurf dem nationalen Gedanken
offenen maßvollen Ausdruck gab. Der Letztere setzte es auch durch, daß in
dem Hauptentwurf die inneren Landesangelegenheiten vorangestellt, die
Wünsche und Beschwerden über die deutsche Politik des Ministeriums in die
zweite Stelle verwiesen wurden. Was die inneren Fragen betrifft, so war
es gelungen sich über eine Fassung zu einigen, welche, untergeordnete Punkte
abgerechnet, alle Parteien befriedigte.
Dennoch nahm die Debatte über diesen ersten Theil der Adresse eine
und noch die Hälfte der folgenden Sitzung in Anspruch. So gründlich wurden
die inneren Gebrechen unseres Staatslebens beleuchtet und so zahlreich waren
die Wünsche, welche die Abgeordneten im Namen ihrer Wähler vorbrachten,
daß der Abg. Pfeiffer sich berechtigt glaubte, gelegentlich an das Wort des
Grafen Bismarck zu erinnern: wir sind den Süddeutschen zu liberal, was
ihm freilich eine sehr entrüstete Zurechtweisung von Becher und Mohl ein¬
brachte. Der Zufall wollte, daß in derselben Sitzung der Letztere eine sehr
eigenthümliche Probe von Liberalismus zum Besten gab, indem er nämlich
nachdrücklich gegen den „Unsinn" der Selbstverwaltung der Gemeinden zu
Felde zog. Im Ganzen aber bewegten sich die Redner der deutschen Partei
und der Linken in gleicher Richtung. Vor allem wurde dem Minister des
Innern lebhaft zugesetzt, daß er es versäumt, einen Entwurf zur Verfassungs¬
revision vorzulegen, und dies, wie man aus der Thronrede schließen mußte,
wohl vom Wohlverhalten der Kammer abhängig machen wollte. Es kamen
dabei alle jene Ausstellungen über unsere Verfassung und insbesondere die
Zusammensetzung beider Kammern zur Sprache, mit welchen schon mehrfach
das Wesen der süddeutschen Freiheit beleuchtet worden ist. Der Minister
entschuldigte sich so gut er konnte: die Thronrede sei mißverstanden worden,
es solle jedenfalls noch dieser Kammer eine Vorlage gemacht werden. Auf
das Materielle einer Berfassungsrevision aber ging er nicht ein. Er hätte
sonst bekennen müssen, daß die Hauptschwierigkeit, was die Zusammensetzung
der zweiten Kammer betrifft, darin besteht, irgend ein Gegengewicht für die
Wirkungen des allgemeinen Stimmrechts ausfindig zu machen, und zwar ein
anderes als die gegenwärtige Vertretung von privilegirten Ständen. Die
Nothwendigkeit eines solchen Gegengewichts hatte der Minister schon in
seinem früheren Entwurf anerkannt und diese seine Ueberzeugung konnte
durch die erste Probe des allgemeinen Stimmrechts schwerlich erschüttert
werden.
Ueber die deutsche Frage wurde eine allgemeine Debatte eröffnet. Sie
gestaltete sich des Näheren zu einer Debatte über den Südbund, den die eine
Seite des Hauses empfahl, die andere bekämpfte. Man muß nun gestehen
daß die letztere Aufgabe die dankbarere war. Allein dennoch konnte man
sich nur wundern über die dürftige Art, wie der unglückliche Südbund auch
bei dieser Gelegenheit von seinen Vertheidigern eingeführt wurde, und über
den Leichtsinn, mit welchem man in eine Staatsschrift ein Project aufnehmen
wollte, über welches sich Niemand eine klare Vorstellung gebildet hatte, über
welches die Freunde selbst in ihren Meinungen weit auseinandergingen. Man
durfte erwarten, nachdem der Südbund in so zudringlicher Weise fort¬
während als die Rettung der süddeutschen Freiheit, ja der nationalen Idee,
als die Heilung sämmtlicher und noch einiger anderer Schäden angepriesen
worden war, daß endlich doch einmal gezeigt würde, wie denn ein solcher
Südbund gemacht werden könne und wie man sich seine Einrichtung ungefähr
vorstelle. Nichts von alledem. Es erwies sich vielmehr, daß dem-Südbund¬
gedanken Nichts verhcmgnißvoller ist als die öffentliche Discussion, und in dieser
Beziehung war der Gang der Debatte wirklich lehrreich. Denn die ersten Redner
der Linken begannen mit einem gewissen dithyrambischen Schwung. Man pries
mit ansprechender Naivetät die glücklichen Wirkungen, die ein solcher Süd¬
bund haben müßte, wenn er nur erst vorhanden wäre, man sprach begeistert
von dem süddeutschen Grütlt der Freiheit, das man neben dem Zwinguri
des norddeutschen Bundes bauen müsse. Aber.schon der zweite Redner, ein
Professor der Staatsweisheit an der Landesuniversität, kühlte merklich ab,
indem er mit anspruchvollem Ton sich an der Aufgabe abarbeitete, die staats¬
rechtliche Möglichkeit eines solchen Südbundes neben den Verträgen zu do-
ciren. Späterhin, unter dem Eindruck der Kritiken von nationalliberaler
Seile, kam der Südbund immer mehr ins Gedränge, sein Begriff wurde zu¬
sehends elastischer, von einem eigentlichen Bund wollte jetzt Niemand mehr
Etwas wissen. Mohl gestand ein, daß der Südbund seine Schwierigkeiten
habe, aber es liege doch im Interesse der süddeutschen Regierungen, möglichst
einig zu sein gegen jede weitere Beschränkung ihrer Selbständigkeit. Selbst
Mayer erklärte, daß der Gedanke, für den er auf der Tribüne des wiener
Schützenfestes vergebens das östreichische Volk zu begeistern versuchte, für jetzt
undurchführbar sei. Schien er ihn doch erst für möglich zu halten in jener
fernen Zeit, da einmal die Monarchien wie die Feudallasten auf friedlichem
Wege abgelöst wären. Und der Referent Probst, der den Sympathien für den
Südbundgedanken allmälig zu mißtrauen schien, legte am Ende die betreffende
Stelle seines Entwurfs, die absichtlich unbestimmt gefaßt war, dahin aus,
daß sie gar nicht den Südbund bedeute, der zu viele Schwierigkeiten biete,
sondern blos, im Sinne der bekannten Erklärung süddeutscher Zollparlaments¬
abgeordneter, eine engere Verbindung der süddeutschen Staaten, deren Zweck¬
mäßigkeit Niemand bestreiten könne. Man mußte am Ende ordentlich Mit¬
leid haben mit diesem Bunde, auf den die Volkspartei ihr Programm
gestellt hatte, der ihr Hauptgeschrei bet den Wahlen gewesen war und den
sie heute selbst preisgab. Der dithyrambische Schwung endete in platter
Verleugnung.
Der zweite Hauptangriffspunkt der Linken waren die mit Preußen ab¬
geschlossenen Verträge. Freilich das eigentliche Programm der Volkspartei,
daß der Allianzvertrag null und nichtig sei. weil erzwungen und nicht mit
es gelungen sich über eine Fassung zu einigen, welche, untergeordnete Punkte
abgerechnet, alle Parteien befriedigte.
Dennoch nahm die Debatte über diesen ersten Theil der Adresse eine
und noch die Hälfte der folgenden Sitzung in Anspruch. So gründlich wurden
die inneren Gebrechen unseres Staatslebens beleuchtet und so zahlreich waren
die Wünsche, welche die Abgeordneten im Namen ihrer Wähler vorbrachten,
daß der Abg. Pfeiffer sich berechtigt glaubte, gelegentlich an das Wort des
Grasen Bismarck zu erinnern: wir sind den Süddeutschen zu liberal, was
ihm freilich eine sehr entrüstete Zurechtweisung von Becher und Mohl ein¬
brachte. Der Zufall wollte, daß in derselben Sitzung der Letztere eine sehr
eigenthümliche Probe von Liberalismus zum Besten gab, indem er nämlich
nachdrücklich gegen den „Unsinn" der Selbstverwaltung der Gemeinden zu
Felde zog. Im Ganzen aber bewegten sich die Redner der deutschen Partei
und der Linken in gleicher Richtung. Vor allem wurde dem Minister des
Innern lebhaft zugesetzt, daß er es versäumt, einen Entwurf zur Verfassungs¬
revision vorzulegen, und dies, wie man aus der Thronrede schließen mußte,
wohl vom Wohlverhalten der Kammer abhängig machen wollte. Es kamen
dabei alle jene Ausstellungen über unsere Verfassung und insbesondere die
Zusammensetzung beider Kammern zur Sprache, mit welchen schon mehrfach
das Wesen der süddeutschen Freiheit beleuchtet worden ist. Der Minister
entschuldigte sich so gut er konnte: die Thronrede sei mißverstanden worden,
es solle jedenfalls noch dieser Kammer eine Vorlage gemacht werden. Auf
das Materielle einer Verfassungsrevision aber ging er nicht ein. Er hätte
sonst bekennen müssen, daß die Hauptschwierigkeit, was die Zusammensetzung
der zweiten Kammer betrifft, darin besteht, irgend ein Gegengewicht für die
Wirkungen des allgemeinen Stimmrechts ausfindig zu machen, und zwar ein
anderes als die gegenwärtige Vertretung von privilegirten Ständen. Die
Nothwendigkeit eines solchen Gegengewichts hatte der Minister schon in
seinem früheren Entwurf anerkannt und diese seine Ueberzeugung konnte
durch die erste Probe des allgemeinen Stimmrechts schwerlich erschüttert
werden.
Ueber die deutsche Frage wurde eine allgemeine Debatte eröffnet. Sie
gestaltete sich des Näheren zu einer Debatte über den Südbund, den die eine
Seite des Hauses empfahl, die andere bekämpfte. Man muß nun gestehen
daß die letztere Aufgabe die dankbarere war. Allein dennoch konnte man
sich nur wundern über die dürftige Art, wie der unglückliche Südbund auch
bei dieser Gelegenheit von seinen Vertheidigern eingeführt wurde, und über
den Leichtsinn, mit welchem man in eine Staatsschrift ein Project aufnehmen
wollte, über welches sich Niemand eine klare Vorstellung gebildet hatte, über
welches die Freunde selbst in ihren Meinungen weit auseinandergingen. Man
durfte erwarten, nachdem der Südbund in so zudringlicher Weise fort¬
während als die Rettung der süddeutschen Freiheit, ja der nationalen Idee,
als die Heilung sämmtlicher und noch einiger anderer Schäden angepriesen
worden war, daß endlich doch einmal gezeigt würde, wie denn ein solcher
Südbund gemacht werden könne und wie man sich seine Einrichtung ungefähr
vorstelle. Nichts von alledem. Es erwies sich vielmehr, daß dem-Südbund¬
gedanken Nichts verhängnißvoller ist als die öffentliche Discussion, und in dieser
Beziehung war der Gang der Debatte wirklich lehrreich. Denn die ersten Redner
der Linken begannen mit einem gewissen dithyrambischen Schwung. Man pries
mit ansprechender Naivetät die glücklichen Wirkungen, die ein solcher Süd¬
bund haben müßte, wenn er nur erst vorhanden wäre, man sprach begeistert
von dem süddeutschen Grütlt der Freiheit, das man neben dem Zwinguri
des norddeutschen Bundes bauen müsse. Aber schon der zweite Redner, ein
Professor der Staatsweisheit an der Landesuniversttät, kühlte merklich ab,
indem er mit anspruchvollem Ton sich an der Aufgabe abarbeitete, die staats¬
rechtliche Möglichkeit eines solchen Südbundes neben den Verträgen zu do-
ciren. Späterhin, unter dem Eindruck der Kritiken von nationalliberaler
Seite, kam der Südbund immer mehr ins Gedränge, sein Begriff wurde zu¬
sehends elastischer, von einem eigentlichen Bund wollte jetzt Niemand mehr
Etwas wissen. Mohl gestand ein, daß der Südbund seine Schwierigkeiten
habe, aber es liege doch im Interesse der süddeutschen Regierungen, möglichst
einig zu sein gegen jede weitere Beschränkung ihrer Selbständigkeit. Selbst
Mayer erklärte, daß der Gedanke, für den er auf der Tribüne des wiener
Schützenfestes vergebens das östreichische Volk zu begeistern versuchte, für jetzt
undurchführbar sei. Schien er ihn doch erst für möglich zu halten in jener
fernen Zeit, da einmal die Monarchien wie die Feudallasten auf friedlichem
Wege abgelöst wären. Und der Referent Probst, der den Sympathien für den
Südbundgedanken allmälig zu mißtrauen schien, legte am Ende die betreffende
Stelle seines Entwurfs, die absichtlich unbestimmt gefaßt war, dahin aus,
daß sie gar nicht den Südbund bedeute, der zu viele Schwierigkeiten biete,
sondern blos, im Sinne der bekannten Erklärung süddeutscher Zollparlaments¬
abgeordneter, eine engere Verbindung der süddeutschen Staaten, deren Zweck¬
mäßigkeit Niemand bestreiten könne. Man mußte am Ende ordentlich Mit¬
leid haben mit diesem Bunde, auf den die Volkspartei ihr Programm
gestellt hatte, der ihr Hauptgeschrei bei den Wahlen gewesen war und den
sie heute selbst preisgab. Der dithyrambische Schwung endete in platter
Verleugnung.
Der zweite Hauptangriffspunkt der Linken waren die mit Preußen ab¬
geschlossenen Verträge. Freilich das eigentliche Programm der Volkspartei,
daß der Allianzvertrag null und nichtig sei, weil erzwungen und nicht mit
Zweidrittelsmehrheit von der vorigen Kammer genehmigt, suchte man ver¬
gebens in einem Antrag von dieser Seite niedergelegt. Um so größer aber
war nun die Mannigfaltigkeit der Meinungen, in welchen je nach Laune und
Temperament der Aerger über diese Verträge seinen Ausdruck fand. Ueber¬
haupt zeigte sich auch bei dieser Gelegenheit, wie uneigentlich der Particularis-
mus beständig von der Einmüthigkeit des schwäbischen Volkes redet. Jeden¬
falls war diese bei den Vertretern dieses schwäbischen Volks nicht zu finden,
und nicht einmal unter den Mitgliedern der Linken selbst. Von den National¬
liberalen wurden die Verträge als Basis und Ausgangspunkt der bundes¬
staatlichen Einigung mit dem Norden verstanden, von der Regierungspartei
die loyale und pflichtmäßige Beobachtung derselben betont, aber zugleich ihre
Weiterentwicklung abgewiesen, nach dem Wahlspruch eines ihrer Mitglieder:
„ich sehe nicht weiter". Der Referent sah sich später gleichfalls genöthigt
für die Giltigkeit der Verträge und ihre loyale Beobachtung eine Lanze zu
brechen, suchte aber zugleich ihren Inhalt abzuschwächen, wobei er sich auf
die Commentare der Minister in der vorigen Session berief. Vorsichtig meinte
Oesterlen, die Verträge seien allerdings zu halten, so lange sie bestehen. Der
obenerwähnte Professor der Staatsweisheit bestand darauf, daß sie einer legi¬
timen Revision unterzogen werden müßten. Ammermüller: der Allianzver-
trag ist rechtlich ungiltig, übrigens werthlos. Hopf endlich: ich erkenne über¬
haupt gar keine Verträge an. Das war eine recht ansehnliche Stufenleiter
von Gefühlen gegenüber einem Vertrage, der wenigstens für den Kriegsfall
eine nothdürftige Einheit gegenüber dem Ausland herstellt. Das Wort legi¬
time Revision schien eine ganz besonders glückliche Erfindung, um dem Wider¬
willen gegen die nationale Pflicht eine einigermaßen anständige Form zu geben.
Sie kehrte deßwegen in mehreren Reden wieder, bis dann doch von nationaler
Seite mit scharfen Worten gesagt wurde, was der einzig mögliche Sinn dieser
zweideutigen Phrase sei.
Um die Wahrheit zu sagen: auch die Reden der nationalen zeigten ver¬
schiedene Nuancen. Begnügte sich der eine, wie der neugewählte oberschwä¬
bische Abgeordnete Schmid, mit der Kritik des Südbunds, so schonte andrer¬
seits Römer auch das Ministerium nicht und verlangte mit seinem gewohnten
Feuer den Eintritt in den norddeutschen Bund. Die retrospectiven Studien
über das Jahr 1866. in denen sich die Linke vorzüglich gefiel, insbesondere
Becher, der Reichsregent von 1849, der mit tugendhafter Entrüstung die
italienische Allianz brandmarkte und das Paraderoß der Usedomschen Note
ritt, gaben Elben und Holder willkommenen Anlaß zu schlagenden Entgegnun¬
gen, welche an der Hand der neuesten Enthüllungen die Mythologie über
Oestreichs damalige Politik zerstörten. Im Uebrigen zeichneten sich die Reden
der nationalen vortheilhaft vor denen der Linken durch ihren maßvollen und
versöhnlichen Ton aus. Deßgleichen die zwei Redner von der Regierungs¬
partei, von denen aber, um das Doppelgesicht der ministeriellen Politik zu
repräsentiren. der eine. Sarwey, mehr gegen die Forderungen der nationalen
sich wandte und jammernd aufzählte, welche Opfer und Lasten dem Land
aus dem Eintritt in den norddeutschen Bund erwüchsen, während der andere,
Oberbürgermeister Sick, nachdrücklicher die Nothwendigkeit eines aufrichtigen
Zusammengehens mit dem Norden betonte. Er präludirte der Rede des
Hrn. v. Varnbüler.
Man durfte einigermaßen gespannt sein auf das Auftreten des Ministers,
der die Rede vom w. December 1867 gehalten, der nachher während der
Zollparlamentswahlen die bekannte Haltung eingenommen hatte und nun
heute den Bundesgenossen von damals sich gegenüber sah. ohne die Gegner
von damals versöhnt zu haben. In der That hält der Minister es vor Allem
für schicklich, seine damalige Sprache und Haltung zu erklären, sich zu recht¬
fertigen. Es ist gleichgiltig, wie ihm dies gelang, genug, daß er die Noth¬
wendigkeit solcher Erklärungen fühlte und anerkannte. Und dann, nachdem
dies peinliche Geschäft gethan, stellte er sich nicht wieder auf jene scheinbar
parteilose Höhe zwischen den Parteien, nach rechts und links gleichmäßig Lob¬
sprüche und Tadel vertheilend, sondern er wandte sich ausschließlich gegen die
großdeutsche Linke. Er vollendete die Kritik des Südbunds, er sprach sich für
die Verträge mit einer Art von patriotischer Wärme aus — „nicht wie säu¬
mige Schuldner wollen wir die Verträge erfüllen, sondern voll patriotischen
Geistes, im Gefühl der nationalen Pflicht, die dadurch erfüllt wird" — er
trat für die neue Heeresverfassung ein. die der preußischen nachgebildet unser
Heer in den Stand setzen soll, ebenbürtig unter die Fahnen zu treten, nicht
gegen unsere Brüder im Norden, sondern mit ihnen und für sie. Er wies
sogar den Gedanken einer Ausdehnung der gemeinsamen Gesetzgebung nicht
völlig von der Hand, obwohl er in diesem Punkt unsicher sprach und am
wenigsten die nationale Partei befriedigen konnte. Auch ist es nicht ganz zu¬
treffend, wenn der Minister besonders stark hervorhob, daß von Preußen in
keinerlei Beziehung je die Zumuthung gemacht worden sei. über das Maß
der Verträge hinauszugehen. Das ist doch nur eine Ausflucht, seitdem
durch das Bismarcksche Rundschreiben festgestellt ist, daß Preußen jede weitere
Annäherung von dem Bedürfniß und der Initiative der süddeutschen Regie¬
rungen abhängig macht. Auch jetzt noch ist die württembergische Regierung
am weitesten zurück: sie ist noch nicht einmal in die Linie des Hohenlohe'schen
„Verfassungsbündnisses" eingerückt. Allein der Fortschritt in der Sprache
des Ministers ist jedenfalls nicht zu verkennen. Eine Annäherung hat statt-
gefunden, und Herr v. Varnbüler hat sich zu ihr bekannt in einem Augen-
blick, als ein feindliches Votum der Kammer, dessen Folgen nicht vorherzu¬
sehen waren, noch wahrscheinlich war.
Am Schlüsse seiner Rede hatte Hr. v. Varnbüler vom Referenten Klar¬
heit über den Sinn seiner Adresse verlangt, Klarheit über die Verträge, über
den Südbund, über das versteckte Mißtrauensvotum. Und nun, auf diese
Aufforderung Red' und Antwort zu stehen, folgte eine Erwiderung Probst's,
die nur den peinlichsten Eindruck hervorbringen konnte. So viel Terrain
war bereits verloren, das hatte er erkannt, daß er dem Wortlaut des Ent¬
wurfs die allermildeste, unschuldigste Auslegung geben mußte. Und so
trug er denn kein Bedenken dessen Tendenz zu verleugnen, zu versichern,
es sei kein Südbund und kein Mißtrauensvotum beabsichtigt, aber diese
Erklärungen immer untermischt mit leidenschaftlichen Ausfällen gegen den
norddeutschen Militärstaat und gegen die Minister, die das Land immer
tiefer in die Abhängigkeit von demselben hineingetrieben hätten, und
am Ende kam denn vollends die ganze bittere Enttäuschung und Empfind¬
lichkeit darüber zum Ausbruch, daß das Ministerium die dargebotene Hand
der großdeutschen Linken verschmäht und anstatt mit ihr ein Bündniß zur
Aufrechterhaltung der Selbständigkeit des Landes einzugehen, anstatt ihr nur
irgend ein Zugeständniß zu machen, sich vielmehr der deutschen Partei zuge¬
wandt habe. Damit war die allgemeine Debatte beendigt. Es folgte die
Abstimmung, welcher von den 3 Entwürfen der Specialberathung zu Grunde
gelegt werden solle. Der Hölder'sche Entwurf wurde mit 64 gegen 23 Stim¬
men, der Sarwey'sche mit 51 gegen 36 Stimmen abgelehnt. Mit 46 gegen
41 Stimmen entschied sich die Kammer für den Entwurf Probst's. Bei
dieser Abstimmung fehlten der Rechten 4 Stimmen, darunter die des Präsi¬
denten und die der beiden Minister Varnbüler und Mittnacht, welche sich der
Abstimmung enthielten.
Mit dieser vorläufigen Entscheidung schien die Adresse überhaupt ge¬
sichert. Die Stärke der Parteien hatte sich gemessen ; es war nicht wohl denk¬
bar, daß deren Verhältniß sich anders gestalten werde. Oder war es viel¬
leicht doch noch möglich durch geschickte Taktik die Ungunst der Zahl zu be¬
siegen? Immerhin galt es wenigstens den Versuch, die Adresse noch in
mäßigendem Sinn zu amendiren. Glückte dies, so ließ sich vielleicht noch
das weitere Ziel erreichen, daß dann ein Theil der Linken den Geschmack an
ihr überhaupt verlor.
So begann in der Abendsitzung vom 19. December die Specialdebatte.
Die Volkspartei hakte den schüchternen Versuch gemacht eine Anzahl ver¬
schärfender Amendements in ihrem Sinn einzubringen, meist dem ursprünglichen
Probst'schen Entwurf entnommen. Sie zog jetzt diese Amendements als aus¬
sichtslos on divo zurück. Dagegen wurden nun von Sick und seinen Freun-
den eine Reihe von geschickt gestellten Amendements eingebracht und ver¬
theidigt, um die schärferen Stellen des Entwurfs abzudämpfen oder zu
beseitigen. Die meisten ohne Erfolg. Satz um Satz wurde der Probst'sche
Entwurf genehmigt. Doch gelang es eine derjenigen Stellen auszumerzen,
in welchen das Ministerium ein Mißtrauensvotum sah. Ebenso ging ein
(übrigens von Oesterlen hilfreich gestelltes) Amendement durch, welches einen
unnöthigen Ausfall aus die preußische Gewaltpolitik beseitigte. Der Kuriosi¬
tät halber sei erwähnt, daß in letzter Stunde auch noch eine großdeutsche
Erwähnung Oestreichs Aufnahme fand. Aber die dramatische Wendung trat
erst ein, als der Zusatzantrag von Sick zur Debatte kam, welcher die aus¬
drückliche Erwähnung der mit Preußen abgeschlossenen Verträge verlangte,
um allen Zweideutigkeiten in dieser Beziehung ein Ende zu machen. Das
verhängnißvolle Amendement lautete: „Niemals wird sich das württem¬
bergische Volk der Pflicht entbinden, mit seiner Regierung Hand in Hand
die nationalen Interessen zu pflegen und die nationalen Pflichten in Ueber¬
einstimmung mit den Allianz- und Zollverträgen zu erfüllen."
Jetzt hieß es also Farbe bekennen. Zwar schien die Erwähnung der
Verträge etwas ganz Unverfängliches zu sein, da die Linke ja größtentheils ihre
Vertragstreue betheuerte und wiederholte, was Oesterlen schon auf der
Volksversammlung in Berlin gesagt hatte, daß die Verträge eigentlich sogar
überflüssig seien, da man in Schwaben auch ohne Verträge wisse, was die
nationale Pflicht vorschreibe. Allein man hatte im Lauf der Debatte doch
mannigfache Commentare zu denselben gehört. Und daß ihre Erwähnung
ganz und gar nicht überflüssig war, sollte sich nun eben jetzt an dem Beneh¬
men der Linken zeigen, die förmlich außer sich gerieth, daß man sie fort¬
während mit diesen Verträgen torquire, ihnen immer wieder die Pistole auf
die Brust setze, ihnen wie ermatteten Stieren immer wieder das rothe Tuch
dieser Verträge vorhalte u. tgi. Es fielen dabei Aeußerungen die in einer
deutschen Versammlung nicht gehört werden sollten, und ohne Zweifel waren
es diese leidenschaftlichen Ausbrüche, welche dann doch zur Besinnung darüber
aufforderten, vor welchem Abgrund man angelangt war. In der That war
es jetzt gelungen Bresche zu schießen. Es fand sich eine Mehrheit von 50 gegen
36 Stimmen, für das Sick'sche Amendement, für die erneuerte Giltigkeitserklärung
der Verträge, die größte Mehrheit, die überhaupt im Lauf der Debatte erzielt
wurde. Nun war mit einem Schlag die Lage geändert. Neben einer Reihe von.
geschraubten, zweideutigen Sätzen stand nun ein ganz unzweifelhafter Satz, der
die Verträge ausdrücklich anerkannte. Und damit war die Adresse für die
äußerste Linke ungenießbar gemacht, sie war jetzt „ausgebeint", „verpreußt",
und während die Regierungspartei noch einen Augenblick schwankte, ob sie nicht
für die so purificirte Adresse stimmen solle, beschloß ein Theil der Linken sie zu
verwerfen. Schließlich hielt auch die Regierungspartei es für das Vernünftigste,
die Niederlage der Linken zu vollenden und so ergab sich bei der Schlußabsttm,-
mung das unerwartete Resultat, daß die Adresse, die in allen einzelnen Absätzen
genehmigt war, als Ganzes mit 49 gegen 38 Stimmen verworfen wurde. Da¬
gegen stimmte die deutsche Partei, die Regierungspartei, die Ritter und Prä¬
laten und 7 von der äußersten Linken unter Führung K Mayers. Dafür
die ganze übrige Linke und die Ultramontanen. Drastischer konnte die Zer¬
fahrenheit der politischen Meinungen nicht constatirt werden. Die Kammer
hatte nach viertägiger Debatte ihre Inkompetenz erklärt, ein Votum in der
deutschen Frage abzugeben.
Und doch kann man es nur höchst erfreulich finden, daß die Debatte stattge-
funden hat. Nicht nur ist nun doch die Expectöration reichlich erfolgt/ die
namentlich manche Neulinge schwer hätten verhalten können, sondern der ab-
genöthigte Rückzug der Linken in der Frage des Südbundes und der Ver¬
träge, die Erklärungen Varnbüler's und der durch sie herbeigeführte Bruch
der großdeutschen Linken mit dem Ministerium, der Beschluß zu Gunsten der
Verträge, der nun jede weitere Erörterung hierüber in dieser Kammer ab¬
schneidet, endlich die Verwerfung der ganzen, großdeutsch intentirten Adresse:
dies alles sind Momente, die dafür entschädigen, daß eine deutsche Kammer
wieder Tage lang das widerliche Schauspiel bot sich in Vorwänden zu er¬
schöpfen, um der nationalen Pflicht sich zu entziehen oder sie doch auf ein
niederstes Maß herunterzufeilschen. Die Absicht der Urheber schlug in das
Gegentheil um. Der gewaltige Anlauf des schwäbischen Particularismus
endete mit einem Rückzug, der noch vollständiger wird, wenn man sich noch
einmal jener Adresse vom September 1866 erinnert. Denn damals stand in
der Adresse wirklich der unverblümte Südbund, als eine parlamentarische
Institution, ganz ohne Feigenblatt, und diese Adresse war von einer über¬
wältigenden Mehrheit angenommen worden. Die Regierungspartei und die
Linke standen damals in geschlossenen Reihen gegen das kleine Häuflein der
nationalen. Heute wagt sich der Südbund nur noch in sehr verschämter
Weise hervor und selbst in dieser Gestalt ist ihm ein officieller Ausdruck von
derjenigen Körperschaft versagt worden, welche — von Schützenfesten abge¬
sehen — allein das traurige Privileg hat, solche Projecte überhaupt in ihre
Mitte gebracht zu sehen. Ein solches Schicksal spricht denn doch nicht dafür,
daß der Südbundgedanke seit zwei Jahren Fortschritte gemacht hat.
Die Intrigue aber, die hinter der Adresse lauerte, war vereitelt. Herr
von Varnbüler steht heute fester als je. Und die Kammer ist heute vertagt
worden, cjMgi rs bene Zestg.. Vor dem Spätjahr 1869 wird sie schwerlich
wieder einberufen werden.
''
Wer türlnsch^riechische Cotlstict.
Das Jahr schließt stürmisch im Wetter wie in der Politik: der kan-
diotische Aufstand droht, nachdem er eben im Verlöschen war, zum Ausgangs¬
punkt einer europäischen Verwickelung zu werden. Die Situation, aus welcher
derselbe hervorgegangen, ist im Anfang des verflossenen Jahres in diesen
Blättern ausführlich dargelegt (Die Lage im Orient, 1. Bd. S. 98. 156); was
ihr den ernsten Charakter gibt, ist, daß die beiden Parteien, die zunächst im
Spiele sind, bereits zu entschiedene Stellung genommen haben um noch mit
Ehren zurückzukommen.
Das Mährchen der Kreuzzeitung, wonach Graf Beust den ganzen Con¬
flict angezettelt, verdient keine ernsthafte Widerlegung; von allem Anderen
abgesehen sind Aali und Fuad Pascha keineswegs Leute, die sich von dem
Reichskanzler als Puppen brauchen lassen. Die Sache erklärt sich vielmehr
einfach so. Griechenland hatte während zweier Jahre im Widerspruch mit
allem Völkerrecht eine Jnsurrection auf dem Gebiet der Pforte offen unter¬
stützt und letztere hatte aus Rücksicht gegen die Schutzmächte unterlassen,
darauf durch scharfe Mittel zu erwidern. Ganz kürzlich nun, da der Aufstand
in Kandia fast zu Ende war, traten zwei bedeutsame Thatsachen ein. Es
wurde erstens in Griechenland eine neue Erpedition von Freiwilligen unter
Petrophoulakos ganz offen ausgerüstet; der zuverlässige Times-Correspondent
in Athen, M. Finlay, erzählt in seinem Briefe vom 10. December: „Ein
großes Corps dieser Abenteurer, die im Voraus bezahlt und auf öffentliche
Kosten ausgerüstet waren, aber Freiwillige genannt wurden, sammelte sich
in Athen. Petrophoulakos, welcher im letzten Jahre an der Spitze einer
Expedition nach Kreta stand, fuhr an dem Hause des ottomanischen Ge¬
sandten vorüber, umgeben von 150 seiner Freiwilligen in der neuen Uniform,
während vom Kutschbocke eine große Flagge geschwenkt ward." —
Die zweite Thatsache war, daß der griechische Pöbel die kandiotischen
Flüchtlinge wiederholt an der Rückkehr nach Kreta verhinderte. Diese Un¬
glücklichen hatten die Insel verlassen, weil sie dort zwischen Amboß und
Hammer gewesen; schlössen sie sich dem Aufstande an. so wurden sie dem¬
gemäß von den Türken behandelt, blieben sie ruhig, so wurden sie von den
Insurgenten als Vaterlandsverräther verfolgt: sie flüchteten deshalb auf den
Schiffen der Schutzmächte nach Griechenland, geriethen dort aber natürlich,
trotz der Unterstützung, welche sie erhielten, in großes Elend; es war sehr
begreiflich, daß sie wünschten in ihre Heimath zurückzukehren, sobald es dort
ruhiger geworden war. zumal auf Kandia die Olivenernte in diesem Herbst
besonders reich ausfiel. Aber dies paßte den griechischen Actionsmännern
nicht, denn damit wäre die Sache aus gewesen.
Auf Aegina z. B. wünschten mehre hundert kretische Familien heimzu¬
kehren und der türkische Gesandte, an den sie sich deshalb gewandt hatten,
stellte ihnen dafür einen Lloyddampfer zur Verfügung. Als dieser jedoch im
Hafen erschien, sammelte sich am Ufer eine zahlreiche Volksmenge, welche die
Landung der Schiffsmannschaft und die Einschiffung der Flüchtlinge hinderte.
Aber nicht nur das, sondern auch die Behörden der Insel weigerten sich, die
Landung der Schiffsofficiere und der türkischen Consulatsbeamten und den
Verkehr derselben mit den Kandioten zuzulassen. Der Dampfer mußte un-
verrichteter Dinge in den Piräus zurückkehren. Auf die Jnterpellation des
türkischen Gesandten über solche offne Complicität der Behörden mußte der
auswärtige Minister Herr Deliyanni die Unfähigkeit der Negierung einge¬
stehen, dem Willen der Nation Zügel anzulegen. Da hiezu nun eine große
Demonstration des athenischen Pöbels vor dem Hause des Gesandten kam,
so begreift sich leicht, daß der Pforte endlich die Geduld ausging, und sie
beschloß ein Ultimatum an Griechenland zu richten. Die Sprache desselben
ist allerdings-scharf und einige der angedrohten Maßregeln, wie z. B. die
Ausweisung aller hellenischen Unterthanen aus der Türkei, sind hart, aber einer¬
seits werden sie auf Vorstellung der Mächte gehindert werden und anderer¬
seits muß man zugeben, daß schwerlich die elementarsten Regeln des Völker¬
rechts rücksichtsloser bei Seite gesetzt worden sind, als von Griechenland in
diesem Falle. Den besten Beweis bietet die Note, durch welche das Ulti¬
matum beantwortet d. h. abgelehnt wird. In diesem merkwürdigen Acten¬
stücke sagt Herr Deliyanni, was die Flüchtlinge betrifft, erkläre sich die
Indignation des griechischen Volkes daraus, daß es in der Rückkehr derselben
nur das Ergebniß eines versteckten Druckes (aetioll oeoulte) von Seiten der
ottomanischen Agenten und Consuln gesehen und nicht habe annehmen
können, daß Leute, welche kamen um die Gastfreundschaft Griechenlands
in Anspruch zu nehmen, sich freiwillig entschließen könnten in ihr Land
zurückzukehren, wo der unglückliche Zustand fortwährend auf den Christen
drücke.
Dann gibt der Minister zu, daß die Freiwilligen von früheren, zur
Disposition gestellten Officieren der königlichen Armee geführt würden, sagt
aber: „die griechische Regierung hatte keine Gewalt, Civil- oder Militär¬
personen zu hindern als Private nach Kreta z-u gehen, um dort zu fechten,
sie kann nicht die Ausrüstung von Schiffen hindern, welche auf ihre eigne
Gefahr hin fahren."
Schwerlich ist Aehnliches von einer Regierung sonst schon ernsthaft vor¬
gebracht: danach würde das Völkerrecht jede Freibeuterei oder Piraterie
sanctioniren; Preußen dürfte sich nicht beklagen, wenn der Welfenkönig an
der mährischen Grenze ein Corps ausrüstete, Frankreich nicht, wenn die
Legitimisten sich in Coblenz zu einem Einfall sammelten. Im Gegentheil ist
die Ausrüstung von Freiwilligen und Schiffen zu Gunsten eines Feindes
oder Aufstandes stets als oasus delli behandelt worden, so lange man Völker¬
recht kennt; es war daher nicht zu verwundern, daß die Pforte nach dieser
Antwort die diplomatischen Beziehungen abbrach: es war das Einzige was
ihr übrig blieb. Andrerseits scheint die Aufregung in Athen auf einen
Punkt gestiegen, daß Nachgeben keinem Ministerium möglich war und wohl
den Sturz der Dynastie nach sich gezogen hätte.
Es fragt sich nur worauf die Griechen rechnen, indem sie die Miliz
mobilisiren, die Häfen befestigen und die Feindseligkeiten zu eröffnen ver¬
langen. Schwerlich können sie sich doch darüber täuschen, daß sie, sich selbst
überlassen, den Türken nicht lange Widerstand leisten können: ihre reguläre
Armee ist unbedeutend und unerprobt und wenn sie hoffen, daß die Rajah
im Gebiet der Pforte sich für sie erheben werde, so steht ihnen eine gründ¬
liche Enttäuschung bevor; haben doch alle Actionscomitcs sich seit zwei Jahren
vergeblich bemüht, in Thessalien und Epirus einen Aufstand hervorzurufen:
die Thessalioten kennen von 1854 her die Segnungen eines griechischen Ein¬
falles und sandten eine Deputation nach Constantinopel um sich Schutz zu
erbitten. Es bleibt also als Stütze nur Rußland oder die Hoffnung eines
allgemeinen europäischen Conflicts. Nun ist es allerdings eine sehr schwierige
Sache für Rußland, einer Niederlage seines erklärten Schützlings passiv zu¬
zusehen, weil seine orientalische Zukunftspolitik einen empfindlichen Schlag
erleiden würde, wenn die orthodoxe Welt seine Ohnmacht erkennt dein
Glaubensgenossen gegen den Halbmond zu helfen. Und doch ist Rußland
nicht in der Lage activ zu interveniren, wenn es nicht entschlossen ist, die
Sache auf einen allgemeinen Krieg ankommen zu lassen.
Alle Anzeichen deuten darauf, daß England, Frankreich und Oestreich,
die 1856 den Sonderbund des Mißtrauens schlössen, durch den jeder Angriff
auf die Integrität der Pforte als Kriegsfall hingestellt ward, auch jetzt im
Orient zusammengehen. Was Frankreich und Oestreich betrifft, so datirt
ihre gemeinsame östliche Politik von der salzburger Zusammenkunft, wo
G. Beust jede Action gegen Deutschland ablehnen zu müssen glaubte, weil
Oestreich dazu nicht fähig sei, aber auf den Orient und Rußlands Propaganda
hinwies, welche den Bestand des Kaiserstaats in Frage stelle. Von da an
erhielt bei Napoleon, dessen Bemühungen Rußland gegen Preußen zu ge¬
winnen so ganz fruchtlos geblieben waren, die frühere türkenfreundliche
Richtung wieder das Uebergewicht und es ist keineswegs zufällig oder ohne
Bedeutung, daß in dem Augenblick, wo die Dinge in der Levante eine acute
Wendung zu nehmen scheinen, der Marquis de Lavalette in Paris an
Moustier's Stelle tritt. Letzterer kennt zwar die orientalischen Dinge auch
genau und stand für sich immer auf Seiten der Pforte, aber er war ver¬
braucht und hatte sich durch sein zu entzündbares Herz in Paris in ähnliche
unangenehme persönliche Beziehungen verstricken lassen wie es in Berlin und
Wien der Fall gewesen, sein Abgang stand daher schon seit einiger Zeit sest
Aber die Wahl des Nachfolgers ist bezeichnend. Man sagt wohl, die
Minister bedeuteten unter dem persönlichen Regiment Nichts; aber dies ist
nur insofern wahr, als sie nicht in Folge von parlamentarischen Niederlagen
wechseln, sondern nach Gutdünken des Kaisers. Der Wechsel selbst erfolgt
doch jedesmal mit genauer Berücksichtigung der Persönlichkeiten. Nach der
Niederlage der französischen Politik von 1866 war für die Zeit der Sammlung
und Vorbereitung eine neutrale Persönlichkeit im auswärtigen Amte geboten.
Diese fand sich in Moustier, der bei seiner clericalen Richtung durch die
Wendung, welche die römische Frage im Herbst 1867 nahm, sich neu befestigte
und seinen Collegen Lavalette, welcher um sein Portefeuille warb, zum
Weichen zwang. Jetzt tritt dieser an seine Stelle und man wird wohl thun,
sich zu erinnern, welche prononcirte Rolle Lord Stratford im Anfang
der orientalischen Wirren 1832 als Botschafter in Constantinopel spielte.
Es klingt kaum sehr beruhigend, wenn das Blatt, welches für am meisten
inspirirt über die auswärtige Politik gelten darf, die France, Lavalette's Aus¬
gabe dahin präcisirt, nicht ausschließlich die Fortdauer des Friedens zu
sichern, sondern auch die Bedingungen zu einem dauernden und festen Frieden
zu schaffen. Worte von einer verdächtigen Elasticität.
Mit diesem Ministerwechsel trifft der in Downing Street zusammen.
Daß Lord Clarendon nicht gesonnen ist, die viel gepriesene und wenig bewährte
Stanley'sche Politik der Nichtintervention um jeden Preis einfach fortzusetzen,
beweist schon der ganz geänderte Ton der Regierungspresse, die zwar gegen
einen zweiten Krimkrieg protestirt, aber eben so nachdrücklich erklärt, daß
die Flotten der Westmächte Rußland nicht gestatten würden, zu Gunsten
Griechenlands zu interveniren. Lord Stanley hat seinem Nachfolger ein
böses Vermächtniß durch seine Rede in Kings Lynn hinterlassen, welche in
seiner Stellung als Wink für die Feinde der Pforte ausgelegt werden mußte,
daß England einem Angriff auf dieselbe ruhig zusehen würde. Lord Clarendon
wird diese Erbschaft, trotzdem Bright jetzt sein College ist, eum denööeio
inventarii antreten und sich erinnern, daß für den Orient die französische
Allianz sich als die sicherste Stütze der englischen Politik bewährt hat; grade
auf diesem Gebiet dürften die persönlichen Beziehungen wichtig werden, welche
er mit Napoleon hat und die vom Krimkrieg datiren.
Keiner Großmacht konnte diese Verwickelung ungelegener kommen
als Preußen: es hat kein directes Interesse bei derselben und ist doch ge¬
zwungen eine Stellung zu der Frage zu nehmen. Dann aber kommt das
berliner Cabinet in Gefahr, es mit einem der beiden einzigen Bundesgenossen,
auf die es gegen Frankreich rechnen kann, zu verderben, nämlich mit England
oder Rußland. Läßt sich die Krisis nicht beschwören, so wird man in Peters¬
burg verlangen, daß Preußen sich erkenntlich zeige für Dienste, welche ihm
Rußland seit 1864 geleistet; nimmt es aber Rußlands Partei, so verfeindet
es sich ziemlich sicher mit England. Man darf daher annehmen, daß vor¬
läufig Mre Regierung ernstlicher bestrebt ist den Conflict zu beseitigen, als die
preußische, und ihrem Einfluß wird auch wohl die correcte Haltung zuzuschreiben
sein, welche das neue rumänische Ministerium beobachtet. Sollte die orientali¬
sche Frage aber nicht sofort beseitigt werden, dann würde sie für Preußen
eine andere Bedeutung erhalten, und zwar die einer Brücke, auf welcher das
Cabinet sich vorsichtig von Osten nach Westen bewegt, um das lästige und
zuweilen bereits demüthigende Zusammenwirken mit Rußland gegen ein auf¬
richtiges EinVerständniß mit den Westmächten zu vertauschen — sobald
nämlich die Stimmung in Frankreich ein solches erlaubt. Zu solchem Wechsel
aber wird eine starke Steigerung des Conflictes nöthig.
Zunächst bleibt es fraglich, ob eine Conserenz noch möglich ist. Schwer¬
lich kann eine Basis der Verhandlung gefunden werden, welche Griechenland
und die Pforte anzunehmen geneigt wären.
Mit Berryer ist der bedeutendste Redner Frankreichs seit Mirabeau zu
Grabe gegangen; aber er war mehr als das: er war ein Charakter, der un¬
erschütterlich im allgemeinen Wechsel seinen Ueberzeugungen treu blieb, er war
von Anfang an und bewährte sich bis zu seinem Ende als liberaler Legitimist.
Ein solcher Mann war unter dem Geschlecht, dessen Mehrzahl nur nach dem
Winde ausschaut um seinen Mantel danach zu hängen, namentlich in Frank,
reich eine seltene Erscheinung und verdient, daß man einen kurzen Blick auf
sein Leben werfe.
Peter Anton Berryer war 1790 als ältester Sohn eines ausgezeichneten
Advocaten, dessen Familie von deutschem Ursprung sein soll, geboren. Im
Collöge von Juilly erzogen, zeichnete er sich während seiner Studien wenig
aus; erst die Liebe weckte seinen Ehrgeiz, als er 21 Jahr alt ein IKjähriges
Mädchen, Frl. Gauthter, heirathete; er warf sich nun mit Eifer in die Lauf¬
bahn des Parquets und gewann bald einen bedeutenden Ruf. Anfangs Be-
wunderer Napoleons, wandte er sich bald den legitimistischen Ansichten seines
Vaters zu und stellte sich schon 1813 an die Spitze der königlich Gesinnten
zu Rennes; er gehörte zu den Freiwilligen der hundert Tage, mit denen er
nach Gent ging. Aber er blieb dabei liberal und bot sein ganzes Talent
auf um die ultraroyalistische Reaction zu bekämpfen, die sich bald nach der
Restauration so verderblich erhob; speciell blieb er, obwohl streng katholisch,
doch stets ein entschiedener Gegner der ultramontanen Partei. Zunächst
widmete er sich der Vertheidigung der vor die HZairskammer geladenen Ge'
nerale: es gelang ihm nicht Ney vom Tode zu retten, dagegen verdankten
Cambronne und Jebelle ihr Leben wesentlich seiner Beredtsamkeit. „Es ist
eine Schmach für die Sieger" sagte er, „die Verwundeten auf dem Schlacht¬
feld aufsammeln zu lassen, um sie aufs Schaffst zu schleppen." Berryer war
der entschiedenste Gegner der Julirevolution. Er verkannte nicht die großen
Fehler der Royalisten und hatte persönlich wenig Anhänglichkeit an die Bour-
bonen, aber er war durchdrungen von dem ungeheuren Fehler eines neuen
Bruches mit der kaum begründeten Ordnung der Dinge; nur deshalb, aus
rein politischen Motiven, ward er der gefährlichste Widersacher Louis Philippe's.
Er trat jetzt in die Kammer ein und machte sich dort als Redner bald eben¬
so gefürchtet, wie er es in den Gerichtshöfen gewesen war. Nach seiner
ersten Rede bemerkte Guizot gegen Royer-Collard: Voild. un Zrsmä talent!
worauf Letzterer antwortete: L'est roe Misstmeö, Berryer vertheidigte nicht
die Regierung der Restauration und bekämpfte aufs äußerste im Kreise seiner
Partei den thörichten Aufstandsversuch der Herzogin von Berry in der Ver-
de'e, aber er griff die Julimonarchie aus ihrem eigenen Terrain an. Als
Casimir Pe'rier nach einem Jnsurrectionsversuch einen beredten Appell für die
Aufrechthaltung der Ordnung an die Kammer richtete, erwiederte Berryer:
„Ordnung? Sie selbst haben ihre'Grundlagen zerstört; das Princip, das Sie
aufgestellt haben, lastet aus Ihnen und Sie müssen seine Consequenzen tra¬
gen!" Der Pairskammer rief er bei der Vertheidigung Louis Napoleon's
zu: „Wer ein sittliches Gesetz verletzt hat, muß darauf gefaßt sein, daß es
auch gegen ihn gebrochen wird", und als Guizot ihm einmal heftig vorwarf,
daß er mit der revolutionären Demokratie Opposition gegen die Regierung
mache, rief Berryer ihm das schneidende Wort zu: II 7 a uns okose Ms
väiLULe <zue le e^nisiNL r6volutiolms.ir<z, e'est le e^ahme ac 1'irxoLtÄsio!
Berryer war wohl unbestritten der bedeutendste Redner der damaligen
Kammer, eine höchst angenehme äußere Erscheinung, ein edler ausdrucks¬
voller Kopf, ein herrliches Organ nahmen sofort für ihn ein; aber er war
auch Meister der oratorischen Kunst, er überließ sich keineswegs rhapsodischen
Eingebungen, sondern verfuhr bei aller Leidenschaft der Diction durchaus
methodisch und verstand vor Allem die Taktik der Opposition: er wußte zu
interpelliren, zu fragen, die Minister in Widerspruch mit sich selbst und in
Verlegenheit zu setzen, so daß Niemand so gefürchtet war wie er; ein gewaltiges
Gedächtniß kam ihm dabei zu Hilfe. Charles de Mazade meint. Berryer sei
die Personifikation der Macht menschlicher Rede gewesen. Als den ge-
fürchtetsten Gegner der Julimonarchie bat Louis Napoleon ihn, seine Ver¬
theidigung zu übernehmen, und Berryer that dies aus Sympathie mit dem
Unglück des Prinzen; derselbe gab damals in der Pairskammer als sein
Programm: „Ich vertheidige eine Sache, die des Kaiserreichs,, ein Princip,
die Souveränetät des Volkes, eine Niederlage, Waterloo." Die „Nieder¬
lage" soll ihm Berryer auf Anrathen eines englischen Journalisten sousflirt
haben. —
Es ist begreiflich, daß Berryer Louis Philippe gerne fallen sah: er mochte
wie viele Legitimisten hoffen, daß die Republik nur den Uebergang zur Mo¬
narchie bilden werde, aber er gab diese Hoffnung bald aus und gehörte in
der Nationalversammlung zu dem Club der Kue as ?viel6r8, der die Re¬
publik beseitigen wollte und doch Louis Napoleon mißtraute. Er protestirte
aufs entschiedenste gegen den Staatsstreich und weigerte sich, als er bald da¬
rauf zum Mitglied der Akademie gewählt ward, den üblichen Besuch in den
Tuilerien zu machen, er ignorirte seinen früheren Clienten vollständig. 1852
ward er zum Vorstand (lMonmLr) der pariser Advocaten gewählt. 1863
trat er ins Lorps le'Mlatit. wo er der Regierung bald sehr unangenehm ward;
doch war seine Opposition weit gemäßigter als früher in der Julikammer.
Einen bedeutenden Einfluß übte er in der bedeutsamen Sitzung vom 6. Dec.
v. I.; er war es der Rouher so in die Enge trieb, daß derselbe zuletzt rief:
Sinais 1'ItÄliL vo L'emxarm'g, cle Roms! — Sein letzter Act war, einen Bei¬
trag zur Baudinfammlung zu schicken.
Berryer hatte eine weitherzige Natur, er war ein starker Lebemann,
hatte aber auch eine offene Hand für alle Freunde und von den großen
Summen^ die er als Advocat erwarb, wußte er doch kein Vermögen zu sam¬
meln: 183S mußte er sein Gut Angerville verkaufen, seine Partei kaufte es
im folgenden Jahre für ihn zurück und dort ist er gestorben. Er war im
vollsten Sinne ein unabhängiger Mann, nicht einmal die Ehrenlegion wollte
er annehmen; mit ihm hat die legitimistische Partei ihre letzte Stütze verloren,
und mit Recht beschloß der Advocatenstand von Paris in seiner Gesammtheit
an der Begräbnißseierlichkeit theilzunehmen, denn Berryer war sein größtes
Mitglied.
Ueber die Stellung und Aufgabe der Nationaldemokratie in Württemberg. Von
C. A. Fetzer. Stuttgart, Metzler. 1868.
In einer Zeit, da sich die schwäbische Demokratie abermals zu einer Haupt¬
schlacht wider das neue Deutschland anschickt, mag man gerne eine Schrift aus
demselben Lager zur Hand nehmen, die beweist, daß auch noch eine echte Demokratie
existnt, welche die Bundesgenossenschaft von Ultramontanen und Legitimisten ver¬
schmäht und die nationale Idee nicht aus ihrem Programm gestrichen hat. Der
Verfasser (der auch als Dichter sich bemerklich gemacht hat) war 1848 Mitglied der
frankfurter Linken und gehörte viele Jahre der Opposition im württembergischen
Ständesaale an. Er nennt sich selbst einen in der Wolle gefärbten Demokraten,
er ist stolz auf das alte konstitutionelle Leben seiner Heimath, die Reichsverfassung
von 1849 gilt ihm noch heut als das Recht der Nation und er kann es nicht ver¬
gessen, wie sehr Graf Bismarck im Jahre 1866 das Rechtsgefühl verletzt hat. Man
sieht wie es dem Verfasser keinen leichten Kampf gekostet hat, seine alten demokra¬
tischen Grundsätze zu vereinigen mit der Einsicht in die Nothwendigkeit der Dinge
von 1866. Aber nachdem er sich zu dieser Ueberzeugung einmal durchgerungen, be¬
kennt er sich auch offen zu ihr und weiß sie nach allen Seiten trefflich zu begründen.
Er weist nach, was im Sinne der alten Forderungen der Freiheits- und Einheits¬
partei durch das Jahr 1866 gewonnen ist, wie die Vertheidigungsfähigkeit Deutsch¬
lands gegen Frankreich gestärkt, Oestreich nicht mehr, als zuvor, von Deutschland
losgelöst, selbst der Süden enger, als bisher, mit dem Norden verbunden ist. Scho¬
nungslos werden die Phrasen des süddeutschen Particularismus gegeißelt und gezeigt,
daß hinter ihnen die Absicht lauert, Süddeutschland an die Schweiz oder gar an
ein republikanisches Frankreich anzulehnen. Die württembergische Freiheit und der
Militarismus des Nordens werden in wirksame Parallele gestellt und ganz beson¬
ders giebt der Verfasser dem sittlichen Ekel des überzeugungstreuen Demokraten
Ausdruck über das Jammergeschrei jener anderen Demokraten bei der Depossedirung
einiger Kleinfürsten und über ihre Judasumarmungen mit Depossedirten und Ultra¬
montanen. Der Schluß ist, daß die nationale Demokratie sich nicht ablehnend ver¬
halten dürfe zu dem Programm, welches „dem deutschen Volke die Möglichkeit eröff¬
net zu seiner Einheit und Freiheit zu gelangen." Das Ziel dürfe allerdings nicht
der centralisirte Einheitsstaat sein, sondern eine föderative Verbindung, nicht Annexion,
sondern bundesstaatliche Verfassung.
Was Fetzer im Eingang über Land und Volk Württembergs und über dessen
frühere politische Entwicklung sagt, möchten wir, wenn er doch einmal den Anlauf
dazu nahm, gerne weiter ausgeführt lese». Vielleicht hätte er bei näherem Eingehen
gesunden, daß für die Animosität der Schwaben gegen Preußen der Graf Bismarck
doch nur in bescheidenem Maße verantwortlich gemacht werden kann. Man weiß
aus Pfizer's Briefwechsel zweier Deutschen, daß schon zu Anfang der 30er Jahre
in Schwaben genau nicht nur dieselben Vorurtheile, sondern auch dieselben Schlag¬
worte gegen Preußen im Schwang waren, deren sich noch heute die particularistische
Presse des Landes bedient. Die Sache muß also doch wohl tiefer liegen. Und in
dem stürmischen Eifer, welchen im April 1849 die Württemberger für die Reichs¬
verfassung von 1849 nebst preußischer Spitze entwickelten, und der fast bis zur Re¬
volution gegen den widerstehenden König Wilhelm führte, darf man wohl am
wenigsten einen Gegenbeweis sehen. Denn sicher war diese einmüthige Agitation
unmöglich, wenn in jenem Augenblick die Reichsverfassung noch möglich gewesen wäre.
Mit Ä^r. t beginnt diese Zeitschrift ein neues Quartal,
welches durch alle Buchhandlungen und «Postämter zu be¬
ziehen ist.
Leipzig, im December 1868.Die Verlagshandlung»
Der folgende Bericht über die akademischen Zustände Leipzigs ist den
ungedruckten Aufzeichnungen entnommen, welche der Esthländer Eugen von
Rosen (geb. 17S9) für seine Nachkommen hinterlassen hat. In einer Reihe
kleiner Bilder werden hier von einem glaubwürdigen Manne Zustände ge¬
schildert, welche dem jetzt lebenden Geschlecht zuweilen vertraut, oft fremd¬
artig erscheinen müssen. Immer wird man daran erinnert, daß zwar die
wissenschaftliche Tüchtigkeit der Universitätslehrer und die gelehrte Vorbildung
der Studenten in ihrem mittleren Durchschnitt seit dem letzten Jahrhundert
sehr zugenommen haben, daß aber im vorigen Jahrhundert dennoch die
Culturbedeutung und die politische Autorität der Universitäten im Verhältniß
zur Gegenwart viel größer waren und daß der Student damals mehr vor¬
stellte. Auch dafür erscheint uns die folgende Mittheilung besonders charak¬
teristisch und lehrreich.
Eugen von Rosen reiste im Herbst 1780, einundzwanzig Jahre alt,
aus seiner fernen Heimath über Berlin nach Leipzig, und erzählt Folgendes:
„Auf der Reise nach Leipzig machte ich von Berlin eine Ercursion nach
Potsdam, um Friedrich den Greis noch zu sehen — ich gelangte aber nicht
zu diesem hohen Genuß, denn er war bettlägerig. — Vor dem Thore ward
ich so weitläuftig vom wachhabenden Capitän ausgefragt, daß irNr zuletzt
alle Geduld verging. Nachdem ich von meiner werthen Person, meiner
Reise und meinen Absichten, Letzteres widerstrebend, ausgesagt hatte, indem
Alles wiedergeschrieben wurde, sagte der Capitän: „vergeben Sie diese Ge¬
nauigkeit, der König verlangt sie und ich bin verantwortlich" — also wieder
gefragt, ob ich lange in Leipzig bleiben würde? „Das weiß ich selbst noch
nicht." Ob ich noch eine andere Universität besuchen würde als Leipzig? „Das
kann ich auch nicht voraussagen." Was ich studiren würde? „Das werde
ich erst nach einem halben Jahre mich selbst fragen." — Wieder eine Er¬
mahnung , daß alles aus königlichen Befehl geschähe. Was ich also studiren
würde? „Schreiben Sie Cometographie" sagte ich ihm, und der Fragende
machte ärgerlich die Schreibetafel zu und ließ mich fahren. Zu Mittag
während des Essens trat ein junger Militär in den Gasthof, fragte nach
meinem Namen und sagte, er sei Adjutant des Königs, der mich fragen
ließe, ob ich ein Verwandter von einem Baron Rosen sei, der Commandant in
Danzig gewesen wäre? — Ich sagte „ja." Mir war nicht ganz wohl zu
Muthe, weil ich glaubte der König könne mich vor sich kommen lassen und
mir die Cometographie vorrücken. Es unterblieb aber glücklicherweise und
den andern Morgen gingen wir auf die Wachparade, wo der damalige
Kronprinz, der starke Friedrich Wilhelm, zugegen war und der 84jährige
Husarengeneral Ziethen noch in voller Uniform sich mit ihm unterhielt.
Kurz vorher hatte dieser graue Held taufen lassen.
Von Potsdam fuhr ich gerade nach Leipzig — es ging durch Tag und
Nacht und ich erinnere mich nur, daß ich auf einem offenem Postwagen durch
einen Wald fahrend einschlief und vom Postillon gewarnt wurde meinen
Kopf in Acht zu nehmen, der einem Reisenden auf diese Weise schon ab¬
gefahren worden. Dieses wirkte nicht wenig auf meine Wachsamkeit, Ich
stieg in Leipzig im Hotel de Baviere ab; nach einigen Tagen miethete ich
mir in der Petri-Straße eine Wohnung,
Mehr als zwei Monate mußte ich auf den Anfang der Herbst-Collegia
warten — während dieser Zeit nahm ich Stunden im Französischen beim
Sprachmeister Pasterre, auch etwas italienische Stunden; ich machte Ueber¬
setzungen und Tabellen und Bekanntschaft mit einigen studirenden Lands¬
leuten, und wandte mich an Professor Clodius, der in frühern Zeiten ein
ziemlich munterer Kopf gewesen war.
Clodius hatte eine liebenswürdige nicht mehr junge Gemahlin, Julie
Clodius, und einen guten fähigen 6jährigen Sohn, Gustel genannt. — An
seinem Tische hatten vor mir mehrere Livländer gegessen, auch bei ihm ge¬
wohnt — ich bezahlte für Mittagtisch 20, für Abendtisch 10 Thaler monatlich,
für Quartier 15 Thaler. Außerdem war Dr. Seeger, ein gelehrter seiner
Mann, Unser Tischgenosse, so wie ein Herr v. Rothenburg. dessen Vater in
Danzig zweimal das große Loos in der'Hamburger Lotterie gewonnen hatte.
Die Gastfreiheit wohnte in diesem Hause und die frohe Unterhaltung ersetzte
den bisweiligen Mangel an der Tafel. Die Speisen waren leicht und-wohl»
feil, so wie der Wein. Meine liebste Nahrung war Semmel und die kernigte
Butter; Früchte gab es im Sommer und Herbst die Fülle. Die von den
weiten Feldern um Leipzig eingefangenen Lerchen gaben fette aber sehr
kleine Braten. In einer Schachtel wurden zu 15—60 bis nach Italien an
hölzernen Spießen verschickt. Ich fühlte eine besondere Achtung und Neigung
für Dr. Seeger, einen Schüler des durch Staatsschriften berühmten Mascow.
Seeger hielt mehrere Vorlesungen, war Assessor im Reichshosrathe, ein Freund
der Studenten und doch dabei ein seiner Weltmann, der den Damen die
artigsten Sachen sagte. Seine Unterhaltung belustigte Alt und Jung, er
wußte sich nach der Beschaffenheit seiner Gesellschaft zu erheben und herab¬
zulassen, und ob er gleich nicht mehr jung und von den Blattern sehr be¬
zeichnet war, so hörten und sahen die jungen Damen ihn recht gerne —
und die ältern fanden sich durch ihn besonders geschmeichelt. Die säch-
sischen Minister und Fremde vom Range suchten seine Meinung in häus¬
lichen Gesellschaften half er Sprichwörter und Spiele ausführen, in welchen
er sich bis zu der Verkleidung in ein Frauenzimmer herabließ. Er war
es der mich mit den Lehrern bekannt machte, die ich zu hören hatte. Ich
konnte ihn selbst erst spät benutzen, weil es mir an allen Vorkenntnissen fehlte,
aber in meinem letzten Jahre hörte ich bei ihm den Proceß und arbeitete
im Nelatorium als Privatissimum bei ihm.
Mein erster Professor war Clodius — ich hörte seine Vorlesungen über
den Cicero und den Horaz. Sein Vortrag war lebhaft mit Laune und An¬
spielungen auf die deutschen Dichter verwebt, der Schluß war eine seiner
eigenen Uebersetzungen aus den horazischen Oden, welche er sehr vortheilhaft
declamirte. Wenn gleich als Dichter nicht von besonderem Rufe, wußte er
seinen römischen Abgott mit so viel Enthusiasmus und Ausdruck zu erheben,
daß ich oft mit Bewunderung und Hochgefühl ihm meine Verehrung
zollte. — Elodius war ein armer aber gastfreier Mann und ermangelte nicht,
Durchreisende von Stande und auswärtige Gelehrte, die ihn besuchten, bei
sich einzuladen. Eines Tages bat er einen durchreisenden Chevalier aus
Frankreich zu sich, der sehr viel von seinem Vaterlande sprach. Als Clodius,
der sich auf seine Musenstadt auch etwas zu Gute that, fragte, wie ihm denn
^'pz'g gefiele, antwortete dieser Chevalier ganz gleichgiltig: „mais e'LSt un
I>ot.it trou g,8L<Z2 Miculo," Die französische Hintenansetzung einer der be¬
kanntesten Städte Deutschlands zeigt den Charakter dieser von sich und ihrem
Lande eingenommenen Nation und ist mit ihrer Artigkeit im Widerspruch
— so war der gute Clodius für seine Gastfreundschaft übel belohnt und
verstummte wie geschlagen.
Ich repetirte, schrieb juristische Collegia wegen des darnach eingerichteten
Vortrags nach, bereitete mich vor und galt für einen fleißigen Studenten. —
Einige Erholung und die Stärkung meines schwächlichen Körpers verschaffte
mir die Feast- und Reitschule.
Gleich in den ersten Tagen meiner neuen Lebensart fügte ich mich in
das Studentenverhalten; mein ältliches Gesicht und meine Führung ließ mich
für einen etwa von Göttingen herüber gekommenen Studenten passiren. —
Im 21. Jahre seines Alters, wenn man eine gute Erziehung genossen, wenn
man Se. Petersburg gesehen und Menschen von mehreren Ständen kennen
gelernt hat, kennt man keine Verlegenheit unter jungen Leuten, mit denen
man durch ein gemeinsames Interesse verbrüdert wird, das keinen Neid er¬
weckt. Ich war ein guter Compagnon und in verschiedenen Gesellschaften
gerne gesehen. Viele, die einige Jahre jünger als ich und mit der Erscheinung
ihres Bartes noch im Streite lagen, konnten ihre Blödigkeit nicht bergen
und wären auf anderen Universitäten für ausgemachte Füchse erklärt worden,
bis sie sich ein oder mehrmal duellirt hätten.
Ueberhaupt war in Leipzig der Studententon feiner und unverdorbener,
denn diese Stadt ist nicht blos Musensitz. — Ihre Lage als Handelsstadt,
die Nähe von Dresden, der Besuch der Fremden, die Durchreise der Großen
und die sehr anständig dort lebende französische Colonie haben diese kleine
Stadt zu einer der cultivirtesten in Deutschland erhoben. Der beträchtliche
in ganz Europa bekannte Buchhandel, die Bibliothek, die Menge der Anti¬
quare, die vortrefflichen dresdner Schauspieler, unter welchen ein Reineke
und Opitz wenig ähnliche Nachfolger haben werden, gaben Leipzig einen
Werth auch für den Gelehrten, Künstler und gebildeten Menschen.
Alle diese Vortheile mußten auch auf den Studenten wirken und dieser
Stadt einen Vorzug zugestehen vor anderen Universitäten, unter welchen einige
nur in Dörfern, Kegelbahnen und Wirthshäusern Erholung zuließen.
In drei Jahren lernt man eine Menschenclasse, besonders das Studenten¬
wesen kennen; für Diejenigen, die keine Universität besucht haben, finde ich es
hier nicht ungelegen, meine Idee vom Studenten zu sagen. —
Dieser ist eine eigene unverkennbar von sich eingenommene Person. —
Seine Verhältnisse berechtigen ihn, sich in seinem Werthe zu fühlen, und er
dünkt sich glücklicher als ein Staatsmann und Excellenz, weil er auf dem
Wege ist, Beide dereinst einholen zu können. Die Idee selner Unabhängigkeit,
die Freiheit sich seine Lehrer und seine Studien zu wählen, nur sich selbst
hierüber Rechenschaft schuldig zu sein, verbunden mit der übereinstimmenden
Gesinnung seiner Cameraden, gibt ihm ein eigenes Wohlgefühl. In den
schönsten und kräftigsten Jahren seines Lebens, wo sein Kopf so viel Aus¬
gesuchtes auffassen kann, ist er sich seines Glückes, seines Gewinnstes bewußt
und bringt einen freimüthigen Stolz zu Tage, der, so lange er die Sittlich¬
keit nicht beleidigt, auch verzeihlich wird. Man gönnt ihm die kleine Figu-
ration und seine Paraden, man weiß, daß sie nicht bleibend sind und -daß
bei Anstellungen und Berufspflichten sich auch der Studentennacken beugen
und daß er sich seines ehemaligen Großthuns sehr bescheiden erinnern muß.
— Auffallend ist, daß zu jetziger Zeit — ich schreibe 40 Jahre später — die
Studenten eine ganz neue Form angenommen haben. Das Militärische und
Ritterliche hat einem anderen Ideal den Vorrang zugestanden. Die neuen
Regierungssysteme, die neue Philosophie, der Befreiungskrieg, ein allgemeines
Volksgefühl machen aus dem ehemaligen braven Burschen, aus dem Renom¬
misten einen Nationalisirten, einen Weltbürger, einen Citoyen, einen deutschen
Bauern, einen Demokraten. Ein Jeder glaubt das Vaterland retten zu müs¬
sen, und anstatt daß der ehemalige Student brav für seine Person, für seine
Landsmannschaft war und deshalb einen guten Hieber, lange Sporen und
Kasket trug, hat er nunmehr einen weiten altmodischen Rock, herunterhängen¬
des oft unausgekämmtes Haar, eine schlaffe Mütze und einen Wanderstab.
Es ist leider in den Jahren der Studentenfreiheit nicht selten, daß junge
Männer, durch Beispiel und Leidenschaft hingerissen, sich von den Besseren abson¬
dern und dem Laster und der Schwelgerei ergeben. Dennoch war in den
drei Jahren von 1780—82, wo Leipzig zwischen 1600 und 1700 Studenten
zählte, kein einziger recht schlechter Mensch zu bemerken, aber viele brave,
gute und schöne Leute.
Zu meiner Zeit bestand unsere Landsmannschaft aus etwa dreißig Liv-,
Esth- und Kurländern. Die Meisten von uns studirten Rechtswissenschaft,
Wir hielten zusammen, doch ohne großes Aufsehen zu erregen, bis Graf
Siepers sich einfand, der als russischer Gardelieutenant die Universität besuchte,
um sich von einem angeknüpften Ehebündniß los zu machen, und sich deshalb
ein Jahr in Leipzig und ebenso lange in Dresden und Berlin aufhielt. Dieser
war locker und schwelgte gern. Er zog Manche in seine Banquets, und
da er mich einmal fast gewaltsam nöthigen wollte, ein Punsch- und Sauf-
gelag gegen Mitternacht zu geben, und ich ihm sehr bestimmt und fest er¬
klärte, daß ich mich nicht zwingen ließe, forderte er mich aus und wir schlu¬
gen uns den andern Morgen in Apels Garten im Duell. — Wir hieben uns
lange ohne Erfolg, bis ich ihm einen Hieb auf seinen großen Hut versetzte
und er mich in den Finger hieb, sodaß die Secundärem die Affaire be¬
endigten.
Dieser Graf Carl Siepers, Majoratsherr der Lagena'schen Güter, war in
Se. Petersburg erzogen. Der Ort und seine Wohlhabenheit hatten seinen guten
Anlagen keine gute Richtung gegeben. — Eine Aetrice, Madame Spengler,
fesselte ihn in Leipzig und raubte ihm seine Zeit und sein Geld. Er hatte
Sprach-, Musik- und Zeichen-Lehrer, bei denen er nur die ersten Stunden
arbeitete, sie aber alle dejouriren ließ bis der Monat um war. Als Stu¬
dent nahm er blos privatissima, die er kaum eine Woche besuchte; alsdann
ließ er einen andern armen Studenten für sich hingehen, welches der stolze
Platner nicht wenig übel nahm. Uebrigens lebte er gesellig und gut, gab
Concerte, indem er nicht übel Clarinette und Violine spielte, und suchte sich
auf mannigfaltige Weise zu zerstreuen. Er war es, der uns zuerst zu einer
Landsmannschaft verleitete; wir hatten Zusammenkünfte gemeiniglich bei der
Punschschale oder in der Maurerversammlung, in welcher er zu Se. Peters-
bürg sich bis zum 7, Grade in die Höhe gearbeitet oder vielmehr einge¬
kauft hatte.
Unsere von ihm gestiftete Uniform war scharlachroth mit grünsammt-
nem Kragen und großen blanken Stahlknöpfen — darin wurde Sonntags ge¬
gangen, gefahren und geritten und so die Aufmerksamkeit der Stadt erregt.
Der Prorector machte ihm Vorstellungen hierüber, aber er wußte sich damit
auszureden, daß der Zufall einer übereinstimmenden Liebhaberei zu einer
Farbe nicht für eine intentirte Auszeichnung anzunehmen wäre. Man konnte
uns nicht so recht beikommen, so lange Siepers als Senior seinen rothen Rock
in Schutz nahm, bis es dem erwähnten Professor Platner gelang uns auf
eine ganz eigene Weise von dieser Kleidung abzubringen. Er berief uns
einstmals zu einer außerordentlichen Vorlesung. Wir trafen in seinem schö¬
nen mit Büsten und Kunstsachen decorirten Hörsaal ein; wir wunderten uns
darüber, daß nur wir Landsleute die Gesellschaft ausmachten, noch mehr aber,
als er uns in seiner beredten und anziehenden Sprache einen Vortrag über
die Dankbarkeit hielt, und damit schloß, daß es unsern Gesinnungen eine
außerordentliche Ehre machen würde, wenn wir arme Studenten mit unsern
rothen Röcken beschenken würden. — Seine Zuhörer und Bewunderer, Siepers
an der Spitze, willigten ein; ein Pedell kam den andern Morgen und die
Meisten gaben ihre rothen Röcke den Armen. So wußte Platner uns das
Ansehen zu lassen, freiwillig eine Wohlthat geübt, einer Forderung nicht nach¬
gegeben zu haben, die doch in der guten Ordnung gegründet war.
Uebrigens war Platner ein Melanchthon im Aeußern, ein Plato im Re¬
den und sein Hörsaal ein festlicher Philosophentempel, in welchem er wegen
seiner Beredtsamkeit von durchreisenden Vornehmen und Fremden sehr besucht
wurde. Besonders fand seine Moral mit ihrer Glückseligkeitslehre damals
vielen Beifall. Den Stolz in jedem Stande stellte er sehr treffend und bil¬
derreich vor, auch den gelehrten Stolz ganz unparteiisch, der ihm selbst sehr
anklebte. Sein Streit mit Wezel erregte damals viel Aufmerksamkeit. Letz¬
terer hatte einmal sich geäußert, daß in der Theodicee des großen Leibnitz,
den unser Platner vergötterte, das Raisonnement wie ein Nachen auf dem
großen Meere der Gelehrsamkeit umhergetrieben würde, wodurch er auf die
vielen Citate dieses großen Philosophen zielte. Dieses war Platnern
wieder erzählt worden, der jene Censur über seinen Helden nicht vertragen
konnte und daher in einer öffentlichen Vorlesung über Wezeln sich ausließ,
wie dieser es sich habe können einfallen lassen, Leibnitz zu beurtheilen.
Dieses kam dem Wezel wieder zu Ohren, und nun ließ Letzterer ein Epi¬
gramm wider Platner mit der Ueberschrift „Doctor Pumpelmoos" drucken,
indem er ihn mit dieser hohlen Frucht verglich. Platner schrieb einen ganzen
Bogen dagegen; Wezel aber drohte ihn mit sammt seinen moralischen Apho-
rismen anzugreifen, sodaß dem Weltweisen nun wirklich bange wurde und
er es für unschicklich fand, sich mit einem freidenkenden Schriftsteller in eine
offene Fehde einzulassen. —
Unter meinen akademischen Lehrern muß ich eines alten Originals er¬
wähnen. — Es war der Dr. Sammt, ehemaliger preußischer Unteroffizier,
der wegen seiner juristischen Kenntnisse, sowie wegen seines derben und
eigenen Vortrags sehr besucht wurde. Sein ^us uawr.lo war es, worin er
wie ein Rousseau sich durch Paradoxe und in der Redestellung seines Autors
Gundling auszeichnete. — Brachte dieser Gundling einen Satz vor, den
Sammt nicht billigte, dann hieß es: Komm einmal her, Gundling, was hast
du gesagt? Nun widerlegte er selbst. Gundling antwortete und der Dialog
endigte sich gemeiniglich damit, daß Gundling den Kürzern zog und als¬
dann öffentlich hören mußte: das hast du, Gundling, schlechtgemacht; pfui
schäme dich, ut lo äieiim. Wegen seiner Grobheit im Disputiren war es
ihm amtlich untersagt worden, bei öffentlichen Promotionen und akademischen
Versammlungen gleich andern Professoren öffentlich zu reden und zu dis-
putiren, und dazu war die Veranlassung eine von einem Dr. Bachmann
geschriebene Dissertation über das 1>rot,wen Mvetioni». Unser Sammt ver¬
urteilte diesen selbstgeschaffenen Werth einer Sache, sowie Bachmann ihn
vertheidigte. Es kam zu Vergleichen und zu Persönlichkeiten; Sammt
meinte, auf Bachmann's Weise könne man in eine Nähnadel auch einen be¬
sondern Werth setzen, denn Bachmann's Vater war ein guter Schneider ge¬
wesen. „O ja" erwiederte dieser, „so gut als wie in eine veraltete Patron¬
tasche." Das Ende dieses harten Kampfes, in welchem der gewesene preußi¬
sche Unterofficier besonders durch den Beifall der gegenwärtigen Studenten
die Oberhand behielt, war, daß Bachmann, als er nach Hause kam, sich so
angegriffen fühlte, daß er nach einigen Tagen seinen Geist aufgab. Man
konnte indeß diesem Alten seinen Werth nicht absprechen, er besaß eine Menge
eigene Ideen; man hörte ihn gerne seine 70jährigen Kenntnisse mit preußischer
Festigkeit mittheilen; dennoch ging er darin zu weit, daß er auch bei den
rohen Studenten durch schlüpfrigen Vovtrag Beifall suchte. Wenn er in
'einem .1»,-« l'nbllcc, aus die Regenten kam, so erzählte er wie die Kaiserin
Katharina II. ihn zur Anfertigung eine<ü neuen Gesetzbuches nach Se. Peters¬
burg berufen habe, daß aber der plötzlich eingetretene strenge Winter ihn
'"'»gehalten habe. Schwerlich hätte dieser eigensinnige Veteran sich mit seinen
vorgesetzten vertragen können und so that er wohl, in seinem grünen langen
Talar auf dem leipziger Katheder zu bleiben und die ^ouisd'or seiner Zu¬
hörer als einen sehr ungewissen und getheilten Beifall zu erwerben. Wenn
irgend ein Professor die Stunde, in welcher er las, mit einem Publico (einer
unentgeltlichen Vorlesung) besetzte, dann schimpfte er nicht nur auf diesen
Professor, sondern auch auf den Autor über welchen dieser las, und so mußte
Cicero es sich gefallen lassen, daß er ihn für einen ausgemachten Wind¬
beutel ausgab und alle Dichter für Narren hielt, weil Clodius in seiner
Stunde über Horaz Vorlesungen hielt. Ueber die sächsische Regierung und
über die Advocaten ging es sehr hart her. Weil Dresden ein offener Ort
war. so nannte er ganz Sachsen einen öffentlichen Garten, wo der Feind
nach Belieben herein und heraus spazieren könne, wie es in gewissen öffent¬
lichen Häusern zu geschehen pflege. Die Advocaten nannte er sächsische
Mauerkröten. Seine publicistischen Grundsätze vertheidigte er wie ein preußi¬
scher Wachtmeister. „Wer mir meine Meem externam (meinen äußeren
Frieden) stört, den prügle ich yuantum s^dis est in inKmtum fort" sagte er
vom Katheder. Aber wiederum war seine Belesenheit, seine scharfe Beur¬
theilungskraft und sein lebhafter Geist sehr zu schätzen, denn er besaß
seltene Kenntnisse. Man mochte bei ihm ebenso gerne zuhören als nachschreiben.
Außerdem war er ein jovtalischer gelehrter Greis und in den kärglichen
Abendgesellschaften und Concerten, die er nicht besser geben konnte, übertraf
seine Laune und Unterhaltung Alles was man von einem jungen geistvollen
Mann erwarten konnte. Er starb einige Jahre später; die Regierung hatte
ihm in den letzten Jahren eine Pension ausgesetzt — und sich also edelmüthtg
an seinem Tadel gerächt.
So pedantisch Biener die Pandekten vordictirte, so empfehlend wußte
Dr. Wolle seine Institutiones vorzutragen. Er las sie lateinisch mit der Sprachan¬
nehmlichkeit eines Cicero und wußte durch Fragen seine Zuhörer zu erwecken.
Man sah Einige sehr richtig antworten; jedoch verstand er die Kunst, die Ant¬
worten auch zu erlassen wo sie nicht freiwillig gegeben wurden. Als ich ihm einige
Mal nach dem Compendio antwortetete, wünschte er einefreimüthige Definition,
wodurch mir diese Stunde eine der schwierigsten wurde, mich aber auch zum
Examinatorio am schicklichsten vorbereitete. Mit seiner Beredtsamkeit war eine edle
Bescheidenheit verbunden; er war mir auch einer meiner liebsten Lehrer, und
als ich wegen einer Erkältung einige Stunden ausblieb, besuchte er mich
frühmorgens und bewies mir seine Theilnahme. Er selbst studirte so fleißig,
daß er die Nacht, von seinen Folianten umgeben, sich mit ihnen laut unter¬
redete und in seiner angenehmen Sprache unterhielt. Dieses erzählte mir
ein liebenswürdiger Augenzeuge, der mich selten aber um so unvergeßlicher
besuchte. Dieser war einige Zeit bei Dr. Wolle gewesen, wir achteten, den¬
selben Mann und ich liebte jenen Augenzeugen gar sehr.
Ein anderer noch junger aber angenehmer Lehrer war Dr. Erhardt. In
dem ersten Jahre war er noch Student mit mir zusammen; er disputirte
öffentlich und ward Dr., worauf er Collegia zu lesen anfing. Er hatte sich
dem Staatsrechte gewidmet, und schlug auf meinen Vorschlag ein Collegium
über das Gesandschaftsrecht an; unter seinen sieben Zuhörern war auch ich.
der während der Vorlesung auf dem weißen Tische, an welchem wir saßen,
manche spaßhafte Fragen und Einwürfe, die Person eines Gesandten betreffend,
niederschrieb, welche Veranlassung zu Auseinandersetzungen in der nächsten
Stunde gaben. Als der sächsische Staatsminister von Berlepsch, der Curator
dieser Universität war, Leipzig besuchte und Erhardt darauf sich gefaßt
machen mußte, als angehender Lehrer mit dessen Anwesenheit beehrt zu
werden, so bat Erhardt mich ihm einige Zuhörer zur nächsten Stunde zu ver¬
schaffen. Ich that es bei allen meinen Bekannten mit der Bitte die ihrigen
auch dazu aufzumuntern. Erhardt selbst über Nichts davon wissen zu lassen,
um ihn mit unserer Theilnahme desto mehr zu überraschen. — Als ich in den
Hörsaal trat, fand ich schon die Hälfte mit Studenten angefüllt, welche sich
noch so vermehrten, daß als Erhardt erschien der ganze Saal angefüllt war.
Es machte so rührenden Eindruck auf ihn, daß die Bewegung seines Herzens
in einem bis zu Thränen erfüllten Dank ausbrach. — Nicht lange darauf
erschien auch Berlepsch in seinem geflickten Kleide und mit dem sichtbaren
Erstaunen, bei einem so jungen Docenten so viel Zuhörer anzutreffen. Noch
mehr mußte es ihn wundern, daß in Leipzig so Viele sich auf das Gesandt-
schaftsrecht vorbereiteten und daß Dr. Erhardt ganz Europa mit Gesandten
hätte versorgen können.
Ein gelehrter und launigter Jurist war damals I>r> Hommel. Die Ge¬
schichte mit seinem Hunde Hesper ist vielleicht schon vergessen. Die witten-
bergsche Universität pflegte damals auch einen Abwesenden zum Magister der
sieben freien Künste zu stempeln, wenn Jemand eine Abhandlung nebst be¬
deutendem Honorar einsendete. Hommel schrieb eine solche für seinen schwarzen
Hesper und als an einen sehr wohlhabenden Mann erfolgte an seine Adresse
das Diplom mit der auf einem großen Pergamentbogen enthaltenen Ueber¬
schrift: vratuwnur vvminmn Ilösnerum p. p.Hommel gab einen gewöhn¬
lichen Magisterschmaus und ließ den Hesper obenan, auf einem Lehnstuhle,
mit dem um seinen Hals gebundenen Diplome von Wittenberg sitzen. Es
wurde gut aufgetischt und dem Hesper Gesundheiten in den besten Weinen
zugebracht. Der Wirth bekam einen vorausgesehenen Jnjurienproceß. be¬
zahlte aber gerne die Geldstrafe. — In seinem hübschen Garten hatte er
auf den großen Schornstein seines Gartenhauses eine Statue, einen Schorn¬
steinfeger in Lebensgröße vorstellend, aussetzen lassen. Die Feuer- oder
Nauchgesellschaft der Schornsteinfeger, welche besondere Vorrechte in Leipzig
wegen der vielen hohen Häuser genießt, sand sich darüber so beleidigt,
daß sie beschloß in eoixvriz den Dr. Hommel zur Rede zu stellen. Dieses
geschah und Hommel ward aus seinem Fenster gewahr wie die Gesellschaft
in seinem Hause einkehrte. Schnell legte er seine Staatsperrücke und sein
bestes Kleid an und kam ihnen mit der Frage entgegen, was den Herrn
zu Diensten stände? Der wortführende Brandmeister gab wichtig zu erkennen,
daß er und seine Consorten durch jenen auf dem Schornstein angebrachten
Mann, der seine Stelle mit dem Besen nicht verließ, sehr beleidigt wären,
und wie er, Professor, als ein hochgelehrter Mann sie so kränken könne.
Meine Herrn, erwiderte dieser, Sie irren sich sehr, wenn sie mir eine solche
Absicht angemuthet haben, vielmehr muß ich ihnen versichern, daß diese
Statue als ein Merkmal der Achtung von mir aufgesetzt worden, welche
der Staat ihren Bemühungen und Gefahren schuldig ist, und daß ich, wenn
ich nicht Hommel wäre, gleich ein Schornsteinfeger werden möchte. Die
schwarze Schaar fühlte sich durch diese artige Lobrede so geehrt, daß sie sich
bückte und Hommel selbige mit vielen Gegenbücklingen zur Thür hinaus be¬
gleitete. Den unbeweglichen Schornsteinfeger habe ich noch bei meiner Ab¬
reise an seiner Stelle gefunden.
Ein sehr reicher aber auch stolzer Docent war Dr. Behm, der die Ge¬
schichte las. Er hatte eine reiche Frau geheirathet und war auf seinem
Katheder in Seide gekleidet. Folgende Geschichte von ihm und einem
Herrn v. Helmersen habe ich damals erfahren. Dieser lustige Vogel hatte
sich als Student zwar zu einem Collegio bei Behm eingeschrieben, dasselbe
aber wie gewöhnlich nicht besucht. Behm nahm dieses sehr übel, und als
Helmersen sich endlich einmal wieder einfand, nahm Behm Gelegenheit ihn
auf die Wichtigkeit der Geschichte aufmerksam zu machen und sich zu ihm
wendend zu sagen: daß dem großen Griffel der Geschichte zu folgen und ihn
zu verstehen einen ununterbrochenen Fleiß fordere. Helmersen erschien den
folgenden Tag mit einem Bleistifte von der Dicke eines Armes auf der
Schulter, setzte sich Behm gegenüber, spitzte voll Aufmerksamkeit diesen balken-
förmigen Bleistift mit einem ganz kleinen Messerlein, wie man solches als
Uhrberloque zu tragen pflegte, und bereitete sich zum Nachschreiben. Diese
komische Vorbereitung, noch mehr das dem Helmersen eigene satirische Gesicht,
erregte ein allgemeines Lachen, so daß Behm selbst nichts Anderes übrig
blieb, als Herrn v. Helmersen zu ersuchen, nächstens einen kleineren Bleistift
mitzubringen. Den andern Tag erschien Helmersen wieder auf diesem Platz,
man sah nichts Auffallendes an ihm und Behm fing an zu dociren. Plötz¬
lich zog Helmersen einen kleinen Bleistift aus dem Busen, von seiner Seite
aber ein Schwert von Messer aus der Scheide, und sing nun damit an, den
Bleistift auf eine possirliche Art zu handhaben. Man konnte ebensowenig
sich des Lachens erwehren und Behm fand es am rathsamsten, Nichts mehr
zu sagen. — Außer andern lustigen Studentenstreichen erließ Helmersen noch
ein Letztes, denn er mußte Leipzig deshalb verlassen. In der reformulen
Kirche, wo der Gottesdienst durch Zollikofer so feierlich wurde, siiß unter
dessen Kanzel ein dicker Küster mit einer Brille, und man muß gestehn, daß
dieser wie mehrere Küster etwas Lachenerregendes an sich hatte. Helmersen
hatte sich zu Hause den Brustknochen einer Gans mit einem Sprungfaden
zubereitet, und als Jener im besten Singen war, ließ er seinen Knochen so
geschickt los, daß er über die Gemeinde weg des Küsters Nase berührte und
diesen aus aller Fassung sowie die Gemeinde aus ihrer Andacht brachte.
Dies war allerdings ein unanständiger Streich. Aber durch wahren
Witz aus erfinderischen Kopfe und gutem Herzen wurde mancher Lehrer,
mancher Student von seinen Schwachheiten zurückgerufen. — Ein kluger
Lehrer weiß durch guten Einfall auch einem drohenden Studentenauszuge zu
begegnen. Mehr als hundert Studenten verlangten einmal von dem alten
Rector Bortz eine ungehörige Bewilligung. Dieser Alte sah sie von ferne
kommen und setzte sich an einen Tisch der mit Schreibzeug versehen war.
Die Masse trat ein und an ihrer Spitze der Sprecher. Der Alte bat diesen
Letzteren ruhig, seine Forderung mit seinem Namen niederzuschreiben. Das
machte Bedenken; der-Sprecher fragte, ob die Andern mit unterschreiben
wollten, aber Keiner machte den Anfang und die Schaar zog, die Sache
besser überlegend, davon.
Die gute Meinung vieler Studenten, besonders der Sachsen, erkannte
ich bei verschiedenen Ereignissen, am meisten aber bei einem Aufzuge. Eines
Tages, als ich in meinem Zimmer arbeitete, traten mehr als zwölf aus¬
gezeichnete junge Leute herein. Kaum hatte ich einige von ihnen als säch¬
sische Studenten erkannt, als Einer sagte: er und seine Landsleute bäten mich,
ihnen zu einem Aufzuge die Hand zu bieten und ihr Anführer zu werden,
indem sie die Absicht hätten, dem alten Doctor der Theologie und Rector
Bursch er für seine Wohlthätigkeit gegen so viele arme Studenten einen
Beweis von Achtung zu bringen. Ich dankte für diesen schmeichelhaften An-
trag und wollte gerne Theil nehmen, wenn sie einen älteren Studenten
zum Anführer wählten. Die Herren aber drangen so ernstlich in mich, daß
ich ihnen zusagte; nur bat ich sie mir einen Compagnon beizulegen, mit
welchem ich den Auftrag übernehmen könnte, und so gaben sie mir diesen
gleich in der Person des Herrn Mie. welcher Sohn eines soliden Hauses in
Hamburg und einer der ältesten und bravsten Studenten in Leipzig war.
Wir legten den Plan militärisch an; wir bestimmten 3 Colonnen,
in welche gegen 1S00 Studenten vertheilt wurden. Ein jeder Anführer,
unter denen ich die erste Colonne hatte, war von 2 Generaladjutanten und
24 Flügeladjutanten begleitet, jede Colonne hatte ihr eigenes Corps Musik
und einen Beschließer in Uniform. Vor der ersten Colonne sollte ein Redner
gehen, begleitet von 12 Marschällen, schwarz gekleidet; ihm folgte der Träger
eines dem Dr. Burscher zu verfertigenden Gedichts, welches ihm in dieser
Procession zugetragen und durch den Redner noch "mit starker Prosa unter¬
stützt werden sollte.
So war Alles einmüthig verabredet worden, als Mißgunst und Neid
sich in unsere Absichten mischten und mit einer gewissen Schadenfreude Alles zu
vereiteln drohten. Ein anderer Professor gönnte dem alten Burscher die
Ehre nicht; anonyme Briefe wurden mir durch das offene Fenster geworfen,
in welchen man mich durch die Drohung abzuschrecken suchte, daß man die
Freude des Aufzuges öffentlich verderben würde — ich ließ mich nicht stören.
Nun aber wurde von der andern Seite nach Dresden gemeldet, daß die
Studenten ein großes Vivat im Werke hätten, wodurch Unordnungen zu be¬
fürchten ständen, und als ich eines Tages ruhig bei dem alten Sammt zuhörte,
brachte man mir Abschrift von einem aus Dresden ergangenen Rescript, in
welchem der beabsichtigte Aufzug, nach Art»itung früherer Mandate wegen
alles Vivatrufens, Schreiens und Lärmens, gänzlich untersagt wurde. Hoch
triumphirte die Gegenpartei — ich ging nach Hause, nahm einen Bogen
Papier und berief darauf alle Musensöhne Leipzigs sich im schwarzen Brete,
Nachmittags um 3 Uhr, einzufinden. Dieses Gebäude, der Versammlungs¬
ort, in welchem die Professoren Reden hielten und die Studenten zusammen¬
beriefen, hatte daher den Namen, weil in der Halle die Publicationen und
Mandate an schwarzen Bretern angenagelt und dadurch zur Wissenschaft
gebracht wurden. Hier nagelte auch ich meine Aufforderung an, die etwas
kräftig abgefaßt war. Noch war ich zur bestimmten Stunde nicht dort an¬
gelangt, als ich die Studenten wie Ameisen von Weitem dort wimmeln sah
— meine Brust schlug höher und mein Enthusiasmus wuchs mit dem sich
vermehrenden Haufen — mein erstes Wort war lauter Dank für ihr Erschei¬
nen und das Gehör, welches sie meiner Einladung gegeben. Nun bestieg ich
das Katheder, umgelfen von tausend Studenten (so hoch berechnete man den
angefüllten Raum); ohne mich zur Rede vorbereitet zu haben, stellte ich die
gemeinsame Absicht warm vor, holte die anonymen Briefe heraus, provocirte
deren Versasser. daß sie. wenn sie brave und redliche Burschen wären, sich
nunmehr zeigen sollten, indem eine solche versteckte Weise, durch eingeworfene
Briefe ohne Namen, eine niederträchtige Verfahrungsart wäre. — Natürlich
meldete sich Niemand, ich bat aber jetzt die Anwesenden um ihr Urtheil, und
es erscholl ein Pereat so gewaltig und erschütternd, daß unsern Gegnern
hierbei nicht gar wohl, mir aber so glorreich zu Muthe ward, als der Donner
der Kanonen dem durch die eroberte Festung ziehenden Sieger ist; darauf
rechtfertigte ich die wohlgemeinte Absicht, dem wohlthätigen und ehrwürdigen
or. Burscher ein glänzendes Opfer des Dankes und der Ehrfurcht zu brin¬
gen, und rügte es derb, daß die Cabale und der Neid so weit gegangen
wäre, daß man ein Mandat gegen uns bewirkt habe. — Dieses Mandat
las ich mit lauter Stimme vor, und feuerte an. einen Beweis abzulegen,
daß wir einen ganz anderen Aufzug im Werke hätten, als ein Vivatrusen
mit Schreien und Lärmen. Ich legte Einiges von unserm Plan vor und
bat mir Gehör zum «Vortrage eines neuen Unternehmens wider dieses
Mandat von ihnen aus. ?lat (es geschehe) hieß es, und nun schlug
ich vor: „Da unsere Akademie ursprünglich eine Ritterakademie sei") und
von so vielen Ausländern besucht würde, möge man zwei Deputirte wählen,
welche sich mit einer Supplique gerade an den Kurfürsten selbst wendeten,
und um die Bewilligung des feierlichen Auszugs, zu welchem der Friedrichs¬
tag gewählt sei, bitten sollten. Auf diese Weise hätten wir ein Mandat
zu vereiteln, welches ich so nachtheilig sür unsere Ehre hielte, daß ich lieber
die Universität verlassen als nachgeben würde; ich glaubte, daß die Regie¬
rung Deputirte einer Universität nicht gleichgiltig zurückweisen könne."
Kaum war dieses ausgesprochen, so erscholl der vieltönige Ruf: Mvat Rosen,
unser Gesandter nach Dresden! — Ich nahm dies ohne alle Umschweife an.
und bat mir Herrn Mie als Compagnon aus, welches gleichfalls bewilligt
wurde.
Mein Antrag war ehrenvoll genehmigt, an die Kosten war nicht gedacht
worden. Aber ein Baron Bielseld. Sohn des ehemaligen preußischen Ge¬
sandten, ein Mann von mehr als 30 Jahren, stellte sich mit einem andern
seiner Kameraden vor den Ausgang des schwarzen Bretes und sagte laut:
»Es ist nicht billig, daß unsere Deputirte auf ihre Kosten reisen", nahm
seinen Hut vor sich und warf einen Louisd'or hinein; wer etwas bei sich
hatte warf auch hinein zu Gulden- und Groschenstücken, und Herr v. Biel¬
seld überreichte uns seinen Hut. in welchem über 60 Thlr. sich befanden.
Diese übergab ich Herrn Mie. Nun war die Rede davon,, wie wir als Ge¬
sandte unsere ÄllÄii-es machen sollten. Wir fielen darauf, daß unser Creditiv
in einer Supplique an den Kurfürsten, von allen Ausländern unter¬
schrieben, bestehen solle.
Dieser Erfolg erregte große Sensation in Leipzig und Platner wunderte
sich, wie ich am schwarzen Brete 1000 Studenten zusammenbringen könne,
da er selten mehr als hundert auf seine Einladung erscheinen sehe. Ueberall
wünschte man mir Glück, doch zweifelte man sehr, daß wir durchdringen
würden, und Clodius sagte : „Hören Sie Rosen! Sie haben viel unternommen
und einen schweren Stand in Dresden." „Es kann mir nur in einer guten
Sache mißlingen" sagte ich, „und dann ist Rosen und viele gute Männer
nicht mehr in Leipzig!" Ich schlug vor wegen Abfassung der SuppKque
unsern I)r. Seeger zu befragen und ging mit den Herren, die zuerst meine
Wahl bewirkt hatten, zu Dr. Seeger. Er nahm uns freundlich und mit
einer Tasse Chocolade auf und sagte: „Sie thun am Besten, meine Herren,
wenn sie ihre Supplique selbst anfertigen, denn weder ich noch irgend
ein in sächsischem Amte Stehender wird sich in eine solche Sache mengen."
Wir gingen davon — unterwegs sagte ich: Seeger hat Recht, ich setze die
Supplique auf und damit Holla! In meinem Zimmer nahm ich den Ka¬
lender zur Hand, fand den Friedrichstag sehr passend, da er als Namensfest
des Kurfürsten feierlich ward und uns zu unsern Borbereitungen noch meh¬
rere Wochen Zeit ließ.
Der Supplique. die nur zwei halbe Seiten einnahm, wurden nach Art
der englischen noch andere Bogen angereiht, und zu gewissen Stunden
wurden in einer Restauration die Unterschriften eingesammelt — dazu fanden
sich wohlweislich lauter Ausländer ein — meine Wenigkeit voran, dann
mehrere Landsleute, Polen, Ungarn, Schweizer, Franzosen, auch ein lustiger
Kopf, der zu einem wirklichen Namen noch einen selbstgemachten italienischen
oder englischen hinzufügte und also recht viele und entfernte Länder und
Städte lesen ließ.
Ich setzte mit Herrn Mie einen Tag zu unserer Abreise nach Dresden
fest und machte es mit unsern Landsleuten ab, daß wir ihnen den Erfolg
derselben melden sollten. Im Falle eines Mißlingens kämen wir nicht
zurück, aber wenn es gut ginge, sollten sie uns, zum Aerger der Neider,
mit 12 blasenden Postillonen vor dem Thore empfangen. Nun reisten wir
beide mit Extrapost nach Dresden, logirten in einem anständigen Hotel und
ließen uns als Deputirte Nichts abgehen. Den andern Morgen wurden die
Visiten bei allen Ministern abgelegt und zugleich die Absicht unserer Sendung
eröffnet. Diese Herrn, nämlich Graf Marcolini, Baron Gutschmidt, Ber-
lepsch :c. empfingen uns sehr artig, allein von unserer Ankunft prävenirt,
hieß es wie verabredet: gegen das ergangene kurfürstliche Mandat könne der
Aufzug nicht gestattet werden. — Keine Einwendung half und man über¬
ließ es uns zu bedenken, ob der Landesherr seinen einmal gegebenen Befehl
widerrufen könne. Ich bat die artigen aber gestrengen Herrn Minister mit
einer ernsten schmerzhaften Miene, noch einmal erscheinen und dann Ab¬
schied nehmen zu dürfen. Als wir nach Hause kamen und die Köpfe schüttel¬
ten, sagte ich meinem Gefährten: nun müssen wir andere Saiten aufziehn
und unsere eingereichte Suppliqne wichtiger machen. Den andern Morgen
fuhren wir zu dem Herrn Premierminister und zu Berlepsch und ich ver¬
sicherte im Namen aller Supplicanten, da sie, voll jugendlichem Enthusias¬
mus für diesen Aufzug, von ihrem Borhaben nicht abstehen könnten, so
bliebe ihnen, um sich der Schadenfreude ihrer Gegner nicht Preis zu geben,
wohl nichts Anderes übrig als die gute Universität Leipzig zu verlassen.¬
Dieses wirkte mit so gutem Erfolge., daß die Herrn nicht nur ver
sprachen diese Sache dem Kurfürsten nochmals zu unterlegen, sondern daß
man uns noch denselben Abend für den andern Morgen ins Consistorium
bestellte. Denn da der Landesherr katholisch und die Universität protestan¬
tisch ist. so steht letztere in ähnlichen Fällen unter dem Consistorio. Unsere
Hoffnung war nicht vergebens, denn man gab uns eine Abschrift von
einem an den Rector der Universität erlassenen Rescripte. worin es unter
Anderm hieß, daß der mit Ordnung und Anstand vorzunehmende Aufzug
der Studenten nachgegeben werden solle, da der Baron Rosen und Herr
Mie sür Ordnung und^Ruhe auszukommen sich verbunden hätten. - So
kitzlich dies sür uns ausfallen konnte, so fühlten wir uns doch sehr ge¬
schmeichelt und sandten eine Estaffette mit der fröhlichen Botschaft und daß
wir in 24 Stunden in Leipzig eintreffen würden. Rasch fuhren wir davon;
um 7 Uhr Abends waren wir vor dem Thore wo die Postillons uns schon
erwarteten. — Es ging in vollem Lärm durch die Straßen der Stadt, die¬
jenige nicht zu vergessen, in der der Professor wohnte, der so eifrig wider uns
cabalisirt hatte, bis wieder zu dem Hause am schwarzen Brete. Hier er¬
tönte bei unserem Eintritt von einer zahllosen Versammlung unserer Musen-
söhne ein ununterbrochenes Vivat; ich bestieg wieder das Katheder, legte einen
kurzen Bericht unsers Geschäftes ab. las das Rescript vor und schloß und
der Versicherung des Vertrauens, daß die Herrn insgesammt unserer Ver¬
antwortlichkeit Ehre bringen würden.
Unsere Vorbereitungen wurden nun größer und lebhafter: alle Be-
schreibungen solcher Aufzüge, die wir aus Göttingen und Jena uns kommen
ließen, waren uns nicht genügend. Ein neuer Umstand hals uns. obgleich
er mich in Verlegenheit bringen konnte. Meine Landsleute nämlich waren
bei Vertheilung der Aemter übergangen worden, theils weil ich mich wenig
damit befassen mochte, theils weil sie mich während dieser Zeit wenig be¬
suchten und ich sie auch nicht. - Als ich einmal zu dem Grafen Dunker
King und dort die meisten Livländer antraf, machten sie mir gewaltige Vor¬
würfe, daß sie ganz von mir vergessen und alle Ehrenämter vertheilt waren.
Wie so? sagte ich; die besten sind euch noch aufbewahrt. Sie horchten auf
und nun erzählte ich ihnen, daß Leipzig ursprünglich eine Ritterakademie
sei und aus drei Nationen, nämlich der sächsischen, polnischen und mechmschen
bestände, und daß sie die Wappen dieser Nationen vor jeder der drei Co-
lonnen. in schöner Kleidung und von Adjutanten begleitet, vortragen sollten.
^ Als ich ihnen dieses beschrieb und die Wahl der Kleidung überließ,
waren sie völlig versöhnt und versprachen ihre Theilnahme. Es wurden
die Wappen der Nationen auf großen weißseidenen Fahnen gemalt und mit
grünen Fransen besetzt — die Fahnen selbst waren hoch und nahmen sich
mit ihrer Malerei sehr gut aus; der Fahnenträger vor meiner Colonne
war zur Mühlen, seine Adjutanten Sänger und Graf Dunker.
Nun wurden Musterungen erst im schwarzen Brete gehalten: die Stu¬
denten stellten sich wie Soldaten und überließen ihren Anführern die An¬
ordnung der Colonne — ich kann es nicht vergessen wie willfährig sie waren
und wie dieses Betragen mich zur Höflichkeit und Behutsamkeit verpflichtete.
— Die Längsten und Wohlgebildetsten wählte ich in die vordersten Glieder,
nachher kamen vier und baten in die erste Reihe versetzt zu werden, weil sie
sich vorgenommen sich egal, blau mit Gold kleiden zu lassen. Auf freiem
Felde machten wir Proben von Evolutionen, damit' die Colonnen in einem
berechneten Marsch durch mehrere Straßen sich gleichzeitig auf dem Markte
zu einem halben Zirkel stellen konnten. Alles ging militärisch und mit einem
solchen esprit Ah corxs, daß ich ohne Widerspruch commandiren durfte.
Unsere Widersacher, da sie uns in der Hauptsache nicht mehr schaden
konnten, nahmen zur Satire ihre Zuflucht. So hatte ein junger Dr. Gehler
sich unter unsern Landsleuten verlauten lassen, daß die vorzutragenden
Fahnen ein ebenso lächerliches Ansehen geben würden, als das Fähnchen der
Schlossergesellen, welche jährlich einmal mit einer solchen in der Stadt her¬
umzogen, selbige in die Lust warfen und wieder fingen und dabei eine kleine
Musik machten. Meine Landsleute, durch den witzigen Gehler aufgereizt,
stellten mich aus dem Fechtboden darüber zur Rede. Wer hat diese Ver-
gleichung wagen dürfen? sagte ich laut, ist der Mann hier? und es mußte
sich treffen, daß er dort war, weil er gern focht. In meiner Hitze, die an
keine Mäßigung dachte, nahm ich die ersten besten Rappiere, präsentirte sie
dem Dr. Gehler und sagte: mein Herr! auf den Hieb, für Ihre Einfälle! —
Kaum war ich in Stellung, als ich ritterlich draus loshieb; es setzte Staub
und Schläge, Gehler hielt sich auch brav, bis der Fechtmeister kam, uns aus
einander brachte und sagte: meine Herren, hier schlägt man sich nicht in
solcher Weise. Die Fahnen wurden nun noch höher und ansehnlicher gemacht
und dabei blieb es.
Nun ging es an die Einrichtung des sogenannten Stabes, das war
der Redner mit seinen 12 Marschällen und der Gedicht- oder Kissenträger.
— Zu ersterem wählten wir den längsten Mann mit der besten Baßstimme,
einen Theologen Lischke aus Meißen. Dieser Mann imponirte wirklich
durch seine Gestalt und Stimme, die im Namen der 1000 Zungen sich don¬
nernd und pathetisch konnte vernehmen lassen. Zum Gedichtträger wählten
wir einen feinen artigen Mann, einen Herrn v. Exter aus Hamburg, der
das Gedicht, „Emil" von Prof. Clodius genannt und gemacht, auf einem mit
die Wappen der Nationen auf großen weißseidenen Fahnen gemalt und mit
grünen Fransen besetzt — die Fahnen selbst waren hoch und nahmen sich
mit ihrer Malerei sehr gut aus; der Fahnenträger vor meiner Colonne
war zur Mühlen, seine Adjutanten Sänger und Graf Dunker.
Nun wurden Musterungen erst im schwarzen Brete gehalten: die Stu¬
denten stellten sich wie Soldaten und überließen ihren Anführern die An¬
ordnung der Colonne — ich kann es nicht vergessen wie willfährig sie waren
und wie dieses Betragen mich zur Höflichkeit und Behutsamkeit verpflichtete.
— Die Längsten und Wohlgebildetsten wählte ich in die vordersten Glieder,
nachher kamen vier und baten in die erste Reihe versetzt zu werden, weil sie
sich vorgenommen sich egal, blau mit Gold kleiden zu lassen. Auf freiem
Felde machten wir Proben von Evolutionen, damit' die Colonnen in einem
berechneten Marsch durch mehrere Straßen sich gleichzeitig auf dem Markte
zu einem halben Zirkel stellen konnten. Alles ging militärisch und mit einem
solchen esprit Ah corps, daß ich ohne Widerspruch commandiren durfte.
Unsere Widersacher, da sie uns in der Hauptsache nicht mehr schaden
konnten, nahmen zur Satire ihre Zuflucht. So hatte ein junger Dr. Gehler
sich unter unsern Landsleuten verlauten lassen, daß die vorzutragenden
Fahnen ein ebenso lächerliches Ansehen geben würden, als das Fähnchen der
Schlossergesellen, welche jährlich einmal mit einer solchen in der Stadt her¬
umzogen, selbige in die Luft warfen und wieder fingen und dabei eine kleine
Musik machten. Meine Landsleute, durch den witzigen Gehler aufgereizt,
stellten mich auf dem Fechtboden darüber zur Rede. Wer hat diese Ver-
gleichung wagen dürfen? sagte ich laut, ist der Mann hier? und es mußte
sich treffen, daß er dort war, weil er gern focht. In meiner Hitze, die an
keine Mäßigung dachte, nahm ich die ersten besten Rappiere, präsentirte sie
dem or. Gehler und sagte : mein Herr! auf den Hieb, für Ihre Einfälle! —
Kaum war ich in Stellung, als ich ritterlich drauf loshieb; es setzte Staub
und Schläge, Gehler hielt sich auch brav, bis der Fechtmeister kam, uns aus
einander brachte und sagte: meine Herren, hier schlägt man sich nicht in
solcher Weise, Die Fahnen wurden nun noch höher und ansehnlicher gemacht
und dabei blieb es.
Nun ging es an die Einrichtung des sogenannten Stabes, das war
der Redner mit seinen 12 Marschällen und der Gedicht- oder Kissenträger.
— Zu ersterem wählten wir den längsten Mann mit der besten Baßstimme,
einen Theologen Lischke aus Meißen. Dieser Mann imponirte wirklich
durch seine Gestalt und Stimme, die im Namen der 1000 Zungen sich don¬
nernd und pathetisch konnte vernehmen lassen. Zum Gedichtträger wählten
wir einen feinen artigen Mann, einen Herrn v. Erker aus Hamburg, der
das Gedicht, „Emil" von Prof. Clodius genannt und gemacht, auf einem mit
reichen goldenen Fransen besetzten rothsammtnen Kissen trug. Das Gedicht
war sauber auf Silber-Glace' gedruckt. Herr von Exter ließ sich ein schar-
lachnes feines Kleid mit Gold besetzt dazu machen und vergaß nicht, einen
etwas langen Degen dazu zu bestellen. Der Inhalt des aus der poetischen
Feder unsers Clodius geflossenem Emil war eine moralische Erzählung: wie
dieser Emil, durch jugendlichen Leichtsinn und Leidenschaft verführt, seinen
ihn warnenden Lehrer, einen Greis, mit dem bloßen Degen umbringen
wollte; — dies war freilich etwas stark erfunden — allein da der greise
Mentor sich nicht irre machen ließ, vielmehr für den Verirrten betete, so kam
dieser zur Reue und fiel seinem Lehrer weinend und büßend um den Hals.
Daraus hieß es am Schlüsse: So, Burscher, hast du für uns gebetet und ge-
wacht und so viel Gutes gethan, daß wir dir einmüthig ein Opfer des
Dankes und der Empfindung bringen. — Der Emil selbst hätte meines Er-
achtens hiebei ganz zu Hause bleiben können, und hätte der genfer Philosoph
es erfahren, daß der Emil des Clodius sich so unartig gegen Greise be¬
nahm, so würde er dem seinigen wohl lieber einen anderen Namen gegeben
haben. — Aber unser Emil war nun einmal nicht anders gerathen und
wurde dafür mit großem Pomp in Leipzig herumgetragen.
Endlich erschien der entscheidende Friedrichstag im November 1782. —
Nachmittags um 2 Uhr holten die 2 Adjutanten ihren Fahnenträger, zu
diesem gesellten sich die 24 Adjutanten der Colonne, und diese gingen in
Reih und Glied mit entblößten Degen zu ihrem Colonnenführer, der die
Ehre genoß sich so abgeholt zu sehen und in voller Uniform auf diese Ehren¬
männer wartend sie mit einem Glase Rheinwein empfing und sich an ihre
Spitze stellte, um sie aus den großen Musterungsplatz, wo alle versammelt
sein mußten, zu führen. Auf dem freien Platze bei der Thomaskirche ver¬
sammelte sich Alles: Studenten. Musikchöre. Fackeln, Redner, Marschälle
und der weitglänzende Kissenträger. Bis gegen sechs dauerten die Stellungen
und Eintheilungen der Masse, wozu die 24 Flügeladjutanten besonders nützlich
waren. Diese waren auch darzu bestimmt, mit bloßem Degen in der rechten
Hand, neben der Colonne. den Respect der Zuschauer zu erhalten und die
Zudringlichen abzuwehren; in der linken Hand auf die Schulter gelehnt
trug ein jeder dieser Adjutanten eine Wachs- und Pechfackel von sechs Fuß
Hohe. Noch muß angeführt werden. daß die bekannte gute Polizei Leipzigs
den Befehl erhalten hatte, überall behilflich und wachsam zu sein. Die Häscher
standen in gewissen Entfernungen; an allen Straßenecken waren große ge¬
füllte Wasserbehälter, und dem Zudrängen des Pöbels wurde von weitem
vorgebaut.
Nach geschehener Aufstellung begann der Zug. Ein Musikchor voran,
dann der Redner; ihm folgten 12 Marschälle. schwarz gekleidet, in Strümpfen
und Schuhen, dann der Kissenträger, nach einigem Zwischenraum der erste
Wappenträger mit seinen 2 Adjutanten, alsdann der Colonnenanführer mit
2 General- und 24 Flügeladjutanten; erstere beide folgten ihm mit blanken
Degen, letztere gingen neben der Colonne, 12 auf jeder Seite in abgemessener
Weite, und hielten möglichst die Distanzen. Die zweite Colonne ging links,
die dritte einen andern Weg durch die Straßen, und die Musikchöre sollten
das Signal zu einer auf dem großen Markte bestimmten Parade geben —
dergestalt, daß die 2. und 3. Colonne einen großen Halbzirkel, der Stab
aber mit der 1. Colonne eine gerade Linie oder den Diameter vor dem
Hause des Commandanten Graf Vitzthum ausmachte. Der Zug ging lang¬
sam, feierlich; die Musik rührte das Herz; die hoch brennenden Fackeln, die
Alles beleuchteten und das Festliche und Glänzende hoben, machten großen
und erhebenden Eindruck auf die Studenten wie auf die Zuschauer, welche
aus allen Fenstern und Dächern herausblickten- In keinem Hause, wo der Zug
vorbeiging, war ein brennendes Licht und Alles wurde' nur durch unsere
Fackeln beleuchtet.
Wie oft geschieht, daß sich unter das Feierliche auch etwas Komisches
mengt, so ging es auch uns, da wir aus dem Markte den halben Bogen
formirter. Unser langer Redner, Herr Lischke, glitt an einem Stein aus
und fiel seiner ganzen Länge nach so auf die Erde, daß wir einen kleinen
Halt machen mußten, bis er sich wieder aufraffen konnte. „Wenn nur
die Rede nicht auf dem Glatteis geblieben ist" hieß es; aber da er wieder
wie ein Baum seinen Gipfel unter uns sehen ließ, ordneten wir uns aufs
Beste, — Nun gingen die Herrn vom Stäbe, die Anführer und Generaladju¬
tanten, Alle in ihren Uniformen, von noch mehreren sich brav ausnehmenden
Studenten begleitet, zum Commandanten Graf Vitzthum. Im großen
hellen Saale befanden sich er, seine Familie, mehrere aus Dresden zu dieser
Feier erschienene Personen vom Range, einige Generäle, Obristen und meh¬
rere aufmerksame Damen, Die ersten Honneurs machte ich mit Herrn Mie
und dankte dem alten Grafen für Beihilfe und Antheil an unserer Ver¬
sammlung, denn unter ihm stand die Oberpolizei und das Militär. Ein
großer Tisch mit blinkenden Gläsern war in Bereitschaft; doch wurde nur aus
einigen Gläsern gekostet. Die erwähnten Herrn Militärs gaben vielen unserer
wohlgewachsener Musensöhne ihren lauten Beifall, und meinten, daß sie sich
zu fertigen Cavalerieofficieren qualificirten — denn Alle hatten bei ihren
mit Gold oder Silber besetzten Collets große schwarz glänzende Stiefel mit
klirrenden silbernen Sporen und man konnte auf viele dieser feurigen und
jungen Ritter mit Wohlgefallen sehen. Von da ging der ganze Zug zum
ersten Bürgermeister, dem wir als dem zweiten in Rom unser Compliment
machten, das ihm auch vermöge seines Amtes und Einflusses gebührte.
Es war der damalige Kriegsrath Müller, ein gelehrter stolzer Mann. Ich
machte ihm ein kurzes artiges Compliment — von seinem Weinapparat
wurde kaum gekostet und wir gingen wieder zu unserer Armee.
Nach Beobachtung dieser Aufmerksamkeit gingen wir nun im langen
Zuge mit voller Musik, von guter Vocalmusik begleitet, zu dem Helden unsers
Stücks, zu Dr. Burscher. Leider wohnte er tief am schmälern Ende der
langen Gasse, der Brühl genannt — auch war seine Wohnung nicht sehr
geräumig. Vor seiner Thüre machten wir Halt, schwenkten die Fahnen und
legten sie alle drei in seinem Vorhause schräg an die Wand. Nun gingen
die Anführer voran, präsentirten den Redner, den Kissenträger, den Stab
und ihre Begleiter — ich winkte Herrn Lischke, der als Riese in der etwas
niedrigen Stube auftrat und seine Rede mit dem aufgerollten Papiere, wie
eine Donnerkeile Jupiters auf Herrn Burscher und aus den Fenstern so
herabschleuderte, daß solche einen großen Theil der Straße herabrollte. Da¬
rauf erschien Herr v. Exter und überreichte Gedicht und Kissen dem alten
Mentor, der kaum wußte, was der Emil mit ihm zu thun hatte. Die
Fahnenträger äußerten, daß sie ihre Ehrenzeichen bei ihm niedergelegt hätten
und empfahlen sich und die drei Nationen seiner fernern Liebe. — Ich und
Mie sagten ihm mehr gerührt als gesucht, es wäre uns ein erfreulicher Tag,
ihm den Dank der Universität mit dieser äußerlichen Bezeugung der Achtung
und des Vorzugs, den seine Menschenliebe verdiente, zu beweisen.
Der alte Burscher war betroffen, bewegt und erschüttert: er drückte seine
Dankbarkeit aus der Fülle seines Herzens aus und schloß mit der Versiche¬
rung, die Handlungen dieses Tages würden in den Annalen Leipzigs ein
unvergeßliches Andenken zu unserm Ruhme sein.
Es wurden einige, doch nur wenige Gesundheiten getrunken; die Behau-
sung war enge und die Zeit verfloß: wir empfahlen uns und gingen zu
unseren Cameraden. Diese hatten sich bei ihrem Fackelschein wohl langweilen
mögen; wir fanden sie aber beredt. Einige einen Labetrunk aus eigener Flasche
nehmend. froh und guter Laune. Es ging mit Musik, doch ohne große
Parade, zum Se. Thomas-Platze. Hier wurde beschlossen, unsere Fackeln,
die nur etwas über die Hälfte abgebrannt waren, in einem Haufen vor der
Kirche verbrennen zu lassen. Diese jugendlich rasche, aber wohl gefähr¬
liche Idee ward auch sogleich ausgeführt und in einigen Minuten stieg eine
helle Flamme empor, die mit der Höhe des Kirchthurms zu wetteifern schien,
bald sich beugte und schwarzen Dampf in die Luft sandte, bald wieder Pracht-
und gluthvoll in die Höhe zog. Dieses erhabene Schauspiel brachte einige
wackere Sänger um die Flamme zusammen, welche ein Lied sangen, worin
die Strophe „unser Leben vergeht wie ein Rauch" oft vorkam. Die
Stimmen waren so wohlklingend und so rührend, daß man die feuchten Augen
im Lichtstrahl der Flamme gewahrte und nicht umhin konnte, eine Zähre
mit einzumengen. — Mittlerweile wurde die Flamme kleiner, der Haufen
fiel in Asche zusammen und erinnerte uns an das Ende dieses Tages.
Bei dem letzten Fackelscheine eilte ich unter die Sänger, drückte ihnen die
Hand, durchlief die Reihen und Haufen der übrigen, dankte und bat um ihre
Freundschaft, um Ruhe und Ordnung, die wir verbürgt hätten, und die sie
so rühmlich erhalten. Es möge ein Jeder sich gerade nach Hause begeben
und dadurch die allgemeine Stille der Tageszeit befördern. Neid und Schaden¬
freude könne nicht besser und stärker beschämt werden. — Das geschah —
und in einer Viertelstunde waren alle Straßen leerer und stiller als gewöhnlich.
Es war etwa halb elf Abends als ich froh wie ein König nach Hause
kam; ich besah meine Rüstung im Spiegel; leider war vom Fackeldampf
Alles, sogar das Gesicht geschwärzt und alle unsere Kleidungen taugten zu
Nichts mehr.
Ich glaube gewiß, daß unsere Feuersäule mit herzerhebenden und rüh¬
rendem Gesänge der braven Männer und ihr feuchtes Auge die allgemeine
Ruhe und innere Stille hervorbrachten. Wie wäre es möglich gewesen, bei
diesen edlen Gefühlen an Mvat, Lärmen und Schreien zu denken. Nein!
die große Zahl der Studenten stimmte in unsere Denkungsart. Du herr¬
liche Musik, deren Instrument die Menschenstimme ist, was vermagst du nicht
mit deinem Zauber!
Die Sache und das gute Ende wurde nach Dresden berichtet: man war
mit den Herrn Entrepreneurs sehr zufrieden.
In den folgenden Tagen wurden wir zu verschiedenen Mittagsmahlen
bei Professoren und in angesehenen Häusern eingeladen und man sagte uns
viel schmeichelhaftes darüber.
Herr Mie hatte indeß viele Mühe mit der Bestreitung des Kostenauf¬
wandes gehabt und es ergab sich noch ein Defect von einigen Hundert Thlrn.
Wir machten eine Handelsspeculation, die wir dem Orte selbst abgelernt
hatten, wir ließen nämlich gegen 2000 Exemplare von der gedruckten Be¬
schreibung dieses Auszugs zu uns bringen — und von uns erhielt man
ü 4 Groschen per Stück ein Exemplar. Das half: nach einigen Wochen war
Alles vergriffen und Herr Mie versicherte mich, er wäre mit allen Unkosten
ins Reine.
Einige Tage nach diesem Aufzuge fand ich dessen ganze Darstellung auf
dem Markt in Kupfer gestochen, und bald mich selbst als Anführer in allen
Kramläden. Der große Prospect kam 6 Groschen, mein Bild in der Tracht
und illuminirt kaum 2 Groschen. —
Ich reiste an einem schönen Morgen im März ganz früh in Gesellschaft
einiger älterer Freunde aus der Stadt. Wehmüthig war es mir ums Herz
die Reihen bekannter Häuser vorbei streifen zu müssen, die Steine, welche
ich so oft betreten hatte, wahrscheinlich zum letzten Mal zu sehen, die Alleen
mit ihren schönen Linden und Maulbeerbäumen zu verabschieden. Die
Mauern und Thürme versanken hinter mir, als wenn sie unter die Erde
gingen auf Nimmerwiedersehn, und nach einer Stunde war der freundliche
Himmel Leipzigs nicht mehr über mir.
Die Entwickelungsgeschichte des im Art. 26 der preußischen Verfassungs¬
urkunde vom 31. Januar 1860 v.erheißenen Unterrichtsgesetzes, welches
die in Art. 20 — 25 festgestellten Principien für das Unterrichtswesen zur
Ausführung bringen soll, gleicht der Bahn eines Kometen, der zuweilen für
kurze Zeit dem Auge der Sterblichen sichtbar wird, um dann wieder viele
Jahre spurlos in unabsehbare Ferne zu verschwinden. Wie schon früher die
in den Gesetzen vom 23. October 1817 enthaltene Verheißung einer allge¬
meinen Schulordnung zwar die Ausarbeitung eines Entwurfs durch eine
Commission unter dem Vorsitz des Staatskanzlers v. Hardenberg zur Folge
hatte, dieser Entwurf aber niemals Gesetz geworden ist, so legte auch nach
Emanation der Verfassung der Minister v. Ladenberg sofort Hand ans
Werk und ließ nach mehrfachen Conferenzen von praktischen Schulmännern
ein das ganze Gebiet des Unterrichts umfassendes Gesetz unter Stricker Fest¬
haltung der Principien der Verfassung aufstellen — allein auch dieser Entwurf
gelangte nicht einmal bis an den Landtag. Denn in der nächsten Legislatur-
Periode erschien statt des Unterrichts-Gesetzes ein neuer Cultusminister —
v. Raumer, der sehr bald offen erklärte, er sei weder im Stande noch Wil¬
lens, ein Unterrichtsgesetz vorzulegen, für welches er ein praktisches Bedürfniß
nicht anerkennen könne. Dagegen fand er das Bedürfniß zum Erlaß der
bekannten Regulative und bald hieß es, das Unterrichtsgesetz werde ein
frommer Wunsch bleiben, weil es kein Wunsch der Frommen sei. In der
neuen Aera wurde ein neuer Anlauf genommen, der Ladenberg'sche Entwurf
wieder hervorgesucht, modificirt und das Gutachten der Behörden eingeholt
— allein rascher als das Gesetz kam der Conflict, der Rücktritt von v. Beth-
mann-Hollweg und jener Stillstand der Gesetzgebungs-Maschine, der das
Abgeordnetenhaus im April 1865 veranlaßte, auf die sofortige volle Aus¬
führung des Unterrichtsgesetzes vorläufig zu resigniren und im Interesse
der Volksschullehrer zunächst nur ein Gesetz zur Feststellung der äußeren
Verhältnisse derselben, namentlich ihrer Besoldungen zu verlangen. Nach dem
„Siege des preußischen Schulmeisters bei Königgrätz" und der Indemnität
wäre nun die Constellation für das Wiedererscheinen des Kometen günstig
gewesen; allein es wurde im Jahre 1867 nur ein auf die äußeren Verhält¬
nisse der Volksschule beschränkter Gesetzentwurf vorgelegt, welcher aber schon
in den Commissions-Berathungen des Herrenhauses sein kurzes Dasein
beschloß. —
Jetzt hat nun das Haus der Abgeordneten gleich vier Schulgesetz-Entwürfe
auf einmal bekommen, allein dieselben sind keineswegs ein „Ganzes in
Stücken", sondern nur ein Stückwerk von Fragmenten. Das Hauptstück
dieser vier Entwürfe, das Gesetz über die Einrichtung und Unterhaltung der
öffentlichen Schule, ruft die größten Bedenken hervor, nicht sowohl durch
das, was es enthält, als durch das, was es nicht enthält, denn selbst die
in. der Resolution von 1865 geforderte Hauptsache, die Höhe des Minimal¬
betrages der Schullehrerbesoldungen regelt — wenigstens in der Mehrzahl
der Fälle — das Gesetz nicht selbst, sondern überläßt dies den Beschlüssen
der verschiedenen Provinziallandtage und der Festsetzung der Administrativ¬
behörden. Der zweite Entwurf, das Pensionsgesetz für Elementarlehrer, enthält
zwar solche — immerhin sehr kärglich bemessene — Minimalsätze (60—120Thlr.),
macht dagegen den Versuch, die subsidiarische Zahlungspflicht des Staats für
arme Gemeinden auf die übrigen Communen der einzelnen Regierungsbezirke
überzuwälzen. Das dritte Gesetz: „über die Versorgung der Lehrer-Wittwen
und Waisen" mit bogenlangen Motiven ist ein Komet mit großem Schweif,
dessen Kern sich ganz aufgelöst hat, da dasselbe jede positive Bestimmung
vermissen läßt und nur eine Delegation der Befugniß zur beliebigen Orga¬
nisation von Wittwen- und Waisencassen im Verordnungswege oder durch
den Cultusminister enthält. Doch diese drei Entwürfe werden, selbst wenn
ihnen nicht ein Vorbericht ohne Weiteres den Todesstoß versetzt, wohl kaum
ohne wesentliche Umgestaltung aus den Berathungen der Commission in
das Plenum des Abgeordnetenhauses gelangen, während bei dem vierten
Entwürfe, welcher allein von principieller Bedeutung ist, eine Umgestaltung
nicht möglich erscheint, sondern nur ein einfaches „Ja" oder „Nein" übrig
bleibt. Denn der einzige Artikel dieses Gesetzes lautet: „Die Bestimmung
des Art. 25 der Verfassungsurkunde: „„In der öffentlichen Volksschule
wird der Unterricht unentgeltlich ertheilt"" wird aufgehoben."
Wenn die Motive zunächst erklären, daß der Wortlaut dieser Verfassungs¬
bestimmung eine mehrfache Deutung zulasse, so ist dies wohl nur der bittere
Humor einer Hinweisung auf die oft so überaus kärgliche Besoldung der
Volksschullehrer, welche die Ertheilung des Unterrichts zuweilen fast als eine
unentgeltliche Leistung und nicht als eine bezahlte Arbeit erscheinen läßt. In
der That ist es aber nur die alte Frage von der Zulässigkeit und Zweck¬
mäßigkeit der Erhebung eines Schulgeldes, welche dem Landtage wieder
vorgelegt wird — jenes Schulgeldes, welches das allgemeine Landrecht so
wenig kennt, wie die Berfaffungsurkunde, und dessen Beseitigung im Ver¬
waltungswege der Minister v. Altenstein schon im Jahre 1851 zu bewirken
suchte, während dagegen der Minister v. Raumer das Schulgeld für eins
der naturgemäßesten Elemente der Lehrerbesoldung erklärte und seine sorg/
faltige Conservirung dringend empfahl. Dieser letzteren Ansicht schließt sich
der neue Gesetzentwurf an, dessen Motive das Schulgeld für eine „eigen-
wüchsige, von dem Rechtsbewußtsein des Volks getragene Einrichtung" er¬
klären, welche ihre tiefere Begründung in der in dem sittlichen Bewußtsein
der Nation lebenden Wahrheit finde, daß es in erster Linie nicht die Pflicht
des Staats und der Communen, sondern die Pflicht der Eltern sei, für leib¬
liche und geistige Ausbildung der Kinder zu sorgen, und erstere dann erst
einzutreten hätten, wenn letzteren die Kraft hierzu gebreche. Den Ausfall
des auf drei Millionen Thaler sich belaufenden Schulgeldes könne die Schule
nicht tragen; die Aufbringung dieses Betrags durch Steuerzuschläge werde
aber um so mehr Widerspruch hervorrufen, als jeder Hausvater die vor¬
übergehende, durch eigene schulpflichtige Kinder bedingte Schulgeldsabgabe
leichter und lieber zahle, als eine bleibende unabänderliche Erhöhung seiner
Steuerlast, weshalb auch an den Steuern weit mehr Ausfälle zu entstehen
Pflegten, als an den Schulgeldern. Endlich zeige das Schulgeld einen heil¬
samen Einfluß auf die Benutzung und Wirksamkeit der öffentlichen Volks¬
schule, indem ihr Werth in den Augen der Eltern und Kinder durch Ent¬
richtung des Schulgeldes steige.
Im Wesentlichen sind alle diese Gründe schon enthalten in einer vor
etwa 20 Jahren von dem Consistorialrath Textor in Stettin verfaßten
Apologie des Schulgeldes, dessen Broschüre seiner Zeit der Minister Laden¬
berg den Behörden mittheilte, damit dieselben ersähen, welche „Vorurtheile
und einseitigen Bedenken" der Aufhebung des Schulgeldes entgegengestellt
würden. Was zunächst die für das Schulgeld angeführten praktischen Gründe
anlangt, so sind dieselben theils factisch unrichtig, theils wird die Kehrseite
der Medaille übersehen oder doch ignorirt. Allerdings ist es unzweifelhaft,
daß weder die Schulen noch die Lehrer den Ausfall von drei Millionen
Thaler Schulgeld tragen können und daß diese Summe von den Communen
durch Steuerumlage wird aufgebracht werden müssen. Auch soll ohne
Weiteres zugegeben werden, daß bei denen, welchen die Aufhebung dieses
Schulgelds nicht zu Gute kommt, bei den Reichen, den Unverheirateten
und den kinderlosen Familien diese Maßregel hier und da Widerspruch er-
fahren wird. Allein die Annahme dürfte nicht zutreffen, daß auch die
Familienväter, welche bisher dies Schulgeld zahlen mußten, in ihrer Vorliebe
für diese „eigenwüchfige und vom Rechtsbewußtsein des Volks getragene
Einrichtung" gegen die Umwandlung in eine Schulsteuer sich sträuben würden;
denn die letztere wird, weil sie sich auf eine weit größere Zahl von Bei¬
tragspflichtigen und zwar nach Maßgabe ihrer Steuerfähigkeit vertheilt, selbst
bei bemittelten Familien etwas geringer, bei ärmeren kinderreichen Familien
(und Armuth ist ja häufig mit Kinderreichthum gepaart) stets erheblich nied¬
riger sein, als das Schulgeld, welches jetzt oft den vier- und sechsfacher Be¬
trag der Jahressteuer des Familienhauptes übersteigt. Diese Erleichterung
der ärmeren Classen ist aber von um so größerer Bedeutung, als von ihnen
die für ihr Einkommen sehr große Ausgabe des Schulgeldes zu einer Zeit
gefordert wird, wo die Kinder nur kosten, aber Nichts verdienen, während
wenn die Kinder erst erwachsen und erwerbsfähig sind, die durch die Auf¬
hebung des Schulgeldes bedingte mäßige Steuererhöhung leichter getragen
werden kann. Die reichen Gutsbesitzer, Fabricanten und höheren Beamten,
welche ihren Kindern Hauslehrer halten oder sie höhere Schulen besuchen
lassen, die Unverheirateten und die kinderlosen Familien, welche für die Er¬
ziehung der Kinder gar keine Ausgaben haben, sie Alle entrichten dies Schul¬
geld nicht; — das hat aber der Bauer und Handwerksmann, der Tagelöhner
und Fabrikarbeiter, der von der Hand in den Mund lebt, zu zahlen, und so
gilt auch hier, daß das Ende die Last trägt. Es ist darum auch unrichtig,
daß bei der Steuererhöhung größere Ausfälle entstehen würden, als bei den
Schulgeldern, und hat ja die Bestimmung, daß die Unbeibringlichkeit des
Schulgeldes noch nicht als Kriterium der Unterstützungsbcdürstigkeit einer
Familie angesehen werden soll, ihren Grund in der Erkenntniß, daß die
Schulgelder häufig auch von solchen Familien nicht gezahlt werden können,
welche die öffentliche Armenpflege noch keineswegs in Anspruch zu nehmen
genöthigt sind. Ganz eigenthümlich aber erscheint die Behauptung, daß durch
das Schulgeld „der Werth der Schule in den Augen der Eltern und
der Kinder steige" und dasselbe daher auf die Benutzung und Wirk¬
samkeit der öffentlichen Schulen einen heilsamen Einfluß äußere. Denn die
Kinder lernen in der Schule, weil sie lernen müssen oder auch weil sie zum
Lernen Lust haben, nicht aber, weil ihre Eiern für den Unterricht ein Schul¬
geld zahlen müssen, und die Eltern schicken — selbst in den untersten Classen
— die Kinder in die Schule, damit diese etwas lernen, nicht aber, damit
darin der Preis für das gezahlte Schulgeld herausgeschlagen werde; — und
jedenfalls würde dann ja eine Steuererhöhung denselben heilsamen Einfluß
äußern. Wenn eine so niedrige Auffassung von der Bedeutung des Schul¬
geldes überhaupt möglich ist, so spricht dieselbe — im Interesse der Lehrer
und der Wahrung ihrer Stellung — gerade für die Aufhebung einer Ab¬
gabe, welche in jedem Bauer den Glauben erwecken kann, er sei der Brod-
Herr des Lehrers und könne ihn so behandeln, wie die Hauslehrer und Gou¬
vernanten wohl zuweilen in vornehmen Häusern behandelt werden, nämlich
nicht als Staats bien er, sondern, um die Terminologie der allgemeinen
Gerichtsordnung — freilich in anderer Bedeutung — zu gebrauchen, als
„Civil-Bedienten."
In der That können aber die sogenannten praktischen Momente
nicht den Ausschlag geben bei der Entscheidung dieser Frage und muß man
etwas höher greifen, um die Zulässigkeit der Schulgeldsforderung zu wür¬
digen. Wenn die Motive des Gesetzentwurfs diese höhere Bedeutung und
liefere Begründung in der aus dem sittlichen Bewußtsein der Nation geholten
Wahrheit erblicken. daß es in erster Linie nicht die Pflicht des Staats und der
Commune, sondern die Pflicht der Eltern sei, für die leibliche und geistige Ausbis¬
dung der Kinder zu sorgen, und daß die weiteren Kreise des Staats und der
Gemeinde erst dann einzutreten hätten, wenn und insoweit dem nächsten
Kreise der Familie die Kraft dazu gebreche, so ist dies ein Argument, welches
zu viel — und darum Nichts beweist. — Denn dann wäre es eine eben so
nutzlose Verschwendung von öffentlichen Geldern als ein ungerechtfertigtes
Eingreifen in Privatrechts-Verhältnisse, wenn der Staat oder die Gemeinde
Schulen baut und Lehrer anstellt; — nicht „Trennung der Schule von der
Kirche", sondern „Trennung der Schule vom Staat" oder noch pathetischer:
„Freie Schule im freien Staat" würde dann die Parole lauten, und nicht
blos die Bestimmung wegen der unentgeltlichen Ertheilung des Bolksunter-
richts, sondern die ganzen Art. 21—28 der Verfassung müßten aufgehoben
werden. — Allerdings hat in dieser privatrechtlichen Auffassung des Volks¬
unterrichts das Schulgeld seine historische Entstehung, und so lange
die Schule nur eine Zweiganstalt der Kirche, oder gar das Amt des Volks¬
schullehrers nur die Nebenbeschäftigung des Dorfschneiders oder die letzte
Erwerbsquelle eines abgedankter Unterofficiers war und sich der Staat
nicht darum kümmerte, ob und wie der Unterricht ertheilt wurde, waren
auch die Schulgelder oder die die Stelle derselben vertretenden Würste,
Schinken und Eier eine „eigenwüchsige und von dem Rechtsbewußtsein des
Volks getragene Einrichtung". Allein sobald sich die Erkenntniß Bahn
brach, daß der Staat sowohl vom politischen als socialen Standpunkte aus
Wesentlich dabei interessirt ist, daß jeder seiner Bürger sich möglichst gründ¬
liche Bildung und jedenfalls wenigstens die gewöhnlichen Elementarkennt¬
nisse aneigne, daß der Staat darum einerseits die Verpflichtung, für ein
genügendes Volkssch ^x^r! zu sorgen, andererseits die Berechtigung habe,
die Benutzung diese Schulanstalten zu erzwingen, wurde diesem Rechts-
bewußtsein der Rechtsboden entzogen. Wie aber schon das allgemeine Land¬
recht die Schulen für Staatsanstalten erklärt und die Verfassung den Lehrern
die Rechte und Pflichten von Staatsdienern auferlegt, so gipfelt die Frage
wegen des Schulgeldes darin, ob die Mittel zur Einrichtung und Unterhal¬
tung dieser Anstalten nur von dem Staat, sei es direct durch Staatssteuern,
oder indirect durch die Communen zu beschaffen sind, oder ob es gerechtfertigt
ist, für die Benutzung dieser Anstalten auch von Denen, welchen die Vortheile
derselben zu Gute kommen, eine Gebühr zu erheben. Aus diesem Funda¬
mentalunterschiede zwischen Steuer und Gebühr und aus den Grund¬
sätzen für die Anwendung der einen oder anderen dieser Arten des Staats¬
einkommens läßt sich die vorliegende Frage allein mit Sicherheit entscheiden.
Dies erkennen indirect auch die Motive des Gesetzentwurfs an, wenn sie zur
Rechtfertigung des Schulgelds auf die Post-, Gerichts- und Stolgebühren,
die Wegegelder, Gesuchs- und Bescheidstempel Bezug nehmen, bei denen es
herkömmlich sei und von Jedermann in Ordnung gefunden werde, daß Die¬
jenigen, welche sich dieser Einrichtung bedienen, auch eine besondere Abgabe
als Beitrag zu den Unterhaltungskosten zu entrichten haben. Es ist dies
derselbe Gedanke, welchen der Verfasser des im vorigen Jahre erschienenen,
in einem Leitartikel der Kreuzzeitung empfohlenen Werks: „Die Kunst der
Besteuerung", Prof. Eisenbart, noch prägnanter ausdrückt, indem er sich
zu der Behauptung versteigt, daß, „wenn man nicht nur unentgeltliche Rechts¬
pflege und Aufhebung der Wegegelder, sondern auch freien Schulunterricht
fordere, nur noch ein Schritt bleibe bis zu den souveränen Ansprüchen des
classischen Pöbels von Athen und Rom auf freies Theater, Spiele, Opfer-
und Festschmäuse auf Regimentsunkosten!"
Nun liegt aber die Begründung der Zweckmäßigkeit und Zulässigkeit
der Gebühren nicht blos darin, daß eine Staatsleistung für einen Einzelne
und zwar auf die specielle Veranlassung desselben erfolgt und er darum zu
den Kosten derselben beizutragen hat, sondern es muß auch noch hinzu¬
kommen, daß es sich um Staatsletstungen handelt, deren Benutzung in das
Belieben des Einzelnen gestellt ist. Aus diesem Grunde rechtfertigen sich
nicht nur die Post-, Telegraphen- und Gerichtsgebühren, die Wegegelder und
Stempelabgaben (die Stolgebühren sind irrigerweise aufgeführt, denn sie
sind ein Aequivalent für eine Leistung der Kirche, nicht des Staats) —
sondern auch die Schulgelder für den Besuch von Gymnasien, Real- und
Fachschulen. — Sobald aber der Einzelne von Staatswegen gezwungen
wird, die Staatsleistungen zu benutzen, so gewinnt die Gebühr den Charakter
einer Steuer, und zwar den Charakter einer ungleichmäßigen und ungerechten
— weil die Steuerfähigkeit nicht berücksichtigenden Steuer. Dieser innige
Zusammenhang der Unentgeltlichkeit der Ertheilung des Volksunterrichts mit
der auch in Art. 21 der Verfassung wiederholt sanctionirten allgemeinen
Schulpflicht wird in den Motiven des Gesetzentwurfs nicht genügend be-
rücksichtigt; — der Einwand, daß kein Kind wegen Nichtzahlung des Schul¬
geldes von dem Recht und der Pflicht des Schulbesuchs ausgeschlossen werde,
greift nicht durch, so lange der Vater nicht blos gezwungen wird, das Kind
in die Schule zu schicken, sondern auch das Schulgeld zu zahlen, wenn der
Erecutor noch ein Pfandobject zu finden vermag. — Wo die romanische
Anschauungsweise und das mißverstandene Dogma von der Freiheit der In¬
dividuen die allgemeine Schulpflicht nicht auskommen läßt und die Benutzung
der Elementarschule in das Belieben der Eltern gestellt wird, da mag man
auch nach Belieben ein Schulgeld erheben — wo aber die allgemeine Schul¬
pflicht, welche, um Bluntschli's Worte zu gebrauchen, „mit der allgemeinen
Wehrpflicht und der die Bildung voraussetzenden allgemeinen Volksfreiheit
in einem sittlichen Zusammenhange steht", noch von dem germanischen
Rechtsbewußtsein getragen wird, da bleibt auch ihr Correlat, die unentgelt¬
liche Ertheilung des Unterrichts in der Volksschule ein nothwendiges Er¬
fordernis Wenn auch die neuen badischen und bairischen Schulgesetze das
Schulgeld noch gestatten und beibehalten, wenn sich auch, wie wir den Ver¬
theidigern dieser „eigenwüchsigen Institution" suppeditiren wollen, selbst
Männer wie R. Mohl (I. S. 467) und Bluntschli (II. S. 359) gegen die
unentgeltliche Ertheilung des Unterrichts in der Volksschule aussprechen: wir
glauben dennoch, daß das Abgeordnetenhaus sich dieser Auffassung nicht an¬
schließen und vielmehr in Wahrung des Princips des Art. 25 den neusten
Versuch zur Emendation der Verfassung kräftig und erfolgreich zurück¬
weisen wird. —
Präsident Johnson scheint nach selner Niederlage in den Wahlen das
Bedürfniß gefühlt zu haben, sein Mißbehagen noch einmal öffentlich zu
äußern; anders läßt sich das traurige Actenstück, das vor uns liegt, kaum
erklären. Die Verlesung desselben im Senat wurde unterbrochen und der
Antrag gestellt, sie nicht zu Ende gelangen zu lassen, weil die Schrift „ein
impertinentes, lügenhaftes und skandalöses Instrument" sei; erst am folgenden
Tage konnte die Mittheilung beendet werden. Im Repräsentantenhause brach
uach der Verlesung der Botschaft ein furchtbarer Sturm los, wobei sich die
demokratischen Sitten einmal wieder über die Form in einer Weise weg¬
setzten, welche in Europa unerhört ist. Im Ganzen könnte die Botschaft
eines Präsidenten, der in drei Monaten zurücktritt und damit, wie mit ziem-
licher Sicherheit vorauszusetzen ist, wohl auf immer vom Schauplatz der Politik
verschwinden wird, beinahe gleichgiltig sein; mag Johnson auch in einzelnen
Punkten Recht haben, wie z. B. in der Verkehrtheit der vom Congreß durch¬
gesetzten Reconstruction und Militärherrschaft des Südens: seine Ansichten
sind nach der andern Seite so extrem, daß sie nicht praktisch in Betracht
kommen. Aber Bedeutung hat nichtsdestoweniger ein Passus, weil derselbe
einen der wundesten Punkte der amerikanischen Politik betrifft: die Erfüllung
der Verpflichtungen des Staates gegen seine Gläubiger. Es ist eine ominöse
Thatsache, daß der erste Beamte der Union gewagt hat, offen die Repudiation
der Staatsschuld zu befürworten. Er will nämlich einfach die Zinsen wäh¬
rend 16 Jahren zurückbehalten und sie zur Amortisirung des Capitals ver¬
wenden; d. h. er will das Kunststück machen, die Gläubiger mit ihrem eigenen
Gelde zu bezahlen. Nun hat allerdings das Haus der Repräsentanten diese
Theorie mit Indignation zurückgewiesen und mit einer Majorität von 123
gegen 6 Stimmen folgenden Beschluß angenommen: „daß alle Formen und
Arten von Repudiation der Natiomilschuld dem amerikanischen Volke verhaßt
sind und daß seine Vertreter unter keinen Umständen ihre Zustimmung dazu
geben werden, den Staatsgläubigern als volle Compensation einen geringeren
Betrag an Geld anzubieten, als jenen, den die Regierung ihnen zu zahlen
versprochen hat (llwt all torus ana äögreos ok i'öMäiation ot' tlrv na,-
tionul mäebtoänöss oäivus to t.K« ^nilzrioan pooplv ana eine unävi' »<>
mstanovL will tlroir represerltativos conscmt to oll'si' to tke xudlie el-ealdor
tun eomponsation Ich8 amount ot molto^, tun,u tirat wlrieli tlo Lie>-
vvrnment ooiitraeteä to pg.z? Kien)." Das klingt sehr kategorisch und
auf das Reuter'sche Telegramm von diesem Beschluß sind die amerikanischen
Papiere erheblich gestiegen; aber es ist damit eigentlich Nichts gesagt, als daß
ein offener Vertragsbruch, wie der den Johnson vorschlägt, verworfen wird.
Der Hauptpunkt, um den sich alles dreht, ob nämlich das Capital der üvv-
tvventios, die Hauptmasse der amerikanischen Schuld, namentlich der im Aus¬
land befindlichen, in Geld oder in Papier (euirvne^) zurückgezahlt werden
soll, bleibt von jenem Beschluß ganz unberührt, denn der Streit dreht sich
eben darum, was „Geld" heißt und „was die Regierung zu zahlen ver¬
sprochen hat." Daß in dem Augenblick, als das Anlehen gemacht ward, die
Absicht war, den Gläubigern das Capital in Geld zurückzuzahlen, ist un¬
zweifelhaft: die amerikanischen Papiere standen damals unter 50°/<> und für
die Aussicht, in entwertheten Zetteln bezahlt zu werden, hätte Niemand einen
Cent geliehen; aber es steht dies nicht ausdrücklich in den Obligationen, son¬
dern nur, daß die Zinsen in Geld gezahlt werden sollen, was auch bis jetzt
geschehen: hierauf pochen die Anhänger der Repudiation, welche zu einer bedenk¬
lichen Macht gelangt sind. Das größte Blatt der Union, der New-Uork
Herald, die dortige Times, welches ziemlich als Laubfrosch der öffentlichen
Meinung gelten darf, meint z. B.: fast jede Nation habe in einer oder der
andern Form ihre Schulden ganz oder theilweise repudiirt; jedenfalls müßten
die Staatsgläubiger die Lasten des Volkes tragen helfen und die Zinsen der
Schuld reducirt werden. Bis jetzt ist es vor Allem der Einfluß des Schatz-
secretärs (Finanzministers) Mac Culloch. welcher verhindert hat, daß man
jenen verderblichen Theorien nachgab; in seinem letzten Bericht on tue state
ok tus twiwces heißt es: „die Obligationen wurden negociirt mit der
bestimmten Bedingung, daß sie in Gold zahlbar sein sollten, die Contracte
wurden auf beiden Seiten in gutem Glauben abgeschlossen, theilweise als die
Regierung in dringender Gefahr war und Geld brauchte um ihre Existenz
zu sichern, theilweise als ihre Bedürfnisse kaum weniger dringlich waren für
die Erfüllung ihrer Verpflichtungen gegen Lieferanten und die tapferen
Männer, durch welche die Nation gerettet ward. Guter Glaube und öffent¬
liche Ehre, die einem Volk über Alles gehen müssen, fordern, daß diese Ver¬
bindlichkeiten in dem Geiste erfüllt werden in dem sie übernommen sind. Die
Inhaber unsrer Obligationen daheim und auswärts, die den Charakter des
Volkes der Vereinigten Staaten und die Größe der nationalen Hilfsquellen
verstehen, sollten keiner Versicherung bedürfen, daß sie demgemäß behandelt
werden." (Report, x. 30. 31.) Das klingt sehr tröstlich für die Staats¬
gläubiger; aber trotzdem 'und unter Protest des Schatzsecretärs hat der Congreß
in seiner letzten Sitzung eine Reihe von Steuern gestrichen, welche Mac
Culloch als nothwendig für das Gleichgewicht des Staatshaushalts erklärte,
und hat keine der empfohlenen Maßregeln angenommen um die Zahlungen in
Metall aufzunehmen. Das kritische Moment für die Bondbesitzer ist der schlechte
Zustand der Staatseinnahmen: der letzte Monatsbericht vom November weist
eine abermalige Zunahme der Schuld um 12 Mill. Doll. nach, im Laufe des
letzten Finanzjahres eine Zunahme von 60 Mill.; die Abtragung der Schuld
steht ganz still. Nun zeigt der Budgetabschluß allerdings noch einen Ueber¬
schuß von ca. 18 Mill.; aber es ist in Betracht zu ziehen, daß die erwähnte
Steuerverminderung erst am 1. März eintrat, also nur vier Monate ihren
Einfluß übte (das amerikanische Finanzjahr läuft vom 1. Juli bis 30. Juni);
in seinem Anschlag für das folgende Jahr schätzt der Schatzsecretär den Aus¬
fall auf 60 Mill. Dabei befindet sich das Land im Frieden, die Armee ist
auf 43.000 Mann reducirt und doch die Klage über Steuerdruck allgemein,
sodaß der Congreß sich schwerlich entschließen wird neue Auflagen zu poliren.
In dieser Lage nun treten die Anwälte der Repudiation auf und zeigen dem
Volke die lockende Aussicht auf plötzliche Befreiung von den drückenden Lasten;
Amerika wird als dem Auslande tributpflichtig dargestellt, welches 600 Mill.
Bonds besitze und dafür die Geldzinsen beziehe; eine große Nationalschuld sei
charakteristisch für Monarchien; durch dieselbe würden die wenigen Kapita¬
listen die Meister des zahlenden Volks u, s. w. Solche Theorien müssen
besonderen Anklang im Westen finden, der wenig Obligationen besitzt: sie
waren das Steckenpferd des demokratischen Candidaten Pendleton auf seinen
Wahlreisen und werden jetzt vom Präsidenten offen befürwortet. Die republi-
canische Majorität ist zwar noch dagegen, aber Majoritäten sind bekanntlich
in Demokratien sehr schwankend; es ist schon fraglich, ob die Republicaner
in der Mehrheit geblieben wären, wenn jetzt eine vollständige Erneuerung
des Hauses statt der halbschichtigen stattgefunden hätte, und ist erst das De¬
ficit eine Wirklichkeit, so kann die Strömung rasch unwiderstehlich werden.
Was eine gesunde Finanzpolitik erheischt, ist leicht zu sagen. Daß ein großes
Land von unermeßlichen Hilfsquellen wie die Bereinigten Staaten mehr als
8°/« Zinsen für seine Staatsschuld bezahlt, ist eine anomale Thatsache, die
nur durch den Verdacht der Repudiation zu erklären ist; die englische Geschäfts¬
welt namentlich hat den amerikanischen Staatspapieren ein hartnäckiges
Mißtrauen entgegengebracht: der Chef eines der größten Häuser der City
antwortete auf unsere Frage nach dem Grunde, daß er nie mit einer Regie-
rung Geschäfte machen würde, deren ganzer Bestand auf dem allgemeinen
Stimmrecht beruhe, wie es in Amerika der Fall sei. Mit Resolutionen,
welche wie die oben erwähnte Hinterthüren offen lassen, wird man das Ver¬
trauen nicht herstellen; dazu bedarf es eines förmlichen und gänzlich unzwei¬
deutigen Beschlusses aller Factoren der Gesetzgebung, daß das Capital der
Obligationen ebensowohl in Gold rückzahlbar ist wie die Zinsen. Läge ein
derartiger Beschluß vor, so würde es der Regierung ein Leichtes sein so viel
Geld zu finden, um ihren Gläubigern die Wahl zu stellen zwischen Rückzah¬
lung des Capitals oder Herabsetzung der Zinsen von 6 aufs^: bei weitem
die Meisten würden sich zu letzterem verstehen (wobei sie nach dem Ankaufs-
curse noch immer ca. 7<>/g machten), wenn der neue Bond die ausdrückliche
Verpflichtung der Rückzahlung in Gold enthielte. Hand in Hand damit
müßte der Bruch mit dem unsinnigen Schutzzollsystem gehen, dessen Jnpro-
ductivität jetzt offen zu Tage liegt. Wenn in einem an sich reichen Lande
plötzlich hohe Zölle eingeführt werden, so geben sie anfangs auch hohen Er¬
trag, weil die Consumenten sich nicht die betreffenden Artikel versagen mögen.
Aber abgesehen von der financiellen Seite wirkt die Erhöhung auch als
Schutzzoll für die inländische Fabrikation, welche sich treibhausartig entwickelt,
wo die ausländische Concurrenz so erschwert wird. So ist es auch in Amerika
gegangen: der Osten ist rasch ein FabrMand geworden und in dem Maße
hat die Einfuhr fremder Artikel abgenommen, ist die Einnahme aus Zöllen
gesunken. Soll sie sich* wieder heben, so muß Amerika dem Vorbilde Sir
Robert Peel's folgen, welcher zum Bruch mit dem Schutzzollsystem geführt
wurde, weil es unumgänglich nöthig ward, das Deficit zu beseitigen. Aber
so einfach diese Mittel wären. so schwer werden sie durchzusetzen sein. Der
seit 1861 etablirte Schutzzolltarif hat mächtige Interessen im Lande geschaffen,
die Fabrikanten erklären nicht ohne ihn eristiren zu können und sie sind ebenso
stark im Congreß vertreten wie die Börsenspeculanten, welche bei der Papier
Valuta gewinnen. Wie viel einfacher wäre es, die Last der steuerzahlenden
zu erleichtern durch einen tüchtigen Abstrich an den Zinsen der Schuld, sei es
daß man sie einfach auf 5<>/g herabsetzt, sei es selbst indem man dem Vorgang
Oestreichs und Italiens mit der Couponsteuer folgt. Bei der Verbreitung
der amerikanischen Papiere möchten wir wünschen, daß die deutschen Interes¬
senten sich diese Sachlage recht klar machten, und wollen zu dem Ende schlie߬
lich noch auf die Schuldkategorien aufmerksam machen, die in Betracht
kommen. 1) Die namentlich in Deutschland circulirenden 6"/« lips - tvventies
im Capitalbetrag von 514,780,500 Doll., bei denen die Zinszahlung, aber
nicht ausdrücklich die Capitalrückzahlung in Gold versprochen ist. 2) Die 6»/g
Anleihe von 1863 im Betrag von 75 Mill., die erst nach dem 30. Juni 1881
eingelöst werden kann und für welche in der betreffenden Congreßacte aus¬
drücklich bestimmt ist xrineipÄl sua interest pg^ablö in coin. 3) Die tcm-
kvrties zu S°/o, bei denen dasselbe Versprechen vorliegt und die 1874 eingelöst
werden können und 1904 eingelöst sein müssen Die beiden letzten Arten
sind also, so lange öffentliche Contracte gehalten werden, sicher, aber freilich
auch nicht gegen eine Besteuerung. Die Frage wird wohl bis zum Eintritt
Grant's unentschieden bleiben; inzwischen möchten wir jedem Inhaber von
KvL-tventies, der ohne Verlust verkaufen kann, rathen zu überlegen, ob nicht
eine Anlage in soliden deutschen Eisenbahnen vorzuziehen wäre, selbst wenn
sie etwas geringere Dividenden gäbe.
Jede siegreiche Revolution, welche nicht von einer überlegenen Persön¬
lichkeit durchgeführt und geleitet wird, pflegt fünf Phasen zu durchlaufen,
l) Allgemeiner Jubel über die Besiegung des gemeinsamen Feindes, Ver¬
brüderung aller Parteien. 2) Beginnende MißHelligkeiten: jede der Parteien
fühlt sich durch den Ausgang getäuscht, die Einnahmen sinken, die Ausgaben
wachsen, die arbeitenden Classen murren. 3) Ausbruch der Feindseligkeiten
zwischen den Parteien, locale Aufstände. 4) Bürgerkrieg o der Annahme einer
extrem demokratischen Verfassung. 5) Dictatur. — Spanien befindet sich gegen¬
wärtig in der dritten Phase. Unmittelbar nach dem Siege des Aufstandes
war es bereits klar, daß derselbe nicht von einer gebietenden Kraft ge-
führt wurde, vielmehr eine Militärrevolution war, wie sie in Spanien ge¬
bräuchlich sind, nur daß sie diesmal direct auf Beseitigung der Dynastie gerich¬
tet war. Man begnügte sich aber nicht bei dieser Planlosigkeit, sondern that
positive Schritte nach der falschen Seite: man gab dem Volke Waffen, be¬
schäftigte die Nichtbesitzenden auf öffentliche Kosten und schaffte in dem Augen¬
blick steigender Ausgaben ordentliche Einnahmen ab. Die Folge war das
Mißlingen des Urlebens, die Unmöglichkeit jene unnützen öffentlichen Arbeiten
lange fortzuführen, die Nothwendigkeit dem Volke die Waffen wieder zu
nehmen. Dies führte consequent zur dritten Phase, dem Ausbruch der Feind¬
seligkeiten zwischen den Parteien und localen Aufständen. Der traurige Zu¬
stand der öffentlichen Lassen nöthigte die Regierung in Madrid, die Löhne
der Arbeiter herabzusetzen; nur durch die überlegene Militärmacht, welche
in der Hauptstadt concentrirt war. gelang es einen Aufstand zu verhindern,
in Cadix dagegen brach er aus als man den Versuch machte die Miliz zu
entwaffnen: die Insurgenten behaupteten die Stadt während drei Tagen,
schlugen die Truppen wo sie mit ihnen zusammentrafen und erlangten, als
sie sich zuletzt der entfalteten Uebermacht ergaben, vollständige Amnestie, so
daß sie sich noch als Sieger betrachten. Während dessen ist die Verwirrung
im Mittelpunkt gestiegen: wie groß das Mißtrauender besitzenden Classen ist,
läßt sich daraus abnehmen, daß, obwohl die Regierung ihre Baarzahlungen noch
keinen Augenblick eingestellt hat und die Bank dem Vernehmen, nach in der besten
Verfassung ist, regelmäßig vor derselben Queue gemacht wird und das Goldagio
von 1^2—2 <>/<> permanent erscheint. Starke Baarvorräthe sind durch die Abreise
begüterter Emigrantenfamilien nach Frankreich dem Lande entzogen; die ver¬
mögenderen Einwohner vergraben ihr Gold- und Silberzeug; die Einnahmen
sinken fortwährend, naMntlich bei den Zöllen. Inzwischen steht politisch Alles
anscheinend auf demselben Fleck, ein Zustand, der einem englischen Korrespon¬
denten den bezeichnenden Ausruf entlockte: Mjg is ». rovolution, vMcd äoek>
not rovolve. Die provisorische Regierung hat sich für das monarchische
Princip in abstracto erklärt, aber keinen Monarchen finden können oder
wollen; nachdem sie sich förmlich dahin gebunden hat, daß nur die Nation
den Entscheid über die Staatsform geben dürfe, wird es zu spät sein noch
im letzten Augenblick mit einem italienischen Prinzen als Candidaten hervor¬
zutreten. Dagegen ist Prim's Bestreben, sich den Weg zur Dictatur durch
Begünstigung der Armee zu ebnen, immer durchsichtiger geworden. Diese
beiden Momente erklären die großen Fortschritte der republikanischen Partei.
Was die Mehrzahl der Spanier am meisten und mit Recht fürchtet, ist eine
Militärherrschaft, da aber die Revolution lediglich von der Armee ausgegan¬
gen ist, so würde auch ein zum König erwählter auswärtiger Prinz gänzlich
von ihr abhängen und wenig mehr als ein Chef der Prätorianer sein, von
einem Dictator wie Prim gälte das in doppeltem Maße. Die erste Folge
der Republik dagegen würde eine starke Verminderung der Armee sein;
Spanien, von der See und der Pyrenäen wie mit einer natürlichen Mauer
umgeben, wird von Niemand bedroht und bedarf nur einer sehr geringen
Militärmacht; das unverhältnißmäßig große Heer drückt aber schon seit lange
auf dem überschütteten Lande und bildet die wesentlichste Ursache des permanenten
Deficits^ dasselbe wird mehr als beseitigt wenn der enorme Präsenzstand von
236.000 Mann auf etwa 100,000 Mann reducirt wird. Außerdem würde
durch eine Republik auch die Civilliste wegfallen: Gründe genug um die
Republik populär zu machen, wenn man den hoffnungslosen Zustand der
Finanzen berücksichtigt. Dabei haben die Republikaner den Bortheil eines
bestimmten Zieles, während die Monarchisten nicht sehen können wofür sie
kämpfen, so lange sie dem Volke keinen König zeigen können; auch acceptiren
manche der Parteien wie z. B. die Carlisten die Republik in der Hoffnung
auf ihrem neutralen Boden am besten operiren zu können, obwohl sie sich
dabei wohl ebenso irren werden, wie die französischen Legitimisten es bei der
Republik von 1848 thaten. Wir glauben daher, daß Spanien seinen Eintritt
in die vierte Phase der Revolutionen mit Annahme der republikanischen
Staatsform bezeichnen wird, vornehmlich weil allein unter ihr die Cortes die
Macht haben werden die Armee zu reduciren: ein König könnte dazu nie
seine Einwilligung geben. Möglich wäre es allerdings, daß Prim dem durch
einen Staatsstreich zuvorzukommen suchte, wenn ein neuer, größerer Aufstand
ihm dazu Anlaß gäbe; indeß ist er so klug .wie seine Freunde ihn schildern,
so wird er seine Zeit ruhig abwarten; denn daß mit ver Proclamirung der
Republik nichts definitiv entschieden ist, vielmehr damit nur eine neue Reihe
von Schwierigkeiten beginnt, die wahrscheinlich doch in einer Dictatur enden
wird, liegt auf der Hand.
Am 22. August fand die Eröffnung des tiroler Landtages statt. Die cleri-
cal-feudale Partei trug die Erbitterung gegen die Eingriffe in ihre sogenannten
Rechte schon beim Beginn der Versammlung in auffälliger Weise zur Schau. Um
nicht bei der ersten Sitzung in das unvermeidliche Hoch auf den Kaiser einzustimmen,
blieben der Fürstbischof von Brixen, der im nahen Mieders weilte, der Bischof von
Tvient und die beiden Kampfhähne Greuter und Giovanelli selbst von der kirchlichen
Feier weg. Als dann einige Tage nachher die Regierungsvorlage betreffs der
Schulaufsicht eingebracht wurde, zeigten sich schon bei der Wahl des Ausschusses zur
Berichterstattung die guten Absichten der Clericalen. Die Wahl erfolgt bei derlei
allgemeinen Fragen in der Regel aus den nach Landestheilen gebildeten fünf Gruppen
und die clericale Majorität hatte gleich anfangs bei deren Zusammenstellung dafür
gesorgt, daß sie durch geschickte Trennung der Liberalen in den deutschen Gruppen die
Oberhand erhielt; nur'bei jener der Wälschtiroler war dies unmöglich. Um nun
auch diese zu beseitigen, einem Minoritätsvotum vorzubeugen und alle Verhand¬
lungen geheim zu halten, wurde die Mahl eines Ausschusses von sieben Mitgliedern
aus dem ganzen Hause beliebt, wozu man die verläßlichsten, den Fürstbischof von
Brixen. den reactionären wiener Professor Pater Albert Jäger, noch ein paar an¬
dere Geistliche, Decan Tarnoczp und Probst Degara, zwei unterthänige Schullehrer
vom Lande und jenen jesuitischen Oberlandesgerichtsrath Jgnoz Giovanelli erkor,
der als Chorführer der schwarzen Partei nicht fehlen durfte, obschon man lauter
Fachmänner zu wählen vorgab. Dieser Augur der Partei trieb seineu Hochmuth
so weit, daß er dem zur ersten Ausschußsitzung erschienenen neuen Statthalter Frei-
Herrn v. Lasser leichtfertig an einem Bleistifte schnitzend hinwarf, die Beamten ver¬
ständen alle Nichts von der Schule, was er dann freilich mit einer Abbitte büßen
mußte. Das Bestreben der Clericalen zielte auf Verschleppung der Schulfragc ab
und wenn der Statthalter den Ausschuß nicht fortwährend zu deren Berathung ge¬
drängt hätte, wäre diese wohl erst in der nächsten Session überhaupt zu Stande
gekommen. Die treuen Alttiroler, die sich mit den feudalen Czechen und Polen in
steter Fühlung erhielten, hofften auf das Gelingen des Sturmanlaufs in Lemberg
und auf den Sturz des liberalen Ministeriums, dem sie nnr noch eine kurze Frist
von höchstens sechs Wochen gaben; dann übernahmen vielleicht Greuter und Giova-
nelli die Portefeuilles des Cultus und der Justiz. Bis dahin sollte sich der Land¬
tag mit unschädlichen Spielwerk beschäftigen, um jedes Präjudiz für die Zukunft
zu vermeiden, und der clericale Landeshauptmann or. Haßlwanter unterstützte seine
Freunde so gut er konnte, anfangs durch achttägige Ferien und später durch die
Beihilfe der säumigen Comites.
Die Berathungen der ersten fünf Wochen füllten zumeist Gesuche um Nachlaß
früherer oder Gewährung neuer Vorschüsse und Darlehen, insbesondere aus Wälsch-
tirol aus. Wenn von seinen Abgeordneten in Folge der Enthaltungspolitik der Jtalia-
nissimi (mit Einschluß zweier Vertreter des adeligen großen Grundbesitzes) auch nur
zehn auf dem Landtag erschienen waren, so vergaßen die dortigen Gemeinden doch nie
ihre Zugehörigkeit geltend zu machen, sobald es sich um die Vertheilung der Ein¬
künfte des Approvisirungsfonds handelte. Clericale und Liberale spendeten dann
mit vollen Händen, jene aus Opposition gegen Italien, das den Staat von der
Herrschaft der Kirche befreien will, diese zur Erlangung neuer Bundesgenossen bei
den künftigen Wahlen. Auch die Statute für die Unterstützung der Landesver¬
theidiger und die Brandversicherung liehen zu drei.Sitzungen Stoff.
Daran reihten sich Gesetzentwürfe über die Bezirksvertretungen und die Er¬
neuerung der Hypotheken sowie eine Verhandlung über den Ankauf der Güter des
ehemaligen Chorherrenstiftes Se. Michael. Erstere waren im Jahre 1863 auf
großen Widerstand gestoßen: man besorgte davon - eine Schmälerung der geistlichen
Bevormundung. Nun, da die Regierung die volle Autonomie der Gemeinden auf ihre
Fahne geschrieben, erschien Nichts Wünschenswerther als ein Mittelglied zwischen diesen
und dem Landesausschuß, das sie überwachen, in Recurssällen Bericht erstatten sollte ?c.
Im Grunde dachte man dabei nur an neue Knotenpunkte für gute Disciplin,
und weil diese den Geistlichen bei kleinen Bezirken leichter fiel als bei großen, hielt
man sich an den schon vor fünf Jahren gemachten Vorschlag der Eintheilung nach
Gerichtssprengeln, deren es in der gefürsteten Grafschaft Tirol nicht weniger als
K5 gibt. Dagegen sträubten sich vor Allen die Wälschtiroler, die für sich am liebsten
einen einzigen Bezirk mit einem kleinen Sonderlandtage in Trient gebildet hätten.
Dies schien trotz der Vermittelung des Fürstbischofs und des Probstes Degara auch
den Clericalen gefährlich, und da ihr Vorwort doch einige Rücksicht gebot, kam es hinter
den Coulissen zu einem Vergleich, wodurch der schwarze Club deu Wälschtirolern
acht Bezirksvertretungen nach der Zahl und Ausdehnung ihrer Bezirkshauptmann¬
schaften bewilligte. Einer Eintheilung nach demselben Princip für Deutschtirol, die
dessen Vertreter auf der Linken wünschten, traten die Hüter der Stiftshütte um so
entschiedener entgegen, als es sich dabei um die Verwaltung der eigentlichen Privat¬
domäne ihrer Landeshoheit handelte; es blieb für die Gemeinden deutscher Zunge bei
den 38 Gerichtsbezirken. Die einzige Beschränkung, die ihnen der Statthalter abnöthigte,
bestand in dem Schutze der Gemeinden vor einer Schmälerung ihres selbständigen
Wirkungskreises; eine fernere Andeutung, daß das Netz gemeinsamer Interessen auch
der wichtigste Maßstab für ihre Ausdehnung sei, verhallte an tauben Ohren.
Der Antrag wegen des Ankaufs der ehemaligen Stiftsgüter von Se. Michael
bezog sich auf einen Landtagsbeschluß vom Jahre 18K4, der die Nothwendigkeit einer
landwirtschaftlichen Lehranstalt für Tirol aussprach. Schon damals hatte sich K. v.
Zallinger mit einer „niederen" Ackerbauschule begnügen wollen. Aber auch diese wäre
wahrscheinlich eingeschlafen, wenn nicht die Feilbietung jenes Klostergutes einem frei¬
sinnigen Mitgliede des Landesausschusses Anlaß gegeben hätte, die Sache wiederum in
Anregung zu bringen. Das Ergebniß der desfallsigen Nachforschungen lautete sowohl
betreffs der Tauglichkeit als des Schätzungspreises günstig. Da trat ein neues Hinder¬
niß, die Eifersucht des Nordens mit dem Süden, dazwischen. Trotz des Gutachtens
der Sachkundigen, daß sich die dortigen Niederungen, Berghöfe und Alpen zum Be¬
trieb sämmtlicher Culturzwcige von Tirol eigneten, war das Bedürfniß beider Landes¬
theile noch nicht genug berücksichtigt und sollten diesfalls bei, der nächsten Session
neue Anträge gestellt werden; nur der Ankauf wurde schon jetzt beschlossen. Dafür
stimmten mit Ausnahme eines einzigen Bauers alle Clericalen, weil Freiherr Ignaz
Giovanelli das Geschäft für vortheilhaft erklärt hatte.
Allmälig kam es nun auch an die Regierungsvorlagen. Der schwarze Club
hatte das Stichwort ausgegeben! „der Landtag" (d. i. seine clerical-feudale Mehr¬
heit) „wird nachgiebig sein, wo es sich nicht um Grundsätze handelt: betreffs
dieser hören aber alle Concessionen auf." Wie er diese Nachgiebigkeit verstand,
zeigte sich gleich beim Gesetz für Realschulen. Die Regierung wollte die öffent¬
lichen Semcstral- und Jahresprüfungen abschaffen: der Ausschuß für Schulange¬
legenheiten verlangte sie ausdrücklich, denn diese Schaustellungen standen in der
Ilm-tlo swäiornm der Jesuiten und ihre Lehrmethode ist die allein richtige. Als
nun der Statthalter erklärte, das Festhalten an den Scmesiral- und Schlußprüfungen
sei ein Angriff auf das System, das die Regierung bei den Mittel- und Hoch¬
schulen seit Jahren angenommen, und stelle das ganze Gesetz in Frage, beantragte
Graf Brandis die Weglassung ihres ausdrücklichen Verbotes; der versöhnliche Bischof
von Brixen aber verlangte, daß darüber besonders abgestimmt werde, da er sonst
„nicht einmal Gelegenheit hätte zu constatiren, wie er in Betreff der Schulprüfungen
eigentlich gesinnt sei." Da die ganze Rechte der Eminenz beitrat, sind die Schul¬
prüfungen durch diesen Gesetzentwurf zum mindesten nicht ausgeschlossen worden.
Noch deutlicher trat der ultramontane Pferdefuß bei der Abänderung des Ge-
mcindegesetzes zu Tage. Dieses sür ganz Oestreich im Jahre 1859 erlassene Gesetz
zählt zu den Gemeindemitgliedern außer den Angehörigen auch die Genossen, wo¬
runter man jene Staatsbürger versteht, die, ohne in der Gemeinde ihres Wohn¬
sitzes .heimatsberechtigt zu sein, daselbst von ihrem Nealbesitze, Erwerb- oder Ein¬
kommen Steuer entrichten. In allen übrigen Kronländern waltete dagegen kein An¬
stand ob, nur in Tirol wollte man ihnen aus Furcht vor Protestanten und Juden
die Mitgliedschaft nicht gewähren; nach der tiroler Gemeindeordnung, die in der
segensreichen Zeit Belcredi's zu Stande kam, sollten sie zwar zu allen Lasten der
Gemeinde beitragen, aber nicht die Rechte der Angehörigen theilen. Der Reichs¬
rath hatte gerade,aus Anlaß der für Tirol gemachten Ausnahme den allgemeinen
Grundsatz ausgesprochen, daß den Genossen das active und passive Wahlrecht zur
Gemeindevertretung unter denselben Bedingungen zukomme wie den Angehörigen,
und eine entsprechende Regierungsvorlage bezweckte die Durchführung dieses Gesetzes
in Tirol. Der sür Gemeindeangelegenheiten gewählte Ausschuß sträubte sich dagegen
unter mancherlei Vorwänden; endlich gelang es dem Statthalter bei zufälliger Ab¬
wesenheit der beiden Leithammel noch in letzter Stunde unter den übrigen acht auch
die sechs clericalen Stimmen zu gewinnen, wodurch die Annahme des Gesetzes im
Hause gesichert schien, da an der Unterstützung der Linken nicht zu zweifeln war.
Diesem Schlag für das Land mußte um jeden Preis vorgebeugt werden, und wieder
war es Giovanelli, dessen gute Schule auch diesmal aushalf. Als Beamter konnte
er sich persönlicher Rücksichten halber nicht offen gegen ein Reichsgcsctz auflehnen;
vom dreisten Polterer Greuter war man dies schon längst gewohnt, es wurde daher
dieser als Sturmbock vorgeschoben. Kaum war die Debatte eröffnet, so erhob sich
der geistliche Volkstribun mit der Erklärung, die Frage sei zu wichtig, um ohne
vorläufige Rücksprache mit den Committenten entschieden werden zu können. Im öst¬
reichischen Herrenhause sei man nicht darauf eingegangen, den steuerzahlenden Aus¬
wärtigen mehr als das Wahlrecht zur Gemeindevertretung einzuräumen, wodurch
„Tirol mit einem blauen Auge davon gekommen"; nun gehe man noch weiter
als selbst das Gesetz, indem man den Genossen auch das Recht zur Wahl in den
Landtag eröffne. Er stellte den Antrag, der Landesausschuß möge beauftragt werden
vorerst zu erheben, ob und welche Nachtheile die Ausschließung der Genossen vom
Wahlrechte zur Folge gehabt, und darüber an den nächsten Landtag berichten.
Treffend bemerkte Professor Harum, er müsse sich wundern, daß der geehrte
Sprecher, der sich in so innigem Contacte mit dem Volke zu halten wisse, gerade
in diesem Punkte über dessen Gesinnungen zweifelhaft sei, und der Statthalter
wies aus dem Gesetze nach, daß das Wahlrecht zur Gemeindevertretung auch das
fernere zum Landtag in sich schließe, weil durch ersteres bereits die Eigenschaft als
Gemeindemitglied anerkannt sei. Als nun nach kurzer Unterbrechung der Sitzung der
Berichterstatter des Ausschusses erklärte, daß dessen Mehrheit, nämlich Alle außer den
Wälschtirolern, Greuter's Antrag beistimme, und der Landeshauptmann diesen Beschluß
als einen blos vertagenden beschönigen wollte, widersetzte sich dem von neuem der Statt¬
halter mit der Bemerkung: „Es ist dies kein vertagender, sondern ein ablehnender An¬
trag" und beharrte darauf, trotz der demüthigen Versicherung des Dr. Rapp, solches sei
seinen Gesinnungsgenossen nie in den Sinn gekommen. Die That bewies freilich das
Gegentheil: denn bei der namentlicher Abstimmung erhoben sich für den Ausschuß gegen
die 21 Abgeordneten der Linken 28 Clericale. Wer je am Schicksal des Schulgesetzes
gezweifelt, hatte nun völlige Gewißheit über dieses, und der Statthalter erbat sich
gleich nach der Sitzung telegraphisch die Ermächtigung, im vorgesehenen Falle den
Landtag schließen zu dürfen.
Den Männern, die unerschütterlich auf ein baldiges Grafenministerium hofften,
mußte aber doch eine gute Lehre mit nach Hause gegeben werden. Auf den Ver¬
sammlungen, welche die katholischen Zweigvereine unter freiem Himmel betrieben,
steigerte sich sowohl die Zahl des unter lügenhaften Vorspiegelungen herangezogenen
Volkes, als die Kühnheit der Auslassungen; ernstliche Ruhestörungen standen zu ge¬
wärtigen. Schon hatten sich bei einer solchen in Vomp, als der k. k. Bezirksvor¬
steher einer aufwieglerischen Entstellung des neuen Schulgesetzes Einhalt that, Rufe
vernehmen lassen, die diesen Freimaurer hinauszuwerfen drohten, und bei einer
späteren, am 27. September zu Hippach im Oberzillerthale sielen noch schärfere
Reden gegen Reichsrath und Negierung. Da war es Greuter selbst, der sich nach
einigen Trümpfen auf die gewissenlosen Volksfreunde in Wien mit folgenden Worten
vernehmen ließ: „Im Reichsrathe sind Gesetze beschlossen, welche die Rechte der
Kirche angreifen. Hat sie der Kaiser angetastet? Nein. Die Vertreter haben ihm
gesagt-. „Wenn Du diese Gesetze nicht unterschreibst, so hast Du Mord und Revo¬
lution in Deinem Reiche." Aus Anlaß dieser Vorfälle überreichten sechzehn Libe¬
rale eine Jnterpellation: „ob die Negierung nicht gesonnen sei gegen den katho¬
lischen Verein für Tirol und Vorarlberg die Bestimmungen des Vereinsgesetzes vom
15. November 1867, insbesondere jene über politische Vereine, in Anwendung zu
bringen? " Die Antwort des Statthalters ließ an klarer Einsicht und unzweideutiger
Entschlossenheit Nichts zu wünschen übrig. Seit einigen Monaten trachte der katho¬
lische Verein ein Netz von Filialen über Deutschtirol auszuwerfen und die An¬
zeichen mehrten sich, daß damit eine Agitation gegen die Staatsgrundgesetze organi-
sirt werde. Er habe anfangs nicht ohne Noth das Rüstzeug der Staatspolizei
anlegen wollen, um den Gegnern der Negierung nicht einen Vorwand zur grund¬
losen Behauptung zu geben, sie wolle gegen die Religion oder den katholischen
Glauben auftreten. Auch wisse er die Irregeführten von den Irreführenden zu
unterscheiden und habe, Wohl unterrichtet, daß gar Viele nicht einmal den Inhalt
der Staatsgrundgesetze kennen, sich der Hoffnung nicht entschlagen können, daß der
gesunde Sinn des Volkes und die unbefangene Beobachtung den Nebel der Schwarz¬
malerei durchbrechen und zu ^einem richtigen Verständnisse führen werden. Da nun
aber das Vereinswesen immer größere Dimensionen annehme, die sich katholisch
nennenden Vereine die Grenzen ihrer gesetzmäßigen Wirksamkeit überschritten und
ihre Thätigkeit auf größere Versammlungen ausdehnten, habe er Repressiv- und Prä-
ventivmaßregcln angeordnet, wovon die ersten, so lange sie nicht in das Stadium
der Endgiltigkeit gelangt sind, sich der Discusston an diesem Platze entzögen, letztere
aber die Beschränkung massenhafter Versammlungen u. s. w. zum Zweck hätten.
So sehr er den Frieden liebe, würden seine Hände, so lange er das Vertrauen Sr.
Majestät genieße, nicht erlahmen der kaiserlichen Autorität die gebührende Achtung
und dem Gesetze Gehorsam zu verschaffen. Dieser feste Ton eines Vertreters der
Regierung war in Tirol bisher unerhört, die Linke jubelte und unterbrach den
Redner mit wiederholten stürmischen Bravos.
Endlich brach der 9. October und mit ihm die Verhandlung über die Schul-
nufsicht heran. Das Neichsgesctz vom 25. Mai 1857 räumte dem Staate die oberste
Leitung 'des gesammten Unterrichts- und Erziehungswesens ein; gleichwohl blieb
die Besorgung der Religionslehre an den Volks- und Mittelschulen der betreffenden
Kirche überlassen, nur der Unterricht in den übrigen Gegenständen wurde für unab¬
hängig vom kirchlichen Einfluß erklärt. Man warf daher dem Reichsrath und der
Regierung mit Unrecht vor, sie wollten die Kirche ganz aus der Schule hinaus¬
drängen. Je ein Vertreter der betreffenden Kirche sollte im Orts- und Bezirks¬
schulrath, im Landesschulrath sollten deren zwei vom Kaiser Ernannte Platz nehmen.
Unsere Ultramontanen und an ihrer Spitze der Bischof von Brixen wollten davon
Nichts wissen; das Auswendiglernen des Katechismus des P. Canisius sollte die
Hauptsache bleiben, das Lesen und Schreiben dursten Bürger und Bauer höchstens
zur Nothdurft erlernen. Der Ausschuß für Schulangelegcnheiten stellte daher folgende
Grundsätze auf. Im Ortsschulrath gebührt dem Seelsorger der Vorsitz, er ist
zugleich Schulinspector, und hat sein Augenmerk nicht «ur auf das innere Gedeihen
der Schule, sondern auch auf das sittlich-religiöse Verhalten der Lehrer zu richten.
Im Bezirksschulrathe der Städte wird die Kirche durch zwei vom Ordinariate er¬
nannte Geistliche vertreten und der Minister für Cultus und Unterricht darf nur
einen derselben, auf dem Lande aber einen oder mehrere der geistlichen Ortsschul-
inspectoren zu Aufsehern des Bezirkes wählen. Möglicherweise sitzen zwei Geistliche
auch im Schulrathe der Landbezirke, dann nämlich, wenn der vom Ordinariate
dafür ernannte Beisitzer nicht zugleich Aufseher desselben Sprengels ist. Der
Landesschulrath besteht außer dem Statthalter zunächst und mit Vorrang vor
den sieben übrigen Mitgliedern aus den drei Landesbischöfen oder den von ihnen
ernannten Stellvertretern; nur bei persönli es er Anwesenheit der ersteren dar eine
organische Verfügung im Schulwesen und bezüglich der Lehrerbildungsanstalten, eine
Prüfung oder Begutachtung der Lehrpläne und Bücher für die Volks-, Mittel- und
Hochschulen, die Eintheilung der Schulbezirke, Ernennung oder Entlassung von Direktoren
und Lehrern u. s. w. stattfinden. Damit überdies den Bischöfen nie das Mittel
fehle Verfügungen, die ihnen unangenehm, Einhalt zu thun, wird schließlich be¬
stimmt, „daß Anträge, gegen welche sie oder ihre Stellvertreter einstimmig aus
Rücksichten der Religion oder Sittlichkeit Einsprache einlegen, nicht zum Beschlusse
erhoben werden können." So verstanden die modernen Schriftgelehrten die Un¬
abhängigkeit der Schule von der Kirche! Nicht zufrieden mit der bisherigen Leitung
und Aufsicht der Volksbildung wollten sie auch auf die Mittel- und Fachschulen
einen mehr als concordatlichen Einfluß üben und in allen Fragen über das Schul¬
wesen das letzte Wort behalten. Im Ernste konnten wohl selbst die Bischöfe und
ihre Getreuen unter der gegenwärtigen Verwaltung damit nicht durchzuringen hoffen;
der Traum vom endlichen Siege stützte sich nur auf den unausbleiblichen Wandel
des Systems, ihm sollte die Komödie mit den katholischen Volksversammlungen auch
die Wünsche des Volkes entgegenbringen.
Der gelehrte Geschichtsprofessvr an der wiener Universität, Pater Albert Jäger,
griff als Berichterstatter auf die Entstehung des Volksunterrichtes, der ein Institut
der Kirche gewesen, zurück; als kirchliches Institut hätten selbst die protestantischen
Landesfürsten die Volksschule gewahrt, bis Rousseau und die Revolution sie am
Ende des vorigen Jahrhunderts als ausschließliche Staatsanstalt im Anspruch
genommen. Ihrer Natur nach eine Hilfsanstalt der Eltern zur Erziehung ihrer
Kinder, dürfe sie nicht verwelkliche, nicht von der katholischen Kirche getrennt werden.
In diesem Sinne habe sich selbst der Unterrichtsminister v. Hafner am 2. April
d, I. im Abgeordnetenhause ausgesprochen und erklärt: in der Volksschule lasse sich
die religiös-sittliche Erziehung nicht vom Religionsunterrichte trennen. Die Regierungs¬
vorlage habe demgemäß entgegen dem Principe der Trennung der Schule von der
Kirche die Geistlichen noch wie durch ein Hinterpförtchen in den Schulrath eingelassen.
Auch stehe der Entwurf des Ausschusses um so mehr „auf dem Boden des Gesetzes",
als dieses den Landtagen die Zusammensetzung und Einrichtung des Orts-, Bezirks¬
und Landesschulraths übertragen.
Die Ausführungen von der Gegenseite leuchteten freilich dieser Loyalität hinter
die Maske. Zuerst erhob sich Dr. Rautenkranz, um Schritt für Schritt zu zeigen,
daß der Ausschußentwurf von staatlichem Einfluß nur den Schein übriglasse, dem
Episcopate die Schulwache bis zur Lahmlegung jeder Thätigkeit überantworte und
das concordatliche Monopol der Kirche noch mehr befestigen wolle. Er und seine
Gesinnungsgenossen würden keinen Stein zur Ausführung der Barricade tragen, die
man gegen ein von der Krone sanctionirtes Gesetz zu errichten beabsichtige.
Greuter meinte dagegen, daß der von den Clericalen eingeschlagene Weg eben
der rechte sei. Er berief sich auf Plato, Sokrates, Plinius und Plutarch, um zu
beweisen, daß schon die alten Heiden die Kirche von der Erziehung nicht ausge-
schlossen hätten: Quintilian habe die Eltern ermahnt, ut vligorent xriroextoi'on
8»not,issimum. Der Hauptirrthum bestehe darin, daß, „der fortgeschrittene Liberalis¬
mus" die göttliche Autorität der Kirche leugne, da es doch ihr allein zukomme, die
ewige, unfehlbare und unveränderliche Wahrheit für alle kommenden Geschlechter zu
hüten. Der liberale Staat wolle eben mit der Kirche reinen Tisch machen, wie bei
der Ehe so bei der Schule, und schon der Jugend „politischen Pantheismus" und
furchtbaren Socialismus einimpfen. Dagegen hätten selbst die französischen Republikaner
im Jahre 1860 Front gemacht Frieden geschlossen mit dem katholischen Gewissen, und
„die Freiheit des Unterrichts" auf der ganzen Linie ausgerufen. Die Seele des
Kindes sei ein zu heiliger Altar, „um darauf seine ganze Zukunft, wie auf dem
„„Judenstein"", mit dem Messer des Jndifferentismus abzuschlachten." Das katho¬
lische Volk in Tirol werde nie und nimmer zu jenen Grundsätzen der Freiheit ein
Vertrauen fassen, nach denen man die Schule organisiren wolle.
Dr. Wildauer verwies nun auf den inneren Widerspruch, in den sich ein so
maßloser Uebergriff in die Rechte des Staates verwickle. Warum man denn nicht
auch in das Herrenhaus, den Ministerrath, das kaiserliche Cabinet die Bischöfe mit
einem absoluten Veto zur Wahrung des katholischen Charakters einführe? Ob denn
wirklich ein Mitglied der Akademie der Wissenschaften der Intelligenz eines Doch
anraten im abgelegensten Winkel Tirols nothwendig nachstehe?
Auch Professor Harum ließ sich mit einigen Bemerkungen hören. Die Vorlage
des Ausschusses erinnere ihn an den König Nehadeam, der sein Volk, das ihn um
Erleichterung der Bürde bat, mit Scorpionen zu züchtigen drohte, während sein
Vater Salomon es nur mit Geißeln heimgesucht. Er befürchtete aber darum keinen
Abfall, denn jener der zehn Stämme Israels hätte sich zu einer Zeit ereignet,
als man die „wahre Freiheit" nicht kannte. Dem Monsignor Greuter warf er
hin, daß er von ihm die Uebersetzung des Wortes „sanettssimum" mit „der Hoch-
würdigste" erwartet hätte. Wenn schon an der absoluten Tugend und Weisheit
der Ortsseelsorger zu zweifeln erlaubt sei, walte dies Bedenken noch mehr gegen das
Veto der Landesbischöfe ob, da die Rücksichten der.. Religion und Sittlichkeit doch
am Ende mehr oder weniger subjective seien. Vor 300 Jahren habe man die
Lehre, daß die Erde sich um die Sonne bewege, als mit der religiösen Anschauung
unvereinbar erklärt: so könne es auch heutzutage gewisse Wahrheiten geben, die. wie¬
wohl jetzt verketzert, auch von der Kirche dereinst als zulässig erkannt werden würden.
Nun trat der Fürstbischof Nincenz von Brixen selbst an die Spitze seiner
Kämpen. Vor allem versicherte er, daß die vernommenen Vorwürfe an seiner Brust
völlig abprallten, weil sie gedeckt ist vom Schilde des reinsten Bewußtseins und der
innersten Ueberzeugung. Am meisten schmerze ihn, daß der neue, der confessionslose
Staat dazu kommen solle, die religiös-sittliche Erziehung zu überwachen. Darin er¬
blicke er ein schweres Unrecht insbesondere gegen den tiroler Clerus, der seit dem
Jahre 1768 bemüht gewesen, das Volksschulwesen auf dem Lande so sehr zu heben,
daß es da nachgerade „in gar mancher Beziehung unter allen Kronländern obenan
steht." Er erkannte zwar „die liebenswürdige Inconsequenz" der Regierungsvor¬
lage an, die in den Orts-, Bezirks- und Landesschulrath den einen oder anderen
Geistlichen hineinnahm; „allein damit geschehe den gerechten Anforderungen der Kirche
noch lange kein Genüge. In der Vertröstung auf eine bessere Praxis liege nur die
alte östreichische Halbheit." Die Kirche sei in der Volksschule nur dann vertreten,
wenn es dem Bischöfe kraft seines Amtes möglich sei, das Doppelrecht der
Aufsicht und Pflege des sittlich-religiösen Bewußtseins in nachdrücklicher Weise zu üben.
Selbst die Möglichkeit der Bestellung von Protestanten und Juden zu Lehrern
wurde herangezogen trotz der vom Unterrichtsminister betonten praktischen Noth¬
wendigkeit, daß die Erziehung in der Volksschule nur in el nem Sinne zu leiten sei.
Am Schluß der Debatte sprach noch der schlagfertigste Redner, der Statthalter
Freiherr v. Lasser. In andern Landtagen habe man die Regierungsvorlage bekämpft,
weil sie den bisherigen übermächtigen Einfluß der Geistlichkeit immer noch befestige.
Wenn Jemand, der jenen Verhandlungen beigewohnt, in diesen Saal träte, würde
er verwundert fragen, ob hier ein ganz verschiedener Vorschlag gemacht worden, oder
wenn nicht, ob bei den Lehrern, Gemeindevorständen und dem Volke in Tirol so
wenig Sinn für Religion, Sittlichkeit und Bildung vorhanden, daß man die Über¬
wachung der Geistlichkeit durchaus nicht entbehren könne. Keine dieser Voraus¬
setzungen treffe zu; man müßte dem neugierigen Frager aber erwidern, er kenne die¬
jenigen nicht, die den herrschenden Einfluß im Landtage haben und ihre Herrschaft
auch in der Schule behalten wollen. Die der Regierung gemachten Vorwürfe, daß
sie die Schule entchristliche, Juden und Protestanten als Lehrer heranziehe, seien
nur Scheiben, die sich die Herren selbst aufgestellt, um nach Belieben darauf zu
schießen. Der Kirche sei ihr Antheil nicht erst durch eine spätere Inconsequenz.
sondern schon im Gesetze vom 25. Mai 1868 zugewiesen.
Die Gegner bestünden eben nur auf einer Vollzugsvorschrift des VIII. Artikels
des Concordats, wogegen er allerdings reinen Wein einschenken und betonen müsse,
daß der Staat durch das neue Gesetz sein Aufsichtsrecht zu wahren und den schon
von der Kaiserin Maria Theresia ausgesprochenen Grundsatz: „Das Schulwesen ist
und bleibt allzeit ein Politicum" aufrecht zu erhalten denke. Der Ausschuß beab¬
sichtige die wesentlichsten Bestimmungen der Staatsgesetze umzustürzen und Beschlüsse
hervorzurufen, denen die Regierung nicht' zustimmen könne und dürfe. Wer das
beste Mittel die Staatsgesetze in Tirol nicht zur Ausführung kommen zu lassen
darin erblicke, daß man fort und fort ein Landesgesetz beschließe, das die Sanction
der Krone „unmöglich macht", irre sehr. Bei beharrlichem Widerstande des Land¬
tags könne der Reichsrath nach Artikel XI litt. in. des Gesetzes über die Reichs¬
vertretung, die Durchführung der Schulaufsicht in die eigene Hand nehmen.
Bei der Specialdebatte war der vom Ausschuß gestellte Antrag, daß der Seel-
sorger als solcher den Borsitz im Ortsschulrathe zu führen habe, der erste von prin¬
cipieller Bedeutung, Die Linke forderte namentliche Abstimmung, und nachdem sich für
dessen Annahme eine Mehrzahl von 30 gegen 21 Stimmen ergeben hatte, erhob sich
or. v. Grebmer mit der Erklärung, daß nach der nun erprobten Haltung der rechten
Seite des Hauses er und seine Gesinnungsgenossen sich an der weiteren Verhand¬
lung über den Entwurf des Ausschusses nicht mehr betheiligen würden. Auf Antrag
des Grafen Brandis wurde dieser Entwurfvon den Clericalen dann en divo genehmigt
Kaum war das fromme Werk vollbracht, als der Statthalter auf Grund eines tele¬
graphischen Befehls mittheilte, daß der Landtag der gefürsteten Grafschaft Tirol, da
er die Durchführung der Staatsgrundgesetze in Gemeinde- und Schulsachen in we¬
sentlichen Punkten abgelehnt, nach einem Beschlusse des Ministerrathes und aller¬
höchster Anordnung sogleich zu schließen sei; wobei sich die Regierung im Bewußt¬
sein der ihr obliegenden Pflicht die weitere Erwägung vorbehalte, welche verfassungs¬
mäßigen Mittel anzuwenden seien, um jenen Grundsätzen vom Landtag An¬
erkennung zu verschaffen. siegesfreudig brachte nun die Linke ein drei¬
maliges Hoch dem constitutionellen Kaiser und parlamentarischen Ministerium,
worin die Gallerie und die an den Thoren des Landhauses harrende Menge mit
stürmischem Jubel einfiel; die Männer der Rechten aber verschwanden still und bleich
aus dem Saale. Eine heilsame Zurechtweisung folgte noch Tags darauf. Als
nämlich der Landeshauptmann an der Spitze der Abgeordneten beim üblichen Ab¬
schiedsbesuche den Statthalter Sr. Majestät trotz alledem der unerschütterlichen Treue
des Landes Tirol zu versichern bat, erwiderte ihm Freiherr v. Lasser: an jener
des Volkes zweifle er nicht im geringsten; es sei eben nur der Clerus, der sich
gegen die Staatsgesetze auflehne.
Der Bischof von Brixen und sein Anhang nahmen sich freilich diesen Zuspruch
wenig zu Herzen. Das Netz der katholischen Filialvereine, von welchen der Statt¬
halter bei der Beantwortung der diesfalls an ihn gestellten Jnterpellation sprach,
wurde immer weiter ausgebreitet, und der bischöfliche Kirchenlehrer von Brixen
erklärte dem blindgläubigen Volke auf der am 13. November gehaltenen Plenar-
versammlung mit dem Katechismus in der Hand, daß alle Katholiken „in Glaubens¬
sachen" (die er dann aller dings auf die Ehe, Schule und selbst das Verhältniß
zwischen Kirche und Staat ausdehnte), unter dem Papst stehen. Wer nicht den Papst
und die Bischöfe hört, hieß es weiter, sei auch wie ein Heide und öffentlicher Sünder.
Trotzdem verwahrte der Redner sich gegen den Vorwurf, als treibe er Politik!
Wer heutzutage an den Errungenschaften der Kirche festhalten wolle, müsse sich
wehren, damit wie Monsignor Greuter auf der hippacher Versammlung verrieth, Ab¬
geordnete gewählt würden, die den Kaiser vor dem gottlosen Reichsrath retten helfen.
Für die Staatsverwaltung, der nicht nur eine politische sondern auch eine
civilisatorische Aufgabe gestellt ist, tritt die unabweisliche Nothwendigkeit .heran diesem
Treiben ein Ende zu machen. So lange ihr jeder der siebzehn cisleithanischen
Landtage bei der Durchführung der Staatsgesetze ein Bein stellen kann, hat das
Regieren überhaupt keinen Sinn; gerade das Schulgesetz bewies, daß man die Er¬
ziehung des Volkes in eine kräftige Hand nehmen und es nicht dem bloßen Be¬
lieben der Polen, Slowenen und Tiroler, wie früher jenen der Czechen, überlassen
müsse, ob sie dem allgemeinen Fortschritt folgen oder sich noch länger von einem
Clerus gängeln lassen wollen, der in jedem Zweige des Wissens weit hinter den
Anforderungen der Gegenwart zurücksteht.
Geschichte Girolamo Savonarola's und seiner Zeit. Nach usum Quellen dargestellt
von Pasqucile Villari. Aus dem Italienischen übersetzt von Moritz Berduschek.
2 Bde. Leipzig, Brockhaus 1868.
Nicht ungewöhnlich in der mittelalterlichen Geschichte Italiens ist die
Erscheinung jener Reformatoren in der Mönchskutte, die durch die Gewalt
^ ihrer Rede einen fast zauberhaften Einfluß auf die Geschicke des Gemein¬
wesens ausüben, eine Zeitlang siegreich als die Begründer eines christlich¬
politischen Jdealzustands dastehen, bis sie von der überdrüssig gewordenen
Menge verlassen rascher sinken als sie emporgekommen und wieder ver¬
schwinden, fast ohne Spuren ihres Wirkens zurückzulassen. Seltsamer Wider¬
sprüche voll ist das Leben dieser begabten Männer. Sie kommen aus den
engen Klosterzellen, den Stätten der Weltflucht, und ihr feuriger Eifer reißt
sie mitten hinein in das öffentliche Treiben. Zukunftsträume predigen sie
den aufgeregt lauschenden Massen, und doch holen sie die Farben ihres
Ideals aus den primitiven Zuständen der christlichen Kirche. Mönchische
Askese, ein gesteigerter Glaube an das Wunderbare, Zeichen und Gesichte
sind die Mittel ihres Wirkens, und doch ist in ihnen ein Element, das auf
die Zukunft deutet. Nur scheinbar liegt ihr demokratisches Ideal in der
Vergangenheit. Sie selbst sind die Kinder jenes demokratischen Geistes, der
sich überall in der Umgestaltung des Städtewesens und in den Bestrebungen
einer kirchlichen Reform zu regen beginnt, desselben Geistes, dem die weit¬
verzweigten Ketzererscheinungen des Mittelalters entsprangen, wie die Grün¬
dung der Bettelorden, ihrer Gegner und Bezwinger, in welchen jener demo¬
kratische Geist selbst der alten Kirche noch einmal sich zur Verfügung stellte.
Und an jenen Widersprüchen gehen jedes Mal die Reformatoren zu Grunde,
sei es, daß sie in einem kleinen localen Kreis beschränkt bald wieder der
Vergessenheit anheimfallen, sei es daß sie auf einem größeren weltgeschicht¬
lichen Boden stehend im Kampf mit den objectiven Mächten einen tragischen
Untergang finden und dadurch auf ein höheres Piedestal gestellt deutlicher
ihre Verwandtschaft mit den Ideen der Zukunft verrathen, für die sie als
Märtyrer mit ihrem Blute zeugen.
Man glaubt schrittweis verfolgen zu können, wie im Lauf der Jahr¬
hunderte die typische Gestalt dieses politischen Klosterbruders aus dem Rohen
sich herausarbeitet. Im dreizehnten Jahrhundert begegnet uns eine Figur
dieser Art in dem Dominicaner Johann sabio aus Vicenza. Er hatte als
Prediger zu Bologna einen ganz außerordentlichen Ruf erlangt, unzählige
Versöhnungen hatte er bewirkt, so heftig wußte er gegen den Wucher zu
predigen, daß das eifrige Volk weglief und das Haus eines verhaßten Wechs¬
lers zerstörte, und so groß war sein Ansehen, daß er Vollmacht erhielt, die
Gesetze nach seiner Meinung abzuändern. Auf seine eindringlichen Mah¬
nungen legten die Weiber ihren Schmuck ab und verschleierten sich züchtig,
Kinder und Erwachsene folgten schaarenweise dem wunderthätigen Mann,
denn binnen kurzer Zeit hatte er 200 Mirakel gethan und 10 Todte auf¬
erweckt. Diesen Mann ersah sich der Papst, um in der trevisanischen
Mark Friede zu stiften, wo damals heftige Fehde zwischen Ezzelin von
Romano und den lombardischen Städten tobte. Er erschien, ging von Dorf
zu Dorf, überall Friede predigend, und auf einer großen Volksversammlung
in der Ebene von Paquara bei Verona (August 1233). wo 400.000 Men¬
schen erschienen waren, die alle durch ein Wunder jedes seiner Worte ver¬
nahmen, machte er mit seiner Versöhnungspredigt so gewaltigen Eindruck,
daß Alles sich weinend in die Arme stürzte und ein ewiger Friede durch den
Gottesgesandten gesichert schien. Freilich dauerte der Friede kaum einen
Monat. Inzwischen war es ihm gelungen, sich in Vicenza nicht nur in den
Rath wählen, sondern sogar als Graf und Herzog der Stadt anerkennen
zu lassen, und nun fing er an, die Gesetze nach Willkür abzuändern und
Alles nach seinem mönchisch-christlichen Ideal zu reformiren. Kein Wunder,
daß dem Jubel bald das Mißvergnügen folgte. Als er nach Verona gerufen
wurde, um dort gleichfalls die Stadt zu reformiren — was er damit begann,
daß er 60 Ketzer verbrennen ließ — fand er bei seiner Rückkehr nach Vicenza
bewaffneten Widerstand; er wurde gefangen, wieder freigegeben; aber sein
Einfluß war erloschen, er verfiel dem Spott. Von Allem was er beschlossen,
sagt der Chronist, blieb Nichts bestehen, und als er später als Reformator
nach Florenz gehen wollte, ließen ihm die Florentiner sagen, er möge zu
Hause bleiben, denn ihre Stadt sei sehr volkreich und habe nicht Platz für
alle die Todten, welche er auserwecke.
Ein Jahrhundert später spielte in der Stadt Pavia der Augustinermönch
Jacob Bussolart eine bedeutende kirchlich-politische Rolle. Er erwarb sich als
Prediger einen ungeheuren Ruf; Alles wollte den Frate Jacopo hören, der
erstaunlich wider die Laster der Zeit, wider den Wucher und die üppigen
Trachten der Frauen, dann aber ganz besonders wider die Tyrannen pre¬
digte. Pavia hatte sich damals von den Visconti in Mailand freigemacht,
und der junge Augustiner, der die Partei des kaiserlichen Statthalters Mark¬
grafen von Monserrat hielt, wußte einen solchen Enthusiasmus zu erregen,
daß die Stadt furchtlos die Belagerung durch ein überlegenes Heer der
Visconti bestand und in einem gelungenen Ausfalle, den der geistliche Held
befehligte, dasselbe sogar in die Flucht schlug. Das war im Jahre 13S6.
Nun baute er auf Grundlage des Evangeliums eine phantastische Republik
auf, Freiheit und Gleichheit waren die Schlagworte seiner Predigt; seine
Ermahnungen aber fruchteten so, daß die Stadt, die der verrufensten eine
war, zu einem Muster frommer Sitten wurde. Um sie von dem letzten Ty¬
rannen zu befreien, führte er einen unablässigen Krieg gegen das hervor¬
ragende Geschlecht der Beccaria und ruhte nicht, bis diese sammt ihren An¬
hängern aus der Stadt vertrieben waren. Von der Kanzel herab organisirte
der Mönch eine Art Volksbewaffnung und blieb die Seele der Vertheidigung,
als die Visconti, von den Beccaria gerufen, aufs Neue im Frühjahr 1339
gegen Pavia zogen. Nun wußte er den Fanatismus der Bürger auf das
Aeußerste zu steigern. Die Frauen kleideten sich in Schwarz und gingen in
Kapuzen verhüllt, Männer und Frauen trugen ihren Ueberfluß, ihr Ge¬
schmeide, ihre Kleider herbei, um es zum Verkauf nach Venedig zu schicken
und aus dem Erlös die Truppen des Markgrafen zu bezahlen. Allein der
Krieg ging unglücklich aus. Bussolari mußte capituliren und starb im Ge¬
fängniß. Im November desselben Jahrs zog Galeazzo Visconti in Pavia
ein und herrschte von da an unumschränkt über die Stadt.
Diese Phänomene sind wie die rohen Skizzen, welche die Natur ver¬
suchsweise hinwarf, um wieder ein Jahrhundert später aus edleren Stoff die
Gestalt des Mönchs von San Marco zu bilden. An Jene erinnert Savona-
rola zunächst, obwohl er sie unendlich überragt. Schon daß der Schauplatz
seiner reformatorischen Thätigkeit Florenz ist, das Florenz des 15. Jahr¬
hunderts, hebt ihn aus den engen Grenzen einer Stadt hinaus auf die Scene
der Weltgeschichte. Nicht ziellose Städtefehden sind der Boden, auf dem sich
seine Persönlichkeit erhebt: mitten in der blühenden Renaissance steht der
düstere von innerem Feuer verzehrte Prediger auf. durch seinen Willen ver¬
wandeln sich die lustigen Lieder der Florentiner in ernste Bußgesänge, Platon's
und Aristoteles' Schüler werfen sich vor dem Kreuze nieder, durch sein Wort
allein beherrscht er ein Gemeinwesen, wo Politik die Beschäftigung und Leiden¬
schaft Aller war, er ist die Seele einer Verfassung, die ihn überlebt und von
den größten Geschichtschreibern als ein Muster gepriesen wird, und die Un¬
abhängigkeit seiner Seele reißt den, der ewigen Gehorsam geschworen, fort
zu einem unversöhnlichen Conflict mit der höchsten Kirchengewalt, in welchem
er untergeht.
Man pflegt Savonarola mit Arnold von Brescia zusammen zu nennen;
ihr tragisches Schicksal legt den Vergleich nahe. Ein einsamer Mönch hier
wie dort, der in ungleichem Kampf zwischen geistlicher und weltlicher Gewalt
erdrückt wird. Ein Prophet Jeder, hingeopfert für den Glauben an ein
fernes Ideal der Menschheit. Aber die Art der Prophetie ist eine andere.
Auch der Schüler Abälard's eifert wider die Laster der verweltlichten Kirche,
aber mit merkwürdiger Klarheit faßt er des Uebels Kern und predigt er die
Trennung der weltlichen und geistlichen Gewalt, die Säcularisation des
Kirchenstaats. Man vergißt, daß er ein Mönch des 12. Jahrhunderts ist.
Im Dienst der ewigen Stadt, die ihre Freiheit wiedergewonnen, lebend in
den Erinnerungen der antiken Welt, erscheint er, soweit seine Züge heute
noch kenntlich sind, selbst als ein antiker Charakter von einfacher Größe, und
weit den Jahrhunderten voraneilend läßt er, von den beiden Mächten des
Mittelalters zermalmt. Nichts zurück als den Gedanken, den 6 Jahrhunderte
nach ihm erst die Gegenwart wieder zur Wirklichkeit zu machen sucht.
Viel complicirter und widerspruchsvoller ist die Erscheinung des Do¬
minicaners von San Marco. In seinem Geist streiten sich eine abster¬
bende und eine werdende Welt. Von einem mönchischen Ideenkreise erfüllt
wirst er sich der lichten Renaissance entgegen, an deren besten Gütern er
Theil hat, während er sie bekämpft. In das Kloster geflüchtet, „nur um
Ruhe und Freiheit zu finden", lenkt er Jahre lang das aufgeregteste Volk
der Welt nach seinem Willen und ist wieder wie ein Kind unter den teuf¬
lischen Verfolgungen seiner Feinde. Aus der Stille seiner Zelle wird er
zum Staatsmann und wirkt am Ausbau des modernen Staates mit, der einst
das Mittelalter mit allen seinen Klöstern zu Grabe trägt. Ein, einseitiger
fanatischer Mönch, wundergläubig und den Wunderglauben pflegend, hat er
doch zugleich einen Hauch des neuen Geists verspürt. Mit aller Gluth der
Seele für seine Kirche streitend findet er in seinem Gewissen den festen
Ankergrund, von wo es ihm möglich und zur Pflicht wird, der höchsten
Autorität der Kirche mit scharfem Widerspruch entgegenzutreten. Und indem
er die Freiheit seines Geistes mit dem Tode besiegelt, zu einer Zeit, da der
Grund des Papstthums zu wanken beginnt, da die wachsende Bildung der
Geister von allen Seiten die Herrschaft der Autorität untergräbt, steht er
dicht vor den Pforten der Reformation.
Man hat viel darüber gestritten, ob Savonarola wirklich zu den „Vor¬
läufern der Reformation", wie der Ausdruck in den Compendien lautet, zu
zählen sei oder nicht. Der Streit gehört nicht in die Geschichte, man sollte
ihn der Eifersucht der Bekenntnisse lassen. Er wäre wohl auch gar nicht
entstanden, wenn man immer zu unterscheiden gewußt hätte zwischen Vor¬
läufer der Reformation und Vorläufer der Lehre Luther's. Auf dem Denk¬
mal, das dem deutschen Reformationswerk zu Worms errichtet worden ist,
hat man neben Petrus Waldus, neben Winkes und Huß, neben dem Fran¬
zosen, Engländer und Böhmen auch dem Italiener Savonarola seine Stelle
angewiesen. Dadurch ist, wie vorauszusehen war, aufs Neue heftige Fehde
entbrannt. Das gegenwärtige Ordenshaupt der Dominicaner selbst hat sich
gedrungen gefühlt, im Namen des Ordens und der katholischen Kirche Protest
einzulegen gegen den öffentlichen Frevel, einen der Ihrigen in Verbindung
zu setzen mit den Häuptern der deutschen Ketzerei.*) Er glaubte es dem An¬
denken seines Ordensbruders schuldig zu sein, ihn zu reinigen von jedem
Verdacht der Abtrünnigkeit, und so weist denn der Doctor der Theologie
und Provincial des Predigerordens mit unleugbaren Eifer am Privatwandel
wie am öffentlichen Leben, an der Lehre wie am Sterben seines Helden nach,
daß derselbe als ein treuer Sohn und Diener seiner Kirche gelebt, gelehrt
und den Tod erlitten habe.
Diese Ausführung ist auch in der That völlig siegreich, nur beweist sie
nicht was sie beweisen soll. Sie ist ganz im Recht gegen die protestantische
Strebsamkeit, die in Savonarola einen Lutheraner vor Luther erblicken wollte
und wo nicht dessen Schriften Gewalt anthat, doch mit gefärbten Gläsern in
ihnen las. Allein damit, daß dieser unberechtigte Eifer zurückgewiesen wird,
ist die geschichtliche Stellung des Mönchs aus Ferrara noch nicht erschöpft.
Es ist wahr, Savonvrola hat nie auch nur entfernt an eine Trennung von
der Kirche gedacht. Wenn er ihre Reform verlangte, so geschah dies in dem¬
selben Sinn, in welchem innerhalb der Kirche selbst dieser Ruf immer wieder
sich erhob. Wenn er das Ganze der christlichen Lehre darstellt, so hält er
sich streng an Thomas von Aquino und erlaubt sich nicht größere Freiheit
als bei einem geistvollen Mann selbstverständlich ist, der in seiner Weise den
überlieferten Stoff vorträgt. Gerade die Lehren, welche später die Refor¬
matoren zur Grundlage ihres Systems machen, vom knechtischen Willen, von
der Prädestination, von der Rechtfertigung allein durch den Glauben, diese
Lehren alle sucht man bei ihm vergebens, wenigstens nirgends mit dogma¬
tischer Absicht und Bestimmtheit ausgesprochen; immer wandte er sich in
seiner Predigt an den freien Willen der Menschen, an die Werke, an die
Liebe; er hätte sicher den Reformatoren in diesen Stücken nicht einen Fuß
breit nachgegeben. In der That hat ihm. so parteiisch sein Proceß geführt
Wurde und trotz der offenbarsten Fälschungen, nie eine Ketzerei Schuld gegeben
werden können. Die unbedingte Autorität des Papstes stand ihm wenigstens
theoretisch jederzeit fest und noch zuletzt, als er die Fürsten Europas auf¬
bietet zu einem Concil, als dessen erste Handlung er die Absetzung Borgia's
betrachtet, müht er sich peinlich ab zu vereinigen, was ihm Beides in gleicher
Weise feststeht, nämlich die Unfehlbarkeit des Haupts der Kirche und das
Recht des Gewissens, sich aufzulehnen gegen offenbares Unrecht, das von die¬
sem Haupte kommt. Allein hier steht er nun auch haarscharf auf dem
Punkte, wo an seinem Schicksal die Wende der Zeiten sich ankündigt. Noch
thut er nicht den entscheidenden Schritt; aber man empfindet, daß bald ein
Andrer ihn thun wird. Aus der Asche, die im Arno verstreut ist, mußte sich
ruhelos der rächende Geist erheben. Und dieselbe entflammte Predigt wider
die Laster der Kirche, dasselbe Ringen um die Erneuerung der Menschheit,
dieselbe Furchtlosigkeit des Gewissens wird in einer neuen stärkeren Kraft
verkörpert den Weg aus dem Labyrinth finden, in dem Jener noch verstrickt
blieb. Luther selbst fühlte sich zu dem „heiligen Mann" hingezogen und er¬
kannte den protestantischen Geist, der aus dessen Schriften wie aus seinem
Leben sprach, und wenn auch er den Irrthum theilte, Savonarola für einen
Apostel seiner Rechtfertigungslehre zu halten, so bleibt dennoch das bekannte
Wort des deutschen Reformators bestehen: „Er erlitt den Tod, weil er Rom,
den Abgrund alles Verderbens, reinigen wollte. Aber siehe, er lebt und sein
Gedächtniß ist im Segen. Christus canonisirt ihn durch uns, sollten gleich
die Päpste und Papisten mit einander darüber zerbersten."
Savonarola steht im vollen Licht der Geschichte. Er selbst hat als
authentische Denkmäler seines Geistes eine Reihe von Schriften der verschie¬
densten Gattung hinterlassen: Lehrhaftes und Erbauliches, Briefe, Gedichte
und politische Broschüren, vor Allem aber eine große Anzahl von Predigten,
deren mangelhafte Redaction freilich kaum die ursprüngliche Gestalt, in der
sie so zündend wirkten, erkennen läßt. Sein Leben war in den letzten Jahren
ein öffentliches, verflochten in die Geschichte des florentinischen Staats, zum
Theil selbst der Gegenstand von Staatsactionen. Und die damaligen Floren¬
tiner waren aufmerksam auf alle Begebnisse, deren Zeugen sie waren. Mit
der unendlichen Beweglichkeit des äußeren Lebens hielt eine staunenswerthe
literarische Betriebsamkeit gleichen Schritt. Mönche, Gelehrte, Staatsmänner
zeichneten auf, wie sie die Dinge sahen; Vieles davon ruht ungedruckt in
den Archiven. Schüler und Freunde Savonarola's sammelten nach dessen
Tod ihre Erinnerungen, und wenn ihnen vielfach blinde, abergläubische Ver¬
ehrung die Feder führte, so fehlt es nicht an anderen nüchterneren Denk¬
mälern der Epoche; denn eben damals wuchs jenes Geschlecht heran, das, in
der Schule der republikanischen Verfassung gebildet, die Beobachtung der
politischen Schicksale von Florenz zum besonderen Studium machte und ihre
Beschreibung zu seltener Fertigkeit trieb, jene großen Geschichtschreiber, die
alle von dem Einfluß Savonarola's Zeugniß geben. So liegt also ein rei¬
ches Material zu der Biographie des außerordentlichen Mannes vor; freilich
weit zerstreut, zum Theil verborgen und nicht Alles von gleichem Werth.
Vieles hat die Kritik zurechtzustellen, was Leidenschaft oder Absicht der Par¬
teien verdunkelt hat. Ein freier geschichtlicher Sinn, durch Rücksichten der
Bekenntnisse nicht getrübt, gehört dazu, um diese Geschichte zu schreiben und
sie kann endlich nur gelingen mit Hilfe eines umfassenden Studiums der
Zeitverhältnisse überhaupt, durch welche diese geschichtliche Erscheinung bedingt
ist. Erst der neuesten Zeit verdanken wir eine Lebensbeschreibung, welche
diesen Anforderungen entspricht.
Die nächsten Vorgänger, deren Verdienst um selbständige Erforschung des
Materials unbestreitbar ist, waren Rudelbach (1835), Karl Meier (1836) und
neben diesen deutschen Arbeiten, denen noch die Charakteristik in Karl Hase's
„Neuen Propheten" (1851) beizuzählen ist, die französische von Perrens (1853,
ins Deutsche übersetzt von I. F. Schröder, 1868). Alle diese Darstellungen sind
überholt durch die Arbeit eines italienischen Gelehrten, welche zum ersten Mal
das Leben Savonarola's im Zusammenhang mit der Zeitgeschichte erschöpfend
behandelt. Die Geschichte Savonarola's von Pasquale Villari erschien in
den Jahren 1859 und 1861 und wurde sofort auch außerhalb Italiens als
eine bedeutende Bereicherung der historischen Literatur begrüßt. Es ist
gleich damals öffentlich der Wunsch einer Verdeutschung ausgesprochen worden.
Eine solche liegt nunmehr vor und das Unternehmen ist in die besten Hände
gefallen. Die Uebersetzung des Herrn M. Berduschek. gegenwärtig Pro¬
fessors der deutschen Sprache an der Normalschule in Visa, ist sorgfältig und
mit Geschmack unter den Augen des Verfassers selbst ausgeführt. Daß von
den Documenten nur die wichtigeren, auf Savonarola selbst bezüglichen, auf¬
genommen sind, ist nur zu billigen. Bei der Popularität Savonarola's in
Deutschland, die doch in der Regel nicht frei ist von gewissen Vorurtheilen,
ist es ein wirkliches Verdienst, das Werk des gelehrten Neapolitaners in die
deutsche historische Literatur eingeführt zu haben.
„Auf Grund zehnjähriger Forschungen" — bemerkt der Uebersetzer — „und
an der Hand eines reichen Schatzes neuer von ihm aufgefundener Documente
ist es Villari gelungen, nicht nur viele bisher dunkle oder falsch verstandene
Punkte im Leben Savonarola's aufzuklären, sondern auch die scheinbaren
Widersprüche in dem Charakter des merkwürdigen Mannes in einer Weise
zu lösen, daß derselbe nunmehr als eine vollkommen einheitliche, plastisch
klare Gestalt vor uns steht. Der Hauptreiz seines Werkes liegt aber im
Stil und in der Darstellungsweise. In einer einfachen und ruhigen Sprache
und doch mit warmer Begeisterung entrollt Villari vor unseren Augen das
Drama dieses bewegten Lebens. Mit wachsender Theilnahme folgen wir dem
unerschrockenen Mönch auf jedem Schritt seiner gefährlichen Bahn und obwohl
wir die Klippen, an denen er scheitern muß, klar voraussehen, stehen wir
doch erschüttert, als die Katastrophe endlich über ihn hereinbricht."
Die Documente, welche Villari neu aufgefunden hat, beziehen sich na¬
mentlich auf den Proceß, der nunmehr, wie auch der Hergang der Feuer¬
probe, vollständig aufgehellt ist. Ein mehrjähriges hingebendes Studium
hat er sodann auf die Schriften Savonarola's verwandt und auch hier gelang
es ihm, neue Schriften und Briefe aufzufinden, ferner autographische Rand¬
bemerkungen auf Bibeln, welche herausstellen, daß Savonarola immer sich
selbst gleich geblieben ist, in der Einsamkeit seiner Zelle wie auf der Kanzel
und in seinen öffentlichen Schriften. Auch die politische Geschichte von Flo¬
renz ist von dem Verfasser selbständig durchforscht worden. Ein klares Bild
der Parteiverhältnisse ließ sich namentlich aus den bisher noch nicht benutzten
Pratiche, d. h. den Auszügen der im Rath gepflogenen Verhandlungen,
schöpfen, und der Vergleich derselben mit den Predigten Savonarola's ergab
zugleich, in wie hohem Grad dieser der belebende Geist des großen politischen
Dramas gewesen war. Endlich aber ist sich der Geschichtschreiber bewußt,
seine Arbeit ohne vorgefaßte Meinung begonnen und durchgeführt zu haben.
Er wollte seinen Helden im Verhältniß zu seiner Zeit, aber nicht als einen
Vorkämpfer der Leidenschaften des 19. Jahrhunderts darstellen. Er schrieb
nicht im Interesse einer Partei, um Rom zu vertheidigen oder anzugreifen.
„Hätte ich in ihm" sagt,er, „einen Ketzer oder Ungläubigen gefunden, so
würde ich ihn ohne allen Zweifel auch so geschildert haben. Statt dessen hat
er sich mir in allen wesentlichen Punkten als Katholiken erwiesen und als
solchen stelle ich ihn dem Leser dar."
Bei einem Stoff dieser Art ist es freilich doppelt schwierig, sich aller Vor¬
eingenommenheit, aller Einwirkung nationaler und religiöser Rücksichten zu
entschlagen, auch ist es begreiflich, wenn jahrelange angestrengte Beschäfti¬
gung mit einem Helden dazu führt, mit derselben Wärme seine Sache vor der
Nachwelt zu führen, mit welcher die Piagnonen zu Florenz ihr Parteihaupt
schützten und verehrten. Allein wenn der Verfasser, wie uns in der That
scheint, feinem Helden einen höheren Platz in der Geschichte anweist, als ihm
wirklich zukommt, wenn er ihn als Geist ersten Ranges auch in solchen Fächern
erhebt, in welchen Savonarola selbst sicher am wenigsten diesen Anspruch
machte, wie z. B. in der Philosophie, so dient die eigene gewissenhafte Er¬
zählung des Verfassers selbst dazu, solche summarische Urtheile auf ihren
wahren Werth zurückzuführen. Wenn Villari auch ganz mit Recht die Ver-
suche, Savonarola zu einem Vorläufer der reformatorischen Lehre zu machen,
zurückweist, so ist doch die Art befremdlich, wie er ihm, freilich darin nicht
so weitgehend wie Perrens, dies geradezu zum Lob anrechnet, ihm deswegen
einen freieren Blick zuschreibt und eine höhere geschichtliche Stellung anweist.
Hier kommt denn doch bei aller sonstigen Unbefangenheit der Katholik zum
Vorschein, der die eigentliche Bedeutung verkennt, welche die reformatorischen
Dogmen nicht als Dogmen, aber als Ausdruck eines ganz neuen religiösen
Bewußtseins hatten. Wer Luther's Satz vom ssi-pun arbitrium nur für
eine scholastische Marotte hält, der versteht den ganzen Umschwung des 16.
Jahrhunderts nicht, der begreift den Geist deutscher Reformation nicht und der
erleichtert sich damit auch nicht das Verständniß für die geschichtliche Stelle
Savonarola's, denn er kann nicht erklären warum die deutsche Reformation
durchdrang und Savonarola scheiterte. Der Versasser schreibt am Schlüsse:
„Wird nun noch Jemand fragen ob Savonarola an das seivum aiditrium
Luther's oder an die Prädestination Calvin's geglaubt? Er umfaßte mit
seinem Geist und seinem Herzen eine Ideenwelt, die, wenn auch noch mit
vielen Vorurtheilen und beschränkten Meinungen verflochten, doch ungleich
größer war als die Welt Jener, insofern sie auf ein weit ferneres Ziel gerich¬
tet war. Der Geist, der in ihm zuerst sich zu äußern begann, war derselbe, der
das ganze folgende Zeitalter mit einem neuen Leben durchströmte und die
Cultur der Neuzeit begründete, der die moderne Philosophie erschuf, und wäh¬
rend er den Katholicismus zwang, sich zu läutern und zu reinigen, die Re¬
formation nöthigte für die Freiheit des Gewissens und für die freie For¬
schung in die Schranken zu treten, obschon diese Lehren nicht immer die
logische Folge der Prämissen Luther's waren, Savonarola war der Erste, der
die Vernunft mit dem Glauben, die Religion mit der Freiheit in Einklang
zu setzen versuchte. Er war der Erste, der die Menschheit auf jenes Ziel hin¬
lenkte, welches wir auch heute noch nicht erreicht haben, auf das wir aber
mit verdoppelter Kraft gerichtet find. Seine religiösen Bestrebungen knüpfen
sich an diejenigen Arnold's von Brescia, Dante Alighieri's und des Concils
von Costnitz, indem sie jene katholische Reform bezweckten, die zu allen Zeiten
der Wunsch der großen Italiener gewesen ist. . Eine solche Reform könnte
dereinst den Gegensatz zwischen Katholiken und Protestanten verschwinden
machen und beide in einem vom Geist unserer Zeit erneuten Christenthum
vereinigen." Der Verfasser stellt also die Mission Savonarola's geradezu
über die der deutschen Reformatoren. Allein selbst zugegeben, daß Savona¬
rola ein weiteres und höheres Ziel im Auge gehabt hätte, so wird doch
immerhin der ein größerer Wohlthäter der Menschheit sein, der in bescheid¬
neren Grenzen wirkliche und dauernde Erfolge erringt, als der nur ein Pro-
ybel ist fernerer Ziele. — Doch genug und übergenug des theologischen Ge¬
zänks. Ernsthafter scheint uns die Frage, wie es kam und kommen mußte,
daß der Mönch, als er am 23. Mai 1498 auf dem Scheiterhaufen vor dem
Palazzo vecchio stand, auf ein fast resultatloses Leben zurückblickte.
Die erhöhten Anforderungen des norddeutschen Bundes an die Steuer¬
kraft der einzelnen Bundesglieder dürften in keinem andern Bundesstaate so
weitgreifende Wirkungen geäußert haben, wie in Mecklenburg. Mögen an¬
dere Staaten materiell schwerer von dem Druck derselben getroffen werden
als Mecklenburg, das, wenn auch höher besteuert als bisher, doch einer noch
größeren Last gewachsen sein dürfte, so wird doch nirgend eine derartige
Umwälzung der bestehenden Einrichtungen eintreten, wie sie Mecklenburg in
Folge des Eintritts in den norddeutschen Bund bevorsteht, zum Schrecken
der Einen, zur Freude der Andern. Denn es handelt sich für Mecklenburg
um nichts Geringeres, als um die Beseitigung der mittelalterlichen durch die
Reversalen von 1621 und den landesgrundgesetzlichen Erbvergleich von 1785
sanetionirten Institutionen, dieser Staatsgrundgesetze, die wie Ruinen in
das neue deutsche Staatsgebäude hineinragen, während für andere Bundes¬
staaten, die den financiellen Anforderungen des Bundes auf die Dauer nicht
gewachsen sein möchten, nur das Aufgeben der particularistischen Sonder¬
existenz, das Aufgehen in dem großen Staatskörper des deutschen Einheits¬
staates in Frage steht, eine Umwandlung, die nicht sowohl die Staats¬
bürger als die Landesherren berührt. Die Gründung des norddeutschen
Bundes auf konstitutioneller Basis hatte für Mecklenburg eine ganz andere
Bedeutung, als für Sachsen. Braunschweig und wie die kleineren Staaten
alle heißen. Wenn wir uns eines Bildes bedienen dürfen, so möchten wir
sagen, Preußen habe wie ein großes Meer die benachbarten größern und
kleinern Gewässer an sich gezogen, und wenn es eines und das andere nach
und nach in sich aufnehmen sollte, so wird doch der Tropfen Wassers, der ins
Meer fällt, Wasser bleiben. Anders Mecklenburg, dessen heterogene Elemente
sich dem großen Ganzen nicht so leicht und vollständig assimiliren. Verglichen
wir die anderen Staaten dem Wasser, das das Meer in sich aufnimmt,
so möchten wir Mecklenburg den Fels nennen — Andere nennen es den
Stein des Aergernisses — den das Wasser des Meeres wohl bespült und
benetzt, aber nicht zu Wasser macht. Und dennoch: Tropfen höhlen Steine
aus, und den gewaltigen Wogen der Zeitströmung, welche Mecklenburgs
Charte, den landesgrundgesetzlichen Erbvergleich — in technischer Abkürzung
LGGEV. — umbrausen, wird auch dieser auf die Dauer nicht widerstehen können.
Unter den Auspicien des alten Bundes war es möglich, Mecklenburg
gegen den Einfluß des fortschreitenden Zeitgeistes in einer Art abzusperren,
die ihr Prototyp in der chinesischen Mauer, ihr Symbol in der Grenzlinie
fand, durch die Mecklenburg sich in commercieller Beziehung gegen das na¬
türlich gegebene Hinterland, das Gebiet des Zollvereins, abschied. Der
Kanonendonner von Königgrätz hat den deutschen Bund unter dem Wust
seiner Acten und Protokolle begraben; aus dem Pulverdampf der böh¬
mischen Schlachtfelder hat sich der Phönix des norddeutschen Bundes er¬
hoben und das Wehen seiner Schwingen, das Throne und Grenzpfähle
umstürzte, berührte auch Mecklenburg. Die einheitliche deutsche Zolllinie ist
überall bis an die User der Ostsee hinausgeschoben, die mecklenburgische
Steuer- und Zollgesetzgebung von 1863, das Product zwanzigjähriger Be¬
rathungen, ist nach kaum fünfjährigem Bestehen über den Haufen geworfen
--aber der LGGEV-, der Schirm und Hort der mecklenburgischen Stände,
ist stehen geblieben. Nach wie vor kommen die Ritter und Mannen beider
Mecklenbuvg zusammen, bald in Sternberg , bald in Malchin, und denken im
Lärm stürmischer, regelloser Debatten die Stimme der neuen Aera, die an
die Pforten ihrer Burgen klopft, zu übertönen. Sie sehen nicht den Schutt
und Moder der mittelalterlichen Institutionen, deren Trümmer sie vergeblich
zu stützen suchen: ihnen erscheint das umliegende „Reich" in Auflösung und
Zerfall begriffen und ihre Stellung allein halten sie für unerschüttert und
unwandelbar. Die Privilegien der Städte sind zwar gefallen, die Privilegien
der Ritter ein eitler Schemen: aber die Phantasie eines Don Quixote füllt
die Lücken und Breschen des LGGEV. mit dem Phantom restaurirter Herrlich¬
keit des Fortbestandes mittelalterlicher Macht und Privilegien aus. Und die
mecklenburgischen Regierungen, obwohl in der ihrer absoluten Gewalt unter¬
worfenen Domanialverwaltung nicht ohne liberale Tendenzen, tragen das
Ihrige dazu bei, die Stände in dem Wahn zu erhalten, der sie über den
Verfall der alten Zustände täuscht. Anstatt sie an die UnHaltbarkeit der¬
selben zu mahnen, suchen sie in ihren Verhandlungen mit den Ständen
wenigstens den Schein des ständischen Princips aufrecht zu erhalten.
Freiwillig gedenken die mecklenburgischen Stände ihre Machtstellung und
ihren Widerspruch gegen die Zeitideen auch jetzt noch nicht aufzugeben. Das
hat, wenn noch Jemand darüber zweifelhaft sein konnte, der bisherige Gang
der jüngsten Verhandlungen über die von den Landesherr» proponirte Steuer¬
reform zeigen müssen. Die auf diese Reform bezüglichen Propositionen sind
es, die uns zu der Aeußerung veranlaßten, daß die Regierungen die Stände
in dem Wahn ihrer Sicherheit bestärken. Die Regierungen fordern für mo¬
derne Staatszwecke moderne Steuern von mittelalterlich organisirten Stän¬
den und wollen dieselben nach dem mittelalterlichen Pauschal- und Aversio-
nalshstem bemessen wissen. Wohl sind Stimmen laut geworden, die auf den
darin liegenden inneren Widerspruch hinweisen. Einzelne beherzte Kämpen aus
der Reihe der bürgerlichen Gutsbesitzer haben den durch eine geheime Vereins?
ante von 1793 verbundenen Rittern den Fehdehandschuh hingeworfen und
positiv den Uebergang zur modernen Staatsform durch Befürwortung des
Budgetsystems gefordert; und der Deputirte für Schwerin hat in negativem
Bilde die Unmöglichkeit einer Steuerreform, wie sie der Eintritt Mecklenburgs
in den norddeutschen Bund fordert, vom ständischen Standpunkt aus gezeigt.
Kann eine Staatsverfassung den Ansprüchen des Bundes gerecht werden,
die nach den Ausführungen des schwenner Bürgermeisters als einziges und -
doch nicht zutreffendes Analogon für die Möglichkeit einer Besteuerung des
Landes zu Bundeszwecken die Nömermonate des heiligen deutschen Reichs
kennt? Wollen die Stände auf der Basis dieser Verfassung stehen bleiben,
so können sie den Regierungen die geforderten Steuern nicht bewilligen, denn
die Bundeslasten haben die Landesherren nach dem klaren Wortlaut des
LGGEV,, der dieselben nicht kennt und alle nicht ausdrücklich von den Stän¬
den übernommenen Staatslasten auf die landesherrlichen Cassen anweist, allein
zu tragen. Wollen die Stände aber den Regierungen die zum Staatshaus¬
halt nöthigen Gelder bewilligen, so müssen sie auch darnach streben, das
Recht der Steuerzahler auf Mitwirkung bei Feststellung dieses Staatshaus¬
haltes zur Anerkennung zu bringen. Die Ritter haben zu dem Einen so
wenig Lust, wie zu dem Andern- Den ständischen Standpunkt möchten sie
nicht verlassen, denn das hieße ihrer bevorzugten Stellung entsagen, und das
Budget möchten sie nicht fordern, weil das Budgetsystem unfehlbar zum Con-
stitutionalismus, also wiederum zum Verlust ihrer Standesrechte führen
würde. Daher haben sie die Vorlagen der Regierungen bereitwilliger, als
diese selbst erwarten mochten, gutgeheißen; in einer Sitzung von wenigen
Stunden war die Sache abgemacht, nachdem das Comite vorgearbeitet hatte,
indem es dem umfangreichen Steuergesetzentwurf einen umfangreicheren Be¬
richt hinzufügte. Die Landschaft, d. h. die Vertreter der Städte, zeigten sich
schon schwieriger. Ihnen fehlte der Impuls, der, abgesehen von dem Wunsche
die durch die nothwendige Steuerreform heraufbeschworene Frage einer Ver-
fassungsresorm im Keime zu ersticken, die ritterschaftlichen Beschlüsse zu Stande
brachte. Die von der Negierung proponirte Steuerreform belastet den in den
Händen der Ritterschaft befindlichen großen Grundbesitz weit weniger als die
Städte, zu geschweige« des dem kleinen Mann aus dem Lande zugemutheten
Steuerdrucks. Daher beanstandete die Landschaft wenigstens Einzelheiten des
Entwurfs über die Verkeilung der geforderten Steuern; aber, besangen von
dem Nimbus der alten Standesherrlichkeit, der sie ihren Sitz auf dem Land¬
tage verdanken, erkannten die Bürgermeister als Vertreter der Städte so wenig
als die Ritter in ihrer Majorität die Unmöglichkeit, moderne Steuern auf
den modernden Stamm des LGGEV. zu pfropfen. Die Frage der Steuer¬
vertheilung hatte die Stände entzweit, aber über die Bedürfnißfrage waren
sie einig; diese wurde auf Grund oberflächlichster Berechnungen anerkannt und
so den Landesherren eine weitere Berathung mit ihren getreuen Ständen trotz
der von diesen in divergenten Sinne abgegebenen Erklärungen möglich gemacht.
Die Folge der Decemberverhandlungen des malchiner Landtages war daher,
daß die Stände nicht zu Weihnachten entlassen wurden, wie sonst üblich,
sondern die während der Festtage ausgesetzten Verhandlungen wurden noch
vor Neujahr wieder aufgenommen und werden, wie es nach den letzten De¬
batten den Anschein hat, zu einer Einigung beider Stände im Sinne der
Regierungsvorlage führen. Es ist alle Aussicht vorhanden, daß der malchiner
Landtag dieselbe im Großen und Ganzen gutheißt; vielleicht hat er es schon
gethan, ehe diese Zeilen die Presse verlassen. Aber das mecklenburgische Volk
darf sich nicht darüber täuschen, daß eine solche Steuergesetzgebung nur eine
provisorische sein kann. Die erhöhte Steuerlast, die durch die Hineinziehung
Mecklenburgs in den Zollverein vorzugsweise gerade auf die Schultern der
kleineren Steuerzahler gewälzt ist, gibt diesen das Recht zu fragen, ob ihre
Vertreter, die in Malchin versammelten Stände, vom Standpunkte des
LGGEV. die jetzt geforderten Steuern — ca. 700,000 Thlr. außer dem um
circa ebensoviel erhöhten Grenzzoll — bewilligen konnten. Und muß diese
Frage verneint werden, wie der Bürgermeister Pohl-Schwerin in seinem,um
29. December v. I. zum Landtagsprotokoll gegebenen Dictamen überzeu¬
gend dargethan hat, so dürfen sie fordern, daß die gleichwohl für die Fort¬
führung des Landesregiments nöthigen Steuern durch solche Organe bewilligt
werden, wie sie in allen andern Staaten bestehen, zum Mindesten, daß sie
nicht in größerem Umfange ausgeschrieben werden, als das dringendste Be¬
dürfniß erheischt, d. h. die Forderung darf nicht verstummen — und sie wird
immer und aller Orten, außer in Sternberg und Malchin, wiederholt werden
— daß zur Bewilligung der neuen, durch das Bundesverhältniß Mecklen¬
burgs nöthig gewordenen Steuern ein neues Organ geschaffen werde, zu¬
sammengesetzt aus Vertretern der Gesammtheit der Steuerzahler; zum Min¬
desten aber wird gefordert werden, daß bis dies geschehen die jetzigen Stände
nur diejenigen Steuern bewilligen, deren unabweisliche, bisher nicht nach¬
gewiesene Nothwendigkeit dargethan ist. Die Stände sträuben sich gegen
die erstere Alternative und wollen die zweite vermeiden, um nicht in die erste
zu fallen. Dir Stände denken zwischen zwei Uebeln das kleinere zu wählen
und bewilligen ohne erschöpfende Prüfung des Bedürfnisses die geforderten
Steuern, um durch die möglichste Willfährigkeit ihre Standesherrlichkeit zu
bewahren. Sie merken dabei nicht, daß sie ihrem vorzüglichsten Rechte entsagen,
dem Rechte, die nicht landesgrundgesetzlich übernommenen Lasten zurückzuweisen.
Was verpflichtet die Stände, die durch den Bund vermehrten Kosten des
Landesregiments zu bewilligen? Der LGGEV? Nein! Die Vereinbarun¬
gen von 1809? Wiederum nein! Aber weshalb bewilligen sie dieselben?
Weil sie dieselbe Erwägung leitet, von der ihre Väter vor 60 Jahren bei
Bewilligung der außerordentlichen Contribution geleitet wurden. Der da¬
malige Herzog Friedrich Franz hatte nicht übel Lust gezeigt, nach Auflösung
des deutschen Reichs die durch den Kaiser gewährleisteten ständischen Rechte
kraft seiner damals erworbenen Souveränetät zu beschränken. Nur die äußerste
Gefügigkeit der Stände gegenüber den Geldforderungen der Regierung scheint
ihnen damals den Vollbesitz ihrer Privilegien gerettet zu haben. Von ähn¬
lichen Motiven scheinen die Stände jeht nach der Katastrophe von 1866 ge¬
leitet zu werden. Man kann aller Orten in Mecklenburg 5>le Meinung äußern
hören, daß die Stände, so lange sie der Regierung nur immer flott Gelder be¬
willigen, von dieser die Anregung einer durchgreifenden Reform der Landes¬
verfassung nicht zu befürchten haben. So lange es sich nur nicht um diese
handelt, heißen sie aber lieber alles Andere und namentlich jede von der
Regierung geforderte Steuerreform gut, sollte dieselbe für die große Masse
der Steuerzahler auch eine retormÄtio in xeMS sein. Was haben die Stände
nicht sonst schon Alles seit 1866 gut geheißen! Freizügigkeit, Gewerbefreiheit,
Zollverein! Denn was sie nicht gutheißen, genehmigt ja doch der Reichs¬
tag; hin und wieder wird wohl ein leises Bedenken geäußert, dieses oder
jenes Institut passe für Mecklenburg nicht, aber man läßt sich dasselbe ge¬
fallen, weil man nicht die Macht hat. es zurückzuweisen. Es ist wahr,
manche Bundeseinrichtungen scheinen nicht für Mecklenburg zu passen,
ja es ließe sich nachweisen, daß die Mehrzahl derselben die größten Jnconve-
nienzen für Mecklenburg herbeiführt. Aber man muß das Ding nur beim
rechten Namen nennen. Die Bundeseinrichtungen wirken vielfach für Meck¬
lenburg nicht in der gehofften segensreichen Weise, aber nicht, weil sie für
Mecklenburg nicht passen, sondern weil Mecklenburg nicht für den Bund paßt,
d. h. Mecklenburg, wie es war und wie es ist. Mecklenburg kann die Ent¬
wickelung des Bundes nicht aufhalten, es muß also mit derselben fortschrei¬
ten, wenn es nicht zurückbleiben will. Vieles ist bereits anders geworden.
Vieles hat sich zum Guten geändert: aber die Bundesfreiheiten werden durch
die Bundeslasten in den Augen der Masse so lange mehr als aufgewogen,
so lange die letztern nicht in rationeller, gerechter Weise vertheilt werden.
In dieser Beziehung ist die obschwebende, durch die Bedürfnisse des nord-
deutschen Bundes angeregte Steuerreform für Mecklenburg diejenige Frage,
von deren endlicher Lösung die Entscheidung abhängen wird, ob das
Land aus der Zugehörigkeit zum Bunde wenn auch nicht alle gehofften, so
doch die nach der Organisation des Bundes möglichen, in andern Staaten
bereits erreichten Vortheile ziehen wird. Die patriarchalischen Zustände, in
denen wenigstens eine große Mehrzahl der Mecklenburger sich so lange wohl
und zufrieden fühlte, daß sie manche Mängel der einheimischen Staats¬
einrichtungen in den Kauf zu nehmen geneigt war, sie sind unwiederbringlich
vorüber. Mecklenburg ist das Glied eines großen Stacitskörpcrs geworden
und muß an dessen Lasten mittragen. Daß es diese Lasten tragen kann,
darüber ist kein Zweifel; es kommt nur darauf an, dieselben richtig zu ver¬
theilen und die Mittel des Landes in ausgiebigster Weise zu verwerthen.
Aber bis jetzt spürt man von dem Einen so wenig, wie von dem Andern.
Mecklenburg fühlt daher vorwiegend nur den Druck der Bundeslasten und
seine Stände, nur besorgt um die Wahrung ihrer Privilegien, zeigen wenig
Eifer, denselben zu vermindern. Die Regierungen fordern instinctiv, wie
alle Regierungen, möglichst reichliche Deckung für die Staatsbedürfnisse; die
Stände, anstatt, wie in andern Staaten, deren Vorbild sie überhaupt mit
Hand und Fuß abwehren möchten, zu streichen, was zu viel gefordert wird,
und ehe sie Steuern bewilligen, auf sonstige Mittel zur Bestreitung der
Kosten des Regiments hinzuweisen, bewilligen, — um sich nur das Recht zu
wahren, überhaupt noch gefragt zu werden, — Alles was gefordert wird in
Bausch und Bogen, unbekümmert um das Wohl und die Wünsche der
Steuerzahler.
Die mecklenburgischen Stände sind durch die Ereignisse in eine Position
gedrängt, in der sie mit sich selbst in Widerspruch gerathen. Sie behaupten,
die Vertreter des Landes zu sein; aber um nur ihre politische Stellung und
deren Sonderrechte zu wahren, setzen sie das wahre Interesse des Landes
diesen nach. In der Sache selbst freilich liegt kein Widerspruch. Die Feudal¬
stäude des Mittelalters waren keine Landesvertreter, sondern verhandelten
mit den Fürsten nur über ihre Standesrechte und Privilegien. Erst als
die Forderung nach wirklichen Landesvertretungen,in den deutschen Territo¬
rien laut geworden und deren Erfüllung durch die Grundgesetze des deut¬
schen Bundes gewährleistet war, suchten Ritter- und Landschaft, um nicht
von der Bühne des politischen Lebens abtreten zu müssen, sich als Landes¬
vertreter im modernen Sinn zu geriren. Das gelang ihnen scheinbar, so
lange der stagnirende Zustand des innern Staatslebens an sie nicht die Förde-
rung stellte, über Gesetzesvorlagen zu berathen, die denselben erschüttern
sollten, um ihm neues Leben zu geben. Je mehr sich aber die fortschreitende
Entwickelung des modernen Staatslebens von den landesgrundgesetzlichen
Zuständen und Einrichtungen entfernte, desto größer wurde die Kluft zwischen
dem historischen ständischen Standpunkt und der fingirten Stellung der Nitter-
und Landschaft als Volks- und Landesvertreter. Und je größer diese Kluft
wurde, desto schiefer wurde die Position der Stände: sie möchten gerne noch
ferner als einzige Vertreter des Landes gelten und können doch ihren wahren,
den ständischen Standpunkt nicht verleugnen, weil sie sich nicht selbst ver¬
leugnen können. Die Stände mögen daher immerhin den Versuch machen,
noch eine Weile den Naturgesetzen der staatlichen Entwickelung zu trotzen,
den Anforderungen des Bundes können sie auf die Dauer nicht gerecht
werden.
Eine Steuerreform im modernen Sinne ohne gleichzeitige Reform der
Landesverfassung ist unmöglich. Letztere hat Mecklenburg bisher dauernd nicht
zu erringen vermocht, die erstere ist jetzt durch die Forderungen des norddeut¬
schen Bundes unumgänglich nöthig geworden. Wenn gleich diesem keine directe
Einwirkung auf die innern Verfassungsverhältnisse der Einzelstaaten einge¬
räumt ist, so darf Mecklenburg doch hoffen, eher, als es sonst geschehen sein
dürfte, bei indirecter Einwirkung des Bundes seine abgelebten Institutionen
durch eine Neuschöpfung ersetzt zu sehen.
Vor einiger Zeit ist in Ihren Blättern die Frage der Verlegung der
Universität Kiel nach Hamburg zur Erörterung gekommen. Auf Anlaß der
Verhandlungen des preußischen Abgeordnetenhauses vom 18. December dürfte
es geeignet sein, auch der Frage einer Verlegung der marburger Universität
nach Frankfurt a. M. kurze Besprechung zu widmen. Denn in jenen Ver¬
handlungen ist eine solche Verlegung von den Abgeordneten v. Patow und
Graf Schwerin warm empfohlen worden und der Cultusminister v. Muster
hat die Möglichkeit eines späteren Zurückkommens der .Regierung auf diesen
von ihr schon einmal erwogenen Plan angedeutet.
Wir sollten meinen, daß man bei Fragen solcher Art zunächst unter¬
suchen muß, ob das Vorhandene unhaltbar ist, bevor man die Gründe
prüft, welche für das an seine Stelle zu Setzende Neue geltend gemacht werden:
in unserm Falle wird es sich also zuvörderst darum handeln müssen, ob
Marburg als Universität nicht erhalten werden kann. In den politischen
Kämpfen des Kurfürstenthums Hessen bildete der traurige Zustand Marburgs
ein beliebtes Steckenpferd der Opposition, zum Theil mit Recht, zum Theil
mit Unrecht. Freilich hat es die kurhessische Regierung häufig daran fehlen
lassen tüchtige Kräfte, der Universität die durch auswärtige Berufungen ent¬
zogen wurden, zu erhalten; allein dabei darf auch nicht übersehen werden,
daß die eng begrenzten Verhältnisse einer Anstalt, welche ihrem ganzen Zu¬
schnitte nach nur eine für die Angehörigen eines kleinen Territoriums be¬
stimmte Landesuniversität war, wenig Fesselndes sür strebende Gelehrte haben
konnte, denen anderswo ein größerer Wirkungskreis geboten wurde. In
dieser Beziehung hat die kurze Zeit der preußischen Herrschaft den auf Mar¬
burg lastenden Bann gelöst: neue sehr beträchtliche Lehrkräfte sind während der¬
selben für sie gewonnen worden, die Zahl der Studenten hat sich um ein
sehr Beträchtliches vermehrt. Geradezu lächerlich aber ist es, wenn Marburg,
weil es der Wohnort Vilmar's war, als der Heerd der kirchlichen und po¬
litischen Reaction dargestellt wird. Unter den deutschen theologischen Facul-
täten gibt es vielleicht wenige, in denen eine mild vermittelnde Richtung
so vorherrschend ist wie in der marburger, und was die politische Stellung
der Universität betrifft, so braucht man blos an die Thatsache zu erinnern,
daß dieselbe Pauli zu ihrem Vertreter im Herrenhause gewählt hat, — und
dann einen vergleichenden Blick auf Göttingen zu werfen.
Wir wissen. daß wir eine Saite anschlagen, die nicht bet Allen Anklang
findet, wenn wir auf die Geschichte Marburgs und insbesondere darauf
aufmerksam machen, daß es die älteste protestantische Universität ist; aber
wir wollen deshalb unsere Meinung nicht verschweigen. Nur eine rasch¬
lebige und auf den Augenblick gestellte Zeit kann vergessen, daß Geist und
Charakter einer Hochschule nicht blos durch die Personen bedingt sind, welche
sie augenblicklich zusammensetzen, sondern zum großen Theile auch durch ihre
Vergangenheit. Insbesondere in ungünstigen Perioden, wie sie jede Anstalt
einmal durchmachen.kann,, erhält der Gedanke an sie Muth und Spannkraft
ihrer Mitglieder; aber auch in günstigeren steht deren Thun und Lassen mehr
unter dem Einflüsse der Tradition als sie sich selbst oft eingestehen. Verfolgt
man nun die marburger Universität durch die Jahrhunderte ihres Bestehens,
betrachtet man sie, wie sie im siebenzehnten Jahrhundert nach theilweiser Zer-
störung unter dem Landgrafen Wilhelm IV. gleichsam aus der Asche wieder
auflebte, bedenkt man,, wie sie auch in unserem Jahrhundert wiederholt kritische
Perioden siegreich überstanden hat, so wird man unwillkürlich zu der An¬
nahme geleitet, daß ihr eine gewisse Lebenskraft inne wohnt. Insbesondere
aber enthält die sehr große Zahl bedeutender akademischer Lehrer von Sa-
vigny und Vangerow bis auf Zeller und v. Sybel, welche von ihr aus¬
gegangen ist, ein unverwerfliches Zeugniß für ihre Lebenskraft: nur nebenbei
sei auch an die Vorliebe erinnert, mit welcher die auf ihr gebildeten hessischen
Schulmänner überall gesucht werden.
Die Interessen aller gebildeten Einwohner des ehemaligen Kurfürsten-
thums sind auf das Mannigfaltigste an Marburg geknüpft. Auf hundertfache
Weise sendet die Universitätsstadt die Strahlen eines nicht näher zu detail-
lirenden Einflusses durch das an hervorragenden Städten arme Land aus;
seiner Jugend erleichtern zahlreiche Studienstiftungen die Existenz in derselben;
gewöhnlich tragen auch alte Familienbeziehungen dazu bei, derselben diese ange¬
nehm zu machen und ihr während ihrer Studienzeit einen Halt zu geben. Wollte
die preußische Regierung alle diese Fäden gewaltsam zerstören oder künstlich
nach einem andern Punkte zu leiten versuchen, so würde uns das höchst ge¬
wagt erscheinen; vielmehr halten wir es für ihre Aufgabe den Wirkungs¬
kreis des vorhandenen Mittelpunktes so zu erweitern, daß er in keiner Weise
zum Herde eines Geistes provineteller Abgeschlossenheit werden kann.
Es ist wohl gesagt worden, daß Marburg, weil am AbHange eines
Berges gelegen, nicht hinreichend vergrößert werden könne; allein unter diesem
Berge dehnt sich ein stattliches Thal aus, das der Baulust Spielraum in
Menge bietet. Am wenigsten kann der geringe Unternehmungsgeist der mar¬
burger Bürgerschaft hierbei ein Hinderniß bilden. Sollte diese, durch die zu
große Leichtigkeit, mit der ihr so lange Zeit der Verdienst zugeflossen ist,
verweichlicht, die Vortheile der neuen Verhältnisse nicht zu benutzen verstehen,
so würde sich bald von selbst das natürliche Gesetz des Verkehrs geltend
machen, d. h. es würden unternehmende auswärtige Kräfte die fehlenden ein¬
heimischen ersetzen. Dagegen ist die schöne Naturumgebung Marburgs ein
wahrlich nicht zu unterschätzender Factor, wo es sich um den bildenden Ein¬
fluß der Universität auf die studirende Jugend handelt.
Würde die marburger Universität nach Frankfurt verlegt, so müßte sie
selbstverständlich das ihre Existenz zunächst bedingende Vermögen, ihre
Studienstiftungen und das Inventar ihrer Institute wie namentlich ihre für
eine kleine Universität gut versehene Bibliothek mit sich führen, so daß auch
bei beträchtlicher Erweiterung der Lehrmittel der historische Ruhm der Grün¬
dung nicht den Hohenzollern, sondern den hessischen Landgrafen Philipp dem
Großmüthigen und Wilhelm VI. zufallen würde: knüpft sich dieser Ruhm doch
schon jetzt vielmehr an den Ersteren als an den Letzteren. Es will uns be-
dünken, als ob es des preußischen Königshauses, das jetzt in den ehemaligen
Fürsten der neu gewonnenen Länder auch seine Vorfahren zu erblicken hat,
würdiger wäre der Stiftung Philipp's des Großmüthigen neuen Glanz zu
geben als den Schein zu erwecken, es wolle es sein Andenken verdunkeln und
die ihm gebührenden historischen Ehren auf sich überleiten. Der öfter aus¬
gesprochene Gedanke, daß die neue politische Gestaltung Deutschlands auch
eine wissenschaftliche Neuschöpfung in ihrem Gefolge haben müsse, würde darum
durch das angegebene Mittel nicht einmal recht seine Verwirklichung finden.
Aber dieser Gedanke leidet> insofern damit die Neuschöpfung einer Univer¬
sität gemeint ist, auch noch an einem andern Mangel-, er entspricht keinem
realen Bedürfnisse, und nur um eines solchen willen darf der Staat in Thätig¬
keit gesetzt werden. Als die Universität Berlin gegründet wurde, galt es
das durch die französischen Siege auf das Tiefste herabgedrückte deutsche Volks¬
bewußtsein aufzurichten und zu idealem Wollen zu erheben, eine Aufgabe,
die auf das Glänzendste gelöst worden ist. Als acht Jahre darauf die Uni¬
versität Bonn in das Leben gerufen wurde, erhielt sie die Bestimmung, eine
durch die französische Herrschaft und zum Theil schon früher durch die des
Krummstabes allem nationalen Bewußtsein entfremdete Bevölkerung wieder
in das deutsche Culturleben einzuführen und dadurch zu einem gesunden Gliede
des preußischen Staats zu machen: ihre Jubelfeier hat vor Kurzem gezeigt,
wie sehr sie dieser Aufgabe zu genügen gewußt hat. Allein Aufgaben solcher
Art liegen gegenwärtig nicht vor. Wohl müssen wir als letzte Spur fremder
Intervention auf deutschem Boden und als Folge unserer eigenen Zerrissen¬
heit noch die politische Mainlinie ertragen; aber auf den geistigen Cultur¬
gebieten, auf denen eine Universität ihre Thätigkeit entfaltet, gibt es keinen
Main zu überbrücken: an ihnen arbeiten Süddeutsche und norddeutsche ohne
jeden Unterschied. Während die norddeutschen Städte die aus dem Cotta'-
schen Verlage hervorgehenden Lieder süddeutscher Dichter vielleicht am meisten
kaufen, liest man in den württembergischen Stiften die Werke Kant's,
Hegel's und Schleiermacher's mit einem Eifer, wie es kaum noch in Berlin
geschieht. Noch weniger kann in dieser Hinsicht von einer auszugleichenden
Verschiedenheit zwischen den Bewohnern der alten und denen der neuen Pro¬
vinzen Preußens die Rede sein. Was den letzteren zum großen Theile und
noch mehr den Süddeutschen fehlt, ist der Staatssinn, das in Fleisch und
Blut übergegangene Gefühl, daß nicht der Staat der beste ist, der von seinen
Bürgern die geringsten Opfer verlangt, sondern der, der am meisten ihre
Kräfte weckt und ihre Thätigkeit spornt. Aber diesem Mangel kann nur
die Gewöhnung des Lebens, nicht die akademische Bildung abhelfen. Inso¬
weit aber eine Universität, d. h. eigentlich die Gesammtheit der an ihr wirken-
den Lehrer des Staatsrechts und der Geschichte, als Mittel betrachtet werden
kann die nationale Auffassung der Dinge den Süddeutschen näher zu führen
und den verschwommenen Phantastereien der großdeutschen Theoretiker ent¬
gegenzuwirken, besitzen wir an Heidelberg einen Vorposten nationaler Ge¬
sinnung, wie er kaum besser gewünscht werden kann. Dort ist ein neutraler
Boden gegeben, auf welchem vermöge alter Gewöhnung Lehrende und Ler¬
nende aus Süd- und aus Norddeutschland in reicher Zahl zusammenströmen
und die mannigfachste Gelegenheit haben auf einander einzuwirken. Die be¬
absichtigte neue Mainuniversität müßte Heidelberg nothwendig Abbruch thun,
ohne doch gerade in dieser Beziehung seine Wirksamkeit ersetzen zu können.
Während bei den nationalgesinnten Heidelberger Professoren Niemand etwas
Anderes als unabhängige Ueberzeugung voraussetzt, würden die Süddeutschen
die vom preußischen Staate angestellten frankfurter Lehrer von vorn herein
als befangen betrachten und nicht unterlassen über die officielle politische
Missionsanstalt unbarmherzig zu spotten, zumal deren Zweck der Welt mit
so lauter Stimme im Voraus verkündet worden ist. Wir fürchten, bis die
neue Anstalt Wurzel geschlagen hätte und gedeihlich wirken könnte, würden
Jahrzehnte verstreichen, ein Zeitraum, innerhalb dessen, wie dies schon an
einer andern Stelle hervorgehoben worden ist, hoffentlich die politischen
Gründe weggefallen sein werden, um derentwillen die Anstalt ins Leben ge¬
rufen werden soll: zählt doch überhaupt das Leben einer Universität nicht nach
Jahrzehnten, sondern nach Jahrhunderten. Daß sie auch Bonn Abbruch
thun würde, wollen wir nur nebenher erwähnen.
Läßt man den politischen Gesichtspunkt fallen und faßt man nur die
praktischen Gründe in das Auge, so sprechen gegen die frankfurter Univer¬
sität alle die Bedenken welche überhaupt gegen Universitäten in großen
Städten geltend gemacht werden. Der lebhaftere persönliche Verkehr zwischen
Professoren und Studenten, dessen Nothwendigkeit immer mehr erkannt wird,
ist fast nur in einer kleinen Stadt möglich; dazu kommen die mannigfachen
Verführungen einer großen für die Jugend. Wer Berlin kennt, weiß was
wir meinen; und doch würden die Gefahren Frankfurts vielleicht noch größer
sein. Denn Berlin ist eine in so eminenten Sinn arbeitende Stadt, daß
der allgemeine Geist rastloser Thätigkeit in ihr fast unwillkürlich auch den
Studenten ergreift, so daß er zwar sehr häufig der Verführung erliegt, aber
verhältnißmäßig selten in einem Strudel von Zerstreuungen untergeht; auch
Leipzig ist in allen diesen Beziehungen, so weit es uns bekannt ist, ein Berlin
in verkleinerten Maßstabe. Dagegen ist das westliche Deutschland leicht¬
lebiger und viel mehr auf den Genuß gestellt, und dies gilt insbesondere
von Frankfurt.
Bei den Meisten, welche für die frankfurter Universität gestimmt sind,
wirkt bewußt oder unbewußt die Vorstellung, daß Frankfurt für die Ver¬
luste, die es im Jahre 1866 erlitten hat, schadlos gehalten werden müsse.
Ist dabei die Meinung blos die, daß es darauf ankomme den kleinen Bürger¬
stand Frankfurts für die Summen zu entschädigen, welche die Bundestags¬
gesandter und ihre fürstlichen Besucher einst in Umlauf setzten, so scheint uns
das kaum ein würdiges Motiv für die Verlegung oder die Begründung
einer wissenschaftlichen Anstalt zu sein. Außerdem würde in den Augen
mancher noch nicht recht ausgesöhnter Bewohner der neuen Provinz Hessen
daran Etwas von der Moral des heiligen Crispinus kleben, da eine ihrer
Städte dafür geopfert werden müßte; auch würden ein Paar industrielle
Unternehmungen in großem Stile dieselben Dienste leisten. Allein wir geben
zu, daß der Gedanke seine tiefere Berechtigung hat. Wir betrachten Frank¬
furt nicht blos, wie Viele sich jetzt zu thun gewöhnt haben, als den Ent¬
stehungsort jener Schandpresse, welche 1866 den Zorn der preußischen Offi-
ciere reizte, oder als eine große Wechselbank sür östreichische und amerikanische
Coupons, sondern wir sehen in ihm auch die Geburtsstätte Göthe's und die
Heimath eines Bürgersinnes, der tüchtige Kunstinstitute, bedeutende Hospi¬
täler, vortreffliche Schulen gegründet hat und dessen Engherzigkeit eine fast
unvermeidliche Folge der politischen Jsolirung war. Ausgabe der preußischen
Regierung ist es, diesen Bürgersinn nicht in dumpfer Trauer über das Ver¬
lorene verkommen zu lassen, sondern ihn neu zu beleben und ihm eine Rich¬
tung auf das große Ganze zu geben. Kein unwesentlicher Hebel dazu würde
es sein, wenn in Frankfurt Anstalten begründet würden, deren Wirkungs¬
kreis nicht blos auf das Gebiet dieser Stadt beschränkt wäre, sondern auf den
gesammten Staat sich erstreckte, so daß sie wie unwillkürlich das Interesse
auf diesen lenken müßten; doch eine Universität halten wir aus den oben
angeführten Gründen für dazu ungeeignet. Wir mögen ohne nähere Kenntniß
der Verhältnisse nicht entscheiden, ob etwa die eine oder andere der gewerb¬
lichen und künstlerischen Anstalten, welche gegenwärtig in der preußischen
Hauptstadt vereinigt sind, ohne Nachtheil nach Frankfurt verpflanzt werden
könnte, obwohl wir es im Allgemeinen für möglich halten sollten. Aber ein
Anderes wollen wir wenigstens Allen, die es angeht, zur Erwägung anheim¬
stellen. Es bestehen in Berlin zwei wissenschaftliche Institute, deren naher
Zusammenhang mit einander weder dem einen noch dem andern förder¬
lich ist: die Universität und die Akademie der Wissenschaften. Bei den An¬
stellungen an der berliner Universität wirkt der Gedanke an die gleichzeitige
Thätigkeit in der Akademie zuweilen etwas mehr mit als für die unmittelbaren
Lehrzwecke wünschenswert!) ist; viel schwerer aber wiegt, daß die Akademie
einen zu localen Zuschnitt hat, gewissermaßen nur einen wissenschaftlichen
Ausschuß der berliner Universität darstellt. Das Preußen von 1866 verträgt
einer wissenschaftlichen Centralanstalt von umfassenderen Dimensionen, größerem
Reichthum der Aufgaben, minder localen Charakter; eine solche kann aber
sehr wohl an einem Orte gedacht werden, an welchem keine Universität
besteht. Wir denken sie uns als einen Verein bedeutenderer Gelehrter, welche
den größten Theil ihres Lebens der Lehrthätigkeit gewidmet haben und
durch die Vocation an eine solche Akademie die Möglichkeit gewinnen mit
völlig auskömmlichen Gehalte und in ruhiger Muße ihre eigenen litera-
rischen Arbeiten zu vollenden, die aber zugleich berufen sind die Ausführungen
großer mit vereinten Kräften herzustellender wissenschaftlicher Unternehmungen
zu leiten und zu überwachen. Die Zahl solcher Unternehmungen müßte
selbstverständlich eine größere sein als sie bisher bei der berliner Akademie
zu sein pflegte; auch müßten die Mittel vorhanden sein um immer auf kürzere
Zeit und für bestimmte Zwecke jüngere Gelehrte zu ihr heranzuziehen. Für
eine Akademie solcher Art wüßten wir keinen geeigneteren Ort als Frank¬
furt«. M., schon deshalb weil dort stets mit gleicher Leichtigkeit süddeutsche
wie norddeutsche Kräfte verbunden werden können, und durch sie könnte
Frankfurt zum Mittelpunkt eines regen wissenschaftlichen Verkehrs werden.
Die vorhandenen Universitäten aber bedürfen weder einer Vermehrung noch
einer Ortsveränderung, sondern nur einer wärmeren Pflege und reichlicheren
Dotirung.
Sie wissen, daß unsere bisherige Wehrverfassung sich auf das Gesetz vom
Is. August 1828 gründete, welches das Heer auf dem Wege der Conscrip-
tion zu erzeugen befiehlt. Hiernach hatte diejenige wehrpflichtige Jugend
Baierns (per Jahrgang ca. 42,000 Mann) durch Loosung die Reihenfolge her¬
zustellen, nach der die Einreihung ins Heer geschehen sollte. Hierauf erfolgte
die Ausrangirung der Untauglichen, während die Uebrigen nach der Reihen¬
folge der gezogenen Nummern in die einzelnen Regimenter entweder wirklich
eingereiht oder denselben zugeschrieben wurden, ohne in Friedenszeiten irgend¬
wie Dienst thun zu müssen (sog. Unmontirt-Assentirte).
Die glücklichen Inhaber der hohen Nummern entgingen, da die Anzahl
der Tauglichen in den weitaus meisten Bezirken stets höher war, als der
Bedarf, regelmäßig sowohl dem einen wie dem andern Loose. Wenn die
Einberufung eines Militärpflichtiger innerhalb zweier Jahre, vom Tage des
Beginns der Militärpflicht an, nicht erfolgte, so war er überhaupt zum Eintritt
in das stehende Heer nicht mehr verpflichtet. Der Eingereihte dagegen hatte
6 Jahre in der Armee zu dienen.
Diesem Schicksal konnte man noch dadurch entgehen, daß man einen
bereits ausgedienter Ersatzmann stellte, der bei der Infanterie auf durchschnitt¬
lich 600—800, bei der Cavalerie auf 800—1000 si. je nach den Zeitconjunc-
turen zu stehen kam.
Man hat in diesem Institute der Ersatzmannstellung einen Hauptfehler
der früheren bairischen Wehrverfassung deswegen zu erkennen geglaubt, weil
hierdurch dem gebildeten Theil der Bevölkerung die Möglichkeit geboten
wurde, sich dem Heerdienste zu entziehen.
In der That machte jedoch der Kostspieligkeit halber hiervon nur ein
sehr geringer Theil der gebildeten Elemente (Studenten. Polytechniker)
Gebrauch.
Dieselben wurden vielmehr auf einem ganz anderen Wege der Armee
entzogen.
In der Erwägung, daß für einen in seinen Vorstudien begriffenen jungen
Mann die Militärpflicht in ganz anderer Weise drückend sein müsse, als
für einen Handwerksgesellen oder Bauernsohn, war man bei dieser Institution
gegen Erstere in einer Weise connivent, daß thatsächlich mit zwei verschiedenen
Maßen gemessen wurde, je nachdem der Conscribirte den gebildeten Classen
angehörte oder nicht.
War aber aus diese Art dem jungen Manne noch nicht beizuspringen,
so wurde derselbe unter die bereits erwähnten Unmontirt-Assentirten verwiesen,
woselbst er ebenfalls militärisch nicht ausgebildet wurde.
Man kann demnach füglich behaupten, daß unter der Herrschaft des Ge¬
setzes vom 13. August 1828 in Friedenszeiten kaum ein gebildeter Mann
diente, er müßte denn Officiersadspirant gewesen sein. Dies war jedoch noch
keineswegs der größte Fehler der alten bairischen Armeeverfassung; derselbe
bestand vielmehr darin, daß sie die Reserven völlig unorganisirt ließ, sodaß
dieselben erst beim Ausbruch des Krieges formirt und exercirt werden mußten.
Bei dem Mangel aller Cadres war auch nicht annähernd der Bedarf
von Officieren für die Reservebataillone (4. und S. Bataillon) vorhanden,
sodaß die Regierung im letzten Kriege zu dem verzweifelten Mittel greifen
mußte, junge Leute ohne jede militärische Vergangenheit.'Studenten, Poly¬
techniker. Commis, Schreiber. Schullehrer und selbst frühere Handwerksgesellen.
Wenn sie nur überhaupt die Hoffnung zuließen, je zu Officieren ausgebildet
werden zu können, auf Kriegsdauer zu solchen zu ernennen.
Konnten die vierten Bataillone, zumeist aus erst abzuerercirenden Assentirten
kurz vor Ausbruch des Krieges gebildet, durch Versetzungen aus den 3 ersten
Bataillonen und durch massenhafte Beförderungen von Unterofficieren noch
nothdürftig mit brauchbaren Officieren versehen werden, so befanden sich die
fünften mit ihren sogenannten „Kriegsbedauerlichen" in einem wahrhaft kläg¬
lichen Zustande. Auch bei der Artillerie und Cavalerie wurden in Folge der
Einberufung der Reserven solche Officiere aus Kriegsdauer nothwendig, wo¬
selbst ihre Rolle noch um ein Entsprechendes lächerlicher wurde.
Es ist klar, daß bet dieser Organisation die bereits ausgebildeten Be¬
standtheile des Heeres durch Einschübe unbrauchbarer Mannschaften und
Officiere verschlechtert wurden und trotzdem die Reserveabtheilungen nicht
rechtzeitig mehr ins Feld geführt werden konnten.
So konnten denn in dem letzten Kriege nur je 3 Bataillone der ein¬
zelnen Jnfanterieregimenter rechtzeitig auf den Kriegsschauplatz gebracht
werden, die vierten standen bereit, als die Armee auf ihrem Rückzüge an der
Donau sich concentrirte, die fünften Bataillone blieben im Chaos.
Trotzdem kann man behaupten, daß Alles geleistet wurde, was mit dieser
Organisation überhaupt möglich wär.
Soviel wird genügen, um Ihnen ein wenn auch nur flüchtiges Bild des
damaligen Zustandes der bairischen Armee zu geben.
Bei etwas genauerer Einsicht in die Sachlage wird man zugeben müssen,
daß die Mißerfolge weniger der Führung des Heeres, obwohl diese ebenfalls
sehr Viel zu wünschen übrig ließ, als vielmehr der mangelhaften Organisation
und der hierdurch bedingten Unfertigkeit des ganzen Heeres zuzuschreiben
waren. Das Volk dagegen war geneigt, das umgekehrte Verfahren einzu¬
schlagen, und forderte Nichts als die Entfernung seiner Sündenböcke und die
berühmten Zündnadelgewehre.
Glücklicherweise waren jedoch Regierung und Kammern anderer Ansicht
und so kam das jetzt geltende Wehrverfassungsgesetz vom 20. Januar 1868
zu Stande, welches auch die gebildeten Elemente in die Armee zog, diese
Last auf der andern Seite durch das Institut der einjährigen Freiwilligen
milderte und die Reserven organisirte.
Die ganze bewaffnete Macht des Königreichs besteht nun aus dem ste¬
henden Heere und der Landwehr, welch' erstere sich wieder in die active Armee
und die Reserve theilt (Art. I des Gesetzes).
Die Dienstzeit in der activen Armee dauert 3 Jahre und ebenso 3 Jahre
die in der Reserve. Die Dienstzeit in der Landwehr, in welche der Pflichtige
mit Beendigung seiner Dienstzeit im stehenden Heere tritt, dauert 3 Jahre,
sodaß jeder waffenfähige Baier im Ganzen 11 Jahre, mithin bis zu seinem
32. Lebensjahre militärpflichtig bleibt (Art. 8).
Der Unterschied zwischen der activen Armee und Reserve besteht darin,
daß die Angehörigen der letzteren während ihrer ganzen Dienstzeit in der¬
selben, abgesehen vom Kriegsfall, nur zu einer im Ganzen zwei Monate be¬
tragenden Uebungszeit einberufen werden können (Art. 24).
Die active Armee soll nun bis zum 31. December 1871 ohne Er¬
rechnung der Ojficiere, Beamten und Ersatzmannschaften 1"/<, der Bevölke¬
rung nach der Zählung von 1867 betragen; von da ab aber soll die Zahl der
jährlich im Frieden in die active Armee zur Herstellung des Formations¬
standes ohne Errechnung der Ersatzmannschaften einzureihenden Wehrpflich¬
tigen mit den Kammern vereinbart werden (Contingentirung, Art. 3).
Um hiernach die gegenwärtige Stärke der activen Armee bemessen zu
können, muß bemerkt werden, daß die Zollvereinszählung von 1867 eine Be¬
völkerung von ca. 4,800,000 Seelen ergab, sodaß der Formationsstand der
activen Armee an Mannschaften sich auf 48,000 Mann beziffert, wozu noch
die Chargen mit 2,474 Mann (excl. der Unterofficiere, welche in die erstere
Summe bereits eingerechnet sind) hinzu kommen.
Eingetheilt ist diese Armee gegenwärtig in: 16 Jnfanterieregimenter ü. 3
Bataillone a. 4 Compagnien; 12 Jägerbataillone a 4 Compagnien; 6 Chevaux-
legers-, 2 Cürassier-, 2 Uhlanen- Regimenter K 5 Escadrons; 4 Artillerie,
regimenter K 12 Batterien; 1 Genieregiment; 1 Ouvriers- und 1 Feuerwerks-
compagnte; 4 Sanitätscompagnien.
Es wurde bereits erwähnt, daß dieser Mannschaftenstand zu 48,000
Mann nebst den Chargen zu 2714 Mann, den Friedensstand (nicht zu ver.
wechseln mit Präsenzstand) des Heeres bildet.
Im Mobilmachungsfalle werden nun zunächst, und zwar zur Comple-
ttrung der bereits bestehenden Heeresabtheilungen, die Reserven, also die-
jenigen Mannschaften, welche bereits 3 Jahre in der activen Armee gedient
haben, einberufen, wodurch die einzelnen Armeekörper folgende Stärke erhalten:
16 Ltnienregimenter und 12 Jägerbataillone zu 1021 Mann — 61,268
Mann; 6 Chevauxlegers-, 2 Cürassier., 2 Uhlanen- Regimenter mit 10,450
Mann; 4 Artillerieregimenter mit 11.028 Mann; 1 Genieregiment mit 2.150
Mann; 1 Ouvriers- und 1 Feuerwerkscompagnie mit 629 Mann; 4 Sanitäts¬
compagnien mit 696 Mann; Summa 86,221 Mann.
Es ergibt sich hieraus, daß die active Armee im Fall der Mobiliftrung
nicht, wie man bet der gleichen Länge der Dienstzeit vermuthen sollte, durch
48,000, sondern lediglich durch 33,747 Mann Reserven verstärkt wird.
Die hier zu Tage tretende Differenz findet ihre Erklärung darin, daß
die berittenen Waffengattungen zur Erreichung des eben beschriebenen Kriegs¬
formationsstandes überhaupt keine Reserven einziehen.
Es wird hier nämlich wegen des Pferdestandes, der im Frieden nahezu
derselbe sein muß, wie im Kriege, unmöglich, den Kriegsformationsstand, wie
etwa bet der Infanterie, auf 6 Jahre zu vertheilen und dagegen nothwendig
sämmtliche hierzu erforderlichen Mannschaften der activen Armee, also die
drei jüngsten Jahrgänge, zu entnehmen. Mit anderen Worten: die berit¬
tenen Waffengattungen bilden wegen des nothwendig auf einer gewissen Höhe
zu erhaltenden Pferdestandes mehr Mannschaften aus, als sie im Kriegsfalle
bevürfen.
Die aufgeführten 10.430 Mann Cavalerie sind daher sämmtlich Ange¬
hörige der activen Armee, und wenn sie oben ungenauer Weise unter den-
jenigen Armeeabtheilungen aufgezählt sind, welche ihren Kriegsformations-
stand durch Einziehung ihrer Reserven bilden, so geschah dies nur im Interesse
der Uebersichtlichkeit und muß in dem eben erläuterten Sinne aufgefaßt werden.
Soll nun diese Feldarmee in der Stärke von 86,221 Mann für ihren
Zweck intact erhalten, also lediglich gegen den Feind verwendet werden, so
versteht es sich von selbst, daß für eine genügende Anzahl von Depottruppen
gesorgt sein muß. Diesem Bedürfnisse kommt die bairische Wehrverfassung
dadurch nach, daß sie sogleich bet der Aushebung eines jeden Jahrganges,
sobald der Friedensformationsstand gedeckt ist, aus der Zahl der noch Verfüg¬
baren eine bestimmte Quote als Ersatzmannschaft erster Classe ausscheidet mit
der Bestimmung, im Falle der Mobilisirung die nothwendigen Depot¬
abtheilungen zu bilden. Dieselben werden sogleich mit der Ergänzung des
Friedensformationsstandes den einzelnen Heeresabtheilungen zugewiesen. Die
Ltnien-Jnfanterieregimenter bilden hieraus bei der Mobilmachung ihre 4 Ba¬
taillone, und da jedes derselben, die Chargen abgerechnet, 912 Mann zählt und
die Ersatzmannschaften, die in gleicher Eigenschaft auch in die Reserve über¬
gehen, aus allen 6 Jahrgängen des stehenden Heeres zu formiren sind, so
müssen jedem Infanterieregimente jährlich 162 Ersatzleute überwiesen werden.
Wer in die active Armee wirklich eingereiht und wer nur als Ersatzmann
derselben überwiesen wird, darüber entscheidet das Loos.
Was dann an Wehrpflichtigen nach Deckung des Formationsstandes
und der Ersatzmannschaften I. Classe noch übrig ist, bleibt als Ersatzman¬
schaft II. Classe in Listen und unter Controle des betreffenden Landwehrcom-
mandos, ohne selbst bei einer Mobilisirung vorerst in Anspruch genommen
zu werden. Sie haben lediglich den Zweck, diejenigen Lücken seiner Zeit aus¬
zufüllen, welche der Krieg in die Armee reißt, und bilden also eine Reserve
im weitesten Sinne des Wortes.
Nach dieser Betrachtung des stehenden Heeres kann nunmehr zur Land¬
wehr übergegangen werden.
Wie bereits erwähnt, tritt der Mann, der 3 Jahre in der activen Armee
und 3 Jahre in der Reserve gedient hat, unter Beibehaltung der Waffen¬
gattung, der er im stehenden Heere zugetheilt war, in die Landwehr über,
aus der jedoch nur bei der Infanterie selbständige Heerkörper, sog. Landwehr¬
bataillone, gebildet werden. Jedes Infanterieregiment hat von diesen
Landwehrbataillonen je 2, sodaß zu dem stehenden Heere auf diese Weise noch
32 weitere Bataillone als V, und VI. eines jeden Regimentes hinzukommen.
Es ist jedoch in dem Gesetze ausgesprochen, daß im Kriegsfalle aus den¬
selben besondere Landwehrtruppenkörper gebildet werden, welche nur zur Unter¬
stützung und als Reserve des stehenden Heeres verwendet und nicht in er¬
ster Linie an den Feind gebracht werden sollen. Ihre Officiere entnehmen
dieselben aus den einjährigen Freiwilligen und den Landwehrwännern selbst.
Die Landwehrmänner der übrigen Waffengattungen werden den ent¬
sprechenden Abtheilungen des stehenden Heeres einverleibt und sollen dort
als Besatzungs- oder Depottruppen verwendet werden.
Bei der Infanterie, bei welcher sich die eben besprochene Organisation
am meisten und consequentesten durchgeführt findet, stellt sich demnach die
Sache so, daß die drei ersten Bataillone eines jeden Regiments in dem Ver¬
hältniß von ungefähr 3:4 aus den Mannschaften der activen Armee und
Reserve, das 4. Bataillon aus den Ersatzmannschaften I. Classe und die 5.
und ß, Bataillone aus Landwehrmännern bestehen. Diese Organisation ist,
wenigstens in ihren Hauptgrundzügen, auch durchgeführt.
Das ganze Land ist in 32 Landwehrbezirkscommandos eingetheilt, welchen
alle administrativen auf das Ersatzgeschäft und die Mobilisirung des Heeres
bezüglichen Geschäfte übertragen sind. Die Landwehrbataillone sind formirt
und 16 derselben wurden im letztvergangenen Herbste bereits zu einer ein¬
monatlichen Dienstleistung einberufen. Allerdings konnten bisher Landwehr-
osficiere noch nicht herangebildet werden; allein dieser Mangel dürfte der
Schlagfertigkeit der bairischen Armee im Augenblick deswegen keinen Eintrag
thun, weil aus dem Jahre 1866 ein großer Theil der für die damaligen 4.
und 6. Bataillone ernannten Officiere noch vorhanden ist, mit denen die
Landwehrbataillone fast vollständig besetzt werden können.
Zugleich mit der Eintheilung des Königreiches in 32 Landwehrbezirke
wurden jedem Jnfanterie-Regimente zwei derselben als ständige Aushebungs-
Rayons zugetheilt, während sür die Jäger, Cavalerie und Specialwaffen die
Ergänzungsmannschaften wenigstens aus dem Bezirke des betreffenden Ge¬
neral - (Divisions-) Commandos gestellt werden müssen. Ebenso wurden die
Garnisonsorte der einzelnen Truppenkörper in möglichstem Anschluß an die
Aushebungsbezirke ein für alle Male festgestellt, wodurch der namentlich
zwischen der Rheinpfalz und dem diesseitigen Baiern früher sehr häufig statt¬
findende, ebenso nutzlose, als kostspielige Truppenwechsel sein verdientes Ende
gefunden hat.
Die früher bereits bestandene Eintheilung des Heeres in 4 Armeedivisionen
wurde beibehalten, doch geht man zur weiteren Aeeommodirung an die Ein¬
richtungen des norddeutschen Bundes damit um, je 2 derselben in Armee¬
corps zusammen zu legen.*) Ein Unicum unserer Wehrverfassung dürste in
Zukunft der gegenwärtig den Kammern vorgelegte Gesetzentwurf bilden, dem
zu Folge denjenigen Untauglichen, deren Erwerbsfähigkeit nicht beeinträch¬
tigt ist, und den zwar Eingereihten, aber zum Dienste nicht wirklich Ein¬
berufenen ein Beitrag zur Staatscasse auferlegt werden soll.
Soviel von der neuen Organisation und deren Durchführung.
Es ist indessen bekannt, daß nicht nur die Organisationsfrage, sondern
auch die Frage nach der Bewaffnung der Infanterie im Sinn der Annäherung
an Preußen der Erledigung harrte.
Die bairische Armee war im Jahre 1866 mit einem als Vorderlader
ausgezeichneten gezogenen Gewehre nach dem System des Obersten Podewils
bewaffnet, dem man, Angesichts der beiderseits fast gleichen Verluste im
Kriege von 1866, die Anerkennung nicht wird versagen können. Trotzdem
machte sich das Bedürfniß nach einem Hinterlader, wenn auch nicht so drin¬
gend, wie anderswo, auch in der bairischen Armee geltend und man beschloß
nach langen Berathungen, vor der Hand das vorhandene Gewehr in einen
solchen umzuändern. Mit diesem zu einem Hinterlader umgeänderten Pode-
wilsgewehre ist gegenwärtig die ganze bairische Armee bewaffnet, ohne daß
man demselben in seinem jetzigen Zustande besondere Vorzüge nachrühmen
könnte. Die neue Waffe hat keine Einheitspatrone, sondern bedarf einer
Zündkapsel, und schießt nun zwar in der Minute 4—5 Mal, hat aber auf
der andern Seite an Tragkraft und Treffsicherheit gegen früher bedeutend ein-
gebüßt. Auch wird der Verschlußapparat von Kennern keineswegs für hin¬
reichend solid gehalten.
Jedoch wird dasselbe allgemein, und zugestandener Maßen auch von
Seite unseres Kriegsministeriums, nur als ein Nothbehelf angesehen, dessen
man sich vor der Hand in der Erwägung bedient, daß auch das preußische
Zündnadelgewehr bereits seinen Meister gefunden hat und entweder einer
bedeutenden Umänderung und Verbesserung oder seiner gänzlichen Verdrängung
in nicht zu ferner Zeit entgegengeht. Für diesen Zwischenraum war denn
der von Baiern gewählte Ausweg allerdings der billigste.
Die Artillerie ist nunmehr durchgehends mit gezogenen Geschützen
nach preußischem Modell bewaffnet.
Nach alledem dürfen wir wohl die Hoffnung aussprechen, daß die bai-
risckie Armee sich würdig dem erprobten Heere des norddeutschen Bundes an¬
reihen wird, wenn die Allianzverträge vom September 1866 einstmals prak-
tisch werden sollten.
Zum Schlüsse über die Stimmung des bairischen Heeres noch einige
Worte vom nationalen Standpunkte aus.
In dieser Richtung ist nun merkwürdiger Weise genau zwischen dem
Officiercorps und der Mannschaft zu unterscheiden.
Während letztere zu einem großen Theil von einem für den Unein¬
geweihten völlig unbegreiflichen Haß gegen Preußen erfüllt ist, findet sich
hiervon im Officiercorps kaum eine Spur. Fast sämmtliche Officiere sind
für ein aufrichtiges Halten der Alltanzverträge, für möglichst engen Anschluß
an Preußen in militärischen und diplomatischen Dingen und gegen ein Zu¬
sammengehen mit Oestreich oder gar Frankreich. Mag hierzu auch die im¬
posante Machtentfaltung Preußens im Kriege vom Jahre 1866, mag die
Einsicht, daß durch diese Haltung dem Interesse Baierns und Deutschlands
am Besten gedient sei, ihr gutes Theil beigetragen haben; den größten Dienst
in dieser Beziehung hat uns wider Willen die ultramontane Presse erwiesen.
Es mag dies im ersten Augenblicke sonderbar klingen: und doch ist es
wahr. Die historisch-politischen Blätter haben in einem ihrer letzten Aufsätze
die Befürchtung ausgesprochen, daß durch die hämische Art und Weise, mit
welcher in der demokratischen Presse Württembergs gegen Beamte
und Officiere vorgegangen werde, diese in das national-liberale Lager ge¬
führt werden müßten.
Wir theilen diese Ansicht der historisch - politischen Bl. vollkommen und
haben nur noch beizufügen, daß in Baiern die ultramontane Presse diesen
Dienst der national-liberalen Partei bereits thatsächlich geleistet hat.
Es war auch nicht mehr anzuhören, mit welcher Frechheit und Sach-
unkenntniß der Volksbote und der ganze Chor der ultramontanen Blätter
bei jeder Gelegenheit über das Officiercorps herfielen, während auf der
anderen Seite die „brave heldenmüthige Mannschaft, deren Blut durch Schuld
der Officiere umsonst geflossen" in der auffallendsten Weise cajolirt wurde.
Und doch wäre, wenn man einmal in dieser gehässigen Weise über den
unglücklichen Krieg retrospective Politik treiben wollte, das umgekehrte Ver¬
fahren dem Resultate desselben entschieden entsprechender gewesen. Keine der
auf dem Kriegsschauplatz agirenden Armeen hat einen derartigen Verlust an
Officieren, namentlich in den höheren Chargen, aufzuweisen gehabt, als die
bairische: ein schlagender Beweis, wie sehr es bei der Mannschaft der En-
couragirung durch die Vorgesetzten bedürfte.
Mußte es auch einem jeden einsichtsvollen Officier im Laufe des Feld-
zuges klar werden, daß die bairische Organisation der preußischen nicht ent¬
fernt gewachsen war. ein Resultat, das auf keinen Fall die kriegführende
Armee verschuldet hatte, so konnte er sich doch mit Befriedigung sagen, daß
das Officiercorps es im Ganzen an Muth und Aufopferung, an Erponirung
der eigenen Person nicht hatte fehlen lassen.
Was aber war der Dank hiefür? Die ärgste Verunglimpfung des ganzen
Standes, die gehässigste Denunciation und Verleumdung angesehener Officiere
gegenüber der öffentlichen Meinung durch die ultramontane und theilweise
auch die demokratische Presse.
Wir erinnern nur an die Artikel des Volksboden über Generallieute-
rant von der Tann, Generalmajor Fuchs, Oberst v, Boehmer, Hauptmann
Heute, ferner an die Artikel des nürnberger Anzeigers über Generallieutenant
v. Hartmann, die in der Armee umsomehr Erbitterung erzeugten, als die
deswegen eingeleiteten Untersuchungen in den meisten Fällen mit einer
Freisprechung durch die Geschworenen endeten.
Auch wo auf einen wirtlich wunden Fleck, auf eine wirklich untaug¬
liche Persönlichkeit an sich mit Recht hingedeutet wurde, geschah das in einer
so provocirenden, die Fehler eines Einzelnen so verallgemeinernden Weise,
daß auch dadurch nur böses Blut hervorgerufen wurde.
Zu diesen Angriffen in der Presse kamen fast gleichzeitig die Landwehr-
Revolten in Ober- und Niederbaiern, welche ebenfalls wenigstens indirect
eine Folge des Treibens der Ultramontanen waren.
Es war klar, daß das Vorgehen dieser Partei, welche den Hauptstock
der preußenfeindlichen Elemente in Baiern bildet, nicht nur die Ehre des
Osficierstandes schwer schädigte, sondern auch die Disciplin in der Armee zu
untergraben geeignet war. So kann es denn gar nicht Wunder nehmen,
daß wir die bairischen Officiere fast sämmtlich zu Preußen und preußischen
Institutionen sich hinneigen sehen, worunter ich natürlich nur das verstanden
wissen will, was ich oben bereits angedeutet habe. Wo sie in die Wahlen
zum Zollparlamente eingegriffen haben, geschah dies stets im Gegensatz zu
den preußenfeindlichen Parteien.
Woher nun die Abneigung eines großen Theils der Mannschaft gegen
Preußen komme, ist aus der obigen Darstellung von selbst klar. Daß die¬
selbe nicht erst durch den Krieg vom Jahre 1866 hervorgerufen wurde, ist
ganz sicher, weil sie ebenso bereits vor demselben im Heere grassirte. Nur
insofern mag sich hierin Etwas geändert haben, als die Erbitterung früher
eine Beimischung von Verachtung an sich trug, während sie nun in den
reinen Haß umgeschlagen ist. Die Ursache dieser Erscheinung ist wesentlich
darin zu suchen, daß der größte Theil der Soldaten der katholischen Land¬
bevölkerung entstammt, die sich bekanntlich fast nirgend von den ihr eingeimpf¬
ten Vorurtheilen gegen Preußen loszumachen gewußt hat; für unsere Bauern,
seien sie protestantisch oder katholisch, fällt überhaupt Preußen mit dem
Protestantismus und Oestreich mit dem Katholicismus in Eins zusammen
und die Politik dieser Leute macht sich rein vom Gesichtspunkt der Confession
des Einzelnen aus.
Hoffen wir auch hier von einer vernünftigen Einwirkung der Officiere
auf ihre Untergebenen und von den für die Mannschaften bestimmten mili¬
tärischen Bildungsanstalten das Beste. Hier wäre wirklich für die Regierung
ein Punkt gegeben, von wo aus sie die Agitation der ultramontanen Partei
ins Herz treffen könnte. Welcher Einfluß auf die ganze Denkungsart unseres
Landvolkes stünde in Aussicht, wenn der gediente Soldat mit nur einiger¬
maßen gereinigten und aufgeklärten Ansichten in sein heimathliches Dorf
zurückkehren würde! Mit Recht stützt sich die Regierung in ihrem Kampf
mit der ultramontanen Partei auf die Volksschule; aber es ist dies nur ein
sehr weitaussehendes Mittel; die Militärschule wirkt drastischer und schneller!
Die Conferenz, welche dem türkisch-griechischen Conflict ein Ende machen
soll, hat ihre Sitzungen begonnen; die Gesandten hatten ihre Vollmachten in
größter Eile erhalten, alle Großmächte bemühen sich ehrlich oder gezwungen,
ihre Friedliche zu bethätigen; noch sind die Beschlüsse der Conferenz ein Ge¬
heimniß, aber der Börsentelegraph berichtet von allen Seiten: Course steigend
bei lebhaftem Geschäft.
Freilich der Zusammentritt der Conferenz wurde nur ermöglicht, weil
die Großmächte von der Voraussetzung ausgingen, oder sich den Anschein
der Ueberzeugung gaben, daß ihre ausgesprochene Sentenz genügen werde,
die Kriegsfunken im Orient aufzublasen. Diese Annahme scheint uns wenig
Berechtigung zu haben. Zunächst wird man die Dispositionen der beiden
streitenden Theile im Auge behalten müssen, und diese gehen keineswegs auf
friedliche Beilegung des Zwistes. In Constantinopel war man natürlich so
wenig als zu Athen in der Lage eine von den Großmächten vorgeschlagene
Conferenz abzulehnen, aber man fährt fort sich auf den Bruch vorzubereiten,
welchen man im Grunde will. Griechenland, weil es nicht wehr zurückkann
ohne eine innere Krisis der ernstesten Art heraufzubeschwören; die Pforte,
weil sie endlich den Wühlereien ein Ende machen möchte, die fast in allen
Provinzen auf ihren Sturz arbeiten, und weil sie den Zeitpunkt dazu für
günstig hält.
In Athen hat die Regierung sich einen großen Credit von der Kammer
bewilligen lassen und eine Proclamation an das hellenische Volk erlassen, in
der sie versichert, sie sei unablässig beschäftigt die Mittel zu finden, welche
zur Wahrung der Rechte des Landes und der nationalen Ehre nöthig seien;
die unterzeichneten Minister hätten überall Comites gebildet um von Seiten
des Volks auch die materiellen Mittel herbeizuschaffen, welche für jede Action
unentbehrlich seien. Diese Proclamation wurde, wie der Osuirier Ä'^eueres
meldet, „mit unbeschreiblicher Begeisterung" aufgenommen, „da alle Welt den
Krieg wünscht und bereits wegen der diplomatischen Verschleppungen zu
murren beginnt". An der thessalischen Grenze sammeln sich griechische Na¬
tionalgarten, wichtige Punkte werden durch Schanzen befestigt; man hofft
die Armee auf 3S,000 Mann reguläre Truppen untz 13,000 Mann Freiwillige
zu bringen.
Auf der andern Seite sendet die Pforte einen ihrer fähigsten Beamten,
Daub Pascha, nach Paris um ein Anlehen von 125 MM. Fras. abzuschließen,
und unterhandelt eifrig mit dem Vicekönig von Egypten und dem Bey von
Tunis über die Erhöhung der von ihnen im Kriegsfalle zu stellenden Con-
tingente um 6000 resp. 4000 Mann auf Is und 10,000 Mann. Ismail
Pascha hat der Aufforderung bereits entsprochen und zugesagt, außerdem noch
die Truppen in eignen Schiffen befördern zu lassen und zwei Panzerfregatten
zu stellen, offenbar um neue Concessionen für seine Souveränität zu erlangen.
Die Rüstungen im Marmorameer und in Bosnien werden thätig betrieben,
binnen 3 Wochen sollen sämmtliche noch im goldnen Horn liegende Kriegs¬
schiffe zur Action fertig sein.
Die Ausweisung der Griechen ist aufgeschoben; sie wird bei den ersten
Symptomen von hellenischer Angriffslust doch ausgeführt werden, denn Aale
Pascha hat diese Maßregel leider damit motivirt, daß im Gebiete der Pforte
die fremden Unterthanen nicht wie anderswo den allgemeinen Landesgesetzen
unterworfen sind und daß unter dem Schutz der Capitulationen die griechi¬
schen Consulate allen Najahs die es wünschten, Nationalitätszeugnisse aus¬
gestellt haben; die meisten der in der Türkei lebenden Hellenen seien unzu¬
friedene Rajahs, es sei eine Pflicht der Selbsterhaltung sich in einem so kri¬
tischen Momente dieser gefährlichen Elemente zu entledigen.
Diesen kriegerischen Vorbereitungen entsprach der Ton der letzten diplo¬
matischen Actenstücke, namentlich der griechischen Antwort auf das Ultimatum
vom 16. Dec., welche in sophistischer Rabulisterei und Verdrehung der That¬
sachen noch die frühern Kundgebungen des Hrn. Deliyanni übertrifft und
eine Sprache sührt, welche der schwächere Nachbarstaat schwerlich wagen
würde, wenn nicht der Entschluß zum Bruche feststände. Die Replik der
Pforte ist würdiger gehalten, aber von einer Entschiedenheit, die gerade nicht
auf ein Zurückweichen schließen läßt. —
Allerdings sind diese drohenden Gebärden der zwei schwachen verfeindeten
Mächte an sich nicht bedenklich, wenn die Conferenz die sämmtlichen Gro߬
mächte zu dem ernsten Entschluß vereinigt, den Frieden nöthigenfalls zu er¬
zwingen. Aber dazu ist vor der Hand keine Aussicht. Man erwäge die Schwierig¬
keit der Vermittlung, welche der Conferenz zufällt. Es heißt zwar, die Mächte
seien einig das türkische Ultimatum als Basis der Discussion anzunehmen;
die drei Hauptpunkte desselben: Auslösung der Freischaaren, Ausschluß der
Corsarenschiffe und ungehinderte Heimkehr der Candioten seien im Voraus
angenommen, die Forderung, daß Griechenland verspreche, sich künstig dem
Völkerrechte gemäß zu betragen, sei von der Pforte aufgegeben, es bleibe
also nur noch ein Compromiß über den vierten Punkt herzustellen: Bestrafung
der gegen türkische Soldaten verübten Morde und Entschädigung dasür. An¬
genommen die Sache stehe so, wird es als ausgemacht gelten dürfen, daß
sich Griechenland, welches keine Stimme in der Conferenz hat, sondern nur
verhört wird, in Wahrheit unterwirft? Im Jahre 18S4 bedürfte es trotz
der für die Regierung von Athen so ungünstigen Umstände einer französisch-
englischen Besatzung, um den Rückzug aus Thessalien und die Neutralität
während des Krimkrieges zu erzwingen. Eine derartige Maßregel brauchen
die Griechen jetzt nicht zu fürchten, sie haben ihre Schiffe hinter sich verbrannt,
rechnen darauf, daß schließlich Rußland sie doch nicht fallen lassen kann, und
hoffen, vielleicht mit Recht, daß Gladstone's Mhellenische Tendenzen ihnen
indirect zu Statten kommen werden. Rußland muß jedenfalls versuchen die
candiotische Frage in die Discussion zu ziehen, die Pforte muß dagegen
protestiren, Oestreich hat das nächste Interesse keine Verkleisterung drohender
Conflicte zu acceptiren. Wird bei so entgegengesetzten Tendenzen eine Eini¬
gung — und noch dazu eine schnelle- — auf der Conferenz bewirkt, so heißt
das nichts weiter als: die Conferenz erreicht ein Resultat, weil sie daraus
verzichtet ein Resultat zu erreichen.
Es ist sehr leicht den Griechen durch Decret Ruhe zu befehlen. Aber
wenn in vier Wochen die Intriguen und Aufstandsoersuche oder gar innere
Meutereien in Hellas wieder aufflackern, was dann? Werden dann Flotten
von England, Frankreich, Oestreich in das Hintere Mittelmeer gesandt wer¬
den, um, wie Oestreich wünscht, in einer Cooperativn den Ungehorsamen
niederzuschlagen und den Griechen und Slaven gründlichen Schrecken einzu¬
jagen? Uns scheint der erste kriegerische Kanonenschuß, welcher von fremden
Flotten dort abgefeuert wird, kein Friedebringer, sondern ein Allarmschuß
für Europa. ^
Und deshalb besorgen wir, die Conferenz, wie sie zu Stande gebracht
wurde, ist nicht der Schluß, fondern ein Prolog für den türkisch-griechischen
Conflict, und die Verhältnisse des Orients werden in dem beginnenden Jahr
der europäischen Diplomatie und uns Andern vollauf zu thun machen.
Seit den ausführlichen Berichten, welche die Grenzboten im Herbst und
Winter 1867 über die Lage der baltischen Provinzen Rußlands veröffent¬
lichten, haben sich in diesen Grenzländern so zahlreiche und so einschneidende
Veränderungen vollzogen, daß ein Zurückkommen auf die Zustände derselben
denjenigen unserer Leser, die für diesen exponirtesten Punkt deutscher Civili-
sation im Nordosten ein Interesse gefaßt haben, zulässig, vielleicht gar ge¬
boten erscheinen wird. Kann von einer „baltischen Frage" gleich nicht in
dem Sinne, den die russische Presse dem Nationalitätenkampf am rigaschen
Meerbusen unterschiebt, die Rede sein, so steht doch fest, daß die Angriffe auf
das deutsche Element in dem einstmaligen Lande der deutschen Herren für
die Beziehungen zwischen den beiden nordischen Großmächten nicht ganz
gleichgiltig gewesen, mindestens in der Anschauung der Russen mit den Anti¬
pathien zusammengefallen sind, welche die moskauer Nationalpartei gegen
die Sammlung Deutschlands unter den Fittigen des preußischen Aars hegt
und von denen sie trotz des abweichenden Standpunkts der Petersburger
Regierung gelegentlich ziemlich deutliche Beweise gegeben hat."
Im Sommer 1867 — damit hatten die Grenzbotenartikel über Land
und Leute an der Ostsee geschlossen — war die Einführung der russischen
Sprache in die staatlichen Oberbehörden der drei Provinzen angeordnet wor¬
den; die Gouvernementsregierungen, Cameral- und Domänenhöfe waren
angewiesen worden, sich im Verkehr untereinander, mit dem Generalgouve
m¬
eur und den Staatsbehörden ausschließlich der russischen Sprache zu bedie¬
nen, desgleichen ihre Bücher und Rechnungen russisch zu führen. In der
doppelten Erwägung, daß durch diese Maßregel das traetatenmäßig bestehende
Landesrecht ebenso in Frage gestellt, wie die bisher übliche Anstellung von
Landeskindern in den vom Staate erhaltenen Provincialbehörden erschwert
sei, beschloß der im November 1867 versammelte livländische Landtag, trotz
der abweichenden Rathschläge des Generalgouvernements und trotz der Be¬
denken einer zaghaften Minorität, dem Kaiser eine (übrigens höchst maßvoll
und loyal gehaltene) Adresse überreichen zu lassen und in dieser um die un¬
veränderte Aufrechterhaltung des stg-tus puo zu bitten. Schon früher hatte
der livländische Civilgouverneur Dr. v. Oettingen, ein freisinniger und durch
vieljährigen Landesdienst bewährter Patriot, der das Vertrauen seiner Lands¬
leute ebenso besaß wie das des Kaisers, in einer Denkschrift auseinander¬
gesetzt, daß die deeretirte Maßregel mindestens in der von ihm geleiteten liv-
ländischen Regierung nicht ausführbar, im Interesse des Dienstes und einer
gründlichen, wahrhaft sachlichen Geschäftsbehandlung überhaupt unrathsam
sei. Nichtsdestoweniger wurde dem livländischen Landmarschall, noch bevor
er sich seines Auftrags erledigen konnte, aus Petersburg amtlich mitgetheilt,
daß Se. Majestät weder die von der Ritterschaft beschlossene Adresse entgegen¬
nehmen, noch ihn, den Vertreter der livländischen Stände, in dieser Angelegen¬
heit empfangen würde. Wenig später wurde Herr v. Oettingen. der unter¬
dessen in Petersburg gewesen war und einen anfangs erfolgreichen Versuch
gemacht hatte, den Kaiser zur Annahme der Landtagsadresse zu bewegen,
seiner Stellung enthoben und durch einen der griechisch-orthodoxen Kirche
angehörigen Beamten ersetzt, der erst wenige Monate früher aus Saratow
nach Livland übergeführt worden und den baltischen Zuständen und Men¬
schen völlig fremd war.
Der Eindruck, den diese Maßregeln auf die baltische Bevölkerung
ausübten, war ein geradezu vernichtender. Von allem Uebrigen abgesehen
mußte man sich sagen, daß die Unmöglichkeit, das Landesrecht dem Mon¬
archen gegenüber zur Geltung zu bringen und den feindlichen Einflüssen der
bureaukratisch-demokratischen Nationalpartei direct entgegenzutreten, mit dem
Verlust des kaiserlichen Vertrauens zu den baltischen Provinzen und darum
mit der Infragestellung aller Landesrechte gleichbedeutend sei. Die Ent-
lassung Oellingers vernichtete zugleich alle Hoffnungen auf eine heilsame und
den wahren Interessen der Provinz entsprechende Entwickelung der diesem
allgemeinen Vertrauensmann unterstellt gewesenen Verwaltungszweige. Wer
die Eigenthümlichkeiten des russischen Staatsmechanismus irgend kennt,
der weiß, daß ein Personenwechsel in der provinciellen Oberverwaltung
mit einer Shstemänderung für die betreffende Provinz identisch ist, daß
der größte Theil der getroffenen Einrichtungen und höherer Bestätigung
empfohlenen Pläne mit dem Ausscheiden ihres Schöpfers sofort zweifelhaft
wird. In eminenter Weise mußte das der Fall sein, wo der scheidende
Gouverneur nicht nur die Seele, sondern zugleich die thätigste Hand der ge-
sammten Verwaltung gewesen war und den in jenen Ländern höchst seltenen
Vorzug gehabt hatte, von der Pike auf zu dienen und nicht nur alle Details
der localen Zustände und Eigenthümlichkeiten, sondern auch die Mehrzahl
aller Beamten, Gutsbesitzer, Prediger u. s. w. genau zu kennen und bei
jeder Anordnung die speciellen Vorzüge und Mängel derselben in Betracht
ziehen zu können. Dazu kam, daß Livland sich in dem Augenblick der Ent¬
lassung Oettingen's in einer außerordentlich schwierigen Lage befand, deren
Anforderungen sein Nachfolger schlechterdings nicht gewachsen war. In dem
größten Theile des Landes herrschte zufolge eines beispiellos ungünstigen
Ernteaussalls und schwieriger Creditverhältnisse ein Nothstand, der um so
bedenklicher erschien, als ein großer Theil der russischen Presse keinen An¬
stand nahm, diese unverschuldete Calamität als Folge der „feudalen" balti¬
schen Einrichtungen zu bezeichnen und im Interesse einer agrarischen Revo¬
lution im Sinne des Gemeindebesitzes auszubeuten. Schon anderthalb Jahre
früher hatte das Domäneministerium auf dem größten Theil der lip- und
kurländischen Staatsgüter Landvertheilungen an die Bauerknechte griechisch¬
orthodoxer Confession vorgenommen und dadurch eine Aufregung der bäuer¬
lichen Bevölkerung hervorgerufen, deren Proportionen sich angesichts des
Nothstandes schlechterdings nicht absehen ließen. — Blieb auch Nichts übrig
als die Entlassung des sachkundigsten und gewissenhaftesten Gouverneurs, den
Livland seit Menschengedenken besessen, schweigend zu tragen und ruhig mit
anzusehen, daß die wichtigsten Errungenschaften der fünfundeinhalbjährigen
Oettingen'schen Verwaltungsperiode (z. B. die vom Minister des Innern bereits
bestätigte Errichtung einer baltischen Central-Irrenanstalt) sofort verloren
gingen, so ließ man es sich doch nicht nehmen, dem scheidenden Patrioten
von allen Seiten Ausdrücke einer Dankbarkeit zukommen zu lassen, der
dieser selbst Schranken anlegen mußte. Der Rath der Stadt Riga ernannte
Oettingen unter begeisterter Zustimmung der Gtldenverbände zum Ehrenbürger
und die Überreichung des Schreibens, welches diese noch nicht dagewesene
Auszeichnung mittheilte, wurde von den rigaer Gesangvereinen zu einer
glänzenden Ovation benutzt, an der sich fast die gesammte Bevölkerung be¬
theiligte.
Aber schon wenige Wochen später erfolgte ein neuer schwerer Schlag.
Im Februar 1868 wurde der Minister des Innern Walujew, früher Gou¬
verneur von Kurland, genauer und parteiloser Kenner der baltischen Zu¬
stände und entschiedener Gegner der poker - und deutschenfeindlichen Demo¬
kratie, seiner Stellung enthoben; ziemlich gleichzeitig nahm das Oberhaupt der
lutherischen Kirche Rußlands, der greise Bischof Ulmann, seinen Abschied,
um einem Manne Platz zu machen, der weder das Vertrauen der Geist¬
lichkeit noch das der Ostseeprovinzen besaß. Ulmann war in den 40er Jahren
Rector der Universität Dorpat gewesen und wegen seiner deutschen Gesin¬
nung plötzlich und unter den kränkendsten Formen entlassen worden; Kaiser
Alexander hatte ihn bald nach seiner Thronbesteigung durch Ernennung zum
geistlichen Vicepräsidenten des Generalconsistoriums zu Se. Petersburg in
großsinnigster Weise rehabilitirt. Sein Verlust wog besonders schwer, da die
kirchlichen Verhältnisse Livlcmds noch immer in einer Krisis lagen, deren
Lösung wesentlich durch die Haltung der höchsten Kirchenbehörde Rußlands
bedingt war. Noch immer gab es Zehntausende von lettischen und chemischen
Conv'ereilen der griechisch-orthodoxen Kirche, welche aus dieser Kirche factisch
ausgetreten waren und trotz ihrer flehentlichen Bitten daran verhindert wur-
den, in die Glaubensgemeinschaft ihrer Väter zurückzukehren. Wohl hatte
ein im I. 1865 erlassener kaiserlicher Befehl die Anordnung getroffen, daß
Lutheraner der Ostseeprovinzen bei Eingehung gemischter Ehen nicht mehr
gezwungen werden sollten, sich durch einen Revers zur Erziehung ihrer Kinder
in der griechisch-orthodoxen Kirche zu verpflichten; aber die griechische Geist¬
lichkeit hatte dieser nur unter der Hand erlassenen Instruktion verzweifelten
Widerstand geboten, unter allen möglichen Vorwänden die Copulation
solcher Paare, die von der kaiserlichen Erlaubniß Gebrauch machten, ver¬
weigert und schließlich durchgesetzt, daß ihr gestattet wurde, solchen griech.
Gemeindegliedern, die sich nicht den Vorschriften dieser Kirche gemäß be¬
trügen, die Einsegnung der Ehe zu verweigern. Besaß man an dem Leiter der
obersten lutherischen Kirchenbehörde keinen Rückhalt, so waren alle Anstren¬
gungen der baltischen Provincial-Consistorien zum Schutz des Protestantis-
mus vergeblich und die liberalen Maßregel, welche der Kaiser auf Bevor-
wortung des Polizeiministers Grafen Schuwalow und des entlassenen Walujew
decretirt hatte, um den Haupttheil ihres praktischen Effects gebracht.
So verging das erste Dritttheil des Jahres 1868 dem baltischen Lande
unter Sorgen und Bedrängnissen aller Art; man hatte das Gefühl in einer
Art von Belagerungszustand zu leben, denn die einflußreiche russische Presse
war nach wie vor damit beschäftigt, jede Aeußerung des Provinciallebens
zu verdächtigen, patriotische Beamte zu verleumden, neue Eingriffe in die
Landesverfassung zu verlangen und ihr deterum, oensso bei jeder sich dar¬
bietenden Gelegenheit zu wiederholen. Selbst die Versuche, eine livländische
Eisenbahn unter ständischer Garantie zu Stande zu bringen, wurden mit
offener Feindseligkeit bekämpft; die „Most. Ztg." erklärte, baltische Eisen¬
bahnen dürften überhaupt nur unter der Bedingung russischer Verwaltung
und Geschäftsführung, der Einführung russischer Namen für die Bezeichnung
der Ortschaften :c. concessionirt werden. Der baltischen Presse war die Möglich¬
keit auch nur der Widerlegung der moskauerVerdächtigungen benommen, seit man
den patriotischen und gewissenhaften Censor der„Rigaschen Ztg.", der„Baltischen
Monatsschrift", der „Zettung für Stadt und Land" u. s. w., Staatsrath
Kästner, plötzlich entlassen und durch einen aus Wilna verschriebenen Beamten
ersetzt hatte. — Der Anbruch des Frühjahrs brachte neue Bedrängnisse:
wiederum vernichtete die Ungunst der Witterung alle Aussichten auf einen
auch nur erträglichen Ernteausfall, große und kleine Grundbesitzer waren
kaum mehr im Stande den Verpflichtungen gegen ihre Gläubiger gerecht zu
werden, zumal die Befürchtungen vor einer allgemeinen Landvertheilung
immer wieder auftauchten und den Credit bis in seine Grundfesten er¬
schütterten. Selbst in dem wohlhabenden Kurland mußte die Bank Dutzende
von bäuerlichen Grundbesitzern unter Sequester stellen, welche die Renten der
auf ihren neu erworbenen Höfen lastenden Bankschulden nicht zahlen konnten;
das Gleiche geschah mit einer stets zunehmenden Zahl von Rittergutsbesitzern
und Pächtern größerer Güter, die zwei Jahre hintereinander so gut wie Nichts
geärntet hatten.
Die eigentliche Krisis trat indessen erst im Spätsommer 1868 ein. In
der russischen Presse war es eben stiller geworden, die ausländische Reise der
kaiserlichen Familie hatte die beiden Hauptstädte für einige Monate entvölkert
und die Parteikämpfe ?in Schooß der Regierung unterbrochen; nachdem in -
Riga zwei russische Schulen (ein Gymnasium und eine Töchterschule) eröffnet
worden waren, glaubte man den moskauer Schreiern den Mund gestopft zu
haben und wenigstens für eine kurze Zeit auf Ruhe rechnen zu können. Da
trafen von drei Seiten her Nachrichten ein, welche allenthalben neue Besorg¬
nisse heraufbeschworen; aus Neval und Mitau wurde berichtet, daß die
deutschen Gouverneure von Est- und Kurland entlassen seien und demnächst
durch Russen ersetzt werden würden, und gleichzeitig erschien eine im Auslande
gedruckte russische Broschüre, welche Alles, was bisher an Anklagen gegen das
baltisch-deutsche Leben geleistet worden war, in den Schatten stellte und
direct die Anklage erhob, in Liv-, Est- und Kurland werde seit Jahr
und Tag für die Losreißung von Rußland und den Anschluß
an Preußen agitirt; wenn die Regierung gegen die baltischen Deutschen nicht
ebenso energisch vorgehe, wie sie es in Lithauen und Polen gethan, so werde,
die Ostseeküste binnen Kurzem für Rußland verloren oder doch zu einer selb¬
ständigen Landschaft, wie es Finnland sei, geworden sein. Juri Samarin,
ein bekannter Führer der moskauer Slavophilenschule, der zur Zeit des
Generalgouverneurs Golowin und der kirchlichen Propaganda unter den Letten
und Ehlen als Beamter in Riga gelebt und in den Jahren 1864 und 1865
in Polen seine Sporen verdient hatte, stellte in seiner Broschüre „Rußlands
Grenzländer" eine Parallele zwischen dem für Rußland hoffnungsvollen Zu¬
stande der Ostseeprovtnzen in den Jahren 1843—48 und den'Fortschritten
an>, welche das deutsche Element seitdem gemacht habe, und schloß diese
mit vielem Geschick und grenzenloser Perfidie geschriebenen Ausführungen
mit einer Capitalanklage auf Hochverrath. Die äußere Veranlassung zu
dieser Schrift waren die Publicationen gewesen, welche ein nach Preußen aus¬
gewanderter Livländer. der frühere Vice-Präsident des Hofgerichts zu Riga,
Woldemar von Bock, unter dem Titel „ Livländische Beiträge" (Berlin bei
Stille und van Muyden, 2 Bände in 6 Heften) veröffentlicht hatte und die
eine Fülle officieller Actenstücke enthielten, welche — grade weil ihre Authen¬
ticität nicht geleugnet werden konnte — der Negierung höchst peinlich sein
mußten.— In eine Kritik dieser Beiträge einzutreten ist hier nicht der Ort;
genug, daß dieselben ohne jede Rücksicht auf die russische Empfindlichkeit ge¬
schrieben waren und nicht nur die Erhaltung des baltischen swws <M0, sondern
ein Zurückgehen auf die Verträge von 1710 und 1721 verlangten, auf das
man innerhalb Landes längst hatte verzichten müssen. Die nicht selten mehr
als deutlichen Ausdrücke des Verf., vor Allem der Umstand, daß derselbe die
bei der Unterwerfung Livlands unter das russische Scepter stipulirten und durch
den nystädter Frieden garantirten „Aceordpunkte" als bilaterale Verträge von
völkerrechtlicher Bedeutung bezeichnet hatte, waren von Samarin für
Aeußerungen hochverräthischer Gesinnung ausgegeben und zu einer Anklage
verarbeitet worden, welche nicht nur die baltischen Stände, sondern auch die
sämmtlichen General-Gouverneure von Liv-, Est- und Kurland, vor Allem
den Nachfolger Golowin's, Fürsten Suworow (1848—1861), einen in den
Provinzen sehr beliebten und seiner Humanität wegen allgemein geachteten
Gentleman, auf die Proscriptionsliste setzte. Dieses Lioell, dessen bloße
Erwähnung den baltischen Leitungen Monate lang durch die Censur un¬
möglich gemacht wurde, erregte ein Aufsehen, wie es heut zu Tage nur noch
in Rußland möglich ist; Tage und Wochen lang waren die ungeheuren Spalten
der moskauer und Petersburger Journale fast ausschließlich mit Citaten und
Paraphrasen der Samarin'schen Broschüre bedeckt und von allen Seiten
wurde der Regierung bald drohend, bald schmeichlerisch zugerufen, diese Aus¬
geburt nationalen Hasses zur künftigen Richtschnur ihrer Politik gegen die
Barone, Bürger und Pastoren an der Ostsee zu machen.
Damit war es noch nicht genug: den russischen Verleumdern und
Denuncianten — welche mindestens unter dem Druck einer erregten Stimmung
standen und zum Theil borg. eine Politik predigten, die für die Einheit der
russischen Staatsidee und das monarchische Princip noch sehr gefährlicher ist,
als für das baltische Deutschthum — diesen mußte ein deutscher Denunciant
zu Hilfe kommen, der die Bedrängniß seiner Stammesgenossen bei kaltem
Blut und unter vollständiger Einsicht der Grundlosigkeit aller wider dieselben
erhobenen Verdächtigungen dazu ausbeutete, seinen partieularistischen Rän¬
ken wider Preußen neue Bundesgenossen zu werben. Im Sommer 1868 war
der Freiherr v. Dalwigk auf einige Wochen nach Livland gekommen, um
seinen Schwiegervater, den Grafen Dunker auf Schloß Nurmiß, einen ehren¬
werthen alten Herrn, zu besuchen. Niemanden kam es in den Sinn, hinter
dem ausländischen Minister einen Späher zu vermuthen; die Nachbarn und
Freunde der gräflichen Familie hatten um so weniger Grund, aus der er¬
regten Stimmung, welche das gesammte Land beherrschte, ein Geheimniß
zu machen, als sie wußten, daß die Grafen Dunker ebenso gute Livländer
und ebenso loyale russische Unterthanen seien, wie sie selbst und daß es nur die
plötzliche Infragestellung verbriefter Rechte gewesen sei, welche die Ruhe des sonst
so friedlichen Landes und seiner Bewohner erschüttert hatte. Herr v. Dalwigk
aber verstand die Sache anders; als er einige Wochen nach seiner Rückkehr
aus Livland zu Jugenheim mit dem Kaiser Alexander zusammentraf, warnte
er den Monarchen vor den preußischen Umtrieben in Livland, welche die
Loyalität namentlich der jüngeren Glieder des Adels erschüttert hätten. Die
Thatsache dieser Warnung steht zweifellos fest, da der Kaiser derselben (unter
deutlicher und alle Wahl ausschließender Bezeichnung des Urhebers) Erwähnung
gethan hat. Wenige Wochen nachdem der Monarch in feine nordische
Residenz zurückgekehrt war, bildeten die „Zeugnisse", welche von Ost und
West über die unzuverlässige Stimmung der baltischen Provinzen beigebracht
sein sollten, das Tagesgespräch der Hoskrcise; im Oetober wurde den Reprä¬
sentanten der vier baltischen Ritterschaften (von Liv-, Est-, Kurland und der
Insel Oesel) eröffnet, höheren Orts sei der Wunsch verlautbart worden, daß
sie eine öffentliche Erklärung über die unveränderte Loyalität ihrer Lands¬
leute abgeben und gleichzeitig erklären sollten, daß zwischen ihnen und den
Publicisten des Auslandes, welche Rußland in feindlicher Weise angriffen
(W. v. Bock war denselben ausdrücklich zugezählt), keine Solidarität bestehe.
Die Nachricht von diesem Verlangen traf in den Ostseeprovinzen gleich¬
zeitig mit einer andern Mittheilung ein. In den Ministerien des Innern
und der Reichsdomänen, hieß es, sei der Entwurf zu einer allgemeinen
Landvertheilung ausgearbeitet worden; mit den lip- und kurländischen Do¬
mänen sollte der Anfang gemacht und dadurch eine moralische Pression auf
die Gutsbesitzer ausgeübt werden, damit diese in eine Zwangsablösung der¬
jenigen Bauerhöfe einwilligten, welche noch nicht in das Eigenthum ihrer
bisherigen Pächter übergegangen waren; außerdem gaben die Organe der
russischen Demokratie deutlich zu verstehen, daß man sich nicht damit be¬
gnügen werde, die Bauerwirthe (selbständigen Wirthschaftsunternehmer) besitz¬
lich'zu machen, sondern daß es nothwendig fein werde, auch die Bauer¬
knechte mit einem Antheil am Grund und Boden auszusteuern, wie es in
Litthauen und Polen geschehen sei. Der Eindruck den diese Kunde inmitten
der wirthschaftlichen Schwierigkeiten ausüben mußte, in welche man durch die
zweimaligen Mißernten gerathen war, erräth sich von selbst. Gesteigert
wurde derselbe noch dadurch, daß die Petersburger Journale in Veranlassung
der Auswanderung einiger hungernder Estenfamilien nach Petersburg (ohne
Rücksicht darauf, daß der Nothstand im eigentlichen Rußland sehr viel größer
war, als an der Ostseeküste) wüthende Anklagen gegen das baltische Ägrar-
system begonnen hatten. Wurde die geforderte Loyalitätserklärung nicht ab¬
gegeben, so schien der wirthschaftliche Ruin des gesammten Landes unver¬
meidlich — kam es zu der gewünschten Adresse, so lag die Gefahr nah. daß
dieselbe durch die Gegner als Gutheißung aller Russificationsversuche der
letzten Jahre angesehen und ausgebeutet würde. Nach wochenlangen Ver¬
handlungen einigten die Lcmdmarschälle von Livland und Oesel sich mit dem
kurlcindischen Landesbevollmächtigten und dem estländischen Ritterschastshaupt-
mann darüber, die gewünschte Erklärung abzugeben, aber ausdrücklich her¬
vorzuheben, daß man an den Traditionen des Landes festhalten wolle und
werde; 'die Solidarität mit Herrn v. Bock glaubte man verleugnen zu können,
weil derselbe in der That formell und materiell weiter gegangen war, als
die Ritterschaften. Diese Erklärung (deren Wortlaut wir übergehen, da der¬
selbe in der Kölnischen, Vossischen und Kreuzzeitung ausführlich mitgetheilt
worden ist) wurde dem Generalgouvemeur übergeben und durch diesen dem
Minister des Innern behufs Publication in der'Nordischen Post mitgetheilt.
Aber noch bevor diese amtliche russische Zeitung von dem Actenstück Notiz
genommen, war die ganze Sache der Most. Ztg. mitgetheilt, welche sofort
erklärte, Rußland werde sich durch diese Spiegelfechterei nicht hinters Licht
führen lassen; ob die baltischen Ritterschaften mit Herrn v. Bock überein¬
stimmten oder nicht, sei völlig irrelevant, da ihre Solidarität mit andern
arti-russischen Publicisten keinem Zweifel unterliege. Nachdem der Sache auf
diese Weise jeder günstige Effect im Voraus unmöglich gemacht worden war,
erfolgte eine Mittheilung der Nord. Post, welche wiederum mit Stillschweigen
überging, daß die Adresse die Treue gegen die historische Tradition ausdrück¬
lich gewahrt habe, und den Inhalt derselben durchaus incorrect wiedergab
— den Text der Adresse zu publiciren, hatte man sich gehütet. Jetzt gab
die Most. Zeitung — und Jedermann wußte, daß die Aeußerungen dieses
Journals die für das gesammte Nußland maßgebenden seien — sich zufrieden; ein
Leitartikel des Katkow'schen Organs machte darauf aufmerksam, daß Herr v.
Bock niemals den Abfall des Östseelcmdes von Rußland gepredigt habe und
daß die Desavouirung dieses Schriftstellers darum mit der Zustimmung zu
den Russificationsmaßregeln der Negierung gleichbedeutend sei. Der Protest,
welchen die Riga'sche Zeitung und andere baltische Journale gegen diese Auf¬
fassung erhoben, wurde dem russischen Publicum natürlich nur unter Ver¬
drehungen und Entstellungen mitgetheilt.
Materielle Noth infolge beispiellos ungünstiger Witterungsverhältnisse und
einer fast absichtlichen Erschütterung des ländlichen Credits, Lahmlegung aller
innerhalb Landes gemachten Versuche zu zeitgemäßer Umgestaltung der alten
Institutionen, Belagerungszustand auf allen Gebieten des öffentlichen Lebens,
soweit dieselben eine deutsche Grundlage haben — das ist die gegenwärtige
Lage der Ostseeprovinzen, die durch jahrelange systematische Verleumdungen
dem Vertrauen eines Monarchen entrückt worden sind, der ihnen, so lange
man sie nicht von ihm abgesperrt hatte, wiederholte Zeichen seines Wohl¬
wollens gegeben hat! Ein Ende dieser Calamitciten läßt sich schlechter¬
dings nicht absehen und man braucht nur in Betracht zu ziehen, was während
des abgelaufenen Jahres Alles geschehen ist, um sich sagen zu müssen, daß
der verfassungsmäßige Zustand dieser Länder binnen Kurzem eine historische
Reminiscenz sein wird, wie das Königreich Polen — nur mit dem Unter¬
schiede, daß dort dem Umsturz ein Aufstand vorausgegangen war, während
man sich hier zu allen Zeiten gleich loyal verhalten hatte. In Riga,
Mitau und Neval residiren russische Gouverneure, die sich grundsätz¬
lich in allen offiziellen Beziehungen ausschließlich der russischen Sprache be¬
dienen — die ihnen unterstellten Verwaltungsbehörden dürfen das Deutsche
nur brauchen, wenn sie mit ständischen Autoritäten verhandeln; aus den
Amtsblättern der drei Provinzen wird die deutsche Sprache binnen
Kurzem vollständig verschwunden sein; auf kirchlichem Gebiet dauert der frü¬
here Gewissenszwang fort, während die Concubinate, zufolge der den griechi¬
schen Geistlichen freigegebenen Trauungsverweigerungen, beständig zunehmen.
In Riga hat sich eine von junglettischen Wühlern geleitete lettische Gesell¬
schaft gebildet, welche aus der Opposition gegen die von Deutschen und Lu¬
theranern begründete lettische literärische Gesellschaft Profession macht und
die Annäherung des lettischen Volks an das moderne Nußland aus ilsre Fah¬
nen geschrieben hat; der flachste Liberalismus geht hier mit einer Unbildung
zusammen, die nur noch durch die Gewissenlosigkeit der Agitatoren überboten
wird. Außer der neuen lettischen Zeitung, welche von einem Mitgliede die¬
ser Gesellschaft herausgegeben wird, erscheint in Riga seit dem 1. Jan. 1869
eine russiche Zeitung, an deren 'Spitze der bisherige rigaer Correspondent
der moskauer Journale steht, selbstverständlich ohne sich zu nennen. Noch
bedeutsamer ist, daß Anstalten gemacht werden, um das keltisch-chemische
Volksschulwesen der bisherigen Leitung durch deutsche Geistliche und Guts¬
besitzer zu entziehen und direct dem Ministerium der Volksaufklärung zu
unterstellen. Man glaubt auf diese Weise die organische Verbindung zwischen
der Volksbildung und dem Protestantismus lösen, die ländliche Bevölke¬
rung dem Einfluß der gebildeten Schichten der Gesellschaft entziehen und
für' die Verschmelzung mit dem russischen Volksthum und der griechisch¬
orientalischen Kirche vorbereiten zu können. Ist dem baltisch-deutschen
Provinzialstaat auf diese Weise das Fundament entzogen, so fällt das alte
ständische Gebäude zusammen, bevor Ausbau und Umgestaltung desselben
im modernen Sinne fertig geworden sind und jener Ausspruch. den der
Marquis Paulucci schon vor 50 Jahren gethan haben soll, behält trotz aller
Regenerationsversuche der letzten Decennien Recht: Ilg. I^ivonis tmirs. xar
rin« Mrtaito resskiudllmes g-veci til Ku88i<z' mo8eovits.
Bis dahin hat es freilich noch Zeit. Ein historischer Proceß, der auf
sieben Jahrhunderte siegreich bewährter deutscher Lebenskraft zurücksieht, läßt
sich nicht im Handumdrehen in neue Bahnen lenken und es kann ein Jahr¬
hundert vergehen, ehe der officiellen Russification der baltischen Länder die
factische folgt. Aber der Anfang des Endes Ist bereits eingetreten und es ist
schlechterdings nicht abzusehen, wann und wie dem fanatischen Taumel, in
welchem die herrschende demokratisch-nationale Partei die zuverlässigsten und
gebildetsten Provinzen des gesammten Reichs erwürgt, ein Erwachen zu
Vernunft und Billigkeit folgen wird.
Politische Zustände und Personen in den deutschen Ländern des Hauses Oestreich
von Karl VII. bis Metternich. Aus dem Nachlasse des Verf. herausgegeben von
A. Springer 1869.
Wir haben dies Buch, dessen erster Theil vor einigen Jahren in den
Grenzvoten besprochen ward, mit Wehmuth in die Hand genommen. Da¬
mals schrieb der Verfasser, dessen Absicht es war eine Entwickelungsgeschichte
der politischen Parteien in Deutschland zur Zeit der französischen Herrschaft
zu geben, in der Vorrede: „Durch meine Gesundheit werde ich daran erinnert,
daß mir Kraft und Zeit zur Ausführung des ganzen Werkes schwerlich ver-
gönnt sein werden/' Seine Ahnung ging leider in Erfüllung: er starb am
25. Nov. 1867 ohne seine große Aufgabe vollenden zu können.
Clemens Perthes war ein Mann, der wenig auf den eigentlichen Markt
des politischen Lebens hinausgetreten ist, und doch eine bedeutende Einwirkung
auf die Gestaltung der öffentlichen Verhältnisse gehabt hat. Einmal indem
er der Lehrer fast aller deutschen Fürsten und Prinzen geworden, welche seit
1835 studirten: wir nennen unter seinen Schülern nur den Herzog von
Coburg, Prinz Albert, Prinz Friedrich Karl und vor Allem den Kronprinzen
von Preußen. Begreiflicherweise knüpften sich hieran einflußreiche Beziehungen,
sowohl zu den Herren selbst wie zu ihnen nahestehenden bedeutenden Persön-
lichkeiten; unter den letzteren mag nur des jetzigen Kriegsministers von Roon
gedacht werden, welcher 1847 den Prinzen Friedrich Karl als Gouverneur
auf die Universität Bonn begleitete und dessen politischer Vertrauter und
Berather Perthes stets geblieben ist. Ob sein Einfluß im praktischen Staats¬
leben immer ein glücklicher war, ist fraglich; er gehörte zwar zu den Unter-
Zeichnern des Bethmann-Hollweg'schen Programms und Mitbegründern des
Preußischen Wochenblattes, aber er zog sich später von seinen Freunden mehr
und mehr zurück, opponirte entschieden gegen die Entlassung des Ministeriums
Manteuffel unter der Regentschaft und stellte sich während des Conflicts so
unbedingt auf die Seite der Negierung, daß er sogar den Obertribunals-
beschluß vertheidigte. Unbezweifelt aber sind die Verdienste, welche er sich
auf socialem Gebiete und als Schriftsteller erworben. Was Ersteres anlangt,
so ist seiner Initiative wesentlich die Errichtung der Handwerksherbergen
„Zur Heimath" zu denken, welche dermalen schon in großer Anzahl in den
verschiedensten deutschen Städten bestehen und einen segensreichen Einfluß
geübt haben. Auf dem Gebiete der Literatur liegen uns drei Werke vor,
welche seinem Namen eine ehrenvolle Stellung sichern. Das erste ist das
wenigstgekannte: „Das deutsche Staatsleben vor der Revolution", obwohl es
ein höchst anschauliches, auf tüchtigen Studien beruhendes Bild jener Zeit
gibt, von der wir schon so weit getrennt sind, in der aber doch unsere Gro߬
väter noch lebten und mit der wir, trotz der Revolution, die sich scheidend zwi¬
schen uns und sie gelagert, doch mit so starken Fäden verknüpft sind. Weit
größeren Einfluß gewann das „Leben von Friedrich Perthes", welches von
1848—18SS in drei Bänden erschien. Es muß zugegeben werden, daß die
liebevolle Hand des Sohnes Manches in dem Bilde des Vaters idealisirt hat;
aber derselbe bleibt eine bedeutende Persönlichkeit, sowohl durch den thätigen
Antheil, den er an der Erhebung Deutschlands und speciell Hamburgs gegen
die Fremdherrschaft nahm, als durch die hervorragende Stellung, die ihm
in der Geschichte und Entwickelung des deutschen Buchhandels gebührt;
namentlich hat auch der Verfasser in dem Buche seiner Mutter Caroline Perthes
ein Denkmal gesetzt, welches ihr einen Platz in der Geschichte edler deutscher
Frauen sichert. Indeß die eigentliche Bedeutung der Biographie liegt in
ihren wichtigen Beiträgen zur Zeitgeschichte; Friedrich Perthes hatte die aus-
gebreitetsten persönlichen Beziehungen, kaum ein bedeutender Mann lebte in
Deutschland den er nicht kannte oder mit dem er nicht correspondirte; dabei
war er bei aller Tüchtigkeit eine Natur von fast weiblicher Empfänglichkeit,
gleichsam „ein Ohr der Zeit". Der Sohn hat, um nirgend anzustoßen, bei
der Mehrzahl der mitgetheilten Briefe die Namen der Verfasser weggelassen
und doch fühlen wir jedesmal, daß der Betreffende ein Recht hatte als Re¬
präsentant einer Richtung so zu sprechen. Es hängt das mit dem großen
Verdienste des Werkes zusammen, daß es ein wirklich künstlerisch durchge¬
arbeitetes Ganze ist, keine bloße Materialiensammlung oder Memoiren über
den Mann. Wie anders hätte noch Stein's Leben wirken können, wenn ihm
eine ähnliche Bearbeitung zu Theil geworden wäre! Abgesehen von den Barn-
hagen'schen Schristen hat von den Helden jener großen Zeit nur Dort in
Droysen einen wirklichen Biographen gefunden. Wenn wir daneben das Buch
über Friedrich Perthes nennen dürfen, von dem z. B. der verewigte Tocque-
ville uns einmal sagte, daß er für die deutsche Geschichte der Zeit daraus
am meisten gelernt habe, so ist das wesentlich das Verdienst des Sohnes.
Nach Vollendung desselben faßte Perthes jenes Werk über die Geschichte
der Parteien ins Auge, von dem zwei Theile uns vorliegen. Der erste be¬
handelt das südliche und westliche Deutschland, der zweite eben erschienene
die deutschen Länder der östreichischen Monarchie; die Erzählung, wie die
nationale Partei sich in Preußen entwickelt und die Befreiung vollführt,
ist Entwurf geblieben: ein wahrer Verlust, denn dieser Theil wäre ohne
Zweifel die Krone des Werkes geworden. Inzwischen wollen wir dankbar
für den zweiten sein, welcher fast vollendet in Perthes' Nachlaß gefunden
ward: nur ein Capitel, welches das wiener Volksleben am Ende des vorigen
Jahrhunderts schildern sollte, fehlt, weil es die unfertige Gestalt einer bloßen
Skizze hatte. Herausgegeben ist es von Prof. A. Springer, der um so mehr
dazu berufen war, als sein moralischer Antheil an dem Buche nicht gering
ist. indem Perthes mit ihm als eingehendem Kenner der östreichischen Zu¬
stände Vieles durchgesprochen hat. Mögen ihm. der jetzt im Süden die Her-
stellung seiner Gesundheit sucht, die Luft oft Kunde bringen von dem Lobe,
das die deutsche Presse einem Werke spendet, welches er als Freund und
gründlicher Kenner Oestreichs hat fördern helfen.
Wenden wir uns nun zu dem Buche selbst, so war gewiß kein Grund
für den Verfasser in der noch von ihm geschriebenen Vorrede sich zu recht¬
fertigen oder zu entschuldigen „wenn er den nicht unbekannten, aber den Meisten
unzugänglichen Stoff in Bewegung zu bringen" helfen wollte. Gewiß war
Vieles davon schon bekannt, Vieles so weit wir wissen auch nicht; vor Allem
aber ist die Auffassung durchaus eigenthümlich, die Einheit der Gedanken impo-
nirend und die Darstellung so durchsichtig, daß man fast nirgend das Fehlen
der letzten Hand bemerkt.
Das erste Buch schildert die herkömmliche Geltung der überlieferten Zu¬
stände. In fast allen Erbländern war der Grund und Boden überwiegend in den
Händen größerer Grundherren, welche ihre Besitzungen von Bauern gegen
Zinsen und Frohnden bewirthschaften ließen; Hypotheken gab es keine, die
Lehrs- und Fideicommißqualität erschwerte allen Credit, die bäuerlichen Nutz¬
nießer konnten bei ihren Abgaben sich nur eben erhalten. So ward das
Land bestellt wie vor hundert Jahren, der Sporn zum Fortschritt fehlte, die
Städte und Märkte, welche nicht unter Grundherren standen, hatten mannig¬
faltig geartete Gemeindeverfassungen, deren Rechte aber, wie im übrigen
Deutschland, meist zur Form herabgesunken waren. Die Landtage, aus Prä¬
laten. Herren, Rittern und landesfürstlichen Städten zusammengesetzt, waren
zu schwach um selbst bedeutende politische Anordnungen durchzuführen, aber
stark genug um dem Landesfürsten jede kräftige Regierung unmöglich zu
machen; in dem langen Kampfe von Fürsten und Ständen waren die Rechte
beider in einen unentwirrbaren Knäuel zusammengelaufen, nirgend war
zwischen dem Geschäftskreis der verschiedenen Behörden eine feste Grenze, es
beschluß vertheidigte. Unbezweifelt aber sind die Verdienste, welche er sich
auf socialem Gebiete und als Schriftsteller erworben. Was Ersteres anlangt,
so ist seiner Initiative wesentlich die Errichtung der Handwerksherbergen
»Zur Heimath" zu denken, welche dermalen schon in großer Anzahl in den
verschiedensten deutschen Städten bestehen und einen segensreichen Einfluß
geübt haben. Auf dem Gebiete der Literatur liegen uns drei Werke vor,
welche seinem Namen eine ehrenvolle Stellung sichern. Das erste ist das
wenigstgekannte: „Das deutsche Staatsleben vor der Revolution", obwohl es
ein höchst anschauliches, auf tüchtigen Studien beruhendes Bild jener Zeit
gibt, von der wir schon so weit getrennt sind, in der aber doch unsere Gro߬
väter noch lebten und mit der wir, trotz der Revolution, die sich scheidend zwi¬
schen uns und sie gelagert, doch mit so starken Fäden verknüpft sind. Weit
größeren Einfluß gewann das „Leben von Friedrich Perthes", welches von
1848—1855 in drei Bänden erschien. Es muß zugegeben werden, daß die
liebevolle Hand des Sohnes Manches in dem Bilde des Vaters idealisirt hat;
aber derselbe bleibt eine bedeutende Persönlichkeit, sowohl durch den thätigen
Antheil, den er an der Erhebung Deutschlands und speciell Hamburgs gegen
die Fremdherrschaft nahm, als durch die hervorragende Stellung, die ihm
in der Geschichte und Entwickelung des deutschen Buchhandels gebührt;
namentlich hat auch der Verfasser in dem Buche seiner Mutter Caroline Perthes
ein Denkmal gesetzt, welches ihr einen Platz in der Geschichte edler deutscher
Frauen sichert. Indeß die eigentliche Bedeutung der Biographie liegt in
ihren wichtigen Beiträgen zur Zeitgeschichte; Friedrich Perthes hatte die aus-
gebreitetsten persönlichen Beziehungen, kaum ein bedeutender Mann lebte in
Deutschland den er nicht kannte oder mit dem er nicht correspondirte; dabei
war er bet aller Tüchtigkeit eine Natur von fast weiblicher Empfänglichkeit,
gleichsam „ein Ohr der Zeit". Der Sohn hat, um nirgend anzustoßen, bei
der Mehrzahl der mitgetheilten Briefe die Namen der Verfasser weggelassen
und doch fühlen wir jedesmal, daß der Betreffende ein Recht hatte als Re¬
präsentant einer Richtung so zu sprechen. Es hängt das mit dem großen
Verdienste des Werkes zusammen, daß es ein wirklich künstlerisch durchge¬
arbeitetes Ganze ist, keine bloße Materialiensammlung oder Memoiren über
den Mann. Wie anders hätte noch Stein's Leben wirken können, wenn ihm
eine ähnliche Bearbeitung zu Theil geworden wäre! Abgesehen von den Barn-
hagen'schen Schriften hat von den Helden jener großen Zeit nur Uork in
Droysen einen wirklichen Biographen gefunden. Wenn wir daneben das Buch
über Friedrich Perthes nennen dürfen, von dem z. B. der verewigte Tocque-
ville uns einmal sagte, daß er für die deutsche Geschichte der Zeit daraus
am meisten gelernt habe, so ist das wesentlich das Verdienst des Sohnes.
Nach Vollendung desselben faßte Perthes jenes Werk über die Geschichte
der Parteien ins Auge, von dem zwei Theile uns vorliegen. Der erste be¬
handelt das südliche und westliche Deutschland, der zweite eben erschienene
die deutschen Länder der östreichischen Monarchie; die Erzählung, wie die
nationale Partei sich in Preußen entwickelt und die Befreiung vollführt,
ist Entwurf geblieben: ein wahrer Verlust, denn dieser Theil wäre ohne
Zweifel die Krone des Werkes geworden. Inzwischen wollen wir dankbar
für den zweiten sein, welcher fast vollendet in Perthes' Nachlaß gefunden
ward: nur ein Capitel, welches das wiener Volksleben am Ende des vorigen
Jahrhunderts schildern sollte, fehlt, weil es die unfertige Gestalt einer bloßen
Skizze hatte. Herausgegeben ist es von Prof. A. Springer, der um so mehr
dazu berufen war, als sein moralischer Antheil an dem Buche nicht gering
ist. indem Perthes mit ihm als eingehendem Kenner der östreichischen Zu¬
stände Vieles durchgesprochen hat. Mögen ihm. der jetzt im Süden die Her.
Stellung seiner Gesundheit sucht, die Luft oft Kunde bringen von dem Lobe,
das die deutsche Presse einem Werke spendet, welches er als Freund und
gründlicher Kenner Oestreichs hat fördern helfen.
Wenden wir uns nun zu dem Buche selbst, so war gewiß kein Grund
für den Verfasser in der noch von ihm geschriebenen Vorrede sich zu recht¬
fertigen oder zu entschuldigen „wenn er den nicht unbekannten, aber den Meisten
unzugänglichen Stoff in Bewegung zu bringen" helfen wollte. Gewiß war
Vieles davon schon bekannt. Vieles so weit wir wissen auch nicht; vor Allem
aber ist die Auffassung durchaus eigenthümlich, die Einheit der Gedanken impo-
nirend und die Darstellung so durchsichtig, daß man fast nirgend das Fehlen
der letzten Hand bemerkt.
Das erste Buch schildert die herkömmliche Geltung der überlieferten Zu¬
stände. In fast allen Erbländern war der Grund und Boden überwiegend in den
Händen größerer Grundherren, welche ihre Besitzungen von Bauern gegen
Zinsen und Frohnden bewirthschaften ließen; Hypotheken gab es keine, die
Lehrs- und Fideicommißqualität erschwerte allen Credit, die bäuerlichen Nutz¬
nießer konnten bei ihren Abgaben sich nur eben erhalten. So ward das
Land bestellt wie vor hundert Jahren, der Sporn zum Fortschritt fehlte, die
Städte und Märkte, welche nicht unter Grundherren standen, hatten mannig¬
faltig geartete Gemeindeverfassungen, deren Rechte aber, wie im übrigen
Deutschland, meist zur Form herabgesunken waren. Die Landtage, aus Prä¬
laten. Herren, Rittern und landesfürstlichen Städten zusammengesetzt, waren
Zu schwach um selbst bedeutende politische Anordnungen durchzuführen, aber
stark genug um dem Landesfürsten jede kräftige Negierung unmöglich zu
machen; in dem langen Kampfe von Fürsten und Ständen waren die Rechte
beider in einen unentwirrbaren Knäuel zusammengelaufen, nirgend war
zwischen dem Geschäftskreis der verschiedenen Behörden eine feste Grenze, es
*
gab keine landesfürstlichen Geschäfte, welche nicht auch von den Ständen,
keine ständischen, welche nicht auch von dem Landesfürsten abhängig gewesen
wären. So wurde Nichts mehr geschaffen: Alles blieb wie es beim Tode Fer¬
dinand's II. gewesen.
Die Erdtaube waren auch nach der pragmatischen Sanction eigentlich nur
durch Personalunion mit einander verbunden; nicht einmal ein gemeinsamer
amtlicher Ausdruck für die Gesammtheit der Besitzungen bestand, man sagte
entweder: die Erdtaube, oder zählte sie einzeln auf — die Habsburger fühlten
sich allerdings schon lange als Kaiser von Oesterreich nannten sich aber erst
1806 so. Ebensowenig war von einer wirklichen Centralbehörde. einem
Ministerium die Rede, die sogenannte Conferenz, ein schwerfälliger Körper,
war mehr eine Art Staatsrath, eine gemeinsame Gesetzgebung ward nicht
einmal versucht, die Rechtspflege war in jedem einzelnen Lande anders und
ward überall durch die Sonderrechte der Geistlichkeit so durchkreuzt, wie die
Finanzwirthschaft durch deren Steuerfreiheit. Einzelne gemeinsame Abgaben
bestanden allerdings, aber ihr Betrag war so gering, daß zu Karl's VI, Zeiten
die Einkünfte Gesammtöstreichs auf etwa l4 Mill. si. angeschlagen wurden,
aber nicht 4 Mill. betrugen, und daß Prinz Eugen erklärte, es könnten nicht
50,000 si. aufgebracht werden, wenn es sich um die Rettung der Monarchie
handle. Nur das Heer hatte einen einheitlicheren Charakter, obwohl, wie
Perthes treffend bemerkt, niemals ein großer Fürst wie in Preußen ihm
seinen Stempel aufgeprägt hatte; es bestand zwar auch hier noch eine bunt¬
scheckige Zusammensetzung von Gewordenen und Ausgehobenen, es fehlte an
einem gemeinsamen Erercierreglement, die Friedensquartiere waren länderweise
abgeschlossen, Soldzahlung und Verpflegung hingen in lästiger Weise von
den Behörden der einzelnen Provinzen ab. Aber dennoch war die Armee eine
gesammtöstreichische Institution durch ihre ruhmreiche Geschichte, namentlich
seit Eugen Oestreich als ein mächtiges Reich gezeigt hatte. Demgemäß traten
auch fortan in allen äußern Beziehungen und diplomatischen Verhandlungen
die Habsburger als Vertreter Gesammtöstreichs auf.
Es kann nicht befremden, daß bei so losem Zusammenhang nach dem
Tode des letzten männlichen Habsburgers begehrliche Augen trotz der prag¬
matischen Sanction sich auf das reiche Erbe richteten. Baiern strebte nach
dem Erzherzogthum, Böhmen, Tyrol und Breisgau, Sachsen nach Mähren
und Oberschlesien, Preußen erhob seine alten Ansprüche auf Niederschlesien,
Spanien verlangte Mailand, Parma und Trecul, Frankreich Luxemburg und
die östreichischen Niederlande. Im Innern nahm nicht blos Ungarn eine an
Unabhängigkeit grenzende Stellung in Anspruch, auch die Erdtaube waren
zweifelhaft, in Schlesien ward Friedrich der Große von den gedrückten Pro¬
testanten mit offnen Armen aufgenommen, in Prag und Linz huldigten die
Stände dem Kurfürsten von Baiern. So drohend erschien die Lage, daß die
Feldmarschälle und Minister der jungen Kaiserin riethen ans das einmal
Verlorne zu verzichten und Oberöstreich, Böhmen, Schlesien und das nördliche
Mähren ihren Feinden zu überlassen. Nur der alte Vertraute ihres Vaters, Barten¬
stein (Perthes giebt ein treffliches Bild dieses merkwürdigen Mannes, der sich vom
Hauslehrer zum einflußreichsten Rath emporgeschwungen), und der böhmische
Kanzler, Graf Kinsky, sprachen dagegen; der Kaiserin-Gemahl war ein wohl¬
wollender aber schwacher Mann. In dieser anscheinend verzweifelten Lage
fand Maria Theresia nur Hilfe bei sich selbst. Obwohl bigott-katholisch und
ohne Erfahrung in Staatsgeschäften, hatte sie doch genug Urtheil und vor
Allem Charakter, um sich der Gefahr gewachsen zu zeigen; ein Gedanke be¬
herrschte sie: sie fühlte sich als Verkörperung Oestreichs. „Ich bin nur eine
arme Frau" sagte sie, „aber ich habe das Herz eines Königs"; sie sah es als
ihre Bestimmung an. nicht zerstückeln zu lassen, was die lange Arbeit der
Habsburger durch Schwert und Unterhandlung zu einem Reiche vereinigt.
Durchdrungen von dieser Aufgabe trat sie ihren zagenden alten Dienern ent¬
schlossen gegenüber und lehnte es entschieden ab. Vieles zu opfern, um We-
niges zu retten : sie wollte vielmehr Alles einsetzen um Nichts zu verlieren
und wollte zu dem Zwecke, eingedenk des Wortes Eugen's, daß eine kampf¬
gerüstete Armee die beste pragmatische Sanction sei, die Kräfte Oestreichs für
Oestreich sammeln und gebrauchen. Diese Willensfestigkeit, getragen von
Würde und Liebreiz der persönlichen Erscheinung, überwand die innern
Hindernisse, die widerstrebenden Stände bewilligten Geld und Truppen, ihr
Muth theilte sich dem Heere mit und erzeugte schließlich eine Gemeinsamkeit
der Stimmung, welche Oestreich einheitlicher als jemals früher erscheinen ließ.
Allerdings mußte die Kaiserin im aachner Frieden Schlesien abtreten, aber
sie erlangte gesicherte Herrschaft über das gesammte sonstige Habsburgische
Besitzthum; sie mußte den Ungarn wieder eine an Unabhängigkeit grenzende
Selbständigkeit zugestehen, aber der böhmisch-deutsche Länderverband erhielt
einen festeren Zusammenhang als je zuvor. Nach Beendigung des Krieges
wandte die Kaiserin, gereift durch die Erfahrungen eines sechsjährigen Kampfes,
nun ihre Aufmerksamkeit den innern Verhältnissen zu, sie hatte erkannt, daß sie,
um ihre königliche Pflicht zu erfüllen, nicht wie bisher auf ihren persönlichen
Einfluß und den guten Willen Anderer bauen dürfe, sie wollte eine Ordnung
der Dinge herstellen durch welche Oestreichs Machtstellung auch ohne einen
bedeutenden Fürsten gesichert ward gegen den aufstrebenden Nebenbuhler im
Norden: dazu waren dauernde staatliche Einrichtungen erforderlich. In dieser
Absicht wurden allmälig die alten unfähigen Räthe bet Seite geschoben und an
die Spitze der Geschäfte trat der Graf, später Fürst Kaunitz als Haus-, Hof-
und Staatskanzler. Die auswärtigen Angelegenheiten lagen ausschließlich in
seiner Hand, aber auch auf die irinern übte er bestimmenden Einfluß, denn
allein durch die Reform im Innern konnten Hülfsquellen für die Behauptung
der europäischen Stellung Oestreichs gewonnen werden. Da es diese ausschlie߬
lich war, die Maria Theresia im Auge hatte, und nicht eine Belebung
der politischen Zustände an sich, so ward allerdings nicht daran gedacht jenes
oben erwähnte wunderliche Gewirre obrigkeitlicher Negierungsrechte zu be¬
seitigen, sondern das ganze Streben ging darauf den landesfürstlichen Be¬
hörden ein entschiedenes Uebergewicht über die ständischen Rechte zu geben.
Die böhmische Kreisverfassung ward in allen deutschen Erbländer eingeführt,
die Kreishauptleute traten als oberste landesfürstliche Behörde auf, welche
ihre Competenz allmälig auf die ganze Verwaltung ausdehnte und der Städte
wie Grundherren sich unterordnen mußten; sie selbst standen unter dem Landes¬
hauptmann der Provinz. Die Privilegien der Landtage und Stände waren
zwar von der Kaiserin bei ihrem Regierungsantritt ohne Widerrede be¬
stätigt, wurden aber immer mehr zur Form, die landesfürstltchen Behörden
drängten den Ausschuß des Landtages aus der Verwaltung zurück. Aber
auch gegen die Nebenregierung des Clerus schritt Maria Theresia ein; sie
theilte zwar nach innerster Ueberzeugung die Intoleranz der Curie und ver¬
folgte die Protestanten wo sie konnte, aber sie nahm doch nie ihren Beicht¬
vater zum politischen Rathgeber und ließ sich allmälig von ihren Räthen
bewegen, einzelne Finanzprivilegien der Hierarchie aufzuheben. Das Asylrecht
der Kirchen und Klöster ward beseitigt, dem Moatum re^inen in wichtigen
Fragen gemischter Natur Nachdruck gegeben, Vertretung geistlicher Corpo-
rationen durch eigene Agenten in Rom nicht mehr geduldet. Die geistliche
Gerichtsbarkeit über Cleriker blieb noch bestehen, aber falls auch nach welt¬
lichem Gesetz ein Delict vorlag, mußte der Betreffende dem fürstlichen Gericht
übergeben werden. Unter dem Einfluß des Jansenisten van Swieten wurde
die wiener Universität ein Staatsinstitut und dem Einfluß der Jesuiten entzogen,
die sich dagegen in der Volksschule bis zu JosephII. behaupteten. Vor Allem aber
war die Reform des Heeres das Augenmerk der Negierung; sie ging den Ständen
gegenüber davon aus, daß unter den drohenden Verhältnissen ein Friedens¬
präsenzstand von 82,400 Mann und 23,600 Reitern nothwendig sei, der
einen Aufwand von ca. 11 Mill. si. verlangte, während die bisherige Con-
tribution sich kaum auf 5 Mill. belief, und setzte diese Erhöhung allmälig
überall durch, zunächst sür 10 Jahre; die ständischen Rechte in Militärange¬
legenheiten wurden beseitigt. Hand in Hand hiermit ging die Steuerreform;
die Grundsteuer ward neu umgelegt, das Lotto als Monopol verpachtet,
Erbschafts- und Stempelabgaben eingeführt, Tranksteuern und Zölle, Salz-
und Tabaksmonopole besser ausgebeutet. Beim Ausbruch des großen Krieges
1768 ward freilich auch durch die erste Ausgabe von Papiergeld und ver-
zinslichen Schuldverschreibungen der Grund zu der östreichischen Staatsschuld
und der Reihe der Staatsbankerotte gelegt.
Dieses Ringen nach einer staatlicheren Gestaltung des Reiches erhielt
einen neuen Charakter als Joseph II 1765 römischer Kaiser ward; seine
Mutter blieb zwar in Oestreich Herrscherin, aber durch den Tod ihres Ge¬
mahls in der besten Kraft gebrochen, konnte sie sich, dem Einflüsse ihres leb¬
haften Sohnes so wenig entziehen, daß derselbe bald zur Mitregentschaft auch
für die Erdtaube berufen ward. Freilich ward dieselbe eine Quelle von Mi߬
Helligkeiten, denn die stolze Habsburgerin wollte wohl eine Hilfe, aber doch
die Herrschaft nicht aus der Hand geben, Joseph als römischer Kaiser nicht
eine untergeordnete Rolle in Oestreich spielen; bei dem bairischen Erbfolgerkrieg
brach dieser Zwist in offnen Kampf aus. Aber Josephs Gestirn war im
Steigen, so oft auch Maria Theresia richtiger urtheilte als er und bald
öffnete ihm ihr Tod die unbestritten oberste Stellung. — Joseph's Thron¬
besteigung bildet einen großen Wendepunkt in Oestreichs Geschichte; er hatte
von selner Mutter das ganze Selbstgefühl seiner Stellung geerbt und hielt
seine Krone für das erste Diadem der Welt; aber der erste Lothringer hatte
mit den kirchlichen Traditionen des Hauses Habsburg gebrochen, er war
ein Sohn des Zeitalters der Aufklärung, er wollte die Philosophie zur Ge¬
setzgeberin seines Reiches machen. Der erleuchtete Despotismus, wie er von
Friedrich dem Großen, Aranda und Pombal geübt ward, sollte nun auch
in Oestreich sein Werk thun, die Staatsgewalt die allein geltende, überall
eingreifende Macht werden. Perthes faßt die Aufgabe, welche Joseph sich
gestellt, folgendermaßen zusammen.
1) Innerhalb der einzelnen Erdtaube sollte jede Macht, jedes Leben und
jedes Recht, welches sich nicht von der Regierung ableitete, möglichst zurück¬
gedrängt werden.
2) Gesammtöstreich sollte durch Beseitigung nicht allein der Unab¬
hängigkeit, sondern auch der Selbständigkeit seiner Erdtaube in ein Ganzes
umgewandelt werden, dessen Centralgewalt jede andere politische Gewalt mög¬
lichst zu unterdrücken habe.
3) Kirche und Schule sollten zu Mitteln für die Zwecke des Staates
gestaltet und in möglichst unbedingte Abhängigkeit von demselben gebracht
werden.
Joseph schritt entschieden gegen die Rechte der Grundherren ein: die Leib¬
eigenschaft ward aufgehoben, die Frohnden und Zinsen zu Gunsten der
Staatsgrundsteuer beschränkt, der gutsherrlichen Gewalt über die Gutseinge-
sessenen enge Grenzen gezogen; die Städte wurden in völlige Abhängigkeit
von dem Landesfürsten gebracht. Demgemäß wurden die Landtage auch bald
zu einem reinen Schattenbilde, die Stände von allem Einfluß auf die Pro-
Vincialgeschäfte entfernt, die Bureaukratie, das gehorsame Werkzeug des Kai-
sers, sollte allein regieren. Und wie die Provinzen im Innern nur Ablei¬
tungen der Centralregierung sein sollten, so sollten sie auch trotz ihrer ver¬
schiedenen nationalen Stellung in ein Gesammtöstreich aufgehen; Patrio¬
tismus und Nationalbewußtsein konnten sich in dem vielsprachigen Reiche
nicht decken, Slaven, Deutsche, Ungarn sollten sich nur als Oestreicherfüh¬
len. Von diesem Gesichtspunkte der Alleinberechtigung der kaiserlichen Ge¬
walt trat Joseph auch gegen die Hierarchie sehr viel schroffer aus, als Maria
Theresia. Diese Fürstin suchte den Einfluß der Curie schonend einzuschränken,
er aber wagte derselben offen entgegenzutreten: so war sein Augenmerk, der
Geistlichkeit alle Einwirkung in Dingen zu nehmen, welche mit weltlichen
Beziehungen zusammen hingen. Das Planet ward für alle päpstlichen Bullen
wie für alle vom Papst ertheilten Titel und Würden obligatorisch gemacht,
es durfte kein Geld mehr für Ablässe, Dispense :c. nach Rom gehen, weder
Geistliche noch Laien sollten mit Rom in unmittelbaren Verkehr treten, der
Nuntius in Wien keine andere Stellung einnehmen als der Gesandte jeder
fremden Macht. Aber hiermit nicht zufrieden, faßte er den Gedanken ins
Auge, eine östreichische Nationalkirche zu constituiren, welche im Staat auf¬
gehe, deren Diener zu demselben in gleicher Abhängigkeit stehen sollten wie
andere Unterthanen. Die große Zahl der Festtage und Processionen ward
beschränkt, der Gebrauch der Landessprache für die gottesdienstlichen Hand¬
lungen verfügt, die Bilder und der Wunderkram in den Kirchen beseitigt. Noch
schärfer ging der Kaiser gegen die Orden vor: er fand bei seinem Regierungs¬
antritte 2165 Abteien und Klöster mit »4,000 Mönchen und Nonnen; von
denselben hob er in zwei Jahren ISO in den Erbländer auf und ließ ihr ge-
säumtes Eigenthum meistbietend versteigern. Er fuhr damit fort und vermin¬
derte sie bis auf 1324 mit 27,000 Ordensleuten, eine Zahl, die allerdings
gewiß groß genug blieb, um allen Anforderungen zu genügen. Joseph führte
auch die bürgerliche Eheschließung in seinem Reiche ein und befreite durch die
Toleranzedicte die Protestanten von dem Drucke, unter dem sie bisher geseufzt,
ein Unterschied sollte zwischen katholischen und protestantischen Unterthanen
nicht mehr gemacht werden für alle Verhältnisse des bürgerlichen und politi¬
schen Lebens. Demgemäß ward die Hausvisitation nach lutherischen Büchern
aufgehoben und dieselben der allgemeinen Censur unterworfen, den Priestern
die Angriffe gegen die Protestanten untersagt, welche auch nicht mehr ge¬
zwungen sein sollten, an Processionen Theil zu nehmen. Die Ausübung des
Cultus blieb freilich noch demüthigenden Bedingungen unterworfen und die
Protestanten blieben verpflichtet, ihre Kinder in die katholischen Schulen zu
senden; wo hundert Familien an demselben Orte oder dessen nächstem Um¬
kreis protestantisch waren, konnten sie ein Bethaus errichten, aber dasselbe
durfte keine Glocken und Thürme, ja nicht einmal einen öffentlichen Eingang
von der Gasse haben. Jede Religionsübung außerhalb des Bethauses war
verboten, die Prediger durften keine gemischten Ehen einsegnen, die Kinder
aus denselben mußten sämmtlich katholisch erzogen werden. Der katholischen
Kirche sollte nach Joseph's Ansicht der Vorzug der alleinigen öffentlichen Re¬
ligionsübung bleiben, denn seine ganze Anschauungsweise wurzelte zwar in
der Aufklärung, aber er blieb darum doch durchaus katholisch in seiner reli¬
giösen Auffassung und sah jede Ueberredung zu einem anderen Glauben als
Störung des öffentlichen Friedens an. Die Verbesserung der Lage der Pro¬
testanten war keine innere Würdigung des evangelischen Lebens, sondern eine
Dispensation aus kaiserlich königlicher Gnade und Milde. Aber dennoch
athmeten die Protestanten auf nach dem langen, erbarmungslosen Drucke,
unter dem sie gestanden und welcher erst jetzt recht aller Welt bekannt ward.
Gemäß dieser streng katholischen, wie auch liberalen Richtung-mußte Joseph's
Streben hinsichtlich der Schulen dahin gehen, die Alleinherrschaft des Clerus
zu brechen, der das ganze Unterrichtswesen in seine Hand gebracht hatte.
Schon Maria Theresia hatte eine rein weltliche Schulordnung erlassen, welche
von dem Princip des allgemeinen Schulzwangs ausging; der Kaiser schritt in
dieser Richtung weiter vor und ordnete die Schule überall den landesfürst¬
lichen Behörden unter, die Landdechanten wirkten als Schulräthe. Den Geist¬
lichen ward der Besuch des collegium gen-marueuin in Rom verboten und
an seine Stelle ein Collegium in Pavia als höhere Bildungsanstalt ge¬
gründet, nur gallicanisch gesinnte Geistliche erhielten fortan Lehrstühle, die
Priesterseminare standen unter weltlicher Aufsicht. So hoffte Joseph sich
einen Clerus der Zukunft zu erziehen, welcher seine Ideen über die unab¬
hängige Stellung des Staates zur Kirche verwirklichen sollte; aber er stieß
hierbei wie in seinem ganzen rastlosen Neformdrang auf unerwartete Hinder¬
nisse. Seine Richtung war wie die Aufklärung der Mehrzahl nur negirend, aus
das Forträumen, nicht auf das Bauen gerichtet, die jahrhundertlangen Mi߬
bräuche fielen nicht, weil die Wahrheit unwiderstehlich zu ihrer Beseitigung
drängte, sondern weil Joseph sie als Mißbräuche ansah, er griff bald hier
bald dort ein, wo ihm etwas faul erschien, aber der letzte Grund dafür blieb
sein bon Mihir; deshalb bekämpfte er ebensowohl positiv schädliche Aus¬
wüchse und Uebergriffe, als Lebensgewohnheiten, welche tief mit dem Volke ver¬
wachsen waren. Nur das Regiertwerden aller Verhältnisse und Personen sollte
Oestreichs Stärke begründen, jede Provinz, jedes Dorf sollte nur ein Theil
des Reiches sein, die geschichtlich gewordenen Eigenthümlichkeiten, die Ver¬
schiedenheiten von Stand, Nationalität, Landesart wurden ignorirt. Aber
was selbst in dem durch lange königliche Vorbereitung centralisirten Frank¬
reich erst in Folge einer ungeheueren Revolution gelang, das erreichte Joseph
durch sein unruhiges individuelles Eingreifen in der buntscheckigen Länder¬
masse der östreichischen Monarchie nicht; er brachte die Elemente des alten
Staatswesens in Gährung, aber er konnte die vis inertin.« nicht überwinden,
welche in Ungarn, in den Niederlanden sogar in offenen Aufstand ausbrach,
in den Erbländer sich passiv doch um so zäher dem aufoctroyirten Fortschritt
widersetzte. Inmitten dieser Zersetzung des Bestehenden starb der Kaiser
1790; sein Fehler war, wie Friedrich der Große treffend bemerkte, daß er
den zweiten Schritt vor dem ersten machen wollte; kaum hatte er die Augen
geschlossen als seine Reformen in wichtigen Punkten rückgängig gemacht
wurden — freilich unbedingt konnte das Alte auch nicht hergestellt werden.
In diesem Zustande trat Oestreich in das Zeitalter der Revolution und in
den Kampf mit ihr.
Während neuer Kämpfe und Verwickelungen in der Revolutionszeit verloren
die inneren Verhältnisse von der Wichtigkeit, die sie unter Joseph gehabt. Man
stellte das Alte wieder her, wo die Neuerungen zu große Unzufriedenheit
hervorgerufen hatten, behauptete aber im Wesentlichen die Allmacht der Re¬
gierung, welche der Kaiser begründet. Die ganze Kraft des Reiches ward
durch fünfundzwanzig Jahre in Anspruch genommen um seine europäische
Stellung zu behaupten. Freilich auch Maria Theresia hatte um dieselbe
schwere Kämpfe bestanden und hatte schließlich die Eroberung Schlesiens
anerkennen müssen, aber der siebenjährige Krieg blieb doch ein Cabinetskrieg,
man kämpfte mit gleichen Waffen. Anders gestaltete sich der Conflict mit
der neuen Macht, die sich in Frankreich nach dem Sturz des Königthums
erhoben. In Deutschland freilich blieben zunächst wesentlich die Verhältnisse
geltend, durch welche bis dahin Oestreichs Stellung bedingt gewesen war.
Aus dem Reiche war es so gut wie ausgeschieden, der römische Kaiser deut¬
scher Nation war nur noch dem Namen nach das Haupt einer Conföderation
von Territorien, in die sich das Reich zersplitterte; der Herrscher der Erd¬
taube figurirte zwar in der Reichsmatrikel für jedes einzelne Land, indeß
seine Stellung war eine überwiegend europäische, nicht deutsche. Der Kaiser
bestrebte sich nur den Besitzstand nicht zu seinen Ungunsten ändern zu lassen,
aber besann sich nicht Lothringen gegen die toseanische Secundogenitur zu
vertauschen; selbst Joseph's Absichten auf Baiern waren rein östreichische
Arrondirungspläne und gingen nicht darauf aus eine andere Stellung im
Reiche zu gewinnen. Nothwendig mußte sich so der Gegensatz zu der aufstreben,
den preußischen Macht immer mehr ausbilden, Oestreich wollte die Herrschaft über
die deutschen Kräfte, welche es noch besaß, nicht aufgeben, Preußen einen
politischen Einfluß gewinnen, den es nicht besessen hatte. Ebenso scharf war
der Gegensatz auf geistigem Gebiete: Oestreichs Princip war der Katholicismus
und auch Joseph blickte mit tiefem Widerwillen auf die Thatsache der
Reformation: sie war für jeden Habsburgischen Staatsmann nur eine unglück¬
liche Neuerung, welche das Aufsteigen dieses Hauses zur Weltherrschaft gehin¬
dert hatte. Preußens Princip war eben diese Neuerung, durch sein Aufkom¬
men hatte nach Schwedens Sinken der Protestantismus wieder einen politischen
Einheitspunkt auf dem Continent erhalten. Friedrich der Große verwirklichte
die Befürchtungen des Kanzlers von Strahlendorff, indem er Preußen zu
einer deutschen Macht mit europäischem Charakter erhob und gleichzeitig aus
einem Territorium zu einem wirklichen Staate durchbildete. Der Huberts¬
burger Frieden konnte somit nur einen Waffenstillstand bilden in dem großen
Kampfe um Deutschland, welcher auch durch den prager Frieden noch nicht
beendet ist; bis der Krieg ausgefochten, erscheint jede Periode einer entenw
ooräisle zwischen Wien und Berlin, wie von 1815—48, von 1852—S9. als
eine Zeit der Erschlaffung und des Sinkens für den Staat der Hohenzollern.
Friedrich's Einschreiten im bairischen Erbfolgekrieg vereitelte Joseph's Pläne.
Den Vorschlag des Kaisers Deutschland mit ihm zu theilen (Mainlinie!)
beantwortete er mit dem Fürstenbunde. Ueber diese Idee einer deutschen
Conföderotion ging im 18. Jahrhundert der Ehrgeiz Preußens nicht hinaus
und demgemäß theilten sich auch die Territorien in ihren Sympathieen. Die
große Mehrzahl der kleinen Reichsstände fühlte wohl, daß sie keinen An¬
spruch mehr auf Fortdauer ihrer politischen Unabhängigkeit hatte und daß
jede tiefer gehende Aenderung sie beseitigen müsse. In Oestreich, welches Alles
beim Alten erhalten wollte, konnten sie also allein die Bürgschaft der eigenen
Fortdauer suchen. Die lebensfähigen Territorien dagegen, welche sich durch
sich selbst in ihrem Fortbestande sicher fühlten, neigten zur föderativem Ge¬
staltung der deutschen Verhältnisse und trafen darin mit Preußens Richtung
zusammen. Diese Stellung der beiden Mächte muß man sich stets vergegen¬
wärtigen um zu begreifen, wie schwer ihnen die gemeinsame Action gegen
Frankreich werden mußte, wie leicht die vom principiellen Standpunkt ge¬
schlossene Allianz gegen die Revolution sich löste und erst nach langen
Irrungen wieder hergestellt werden konnte, als es sich in der That für beide
um Sein oder Nichsein handelte. Mit dem baseler Frieden einerseits, mit
der Berufung des preußenfeindlichen Thugut andrerseits trat die Neben¬
buhlerschaft der beiden Mächte wieder in ihre volle Schärfe, um so mehr als
mit dem Steigen der französischen Macht Preußen seine conföderative Politik
mehr und mehr aufgab und sich freundlich zu den revolutionären Mächten
stellte. Die Eroberungspolitik trat nicht blos in Polen, sondern auch in
Deutschland immer offener hervor. Preußen willigte ausdrücklich in die
Abtretung des linken Rheinufers und entschädigte sich durch Säcularisationen;
es besetzte endlich 1805 auch Hannover mit Frankreichs Zustimmung.
Oestreichs Politik bewegte sich in ähnlicher Richtung, traf aber durch die
Verhältnisse öfter feindlich mit der Frankreichs zusammen. Es war an sich
zwar durchaus nicht geneigt für die Existenz der kleinen Re-chsstände seine
Macht einzusetzen, aber es wollte seine Besitzungen in den Niederlanden,
Breisgau und Italien nicht Preis geben; nicht der Schutz der Reichsinteressen,
der nur wie zum Hohne erwähnt ward, sondern die Gefährdung seiner Haus¬
interessen brachte Oestreich in Conflict mit Frankreich und sobald es für sich
einen guten Handel abschließen konnte, gab es Deutschland unbedenklich Preis.
Während in Regensburg der Kaiser die Reichsstände aufforderte der Einheit
und der Erhaltung des Reiches treu zu bleiben, räumte er in der Stille das
westliche Rheinufer gegen das Versprechen Venedigs. Wenn es bei den
Mediatisirungen nur Salzburg und Trient erhielt, so war der Grund einzig,
daß keine andern kleinen Reichsstände in seiner Nähe lagen; der Kaiser hatte
seine Stellung als deutscher König vollständig aufgegeben und legte schlie߬
lich auch die äußere Würde nieder. Von Oestreich wie von Preußen ver¬
lassen, verfielen die Reichsstände der Rheinbundspolitik; der Kurfürst Erz-
kanzler Freiherr v. Dalberg ward Napoleon's eifriges Werkzeug um die Fürsten
zu überzeugen, daß sie nur durch Frankreich Schutz und Vergrößerung er¬
halten könnten und der Moniteur meldete: „Baiern, Württemberg und Baden
haben gemeinschaftliche Sache mit Frankreich gemacht, es wird ihnen dadurch
neuer Glanz erwachsen." Bis 18l3 leisteten diese Staaten dem Reichsfeinde
Htntersassendienste, sowohl gegen Preußen wie gegen Oestreich, keins der
beiden könnte auf sie rechnen, aber auch keine der beiden Mächte konnte auf
die andere rechnen, auch dann nicht als schon beide Nichts mehr von Frank¬
reich zu hoffen hatten; Oestreich ließ Preußen bei Jena und Tilsit vernichten.
Preußen sah bet Ulm und Wagram unthätig zu. Wie eine eherne Mauer
hatten sich, nach Gentz' Worten, Mißtrauen, Eifersucht, Erbitterung, streitende
Interessen, feindselige Politik, blutige Kriege und offene oder versteckte Be-
fehdungen eines halben Jahrhunderts zwischen diese beiden Mächte gethürmt.
Nur dieser eine Mann. Friedrich Gentz. erhob sich über alle jene Hindernisse
und predigte überall, daß in der Allianz der beiden deutschen Großmächte
die einzige Möglichkeit liege. Frankreich zu besiegen und der Vereinigung
zwischen Rußland und Frankreich ein immerwährendes Hinderniß entgegen¬
zustellen.
Die Charakteristik dieses merkwürdigen Mannes ist einer der bedeutendsten
Theile des Perthes'schen Buches und scheint uns sein Wesen, dessen Bedeutung
und Mängel, voller gefaßt zu haben, als dies je zuvor geschehen. Der wun¬
derbare Widerspruch eminenter politischer Begabung und unbeugsamer Energie
mit dem Mangel aller sittlichen Haltung und rastloser, raffinirter Genußsucht
tritt schlagend hervor. Ewiges kannte er nicht, mit allen Kräften des Leibes
und der Seele gehörte er dieser Welt an. In derselben bestimmte ein großer
verdient auch der grade jetzt wieder so wichtig werdende Gegensatz zwischen
Oestreich und Rußland, welcher wohl zeitweise durch den Kampf gegen
Napoleon oder die Revolution übertüncht werden konnte, aber in den Ver¬
hältnissen zu tief begründet war um nicht immer wieder hervor zu treten.
Schon seit 1804 ward Gentz nicht müde, auf die drohende Gefahr des Bünd¬
nisses zwischen Frankreich und Rußland hinzuweisen. Unablässig wiederholte
er, daß nur ein Bündniß zwischen Oestreich und Preußen diesem Unheil be¬
gegnen könne, daß allein diese beiden Mächte in ihrer Vereinigung der Welt
ihre Ruhe wiedergeben könnten.
Geschichte Girolamo Savonarola's von Pasqucile Villari, deutsch von M. Ber»
duschek. Leipzig, Brockhaus 1868.
Als der 30jährige Dominicaner auf Befehl seiner Oberen zum ersten Mal
nach Florenz kam, war er Allem, was ihn hier umgab, so völlig fremd,
daß schlechterdings keine Anknüpfungspunkte für irgend eine Wirksamkeit vor¬
handen schienen. Ein religiöser Schwärmer, den der Anblick der zeitgenössi¬
schen Gräuel in die Klosterzelle trieb, wo Thomas von Aquino und Aristo¬
teles seine Lehrer sind, der aber zugleich den Drang in sich nicht bemeistern
kann, den Eifer für die Erneuerung der Sitten, der in ihm brennt, auch in
Anderen zu wecken, mußte den Florentinern Lorenzo's des Prächtigen etwas
Unverständliches sein, eine Curiosität, ein Gegenstand des Spottes. Es über¬
rascht uns nicht, wenn wir lesen, daß Savonarola's Predigten, die mehr
Eifer als Kunst verriethen, nicht den mindesten Eindruck hervorbrachten.
Die Folge davon war aber nicht Entmuthigung und gänzliche Flucht aus
der Welt, sondern eine nur um so gewaltigere Steigerung des Glaubens
an seinen Beruf. Der Gleichgiltigkeit -gegenüber dringt er nur um so tiefer
in das eigene Innere, am Widerstand entwickelt sich die mystische Anlage
seines Wesens zu einer alle anderen Geisteskräfte beherrschenden Stärke.
Dem Flug seiner Einbildungskraft folgend, der das Studium der alttesta-
mentlichen Propheten stets neue Nahrung zuführt, achtet er kein Hinderniß,
Jahre lang übt er sich als Prediger in verschiedenen Orten Oberitaliens,
und wenn er nun nach Florenz zurückkehrt, so hat er inzwischen nicht nur
Factor sein ganzes Dasein: der Kampf gegen die Revolution, den er mit
solcher Hingebung und Energie geführt hat, daß er nicht mit Unrecht die
fünfte der gegen Napoleon verbündeten Mächte genannt wurde. Vom preußischen
in den östreichischen Dienst getreten, war Gentz weder Preuße, noch ward er
Oestreicher, er empfand sich auch niemals als Deutscher, sondern stand auf dem
europäischen Standpunkt, er betrachtete sich als ein Werkzeug der Geschichte
zur Bekämpfung der Revolution in ihren verschiedenen Phasen. Als der
Kampf beendet war, fühlte er sich selbst ohne Ziel und verfiel er einer geistlosen
Vertheidigung alles Alten; nur die neue Bedrohung des europäischen Gleich,
gewichts, welche Rußland unter der Maske des Philhellenismus ins Werk
setzte, konnte ihn vorübergehend aus seiner Lethargie aufrütteln. Dieser
Mangel an positiver schöpferischer Staatskunst war der Grund weshalb Gentz
nicht ein großer Minister ward. Seine sybaritische Genußsucht, welche ihn
in ewiger Geldverlegenheit erhielt, erklärt weshalb er nicht ein Mal eine
große diplomatische Stellung einnahm. Allerdings hat Gentz sich nie in dem
Sinne bestechen lassen, daß er gegen seine Ueberzeugung auch nur eine Zeile
geschrieben hätte, aber er nahm von fremden Regierungen wie von Privat¬
leuten Geld dafür, daß er seine Ueberzeugung ausspraH und für sie kämpfte.
„Hätte ihm" sagt Perthes mit Recht, „ein seinem großen politischen Berufe
entsprechendes Maß sittlichen Ernstes und geistiger Tiefe innegewohnt, so
würde er für alle Zeiten unter den Ersten und Größten, die aus dem deut¬
schen Volke hervorgegangen sind, zählen; er war kein kleinerer Mensch als
Millionen Andere, aber seine Kleinheit tritt seinen großen Gaben gegen¬
über in ein grelleres Licht."
Aber auch so noch blieb er einer der bedeutendsten Menschen seiner Zeit
und trug seine Vollmacht, auf ihre Geschichte einzuwirken, in sich selbst:
„Während Stein und Niebuhr durch ihre sittliche Größe jeden politischen
Schritt den sie thaten adelten, ward umgekehrt in Gentz der ganze Mensch
durch die ihm innewohnende politische Kraft weit hinaus über sich selbst
gehoben." Eine Fülle gründlicher Kenntnisse stand ihm jederzeit zu Gebote,
er handhabte mit gleicher Meisterschaft seine Muttersprache wie die französische
und englische; eine unbegrenzte Arbeitskraft wußte er sich neben allen Aus¬
schweifungen zu erhalten, nie verließ ihn die politische Ruhe, noch der poli¬
tische Muth, unablässig strebte er, die Zögernden vorwärts zu treiben, die
Schwankenden zu stärken, kleine Differenzen unter den gemeinsamen Gegnern
des einen großen Feindes zu beseitigen und er verfolgte die Abtrünnigen mit
jenem unerbittlichen Hasse, von dem sein berühmter Absagebrief an Johannes
von Müller das beredteste Zeugniß bleiben wird.
Perthes hat zum ersten Mal ein Bild des Kreises gezeichnet, dessen Mittel-
Punkt während des Kampfes gegen Napoleon Gentz war. Der englische Ge-
sagen, weiß ich doch selbst nicht, ob ich mein Stell' wieder krieg!" Ein
solcher Fürst konnte nur durch Zwang in liberalen Bahnen erhalten werden,
wie er nur durch Zwang in sie gedrängt war. Dieser dauernde Zwang
fehlte, die Regierungsüberlieferungen vieler Jahrhunderte standen dem neuen
Leben entgegen, aus der Abhängigkeit von Grundherrn und Clerus war das
Volk in die von der Regierung gefallen, die Fähigkeit sich ohne Befehl zu¬
rechtzufinden war ihm verloren gegangen, es war nicht im Stande selbständig
zu handeln. Nur ein Staatsmann von Stein'scher Art hätte hier richtig
eingreifen können, aber ein solcher war Stadion nicht, er war zu sehr Aristokrat
und Diplomat. Als wirklich vornehmer Mann verachtete er zwar den Hof¬
adel wie Stein, aber er sah nicht wie dieser, daß nur durch die Hebung der
Volksmasse ein wirklicher Aufschwung des Staatslebens erzielt werden könne.
Auch hatte er zu lange im Auslande gelebt, wohl seinen Blick erweitert,
aber niemals eigentlich Oestreichs innere Verhältnisse aus eigner Anschauung
kennen gelernt. Er wollte auf seine englischen Ersahrungen gestützt vor
Allem freiere Entwicklung auf materiellem Gebiet, aber das neue Leben
sollte sich doch nur innerhalb der bestehenden Formen bewegen, nicht
einmal einen Versuch zur Umgestaltung der hergebrachten Regierungs--
form machte er. Es blieben die Zusammenhangslosigkeit und die nahe Um¬
grenzung der höchsten Hosstellen, die Unselbständigkeit und der Mecha¬
nismus der Landesstellen. Die Landtage verharren in ihrer Unbedeutendheit,
die Gemeinden wurden nicht reformirt, die Finanzen nicht geordnet. Und
doch lag es am Tage, daß innerhalb dieser verknöcherten Formen das neue
Leben nicht gedeihen konnte, entweder mußte es dieselben sprengen, wenn es
dazu eigene Kraft hatte, oder die Regierung mußte es wieder unterdrücken.
Wäre der neue Kampf gegen Napoleon, auf den Alles berechnet war, glück¬
lich ausgefallen, so wäre vielleicht die erste Alternative eingetreten, aber der
Ausgang war unglücklich. Die Geister, welche man beschworen, hatten nicht
geholfen . so suchte man sie zu bannen; Oestreich schloß sich fortan bis auf unsere
Tage wieder gegen Deutschland ab. blieb aber in dem großen Kampf gegen Napo¬
leon passiv, bis Preußen und Nußland die entscheidendsten Siege erfochten hatten.
Wir schließen hier diese Besprechung des Perthes'schen Buches. Man
muß es eben selbst lesen, um richtig zu schätzen, was daraus zu lernen
ist. namentlich auch über die militärische Seite. Mack, der wider seinen
Willen an die Spitze der Armee gestellt ward, weil er als guter Organi¬
sator galt, erinnert an Benedek's Schicksal. Daneben das merkwürdige
Erzherzogpaar. Karl und Johann. Ersterer „der geographische Feldherr", wie
Clciusewitz ihn nennt. Letzterer voll feurigen Aufschwungs, aber unter dem
Druck des Systems, überwacht von den „Spürengeln" seines kaiserlichen
Bruders, selbst versteckt und argwöhnisch werdend. Besondere Beachtung
eine größere Kunst der Rede erworben, sondern er hat auch das Mittel ge¬
funden, ein gleichgiltiges, verderbtes Geschlecht an seine Rede zu fesseln. Er
kommt als Prophet wieder. Wie sonst erhebt er den Ruf zur Buße, aber
er weiß ihm jetzt ganz anderen Nachdruck zu geben, indem er der Phantasie
seiner Zuhörer die Dinge vor Augen rückt, die unmittelbar über sie herein¬
brechen werden. Er weiß, daß ihm besondere übernatürliche Gaben verliehen
sind, in schrecklichen Traumgesichten redet die Gottheit zu ihm und diese Ge¬
sichte wirft er mit furchtbarer Deutlichkeit ausgemalt unter die entsetzte Menge.
Und dies war allerdings ein Mittel, auch den Spott der Florentiner
zu überwinden. Denn eng mit dem herrschenden Heidenthum hing zugleich
jene abergläubische Furcht zusammen, die wie eine unheimliche Wolke über
der Festfreude der Medicäerstadt schwebte. Das war die Kehrseite der
humanistischen Aufklärung, die sich so sicher auf Platon und Aristoteles ge¬
gründet wähnte. Die Gebildetsten glaubten an Geister und Traumgesichte,
an den Einfluß der Gestirne, an die verborgenen Kräfte der Steine und
der Thiere. Ein Vorgefühl großer Veränderungen und schwerer Unglücks¬
fälle hatte sich verbreitet, Prophezeiungen waren im Umlauf, daß der Re¬
ligion selbst eine große Umwandlung bevorstehe. Auf diesem Boden fanden
sich die Anknüpfungspunkte für die Predigt des Dominicaners. Alle Ge¬
schichtschreiber bezeugen, daß es die Ankündigung der furchtbaren Straf¬
gerichte Gottes war, was dem Prediger Ruf, Zulauf und schließlich enthu¬
siastische Verehrung verschaffte. Damit war der ganze Charakter seiner
Predigt, vielleicht sein Schicksal entschieden.
In den Fastenpredigten zu San Geminiano hatte er zuerst seine be¬
rühmten drei Sätze verkündigt: die Kirche wird gezüchtigt werden — dann
erneuert — und dies wird bald geschehen. Das bildet von nun an den
Kern seiner Predigt, das Ziel seiner krausen, mystischen oder allegorischen
Bibelauslegung. Seine höchste Beredtsamkeit entfaltet sich, wenn er den
Zuhörern vorhält, daß das Strafgericht nahe sei, und indem er seine Ge¬
sichte auslegt, treten die Schicksale, die er ankündigt, in deutliche, greifbare
Scenen auseinander, er prophezeit nicht blos allgemein die Katastrophe, sondern,
indem er sie ausmalt, prophezeit er Dieses und Jenes. Den Tod Lorenzo's
kündigt er an, den Tod des Papstes, den Tod des Königs von Neapel, kurz
bevor diese Ereignisse wirklich nach einander eintreffen. Schon bildet sich eine
Partei um den Mann, der so kundig der Zukunft ist, eine Partei mit ent¬
schlossen demokratischen Grundsätzen, und nun tritt infolge des Todes Lorenzo's
rasch eine Wendung in Italien ein, welche das Gefühl der Unsicherheit, die
Ahnung kommenden Unheils aufs Aeußerste steigert. Die Verderbtheit des
Volks und der Kirche sind so groß, daß das Gericht unmittelbar sein muß.
Eine dunkle Angst bemächtigt sich der Geister und zwingt sie, eng an den
Mann sich zu schließen, der wie ein sicherer Gebieter in dieser allgemeinen
Unsicherheit der Dinge steht. Und schon naht auch der Retter, der nach dem
Gericht die Kirche aus ihrem Fall erheben wird. Schon ist der neue Cyrus
im Anmarsch, der Italien als Sieger durchziehen wird, ohne auf Widerstand
zu stoßen. Es war in den Fasten 1494. als er den neuen Cyrus zuerst an¬
kündigte, und er fuhr mit dieser Ankündigung fort, indem er im September
bleich Jahrs seine Predigten über die Arche Noah's begann. Wie er nun
aber am 21. September wieder auf der Kanzel stelzt und mit gewaltiger Be¬
tonung die Worte wiederholt: „Siehe, ich will eine Wasserflut!) kommen
lassen über die Erde", da war die Wirkung «me ganz erschütternde, den Zu¬
hörern sträubten sich die Haare, ein Scyauder ging durch alle Gemüther;
denn eben in diesen Tagen War die Kunde nach Florenz gekommen, daß ein
fremdes Heer, von einem jugendlichen König geführt, über die Alpen ge¬
zogen sei und sich in unzählbaren Schaaren über Italiens Gefilde wälze.
Savonarola hatte den Sturm vorausgesagt, er mußte ihn auch beschwören
können. Aengstlich richteten sich alle Blicke auf den Propheten, an ihn
wandten sich die Staatsmänner um Rath, der Mönch war eine politische
Peisönlichkeit geworden.
Es warxn gemischte Empfindungen, mit welchen man in Florenz der
Ankunft Karl's VIII. entgegensah. Pietro von Medici. Lorenzo's verhaßter
Sohn, stand auf Seite Neapels, das der französische König zu erobern ge¬
dachte; man mußte sich also auf einen feindlichen Durchzug gefaßt machen.
Allein die Bevölkerung der Stadt war dem König entschieden günstig ge¬
sinnt. Das guelfische Florenz hatte immer zu Frankreich gehalten; man
hoffre jetzt mit keiner Hilfe das Joch des verhaßten Pietro abschütteln zu
können und Savonarola hatte diese günstige Stimmung genährt, indem er
ihn im Voraus ankündigte und anrief, als Erneuerer der Kirche von den
Alpen herabzusteigen. Von diesen Hoffnungen, die sich an das Kommen der
Franzosen knüpften, ging die eine in Erfüllung: Florenz erlangte seine
Freiheit wieder. Allein auch an der anderen Hoffnung, daß Karl's Schwert
die Kirche erneuern werde, hielt Savonarola seltsamer Weise noch lange fest.
Karl selbst, dieser schwache, unbeständige, aber ehrgeizige Fürst war durch
Savonarola's Anreden und Predigten so berückt, daß er selbst eine Zeitlang
sich als ein Werkzeug der Vorsehung vorkam und seinen abenteuerlichen
Kriegszug als eine göttliche Mission betrachtete.
Nicht das erste Mal war es, daß der Alpenübergang eines französischen
Heeres auf lange Zeiten das Schicksal der Halbinsel bestimmte. Zwei Jahr¬
hunderte zuvor war jener andere Karl gekommen, vom Papst mit dem König¬
reich Sicilien belehnt, zum ersten Mal jene Ansprüche erhebend, welche eben
jetzt Karl VIII. erneuerte. Auch damals hatte es geheißen, es gelte einen
Kreuzzug gegen die Ungläubigen, zu welchem die Eroberung Neapels nur
der erste Schritt sei. Auch damals hatten' die Welsen von Florenz dem
fremden Fürsten entgegengejauchzt und das Heer der provenxalischen Ritter
verstärkt. Innere Parteisucht bereitete dem Tyrannen den Weg, den der
Papst gerufen hatte, um das nationalitalienische Königthum, zu dessen Träger
sich Manfred gemacht und von welchem das Papstthum den eigenen Unter¬
gang ahnte, zu vernichten. Wie eine erste Warnung an die Völker Italiens
war jener Zug Kalk's von Anjou gewesen. Allein seitdem waren durch die
unaufhörlichen Fehden die Kräfte Italiens so gänzlich erschöpft, daß Nie¬
mand an ernstlichen Widerstand gegen das kopflose Unternehmen Karl's dachte,
und so völlig erloschen war das Nationalgefühl, daß man, und nicht blos
in Florenz, dem fremden Eroberer als einem Befreier des Volks entgegen¬
jubelte. Es war wohl allgemein ein Gefühl von entsetzlichen Leiden, die be¬
vorständen, vorhanden, aber Niemand schien zu ahnen, daß eben mit dem
Zug König Karl's jene lange Kette unheilvoller Ereignisse begann, welche
von da an sür lange Zeiten das politische Leben Italiens vernichteten. Jede
Provinz, jede Stadt, jede Familie dachte nur an sich, nirgends ein Ge¬
danke an das gemeinsame Vaterland. Die Volkspartei in Florenz war kurz¬
sichtig genug, sich unter einer neuen republikanischen Verfassung geborgen zu
glauben, als ob das vereinzelte Gemeinwesen, wie immer seine Verfassung
War, nicht nothwendig hätte in die Kämpfe hineingerissen werden müssen,
in denen es sich um die Herrschaft der ganzen Halbinsel handelte.
Die Sympathien der Florentiner für Karl kühlten sich freilich in Bälde
ab, als man erfuhr, daß er Verhandlungen mit dem vertriebenen Pietro
pflog und die Empörung Pisas gegen Florenz begünstigte, woraus jener
lange unheilvolle Krieg zwischen den zwei Schwesterrepubliken sich entspann.
Das wurde nicht besser, als die Franzosen in Florenz einzogen und man
ihren Uevermuth und ihre Habsucht in der Nähe kennen lernte. Aber bei
allem Mißtrauen lag den Florentinern viel an der Freundschaft des Königs
und sie erkauften dieselbe theuer genug durch den Vertrag, der erst nach
langen Verhandlungen zu Stande kam und welcher dem König den Titel
„Wiederhersteller und Beschützer der florentinischen Freiheit" übertrug. Als
der König endlich die Stadt verlassen hatte, auf die Ausforderung Savona-
rola's, keine Zeit für die Durchführung seiner göttlichen Sendung zu ver¬
lieren, herrschte die Volkspartei allein in der Stadt, und Savonarola war
ihre Seele.
Es läßt sich in den Predigten Savonarola's verfolgen, wie — unter
dem Zwang der Lage, die ihn gebieterisch zum ersten Berather des Volks
machte, und in einer Zeit, da die Schwierigkeiten, eine neue Verfassung zu
finden, unüberwindlich schienen — in die allgemeinen Ermahnungen zur
Buße, zu der Eintracht, zu den guten Werken der Liebe allmälig auch
politische Rathschläge sich einmischen. Zuerst noch in ganz allgemeiner Weise.
„Vor Allem" ruft er den Florentinern zu, „machet ein Gesetz, daß sich die
Kaufläden wieder öffnen und dem Volk Arbeit gegeben werde." Und dann:
„Der Herr will, daß ihr Alles erneuert, daß ihr alles Vergangene vernichtet,
daß Nichts bleibe von den schlechten Gebräuchen, den schlechten Gesetzen und
den schlechten Regierungen." Aber das unbedingte Vertrauen des Volks und
die Rathlostgkeit der Gesetzgeber führen ihn weiter, auch in ihm wächst das
Selbstvertrauen und es erscheint ihm, der es nie gesucht hat, Pflicht, sich in
die Staatsangelegenheiten zu mischen, „weil es für das Heil der Seelen
nothwendig ist." In der Predigt vom 12. December 1494 geht er direct zur
Politik über, er erörtert die verschiedenen Staatsformen und führt aus, daß
für Florenz nur eine Republik auf breitester Grundlage passe. Ganz in der
Weise jener älteren Mönche donnert er wider die Tyrannen, die Verderber
ihrer eigenen Seele und der Seele des Volks. Florenz ist die auserwählte
Stadt, von der die Reform Italiens und weiterhin der ganzen Welt ihren
Ausgang nehmen wird. Aber nur dann, wenn die Herzen gereinigt und
Gottes Gebote erfüllt werden, denn die Reform muß von den geistlichen
Dingen ausgehen, alles weltliche Wohl muß dem moralischen und religiösen
dienen, es gibt keine gute Verfassung, die nicht auf Gott selbst zurückgeführt
wird. Schließlich empfiehlt er die Einsetzung eines großen Raths nach Art
des venetianischen, als Organ des allgemeinen Volkswillens, von dem alle
Behörden zu ernennen, alle Gesetze zu bestätigen seien.
Wenn Savonarola eine möglichst demokratische Regierungsform wollte,
so kam dies den Wünschen der Florentiner entgegen, welche Nichts mehr von
der Medicäerherrschaft wissen wollten, und er blieb zugleich in den Traditio¬
nen der Bettelorden, welche, wesentlich ein demokratisches Institut, immer
die Sache des Volks gegen die Tyrannen geführt hatten. Er selbst hatte
von seiner Liebe zur Freiheit schon dem gefürchteten Lorenzo gegenüber, der
ihm wohlwollend gesinnt war, Proben abgelegt. Nur durch die Demokratie
schien ihm die Entwickelung jener Bürgertugenden, jenes Geistes hingebender
Selbstverleugnung möglich, die ihm als das Ziel der Reform vorschwebte
oder die er ein anderes Mal auch zur Vorbedingung derselben machte. Denn
beides war ihm untrennbar verbunden. In den Predigten, die er nun in
demselben Sinne fortsetzte, war er sich bewußt als Bote Gottes zu reden,
er berief sich auf die Autorität, die er durch seine erfüllten Prophezeiungen
sich erworben, nicht er war es. der diese Verfassung empfahl, sondern Gott
selbst, der durch seinen Mund redete. So siegten die Vorschläge des Mönchs
über die mehr aristokratischen Entwürfe der Staatsgelehrten. Seine Predigten
in dieser Zeit sind der beste Commentar zu der damaligen Verfassungs-
geschichte von Florenz. Dieselben Motive, die er auf der Kanzel entwickelt,
werden nachher mit denselben Worten in den Rathsverhandlungen wieder¬
holt. Alles redet jetzt die Sprache Savonarola's, es wird kein neues Gesetz
gegeben, ohne daß eine oder mehrere Predigten von ihm vorausgingen, welche
dasselbe begründen: er ist die Seele des Volks, die Seele des Staats ge¬
worden.
Die Verfassung, die noch im December 1494 durch Savonarola's Auto¬
rität zum Stande kam, galt damals als die freisinnigste, die sich denken ließ, als
die vollkommenste Verwirklichung der Freiheit. Heutzutage erscheint sie doch
in einem andern Lichte. Das LousWo eng.MOi'6, das nach dem Vorbild
des venetianischen LonsiZlio sraucle eingesetzt wurde, beruhte zwar nicht wie
in Venedig auf einer abgeschlossenen Geburtsaristokratie, denn diese existirte
in Florenz nicht, aber es nahm doch keineswegs die Gesammtheit der Bürger
daran Theil. Mitglieder desselben waren nur die sogenannten Leneüiiig.ti,
die durch ein altes Gesetz Bevorrechteten, nämlich Diejenigen, welche die drei
höchsten Aemter entweder factisch oder dem Namen nach bekleidet und das
29. Lebensjahr vollendet hatten. Das waren damals etwa 3000 unter den
90,000 Seelen der Stadt. Ausgeschlossen waren die Ltstnali, welche zu
allen Aemtern berechtigt waren (und somit die Vorstufe zu den LeneK-iiati
bildeten), dann die ^Wravo^all, die steuerzahlenden, welche nur das Pri¬
vilegium Waffen zu tragen besaßen, ausgeschlossen endlich das politisch ganz
rechtlose Proletariat. Dieser große Rath war der eigentliche Souverän der
Stadt, er besetzte die alle zwei Monate wechselnde Signoria, aus seiner Mitte
ging der Beirath der Achzig hervor, in seiner Hand ruhte die oberste Ent¬
scheidung über die Gesetze. Man sieht, es war in den politischen Rath¬
schlägen des Mönchs durchaus nichts Utopistisches. Sie verriethen einen
verständigen praktischen Sinn, wie ihn Savonarola auch in der Wiederher¬
stellung des alten Handelsgerichts und in der Reform des Steuerwesens be¬
wies. Er war es, der die Einführung einer gleichmäßigen Grundsteuer durch¬
setzte und den Unzufriedenen gegenüber, die auch hier nicht fehlten und von
der Revolution Aufhebung aller Abgaben erwarteten, nachdrücklich die Pflicht
des Bürgers, zur Erhaltung des Staats beizutragen, einschärfte. In einer
Frage konnte er sogar mit seiner besonneneren Meinung nicht durchdringen,
nämlich in der Justizreform. Unablässig hatte er darauf gedrungen, daß dem
obersten Gericht für Staats- und Criminalverbrechen, den Otto all guarclin.
e dalla, eine Appellationsinstanz beigegeben werde, was bei dem bisher
herrschenden Parteiunwesen dringend nothwendig schien. Allein er wollte,
daß diese Appellation an einen aus dem großen Rath genommenen Ausschuß
von 80 oder 100 Männern gewiesen werden solle, während in der verfassung¬
gebenden Versammlung schließlich die Meinung siegte, daß diese Appellations-
instanz der große Rath selbst sein solle. Zu diesem Beschluß vereinigten sich
bezeichnenderweise — ein übles Vorzeichen für die Zukunft — die Extremen
der Volkspartei und die Optimatenpartei, letztere von der Berechnung ge¬
leitet, daß, wenn die Menge selbst zum Richter in den wichtigsten Processen
eingesetzt werde, dies leicht Gelegenheit zu Unordnungen schaffen werde, aus
welchen sie hoffen konnten, für einen Umsturz der Verfassung Nutzen zu ziehen.
Man durfte dies als einen ersten Sieg der wider die Verfassung Verschwore¬
nen betrachten, die sür jetzt noch auf diese versteckte Art des Kampfes an¬
gewiesen waren, deren planmäßige Agitationen aber doch schon von jetzt an
sich verfolgen lassen.
Der Schlußstein der neuen Verfassung war die Abschaffung der Parla¬
mente, welche, als die Uebertreibung des demokratischen Princips, stets die
bequemste Handhabe für gewaltsame Umwälzungen abgegeben hatten. Das
Parlament war nämlich eine Art von nichtorganisirtem allgemeinen Stimm¬
recht, die durch die große Glocke zusammengerufene tumultuarische Versamm¬
lung aller Bürger, welche unter dem Schein, der souveräne Meinungsaus¬
druck des ganzen Volks zu sein, von ehrgeizigen Usurpatoren als Mittel des
Staatsstreichs gebraucht wurde. Nachdem die Verfassung gegründet war,
konnte ein Parlament nur den Zweck haben, diese Verfassung umzustürzen. Sie
schien sür immer gesichert, wenn die Parlamente gesetzlich abgeschafft waren.
Ohne Zweifel war es die Wahrnehmung, daß die Gegner der Republik be¬
reits sich regten, was Savonarola bei der Betreibung dieses Gesetzes zu
ganz besonderer Leidenschaft hinriß. Daß nun diese Verfassung die beste war,
welche Florenz in den langen Jahren, seiner stürmischen Geschichte sich zu
geben wußte, daß unter ihr Freiheit und Friede am gesichertsten waren,
ist das einstimmige Zeugniß aller großen Florentiner, die freilich in den
Zeiten der bereits verlorenen Freiheit schrieben und denen das verlorene Gut
um so kostbarer schien. Geschichtschreiber und Staatsrechtslehrer, wenn sie
alle Verfassungsformen geprüft und die ganze Geschichte überdacht hatten,
kamen immer wieder darauf zurück, daß es nichts Besseres gebe als den
großen Rath und die Verfassung von 149t. Eine wahrhaft schwärmerische
Verehrung umgab sie noch lange Jahre. Von Michel Angelo, der gleichfalls
zur Vvlkspartn hielt und später, nach dem definitiven Fall dep Republik,
mit den florentinischen Ausgewanderten in Rom lebte, scherzten die Freunde,
daß er gar nicht mehr aufhören könne, wenn er auf das Lou8iglio gr^nah
zu reden komme. Heute wird man, weniger überschwänglich, das Urtheil
nur dahin abgeben können, daß diese Verfassung die beste war, so lange der
Geist in der Bürgerschaft anhielt, welchen Savonarola zu wecken verstand.
Aber er selbst sollte noch den Abfall erleben; auch hier zeigte sich, daß nie
und nirgends die Form einer Verfassung hinreicht, die Freiheit zu sichern.
Von dem praktischen Geschick, mit welchem Savonarola unleugbar in
der Verfassungsfrage eingnff, sticht nun seltsam der sonstige Inhalt seiner
Predigt ab. Ihr visionärer Charakter steigert sich in einer Weise, daß der
Redner völlig die Herrschaft über sich zu verlieren scheint. Anstatt über den
Erfolg seines Werks irgend welche Befriedigung zu äußern, überläßt er sich
vielmehr einer leidenschaftlichen Traurigkeit. Immer wieder kündigt er Ge¬
richt und Stiafen an, Krieg und Zwietracht sieht er über Florenz herein¬
brechen, und schon glaubt er die Axt auf sich selbst gezückt: mit merkwürdiger
Bestimmtheit und Consequenz verkündigt er von da an seinen Märtyrertod.
Auf seine Visionen gründet er die ganze Legitimation seines Berufs, mit
allen Künsten eines in der Scholastik geschulten Sophisten beweist er die
Wirklichkeit seiner Offenbarungen, Es steht ihm fest, daß er am Himmel
da« Schwert des Herrn gesehen. Ueber Rom und Jerusalem sieht er zwei
Kreuze aufgerichtet. Er erzählt, wie er als Abgesandter der Florentiner bei
Christus und bei der Jungfrau Maria erschien und berichtet über seine
Audienzen wie ein Diplomat an seine Regierung berichtet. Er wiederholt
die Worte, die er von Stimmen Unsichtbarer im Himmel vernommen, er hat
keinen Traum, für den er nicht eine Bibelstelle kennt, keinen Einfall, den
er nicht aus Thomas von Aquino zu belegen weiß, er ist der Sclave seiner
Träume.
Dieser prophetische, apokalyptische Charakter ist es nun vor Allem, dem
seine Predigt ihren ungeheuren Erfolg verdankt. Dadurch gewann er
die unbedingte Herrschaft über die Gemüther, die ihn nicht blos zum poli¬
tischen Rathgeber machte, sondern mit welcher er auch seine reformatorischen
Ideen schien verwirklichen zu können. Seit d?n Fastenpredigten des Jahres
1493 tritt die Politik in seinen Predigten zurück. Ihr Thema wird die
Sittenreform, und auch dieses Ziel scheint er zu erreichen. Unglaublich ist
der Zulauf, den seine Predigten finden, der Tom selbst kann die Zuhörer nicht
mehr fassen und die Begeisterung fängt nun wirklich an, sich in Handlungen
umzusetzen. Florenz ist in kurzer Zeit wie verwandelt. Statt der zuchtlosen
Carnevalsgesänge erfüllen heilige Lieder die Stadt. Die Frauen legen den
Schmuck ab und kleiden sich einfach, die Kirchen füllen sich mit Betenden,
selbst die ausgelassene Jugend befleißigt sich ehrbarer Sitten. Allein wie
lange wird dieser gesteigerte Zustand der Frömmigkeit sich erhalten? Wird
sich darauf ein dauerhaftes Gebäude begründen, wird nun von dieser Reform
der Stadt Florenz die Reform Italiens und der ganzen Welt ihren Aus¬
gang nehmen? Dieser Pivphetismus war wie immer ein zweischneidiges
Schwert. Er drang in die Herzen der Gläubigen, aber er war zugleich eine
furchtbare Waffe in der Hand der Feinde. Es stand nicht lange an. so
machte man den Träumer und Traumauslegcr lächerlich: von dieser Seite
scheint es den Gegnern am frühesten gelungen zu sein eine Bresche in die
Popularität des Mönchs zu legen. Diese Gegner Savonarola's waren die
sogenannten Arrabiati, in diesem Augenblick gefährlicher als die Anhänger
der Medici, welche ihre Zeit abwarteten. Von den gleichzeitigen Schrift¬
stellern werden diese Arrabiati als die aristokratische Partei geschildert, der
es in erster Linie um den Sturz der Verfassung zu thun war und die nur
deshalb ihre Polemik auf die Persönlichkeit des Reformators concentrirte,
weil sie es noch nicht wagte, offen gegen die Verfassung Sturm zu laufen.
Allein ihr späteres Benehmen scheint doch zu beweisen, daß ihnen der Sturz
Savonarola's mehr am Herzen lag, als der Sturz der Verfassung, die sie
unangetastet ließen. Sie arbeiten bei Moro und dem Papst an dem Sturz
des verhaßten Propheten, aber sobald sie ihr Ziel erreicht, sieht man sie im
engsten Bündniß mit Savonarola's Partei gegen die Umtriebe der Medicäer
Front machen. Es bestand zudem eine eigene Partei, die Bianchi, die auf¬
richtige Demokraten waren, denen aber die Einmischung des Mönchs in
Staatsangelegenheiten widerstrebte. Sie scheinen sich bald mit den Arrabiati
verschmolzen zu haben, und es ist gar nicht anders denkbar, als daß in
Florenz trotz der scheinbaren Alleinherrschaft der Klosterpartei oder der Heuler
und Vaterunserkäuer (?iagnoni und Nastie^pirtel'uvsti-i), wie sie von ihren
Gegnern titulirt wurden, genug nüchterne Männer vorhanden waren, die
von einer so gewaltsamen und vollends religiös gefärbten Aufregung der
Leidenschaften Uebles für den Staat fürchteten. Es kam mehr als einmal
vor, daß Savonarola auf der Kanzel in Flwta Rai-ig, alvi üorv das Blut der
Feinde der Verfassung verlangte.
Faradische Wuthausbrüche dieser Art sind freilich nicht die Regel. Sonst
ermahnt die Predigt Savonarola's immer und immer wieder die Bürger zum
Frieden und zur Eintracht. Dieser Widerspruch war ihm gerade so un¬
bewußt, als wenn er eine demokratische Verfassung empfahl und gleichzeitig
alles Parteiwesen verbannt wissen wollte. In der That wünschte er einmal
die Einsetzung von Friedensmännern, die danach streben sollen, „diese Be¬
nennungen der Bigi (Anhänger der Medici), der Bianchi und der Arrabiati
abzuschaffen, welche ein Unglück sind sür unsre Stadt." Er beklagt die
Parteiumtriebe, die jedesmal bei den Wahlen gemacht werden. Da laufen,
ruft er aus, Viele in der Stadt umher und theilen Zettel aus, auf denen
geschrieben steht, daß man den oder den nicht wählen solle. Das Volk solle
aber nicht darauf achten,, sondern nach Ueberzeugung seine Stimme einzig
denjenigen geben, welche die tauglichsten und würdigsten seien. Er selbst
rühmt sich einmal gegen den Papst, daß er die Parteien unterdrückt und die
Eintracht in der Stadt hergestellt habe. Allein höchstens in einzelnen Augen¬
blicken mochte sich Savonarola dieser Täuschung hingeben. Das Parteiwesen
konnte durch eine Verfassung, welche die Bürgerschaft zum Souverän machte,
am wenigsten unterdrückt werden, und gerade die Vermischung von Politik
und Religion, der theokratische Charakter, den Savonarola der Republik auf¬
drückte, mußte die Leidenschaften nur noch mehr erhitzen. Man erkennt dies
aus der populären Literatur, die sich in diesen Parteikämpfen entwickelte,
aus den politischen Broschüren, die damals von dem einen Lager in das
andere geschleudert wurden und deren Mittelpunkt Savonarola ist, der das
eine Mal als ein wunderthätiger Heiliger, das andere Mal als gemeiner Be¬
trüger erscheint. Dieses Treiben mußte selbst denen bedenklich sein, die in
Savonarola wirklich den untadelhafter Reformator verehrten. Es ist doch
bezeichnend, daß kaum nach Feststellung der Verfassung schon zu Anfang des
Jahrs 1496 eine Signoria im Amt ist, die gar wenig Sympathien für Sa¬
vonarola hat, und ein Gonfaloniere, der Klage darüber führt, daß der Mönch
sich in die Angelegenheiten der Regierung mische. Der Haß der Gegenpartei
gegen ihn stieg rasch dermaßen, daß er schon im Juli desselben Jahrs dem
Papst schreibt, er könne nicht mehr ausgehen ohne bewaffnete Begleitung.
Im December des folgenden Jahrs predigt er, daß man die Feinde aus dem
großen Rath vertreiben und die Anzahl der Mitglieder auf die Gutgesinnten
beschränken müsse, und als Valori, anstatt diesen gewaltthätigen Rath zu
befolgen, umgekehrt das Wahlrecht ausdehnt und das gesetzliche Alter für
die Mitglieder vom 30. auf das 24. Lebensjahr herabsetzt, so ist die Folge
die, daß die sittenlose Jugend der Arrabiati, die sogenannten Compagnacci,
welche die geschworenen Feinde der Reformen Savonarola's sind, in den
Rath dringt. So wenig ist durch die neue Verfassung die Republik im
Sinne Savonarola's gesichert, daß im März und April 1497 ein Anhänger
der Medici zum Gonfaloniere gewählt wird, und als ein Versuch Pietro's,
dies zu benutzen und mit Hilfe seiner Anhänger die Stadt wiederzugewinnen,
scheitert und seine Partei unterliegt, sind es nicht die Piagnonen, sondern
die Arrabiati, welche im Mai ans Ruder kommen. Von da an werden die
Anschläge dieser Partei immer frecher, es kommt zu Tumulten und die
Signoria erwägt bereits, ob nicht die Ordnung am besten durch die Aus¬
weisung des Mönchs wiederherzustellen sei. Zwar kommen wieder die Piagnonen
obenauf, aber nicht auf die Dauer, und als die Republik anfängt in den
Streit Savonarola's mit dem Papst verwickelt zu werden, schmilzt die Partei
immer mehr zusammen. Auch Verehrer desselben mochten sich sagen, daß
seine Agitation, anstatt den Frieden dauernd zu sichern, ihn vielmehr er-
schwerte, und es waren sicher nicht die schlechtesten Patrioten, in deren
Namen in der Pratica vom 30. März 1498, als über die Feuerprobe debattirt
wurde, Girolamo Ruccellai die Worte sprach: es scheine ihm, daß von dieser
ganzen Angelegenheit viel zu viel Aufhebens gemacht werde. Das Wesent-
liebe sei, daß man das Frate und Nicht-Frate. Arrabiato und Nicht-Arra-
biato beseitige und endlich einmal dafür sorge, die Eintracht in der Stadt
herzustellen. Wenn man glaube, daß dies durch eine Feuerprobe geschehen
könne, so möge man die Mönche getrost nicht blos ins Feuer, sondern auch
ins Wasser, in die Luft und in die Erde gehen lassen; wenn aber nicht, so
solle man sich um die Stadt bekümmern und nicht um die Mönche.
Wie Ebbe und Fluth geht es einige Jahre mit der Popularität des
Mönchs auf und nieder. Sieht man genauer zu, so steht sie immer in
Wechselwirkung mit den politischen Schicksalen der Stadt. So oft eine große
Gefahr droht, die Republik von der Zahl ihrer Feinde erdrückt zu werden
scheint, oder im Innern Noth und Seuche ganz unerträglichen Grad erreicht,
so umdrängt Alles angstvoll den bewährten Propheten, der diese Strafen
vorausgesagt, der jetzt allein helfen kann, er wird bestürmt, die Kanzel zu
besteigen, auch ein Verbot des Papstes wird in solchen Augenblicken für
Nichts geachtet, in den berauschenden Worten des Frate sucht die Menge
Trost, und wenn nun, wie bei damaliger Art der Kriegführung und bei der Un-
zuverlässigkeit der Bündnisse häufig vorkam, eine jener plötzlichen Wendungen
eintritt, welche der bedrängten Republik wieder Luft schafft, so sind die An¬
hänger des Frate, der geholfen hat, wieder allmächtig in der Stadt. Lange
ließ der Rückschlag nie auf sich warten.
Florenz war fast diese ganze Zeit über in einer anscheinend verzweifelten
Lage. Anders als zu Lorenzo's Zeiten, dessen geschickte Diplomatie vom
Mittelpunkt aus die anderen Mächte der Halbinsel im Schach gehalten hatte,
war die Stadt seit Pietro's Vertreibung das Ziel des vereinigten Hasses
Aller, Gegenstand ewiger Befehdung von Seite Neapels und Mailands,
Venedigs und Pisas, des Papstes und des Kaisers, und nur die Zwietracht
und Jnteressenverschiedenhett dieser Liga ließ die Republik immer wieder
ihren Gefahren entrinnen. Die Motive dieses Hasses waren zusammengesetzter
Art. Florenz war auf keine Weise dazu zu bringen, vom französischen Bündniß
abzustehen und der nationalen Liga beizutreten, die im März 149S zur Auf¬
rechthaltung der Integrität Italiens und zur Vertreibung der Barbaren ge¬
schlossen wurde. In der Freundschaft des Königs von Frankreich sah die
Republik die einzige Garantie ihrer Unabhängigkeit, und sie ließ von ihm
nicht, auch als er sich fortwährend aufs Treuloseste gegen sie benahm. auch
dann nicht, als die Liga ausdrücklich die republicanische Staatsform an¬
erkennen wollte, wenn Florenz beiträte, ein Versprechen, dem die Florentiner
allerdings mit gutem Grund nicht trauen mochten. Pietro trieb sich fort¬
während bei den feindlichen Heeren herum, obwohl es Niemand mit seiner
Einsetzung rechter Ernst war. Denn Moro selbst streckte die Hand nach der
Republik aus und auch Borgia suchte eine Gelegenheit, für seine Söhne im
Trüben zu fischen, während es Venedig einzig um die Herrschaft im Hafen
von Pisa zu thun war. Allein der tiefste, unversöhnlichste Haß von Papst
und Fürsten galt neben diesen selbstsüchtigen Motiven doch der Existenz der
Republik selbst. Nicht nur war hier ein italienisches Fürstenthum durch das
Volk gestürzt, sondern diese Republik trat auch durch den Mund ihres Pro¬
pheten unverhohlen propagandistisch auf: Staat und Kirche sollten auf neuen
Grundlagen aufgebaut, die ganze Welt sollte von Florenz aus erneuert wer¬
den. Es war in der That, als ob der ganze Haß, mit welchem sich die
italienische Tyrannis des Is. Jahrhunderts beladen, hier endlich zum Aus¬
bruch gekommen wäre und sich vorläufig in der Republik Savonarola's eine
Form geschaffen hätte um von da aus die Tyrannis überhaupt aus der
Welt zu schaffen. Das Papstthum aber fühlte sich von diesem Hasse in
zwiefacher Weise getroffen, denn es hatte an den Gräueln des Fürstenthums
Theil wie an den Gräueln der Kirche. Und nun sieht man, wie Savonarola
mitten inne stand in diesem Principienkampfe, den die Republik zu bestehen
hatte. Wenn die Republik das Ziel der allgemeinen Anfeindung war, so
war es in doppeltem Maße derjenige, der die Freiheit gegründet hatte, der
als ein Bote Gottes die Florentiner immer wieder anfeuerte und die Ge¬
beugten aufrichtete, der unausgesetzt wider die Tyrannen und wider die Laster
der Prälaten predigte und der nicht aufhörte, den König von Frankreich zur
Erneuerung der Kirche über die Alpen herbeizurufen. Man wußte: wenn es
gelang, den Mönch zu beseitigen, so hatte man den Nerv der Republik ge-
tödtet. In Florenz fühlte man die Solidarität der Republik mit ihrem
geistigen Haupt. Aber das Gefühl stumpfte sich allmälig ab, als der per.
sömliche Einfluß Savonarola's schwand. Als ihnen der Mönch im Innern
eine Last geworden war, wollten sie ihn auch nicht mehr nach Außen ver¬
treten. Macchiavellt sagt in seiner kühlen Weise: er ging zu Grunde mitten
in seiner neuen Verfassung als das Volk nicht mehr an ihn glaubte.
In diese Verhältnisse muß man sich versetzen, um den Streit Savona¬
rola's mit dem Papste zu verstehen. Es ist das Verdienst Villari's, die poli¬
tischen Motive dieses Streits in ihr volles Licht gesetzt zusahen, auf welche
übrigens Savonarola selbst immer wieder zurückkommt.
Es waren die Arrabiati, welche vom Jahr 1495 an den Mönch wegen
seiner Ausfälle auf die Kirche, auf die Prälaten und Fürsten Italiens beim
Papst und bei Ludovico Moro denuncirten. Ende Januar des genannten
Jahrs befiehlt der Papst dem Mönch nach Lucca zu gehen, dieser will ge¬
horchen, doch legt Borgia der Sache noch keine Wichtigkeit bet und auf
die Bitte der Zehn läßt er sich bewegen, den Befehl zurückzunehmen. Gleich
dieser Vorgang machte auf Savonarola einen tiefen Eindruck. Er gewann
die Ueberzeugung, daß der Papst nur aus politischen Gründen jenen geiht-
lichen Befehl ertheilt habe, und wenn nun dieser seine eigenen Anordnungen
so leicht nahm, daß er sich nicht lange bitten ließ, sie selbst wieder zurück¬
zunehmen, so begann sich Savonarola die Frage vorzulegen, ob er ver¬
pflichter sei, solchen Befehlen überhaupt unbedingten Grhorsam zu leisten.
Diese Frage sollte in kurzer Zeit praktisch werden. Die Arrabiati er¬
neuern ihre übertreibender Denunciationen und ein Breve vom Juli lädt
mit hinterlistiger Freundlichkeit Savonarola bei der Pflicht des Gehorsams
nach Rom ein. Dieser entschuldigt sich mit schweren körperlichen Leiden, die
ihm die Reise, aber auch ferneres Predigen verbieten, und er verspricht somit
Schweigen. Der Papst nimmt die Entschuldigung an, wiederholt aber im
September die Einladung nach Rom, diesmal unter der Anklage falscher
Lehren, die jedoch nicht näher bezeichnet sind. Savonarola ist fest entschlossen,
nicht zu gehorchen, er fährt fort zu predigen und er faßt jetzt den bestimm¬
teren Gedanken, daß nur durch die Absetzung dieses Papstes, der sein Amt
durch die schmählichste-Simonie erschlichen, die Erneuerung der Kirche herbei¬
geführt werden könne. Dabei wußte er sich unterstützt durch eine starke
Partei im Cardinalscollegium, die, den Cardinal Giuliano della Rovere, den
nachmaligen Papst Julius II., an der Spitze, bei Karl VIII. die Berufung
eines Concils zu diesem Zweck betreibt. Savonarola redet noch nicht öffent¬
lich davon, aber er wendet sich gleichfalls wiederholt an den König von
Frankreich, um ihn zu diesem Schritt zu bewegen. Ein drittes Breve vom
November legt dem Mönch Stillschweigen auf, der durch heftiges Predigen
gegen Pietro von Medici den Papst abermals aufs Aeußerste aufgebracht hatte.
Ein Gutachten, das sich dieser inzwischen über Savonarola's Lehren erstatten
ließ, fiel jedoch ganz zu dessen Gunsten aus und so ließ sich der Papst durch
erneute Bitten aus Florenz bewegen, Savonarola die Erlaubniß zum Pre¬
digen für die Fasten von 1496 wieder zu ertheilen.
Von nun an bringt Savonarola seinen Streit mit dem Papst offen aus
die Kanzel. Er betheuert seine Rechtgläubigkeit, behauptet aber, daß, wenn
die Kirche im Dogma unfehlbar sei. doch Niemand deshalb die Verpflichtung
habe, jedem beliebigen Befehl, der vom Papst komme, zu gehorchen. „Der
Papst kann mir Nichts befehlen, was der christlichen Liebe oder dem Evan¬
gelium widerspricht. Ich glaube nicht, daß er es jemals wird thun wollen;
aber wenn er es thäte, so würde ich zu ihm sagen: in diesem Augenblick bist
Du nicht Hirt, nicht römische Kirche, sondern Du irrst." Und der Fall ist
bereits eingetreten, wo der Widerstand zur christlichen Pflicht wird. Denn
Savonarola ist sich bewußt, daß er nur aus politischen Hasse verfolgt wird,
daß man in ihm nur die Republik tödten will, daß seine Entfernung aus
Florenz der Freiheit und der Religion selbst zum Schaden gereichen würde.
So geht der Streit weiter, mit immer größerer Bitterkeit auf beiden
Seiten. Der Papst wiederholt die alten Mittel und ersinnt neue, um Savo¬
narola, die Seele der florentiner Politik, unschädlich zu machen. Er will
das Kloster von San Marco, dessen Unabhängigkeit er selbst genehmigt hat,
wieder in seinen früheren Verband der lombardischen Congregation einsägen,
ein Mittel um Savonarola beliebig nach anderen Orten schicken zu können.
Aber der Prior von San Marco antwortet mit einem Protest. Der Papst
gebietet ihm aufs Neue zu schweigen. Aber die Signoria selbst dringt, als
das Vaterland wieder in Gefahr ist. in ihn durch seine Predigt den Muth
des Volks aufrechtzuhalten. Der Papst will das widerspänstige Kloster unter
einen von Rom abhängigen Vicar stellen. Aber auch dagegen protestict der
Prior, denn der Papst kann Nichts verordnen, „was gegen die christliche
Liebe und das Heil unserer Seelen streitet." Endlich als die Arrabiati am
Ruder sind, läßt der Papst die Excommunieationsbulle los, es folgen end¬
lose Verhandlungen zwischen den Behörden und dem Papst, dieser droht mit
dem Interdict, mit Repressalien gegen die florentiner Kaufleute in Rom, in
Florenz wird man verdrießlich, man hat mit dem Papst noch über andere
Dinge zu verhandeln, z. B. über die Besteuerung der geistlichen Güter, wozu
man den guten Willen desselben braucht. Kurz, es läßt sich leicht voraus¬
sehen, wie schließlich der Streit enden wird. Die Sache des Mönchs und
das Wohl der Republik sind nicht mehr identisch, fallen nicht mehr in die¬
selbe Wagschale. Wird Savonarola geopfert, so bleibt doch die Ehre der
Republik damit gewahrt, daß man ihn nicht nach Rom ausliefert, sondern
in der Stadt selbst richten läßt!
Man kann über den Charakter dieses Streits nicht im Zweifel sein. An¬
statt ein Principienkampf im höchsten Stil zu sein, schrumpft er im Grund zu
recht bescheidenen Dimensionen zusammen. Nicht Glaube und Vernunft,
Autorität und Freiheit sind die Mächte die sich messen: es ist vielmehr eine
ganz persönliche Angelegenheit, eine Frage der Disciplin. Es werden Savo¬
narola wohl zuweilen Irrlehren vorgeworfen, aber sie werden nicht näher
bestimmt; sobald die Anklage untersucht wird, zerfällt stein Nichts, und der
Papst beharrt nicht auf ihr. Es ist einfach der Ungehorsam, warum dieser so
erbittert auf den Dominicaner ist. Noch in seiner letzten Anklage, dem Breve
vom März 1498, schreibt er an die Florentiner: „wir verdammen ihn nicht
um seiner Handlungen willen, die gut sein mögen, sondern wir verlangen,
daß er herkomme und wegen seines unerträglichen Hochmuths um Verzeihung
bitte, und werden ihm dieselbe gern gewähren, sobald er sich uns reuig zu
Füßen wirft." Die Befehle des Papstes aber hat Savonarola mißachtet, weil
er den politischen Charakter der ganzen Verfolgung erkennt und darum
keinen Gehorsam schuldig zu sein glaubt: „Sie wollen die Verfassung ändern,
Wollen einen Tyrannen einsetzen und kümmern sich nicht darum, ob die
gute Sitte^ darüber zu Grunde geht, o>e mit unserer Lehre wächst und mit
ihr stirbt. Wer also unsere Lehre bekämpft, der streitet wider die evange¬
lische Liebe und ist in Wahrheit ein Ketzer." Er behauptet, daß der Papst
irren könne, und beruft sich dafür auf. die zahlreichen Widersprüche päpst¬
licher Entscheidungen. Aber gleichwohl ist er von einer Antastung der höchsten
Autorität des Papstes weit entfernt. „In seiner Eigenschaft als Papst kann
er allerdings nicht irren, weil er dann nothwendig seine Pflicht thut; wenn
er aber irrt, so ist er nicht mehr Papst, und wenn er etwas Irriges befiehlt,
so ist er nicht mehr Papst. „Aber, Frate" — so wirft er sich selbst auf der
Kanzel ein — „der Papst ist Gott auf Erden und der Stellvertreter Christi.
Das ist wahr, aber Gott und Christus befehlen, die Brüder zu lieben und
Gutes zu thun. Wenn Dir also der Papst etwas befiehlt, was die. christ¬
liche Liebe verletzt, und Du dem Befehl folgst, so gibst Du damit zu erkennen,
daß Dir der Papst mehr gilt als Gott."
Die katholischen Schriftsteller versichern, daß diese Sätze durchaus nicht
wider die Rechtgläubigkeit verstoßen, daß sie sich aus Thomas von Aquino
und anderen Vätern belegen lassen und daß auch die Versuche, ein Concil
ohne Wissen und selbst wider den Willen des Papstes zu Stande zu bringen,
noch nichts Ketzerisches seien. Das mag sein; allein damit ist eben con-
statirt, wie Viel noch fehlte, daß Savonarola bis zur principiellen Bestreitung
der päpstlichen Autorität fortschritt. Eine innere Ahnung steigt ihm auf,
daß das Gewissen der höchste Richter der menschlichen Handlungen sei, er
fühlt in der Tiefe seines religiösen Gemüths, daß man Gott mehr gehorchen
müsse als dem Papst, er ist sich bewußt recht zu handeln, indem er dem
Papst den Gehorsam verweigert. Allein wer entscheidet, wenn das religiöse
Gemüth sich in solchem Conflicte befindet! Woher das Recht, zu sagen:
diese oder jene Handlung des Oberhaupts streitet wider die Religion? Und
wie stimmt zu der Freiheit, die er in gutem Glauben sich nimmt, das Ge«
lübde des Klosterbruders? Das sind Fragen, zu welchen Savonarola nirgends
vordringt, vor der letzten Conseqaenz scheut er zurück, er bleibt immer nur
beim einzelnen Fall, wo er sich im Recht weiß, er wagt es nicht, den Satz
von der absoluten Freiheit des religiösen Subjects, das unmittelbar mit Gott
verkehrt, zu verkündigen, und erst mit diesem Satze war das befreiende Wort
der Reformation gesprochen.
Der langwierige Streit mit dem Papst konnte nur dazu beitragen, die
Stellung Savonarola's in Florenz selbst zu untergraben. Diese persönliche
Angelegenheit, die nicht von der Stelle rückte, wurde ihnen verdrießlich,
vollends als ihre politischen Interessen mit hineingezogen wurden. Dennoch
ist der rasche Fall Savonarola's vollständig nur zu erklären aus dem eigen¬
thümlichen Charakter der Frömmigkeit, welche seine Predigt geweckt hatte
und mit welcher er eine Zeitlang das neue Staatswesen erfüllt zu haben
schien. Hier ist vollends die Kluft in die Augen springend, die den italieni¬
schen von den deutschen Reformatoren trennt. Diese wandten sich an das
Erlösungsbedürfniß des menschlichen Herzens, Savonarola an die Phantasie
eines leicht entzündlichen Volks. Es ist ein Gegensatz, der auf die tiefste
Eigenthümlichkeit der Nationalitäten zurückgeht. Denn der Südländer scheint
für die Religion überhaupt schwer zugänglich zu sein, außer von Seiten der
Phantasie und noch in unsern Tagen zeigen die Zustände in Italien, daß
es einen phantasieloser Gottesdienst nicht erträgt. Darin lag nun die Stärke
der reformatorischen Predigt Savonarola's, wie ihre Schwäche. Es erklärt
sich daraus die dämonische Gewalt, die er über die Gemüther besaß, die
wunderbare Raschheit der sichtbaren Erfolge, der glühende Enthusiasmus,
der im Lauf weniger Monate das ganze Aussehen der Stadt verändert.
Aber ein heimlicher Verehrer der alten Götter mag wohl den Processionen
der Piagnonen spöttisch nachgeblickt haben mit dem Wort: es hat Alles seine
Zeit. Auch der Enthusiasmus hat seine Zeit. Nicht lange vermag er sich
auf künstlicher Höhe zu halten, die Flamme verzehrt sich rasch in sich selbst,
die Mittel, so wirksam einen Augenblick, nützen sich ab, unaufhörlich müssen
sie erneuert werden, sie steigern sich zum Fanatismus, zum Wahnsinn; schließ,
lich tritt doch der unvermeidliche Rückschlag ein und der Vergötterte selbst
muß erfahren, welche Kraft der durch ihn geweckten Flamme innewohnt.
Die Predigten Savonarola's sind selbst ein untrüglicher Maßstab für
die Tiefe der religiösen Bewegung in Florenz. Schon im Januar 1495
klagt er über Anfeindungen, über den Undank der Florentiner. Im Juli
d- I. donnert er gegen die Laster der Stadt, gegen die Tänze, das Spiel
das Fluchen, den Ehebruch, als ob sich Nichts geändert hätte. Immer wieder
dieselben Strafgerichte ruft er über die sündige Stadt herab. Im Jahr
1497, als die Gegenpartei ans Ruder kommt, scheint der sittliche Zustand
der Stadt ziemlich derselbe wie zuvor und was von Frömmigkeit bei der
zusammenschmelzenden Partei vorhanden ist, beginnt jetzt seine innerste Natur
Zu zeigen. Man glaubte an den Wundermann — wie, wenn ihm die
Wunder versagen? Er selbst verliert sich, als sein Schicksal sich verwickelt,
in die letzten Consequenzen des religiösen Fanatismus. Er schreibt sich zwar
mit der Gabe übernatürlicher Gesichte nicht auch die Gabe zu, Wunder zu
thun, aber er ist doch überzeugt, daß Gott, um die Sache seines Propheten
zu bezeugen, erforderlichen Falls ein Zeichen thun wird. Er ruft ein sicht¬
bares Strafgericht vom Himmel auf sich herab, wenn seine Lehre nicht von
Gott sei. Er fordert damit seine Gegner heraus, ein Wunder, wo nicht
von ihm, doch an ihm zu erwarten, und die Folge ist jener Versuch der
Feuerprobe, der sein Schicksal beschleunigt. Die Seinigen selbst werden von
diesem Augenblick stutzig. Man beginnt an seiner göttlichen Sendung zu
zweifeln. Als auch während des Processes und der Folterung kein Wunder
geschieht,.ist der Spott wieder obenauf. Selbst seine Brüder, die Mönche
von San Marco, werden irre, neben rührenden Beweisen ausdauernder
Treue steht die Thatsache des Abfalls, und es ist doch zugleich ein Zeugniß
gegen Savonarola selbst, daß auch seine nächsten Schüler und Vertrauten
jenen superstitiösem Glauben an ihn theilen, der jetzt nothwendig in Stücke
gehen muß. Das Jammervollste in dieser ganzen Jammergeschichte ist,
wie die Mönche von San Marco, während ihr Prior die unsinnigsten Qualen
erduldet, sich förmlich von ihm lossagen und jenes schmähliche Schreiben an
den Papst richten, das mit den Worten schließt: „Möge es Ew, Heiligkeit
genügen, den Urheber und das Haupt aller Irrthümer, Fra Girolamo Sa¬
vonarola, in Händen zu haben. Treffe ihn, wenn es eine solche gibt, die
Strafe, welche seiner Ruchlosigkeit entspricht; wir verirrten Schafe kehren zu
dem wahren Hirten zurück."
Aber noch mehr. Dem Märtyrer selbst wird die phantastische Seite des
Prophetenthums. die er krankhaft in sich ausgebildet hat. schließlich ver-
hängnißvoll. Musterhaft hält er aus in dem Proceß, der mit allen Mitteln
der Bosheit und Grausamkeit gegen ihn geführt wird, siegreich weiß er
jeden Zweifel an seiner Rechtgläubigkeit zurückzuweisen, ohne Wanken be¬
kennt er sich zu den Ideen, die er auf dem Concil zu verwirklichen gedachte.
Auch in seinem politischen Leben ist er sich keines Fehis bewußt. Aber in
Einem Punkt beginnt er zu straucheln. Er wird über seine Prophetengabe
zur Rede gestellt, er soll Antwort geben auf die Frage, ob er ein Prophet
sei. Hundertmal hatte er auf der Kanzel diese Frage, bejaht und sich auf
die Erfüllung seiner Weissagungen berufen; aber jetzt, da er den Richtern und
sich selbst nüchterne, klare Rechenschaft ablegen soll, wird er irre, er verliert
die Einheit seines Bewußtseins, verwickelt sich in Widersprüche, in traurige
Sophismen, er gesteht und leugnet, betheuert und schwört ab, und bitter
rächt sich jetzt jene phantastische Ueberzeugung, indem er selbst das Bild seines
Martyriums trübt, das die Nachwelt gern als ein makelloses im Gedächt¬
niß trüge.
Und was ist nun übrig vom Werke des Reformators, als seine Asche
im Arno verstreut ist? Die Sitten der Florentiner werden, nachdem die
künstliche Aufregung vorüber, im Ganzen nicht besser und nicht schlechter ge¬
wesen sein als vor seiner Predigt. Die Anläufe zu einer Kirchenreform haben
sich zu schwach erwiesen. Einen einzigen praktischen Vorschlag hört man aus
dem immer wiederholten Ruf einer Erneuerung der Kirche heraus: den Vor¬
schlag eines Concils; allein auch über die Aufgabe eines Concils bekommt
man immer nur unbestimmte Andeutungen zu hören, mit Ausnahme der
einzigen Forderung, daß Borgia abgesetzt werden müsse. Es ist wohl ein
reforw.atorischer Drang in Savonarola's Verkündigungen unverkennbar, er
hat die Ahnung, daß eine Wendung in den Schicksalen der Kirche nahe sei.
Aber bei ihm ist doch nirgends ein lösendes Wort, ein greifbarer Anfang, eine
klare Einsicht in das, was der Kirche Noth thut. Ein dauerndes Werk scheint
er in seiner Verfassung den Florentinern hinterlassen zu haben. Sie bleibt
nach seinem Tode aufrecht mit der einzigen noch von ihm selbst empfohlenen
Abänderung, daß der Gonfaloniere auf Lebenszeit ernannt wird. Allein wie
die Verfassung schon bei seinen Lebzeiten nicht hindert, daß die gegnerischen
Parteien zur Herrschaft gelangen, so vermag sie auch die Freiheit nicht zu
retten, als 14 Jahre nach dem Tode Savonarola's durch die politischen Ver¬
hältnisse die Medici in die Stadt zurückgeführt werden. Noch ein Mal erlebt
dann die Republik eine kurze Nachblüthe, noch einmal leistet in ähnlich ge¬
spannter, die Einbildungskraft herausfordernder Lage das Andenken des Do¬
minicaners dieselben Dienste, die einst sein lebendiges Wort geleistet. Christus
wird wieder zum König der Florentiner ausgerufen, die Piagnonen sind die
herrschende Partei, und derselbe religiöse Enthusiasmus behielt wieder die
Vertheidigung der Republik gegen das anrückende Heer von Papst und Kaiser.
Aber diese von Geschichtschreibern und Dichtern vielgefeierte Vertheidigung
von Florenz ist nur der letzte Todeskampf der Republik. Mit der Einnahme
der Stadt durch die Kaiserlichen im Jahre 1530 ist Freiheit und Verfassung
für immer verloren. Wie konnte man auch an eine Aufrechterhaltung der
Republik denken, in einer Zeit, da bereits — Macchiavell sein Buch vom
Fürsten geschrieben hatte!
Macchiavell und Savonarola! Bedeutet nicht das vielberufene Buch des
florentiner Staatssecretärs den schroffsten Bruch mit dem politisch-religiösen
Ideal des Dominicaners? Ist es nicht aus der gründlichen Verzweiflung an
den überlebten republikanischen Kleinstaaten heraus geschrieben, in welche
sich die Kraft der Nation bis zur Unmacht zersplittert hatte! Und doch ist
dieses Buch aus den Reihen der Volkspartei selbst hervorgegangen, verfaßt
von einem Mann, der unter der Republik Savonarola's gedient und seine
Schule gemacht, aber freilich von Anfang an nüchterner über ihn geurtheilt
hat als alle Anderen. Fünfzehn Jahre nach dem Tod des Propheten gestand
die Republik, daß sie selbst nicht mehr an sich glaube.
In seiner praktischen Laufbahn hat Macchiavelli die verschiedensten Wege
einer Rettung von Florenz und Italien aufgesucht. Durch die furchtbare
Ueberzeugung, die in ihm gereift ist, hält er sich nicht für entbunden, bald
auf diesem bald auf jenem Weg zu versuchen was ihm gerade möglich scheint.
Er räth das eine Mal dem Papst, sich an die Spitze aller italienischen Staaten
zu stellen und sein moralisches Ansehn aufzubieten, um der Welt den Frieden
zu dictiren. Wir sehen ihn der Reihe nach mit der Volkspartei sich ver¬
schwören wider die Medici, einen Compromiß versuchen zwischen Beiden
und wieder die Partei der Medici ergreifen. Außerhalb der Parteien stehend
hat er es schließlich mit allen verdorben. Aber in jenem in der Einsamkeit
gereisten Werk, das er verborgen hielt so lang er lebte, zeigt er sich von
zwei großen Ideen erfüllt, denen die Zukunft gehörte. Ihm zuerst ging
wieder der Gedanke auf von einem gemeinsamen italienischen Vaterland, zu
dessen Befreiung von der Fremdherrschaft alle, geradezu alle Mittel erlaubt
sein müssen, und warum nicht die Gewalt und das absolute Fürstenthum,
nachdem an den Freistaaten und einzelnen Fürstenthümern die Nation elend
zu Grunde gegangen ist? Und was ist denn der letzte Grund dieser unseligen
Zersplitterung, die das Land zur Beute der Barbaren macht? Nichts An¬
deres als die weltliche Herrschaft des Papstthums im Herzen Italiens. Denn
das Papstthum ist nie so mächtig geworden, um den übrigen Theil Italiens
zu erobern, und nie so schwach, um nicht durch Anrufung eines Fremden sich
gegen den zu schützen, der in Italien zu gewaltig geworden wäre, und so
hat Italien niemals zur Einheit, sei es in Form der Republik oder der
Monarchie, gelangen können. Und indem nun Macchiavelli Zeuge des furcht¬
baren Verfalls der Kirche ist, hofft er Rettung nicht von ihrer Erneuerung,
sondern davon, daß ihre Aufgabe der Staat übernimmt: er verkündigt die
Autonomie des Staatsbegriffs.
An Macchiavelli gehalten ist Savonarola doch nur ein romantischer
Träumer gewesen. Er wollte zurückführen und conserviren, was seinen Halt
im Bewußtsein der Gegenwart verloren hatte. Auch sein Ideal war noch
einmal auf die Vereinigung der beiden Mächte gegründet, die eben jetzt de¬
finitiv auseinandergingen. Denn während Macchiavelli den Staat vollends
der Domäne der Kirche entzog, in derselben Zeit griff Luther die Reform
derselben von Seite der Religion an: eine Theilung der Arbeit, die jenen
mittelalterlichen Idealen für immer ein Ende machte.
Offenes Sendschreiben an den Archivrath Ouro Klopp über die Ereignisse vor der
Schlacht von Langensalza. Von Camillo von Seebach. Gotha, Perthes 1869.
Diese Schrift des Staatsministers von Coburg-Gotha ist zunächst
veranlaßt durch die Verleumdungen und ungerechten Angriffe, welche die
Haltung des Herzogs bei den Verhandlungen vor jenem Treffen wieder-
holt und mit steigender Erbitterung erfahren hat. Es ist viel über jene
denkwürdigen Tage geschrieben, aber auch eingehender Darstellung fehlte
die Kenntniß zahlreicher Einzelheiten. Die Schrift des Herrn von Seebach
rechtfertigt nicht nur vollständig das Verhalten des Herzogs, sie ergänzt auch
durch genaue Präcisirung der Thatsachen die anderweitigen officiellen Rela¬
tionen und darf deshalb einen dauernden historischen Werth beanspruchen.
Sie ist als Arbeit ein Muster von klarer Erzählung und feiner Polemik, in
wohlgemessener Haltung und gut geschrieben, durch ruhige Würde und ehr¬
liche Gesinnung vernichtend für den Gegner.
Ein regierender Herr ist gegenüber solchen Angriffen, wie sie in diesem
Falle seit zwei Jahren von befangenen oder unwahrhasten Männern erhoben
worden sind, in weit ungünstigerer Lage, als ein Privatmann. Ihm wird
verdacht, wenn er die gesetzlichen Privilegien seiner Stellung in Anspruch
nimmt; es wird ihm leicht mißdeutet, wenn er selbst die Feder ergreift; einige
der letzten Mittel, durch welche ein Privatmann seine angegriffene Ehre ver¬
theidigt, sind ihm ganz versagt. Und doch ist gerade ihm gegenüber Klatsch
und kleinliche Ausfassung am geschäftigsten. Wenige deutsche Regenten haben
in den verhängnißvollen Wochen vor der Schlacht bei Königgrätz so entschlossen
und völlig ihre Pflicht gegen Deutschland gethan, und keiner hat dafür so
abgeneigte Beurtheilung gefunden, als Gotha. Gerade die Tage, in denen
der Herzog Alles, was ihm irgend möglich war, versuchte, um den blutigen
Conflict des Königs Georg mit den preußischen Truppen zu verhindern,
haben ihm von Seiten der Hannoveraner die größte Feindseligkeit aufgeregt.
Wir wissen jetzt recht genau, daß zwar der Herzog in gutem Glauben und
mit ehrlichem Antheil an den Verhandlungen sich betheiligte, daß aber König
Georg seinerseits gar nicht die Absicht hatte, der Vermittelung des Herzogs
Etwas zu verdanken.
Es wird dem Leser nicht unwillkommen sein, nach Anleitung der Flug¬
schrift noch einmal die Ereignisse der Tage zu betrachten, welche dem Treffen
von Langensalza vorausgingen. Möge zunächst Minister von Seebach selbst
erzählen:
„Am 21. Juni war das hannöversche Hauptquartier in Heiligenstadt, am
22. in Mühlhausen. Man hatte von hier nur noch einen Tagemarsch nach
Eisenach. Zwischen dieser Stadt und Mühlhausen zieht sich das Waldgebirge
des Hainichs. Man nahm, weil nördlich desselben feindliche Truppen gesehen
worden waren, ohne Grund an, daß dasselbe besetzt sei; man verzichtete auf
eine gewaltsame Eröffnung dieses nächsten Weges und beschloß den Umweg
über Langensalza einzuschlagen.
Man erreichte diese Stadt am 23. Die Avantgarde unter dem Obersten
von Bülow besetzte am Nachmittage die Behringsdörfer. welche nur eine
starke Meile von der thüringischen Eisenbahn bei Mechterstedt, dem Ueber-
gangspunkte nach Waltershausen, und von Eisenach wie von Gotha etwa
zwei Meilen entfernt liegen. Eine Patrouille der Avantgarde ritt noch am
Nachmittage in die Stadt Eisenach hinein und fand dieselbe völlig unbesetzt.
Ein Detachement von Reiterei und Pionieren machte in der Nacht einen
Versuch, die Eisenbahn bei Mechterstedt zu zerstören. Die hannöversche Armee
hätte, wenn sie von Mühlhausen geradewegs auf Eisenach rückte, schon am
Mittage des 23., ohne einen Schuß zu thun, diese Stadt besetzen können.
Trotz des Umwegs, den sie über Langensalza gemacht hatte, konnte sie ohne
erhebliche Anstrengung am Vormittage des 24. die Defileen des thüringer
Waldes entweder über Mechterstedt bei Waltershausen, oder unmittelbar bei
Eisenach besetzen. Bei Mechterstedt standen 1^ preußische Compagnien, bei
Eisenach am Morgen des 24. zwei von Berlin geschickte Bataillone, von
denen jene Abtheilung detachirt war.
Die hannöversche Armee konnte gleichfalls am 24. den Weg über Gotha
einschlagen. Da der Herzog von Coburg und Gotha schon vor dem 21. Juni
sein Regiment dem König von Preußen zur Verfügung gestellt hatte, so
durfte man erwarten, hier auf feindliche Truppen, wenn auch nicht in be¬
deutender Stärke, zu stoßen. Etwa 2250 Mann, theils coburg-gothaische, theils
preußische Mannschaften, standen vor Gotha. Man mußte auf allen Punkten
am 24. auf Widerstand gefaßt sein. Ueber den Ausgang desselben konnte für
Jemand, der die Zahl und die Tüchtigkeit der hannöverschen Armee kannte,
kein Zweifel sein. In der That hatte man am Nachmittage des 23. im
hannöverschen Hauptquartiere den bestimmten Entschluß gefaßt, am folgenden
Tage die Besitznahme von Gotha zu erzwingen. Die Disposition dafür war
ausgegeben. Auf die Nachricht hin, daß Eisenach ganz unbesetzt sei, gab
man diesen Plan in der Frühe des 24. auf und beschloß die Avantgarde
nach Eisenach zu werfen, die übrigen Truppen derselben folgen und nur eine
Brigade nach Gotha demonstriren zu lassen. Das Gros stellte sich am Mor¬
gen des 24., in Folge des Befehls vom vorigen Tage, südlich von Langen¬
salza auf und die Avantgarde leitete in Folge des neuesten Entschlusses die
Bewegung gegen Eisenach ein. In wenigen Stunden konnten die Defileen
des thüringer Waldes bei Eisenach besetzt sein — als etwa um ?Vü Uhr
Morgens jede Bewegung sistirt und sowohl das Gros, als auch die Avant¬
garde in die Cantvnnements vom vorigen Tage entlassen wurdet
Die Ursache dieses Gegenbefehls lag in dem Wunsche zu unterhandeln.
Tags zuvor, am Vormittage des 23., war, als sich die hannöversche Armee
auf dem Marsche nach Langensalza befand, ein preußischer Parlamentär,
Hauptmann von Zielberg, von Eisenach aus bei derselben eingetroffen, um
im Auftrage des Chefs des preußischen Generalstabes, Generals von
Moltke, die Waffenstreckung der hannöverschen Armee zu verlangen, weil sie
von allen Seiten umstellt sei. Man wies die Verhandlung zurück und be¬
hielt den Parlamentär wegen mangelnder Legitimation im hannöverschen
Hauptquartier, sandte aber in der Absicht. Erkundigungen einzuziehen und
Verhandlungen anzuknüpfen, den Major von Jacobi nach Gotha, um mit
dem General von Moltke in Berlin in Communication zu treten. Der Major
von Jacobi hatte von Gotha aus direct an denselben telegraphirt und für
die hannöversche Armee freien Weg nach Süddeutschland, wo sie längere Zeit
den Feindseligkeiten fern bleiben könnte, gefordert. Ohne die Antwort ab¬
zuwarten war derselbe in der Frühe des 24. nach Langensalza zurückgekehrt.
Eine beim König von Hannover alsbald stattgefundene Berathung hatte zu
dem Resultate geführt, daß die angefangenen Unterhandlungen fortgesetzt und,
um dieselben nicht zu compromittiren, Feindseligkeiten vermieden werden
sollten. Aus diesem Grunde unterließ man, nach der Angabe des officiellen
hannöverschen Berichts, den nahezu offnen Weg über Eisenach zu betreten."
Dies war der kurze Verlauf der Beziehungen zwischen Gotha und dem Heer
des Königs von Hannover bis zum 24. Juni. Jene erste Aufforderung Herrn
v. Moltke's an den König von Hannover vom 23. Juni, die Waffen zu
strecken, nahm eine Sachlage an, welche zur Zeit nicht bestand: um die
hannöversche Armee zog sich von drei Seiten das Netz zusammen, der Ab¬
marsch nach Süden war noch offen. Ob man in Berlin die Einschließung
in Wahrheit als genügend betrachtete, oder ob man nur Zeit gewinnen
wollte, um sie zu vollenden, wissen wir nicht. Soviel aber ist klar, daß
die Hannoveraner in der Hoffnung, die bairische Armee werde zu ihrer
Degagirung herankommen, ebenfalls Zeit gewinnen und zu diesem Zweck
den Gegner Hinhalten wollten. Major v. Jacobi brachte am 23. aus Gotha,
wo er mit dem Herzog in keinerlei Verbindung gewesen war, die Ansicht
in das hannöversche Hauptquartier zurück, daß die Armee bereits umstellt sei.
Oberst von Dämmers, am 24. mit Jacobi nach Gotha zur Fortsetzung der
Verhandlungen gesendet, gewann auf dem Wege nach Gotha die entgegen¬
gesetzte Ansicht; er erfuhr von dem preußischen Obersten v. Fabeck, daß
der Herzog von Gotha nicht das Commando über die Truppen habe, setzte,
obgleich sein Austrag an den commandirenden General lautete, dennoch
seinen Weg fort, ließ sich bei dem Herzog melden und trat in Verhandlun-
gen mit demselben ein, sandte aber während derselben den Hauptmann v.
Krause mit dem Rathe in sein Hauptquartier, sogleich zwei Brigaden in
Eisenach einrücken zu lassen. Während der Herzog von Gotha mit bester
Meinung und aller Treue die Vermittelung übernahm und während Oberst
v. Dämmers in einem Telegramme nach Berlin Abmarsch der hannöverschen
Armee nach dem Süden und Neutralität derselben für ein Jahr anbot und
der Herzog von Gotha diesen Vorschlag in einem zweiten Telegramm warm
unterstützte, war Oberst von Dämmers nach seiner eigenen gerichtlichen Aus¬
sage überzeugt, daß der von ihm präcisirte Antrag ein militärisches Unding
sei und unmöglich von Preußen angenommen werden könnte.
Da war nun sehr merkwürdig, wie diese versuchte Täuschung auf den
Urheber zurückfiel und dessen geheime Pläne kreuzte. In Berlin nahm man
den Antrag des Oberst v. Dämmers wider Erwarten in telegraphischer Antwort
an und fügte nur noch die Forderung hinzu, daß Hannover für diese Neu¬
tralität auf ein Jahr Garantien zu geben habe; schon vorher war tele-
graphirt: General v. Alvensleben werde sofort von Berlin kommen, die weiteren
Verhandlungen zu übernehmen. Ehe die annehmende Antwort von Berlin ein¬
traf, machte der Herzog den Vorschlag, die Feindseligkeiten einstweilen ruhen
zu lassen; Oberst v. Dämmers gab die Zusicherung, daß hannöverscher Seits kein
Angriff erfolgen werde, bevor General v. Alvensleben im hannöverschen
Hauptquartier eingetroffen sei, vorausgesetzt, daß dieses Eintreffen sich nicht
bis zum folgenden Tage verzögere. Oberst von Dämmers hat später feierlich
erklärt, daß er diese Zusicherung nur in Beziehung auf Gotha ertheilt habe
und nur wegen der bevorstehenden Ankunft des Generals v. Alvensleben,
„um die Täuschung sicherer zu machen."
Indeß ist durch das Zeugniß des Staatsministers v. Seebach bewiesen,
daß Oberst v. Dämmers in dem getroffenen Abkommen die Sistirunh der
Feindseligkeiten nicht aus Gotha beschränkt hat; in der That hatte er auch
von seinem Hauptquartier keineswegs den Auftrag erhalten, die Verhand¬
lungen nur zum Schein zu pflegen. Erst während seiner Abwesenheit war im
hannöverschen Hauptquartier die Nachricht eingetroffen, daß Eisenach noch ohne
Schwierigkeit zu besetzen sei; erst daraus hatte man dort sür den Nachmittag
desselben Tages den Durchbruch beschlossen. Aber Oberst v. Dämmers be¬
gegnete aus dem Rückwege von Gotha nach seinem Hauptquartiere dem
Rittmeister v. d. Wense. der in Folge jenes Beschlusses beauftragt war, den
sofortigen Abbruch aller Verhandlungen in Gotha anzuzeigen. Jetzt stand
Oberst v. Dämmers vor der ernsten Alternative, entweder seinem König von
der durch ihn selbst, kraft seiner Vollmacht verabredeten Waffenruhe Anzeige
zu machen und den bereits ertheilten Befehl eines Durchbruchs bei Eisenach
sistiren zu lassen, oder die von ihm nur mündlich getroffene Verabredung
einfach zu verschweigen. — Es scheint, daß er das Letztere gewählt hat.
Unterdeß war man zu Gotha in der freudigen Hoffnung, daß durch die
Annahme der Propositionen des Obersten v. Dämmers der Waffenconflict
vermieden werden würde. Auch die Sendung des Rittmeisters v. d, Wense
konnte die Hoffnung nicht verringern: sie war ja erfolgt, bevor die Verhand¬
lungen mit Oberst v. Dämmers im hannöverschen Hauptquartier bekannt
sein konnten; außerdem traf gerade während der Anwesenheit des Rittmeisters
v. d. Wense jenes Telegramm von Berlin in Gotha ein, welches die Annahme
der hannöverschen Propositionen nebst der Garantieforderung präcifirte. Ver¬
gnügt übergab der Herzog dasselbe dem Rittmeister v, d. Wense, damit dieser
seinem König die hoffnungsvolle Sachlage mittheile. Zu derselben Zeit kam
die Meldung nach Gotha, daß eine hannöversche Colonne gegen Mechterstedt
an der Eisenbahn zwischen Gotha und Eisenach vorrücke. Da diese Verletzung
der besprochenen Sistirung aller Feindseligkeiten das eingeleitete Friedens¬
werk zu gefährden drohte, so forderte der Herzog den zurückgebliebenen
Major v. Jacobi auf, einem doch sicher nicht beabsichtigten Wortbruch
dadurch vorzubeugen, daß er den Commandeur der betreffenden hannö¬
verschen Vortruppen von dem Uebereinkommen in Kenntniß setzte, damit
dieser die Feindseligkeiten bis auf Weiteres sistire. Major v. Jacobi. der
in die geheimen Gedanken des Oberst v. Dämmers und die Beschlüsse des
Hauptquartiers nicht eingeweiht war, nahm in gutem Vertrauen diese Con-
sequenz des geschlossenen Abkommens auf sich und verhinderte durch seine Be¬
nachrichtigung den Vorbruch der Avantgarde während einiger Stunden.
Wir sind zwar der Ansicht, daß dieses Eingreifen in die schwankenden
Entschlüsse des hannöverschen Hauptquartiers nicht von Bedeutung war und
daß man weder am 24ten noch 25ten Juni die Consequenz gehabt hätte, sich
wirklich zu entschließen. Aber wer einmal das Bedürfniß hat, den Lauf der
Weltgeschichte durch ein Glas Wasser und Aehnltches zu erklären, findet hier
eine Gelegenheit. Und er vermag in diesem Fall mit besonderem Behagen
zu erkennen, wie der Zufall gerade dadurch tragisch ward, weil er die Hinter«
gedenken und Täuschungen der hannöverschen Felddiplomaten bestrafte und
wie Die, welche Andere benutzen wollten, ein Opfer ihrer eigenen List wurden.
Die Sistirung der Feindseligkeit, welche Oberst Dämmers nach seiner eigenen
Aussage nur für Gotha zur Täuschung verabredet, sollte sofort die Avant¬
garde seines eigenen Heeres täuschen! —
Daß an diesem fatalen Zwischenfall weder der Herzog, noch sonst Je¬
mand in Gotha die geringste Schuld trägt, wird durch .die Schrift Herrn
v. Seebach's völlig unwiderleglich bewiesen. Und doch war dieser Vorwurf
der Welsen die Summa ihrer Anschuldigungen. Anderes, wie daß die
Sendung des Hauptmann von Zielberg dem Herzog zur Last falle, ist nur
abgeschmackt. Und wir hoffen, wer überhaupt belehrt werden und ehrlich
urtheilen will, wird jetzt das Sachverhältniß gerechter würdigen.
Allerdings nicht Herr Ouro Klopp. Dieser Historiker, den wir für
eines der unglücklichsten Producte deutscher Kleinstaaterei halten, hat von der
Natur die — in Deutschland seltene — Begabung erhalten, eine instinctive
Vorliebe für das Unrichtige zu haben- Man kann sicher sein, ihn in allen
großen Fragen auf der falschen Seite zu finden. Keiner Motte ist das Licht
so ungemüthlich, als ihm consequente Logik der Beweise oder unbefangene
Aufnahme der Eindrücke, welche die Welt in seine Seele sendet. Ihn zu be¬
lehren, wird so lange vergeblich sein, als es auf dieser Erde noch Gelehrten¬
hochmuth. Rechthaberei, Verbitterung und Mangel an Urtheil gibt. Er ist
unter den deutschen Historikern, welche im Jahr 1866 schwächer und untüch¬
tiger wurden, die auffälligste Erscheinung, leider nicht die einzige.
Vom 25ten Juni an liefen vergebliche Verhandlungen wegen der von
Preußen angebotenen Allianz zwischen dem hannöverschen Hauptquartier und
dem Cabinet von Berlin. Der König von Hannover nahm dieselben zum
Vorwand des Zögerns; in Wahrheit erwartete er den Anmarsch der Baiern.
welche unter Andern auch Herr Ouro Klopp herangerufen. Militärisch be¬
trachtet war das Alles kläglich. Das Heer der Hannoveraner konnte auch
noch am 2Seen, am 26ten, ja selbst nach dem Treffen des 27ten über Gotha
durchbrechen. Man war zu solchem Entschluß unfähig.
Die von Gotha aber haben sich gerade in jenen Tagen so gehalten, daß sie
von Freund und Feind das Prädicat loyaler und ehrlicher Männer verdienen.
Dem Herzog hat sein damaliger Entschluß Anspruch auf dankbare Anerken¬
nung der Nation gegeben, welchen die Nachkommen freudiger aussprechen
werden, als die Mitlebenden thaten.
Frankfurt's Schmerzensschrei und Verwandtes. Bon K, Braun. (Leipzig
bei Otto Wigand.)
Diese Broschüre ist im Spätsommer 1868 zur Zeit des wiener Schützenfestes
und der an dasselbe geknüpften großdcutschen Agitation geschrieben, Ihre erste Hälfte
enthält in humoristisch-satyrischen Gewände eine Schilderung der eigenthümlichen Vor¬
stellungen und Ideale, welche die frankfurter Republicaner sich von der Zukunft Deutsch¬
lands gemacht haben, selbstverständlich zu dem Zwecke und unter der Bedingung, daß
die gute Stadt Frankfurt dabei nicht zu kurz komme und gleichsam Herz und Magen
des deutschen Föderativstaates sei und bleibe. Das Hauptgewicht möchten wir nicht
auf diesen ersten Theil der vorliegenden Schrift, sondern auf den zweiten legen, welcher
den Ton plötzlich ändert, den Schalk bei Seite setzt und des Verfassers Anschauungen
über die Rolle entwickelt, welche Frankfurt als preußische Stadt unter den übrigen
preußischen Städten einzunehmen haben werde. Die Nothwendigkeit größerer admini¬
strativer Unabhängigkeit der Städte und Communen, ganz besonders in wirthschaft¬
licher Hinsicht, wird mit aller Schärfe hervorgehoben und den Frankfurtern der Rath
ertheilt, in der Führerschaft auf diesem Gebiet Ersatz zu suchen für den Verlust
jener vielbeklagtcn frankfurter Größe und Freiheit, welche in Wahrheit niemals be¬
standen. Von ganz besonderem Interesse werden der Mehrzahl der Leser die Mit¬
theilungen sein, welche der Verfasser über den wirthschaftlichen Stillstand und die
unheilvolle Isolirung macht, zu welcher Frankfurt sich in denselben Tagen verur¬
theilt sah, welche heute als große Erinnerungen beklagt werden. Die Geschichte von
dem Handelsvertrage, welchen Frankfurt mit England abzuschließen versuchte, ist in dieser
Beziehung ganz besonders lehrreich und verdiente es wohl in den weitesten Kreisen gekannt
zu werden.
Stuttgart, I. G. Cotta. 1868.
Der Dichter ist der berühmteste unter den lebenden deutschen Lyrikern,
er ist einer der jüngsten und letzten Dichter aus jener großen Blüthezeit
deutscher Lyrik, welche die hundert Jahre von Klopstock bis zu den politischen
Kämpfen der Gegenwart umsaßt, er ist uns auch als Patriot ein werther
Bundesgenosse und wir wünschen bei der Besprechung seines letzten gedruckten
Dramas ihm völlig die Achtung zu erweisen, welche er in seinem Volke be¬
anspruchen darf. Denn, für uns, die wir mit anderen Mitteln und auf
anderen Bahnen die idealen Bedürfnisse der Nation in die Wirklichkeit um¬
zusetzen suchen, ist sein Haupt durch die letzten Strahlen einer scheidenden
Sonne deutscher Poesie verklärt. Nicht als ob unserem Leben die Poesie
selbst schwante — sie wird dem Deutschen nicht vergehen, solange er auf der
Erde dauert —; aber das künstlerische Gestalten ringt in der Gegenwart wieder
in neuer Weise, jugendlich und unbeholfen, oft noch mit schwacher Kraft dar¬
nach, die übermächtigen realen Bedingungen unseres Lebens poetisch zu ver¬
klären. Und bei dieser modernen Kunst ist die Lyrik nicht mehr, wie sie in
der nächst vergangenen Periode war, der Quell, in welchem am schönsten und
reichlichsten das poetische Empfinden herausquillt.
Ungern übt dieses Blatt jetzt Kritik an poetischen Werken. Die Zeit
liegt hinter uns, wo falsche Richtungen eine ernste Gefahr bereiteten, der
angestrengte Kampf um den deutschen Staat hat fast alle Talente, auch die
schreibenden, auf seinen Schlachtfeldern gesammelt; wer jetzt freudig und mit
Behagen der Poesie allein lebt, der hat, so scheint uns, besondern Anspruch
auf Anerkennung und freundliches Entgegenkommen, denn er ist ein Be¬
wahrer und Fortbildner des gemüthvollen Ausdrucks, welchen unsere Nation
während ihrer politischen und socialen Arbeit durchaus nicht missen darf.
Deshalb soll hier das neue Drama von Geibel vorzugsweise dazu benutzt
werden, um einen einzelnen Proceß des dichterischen Jdealisirens deutlich zu
machen: die Umwandlung einer geschichtlichen Anekdote in eine dramatische
Idee und Handlung.
Der historische Stoff Sophoniba gehört zu den weitberufenen, welche seit
Vierthalbhundert Jahren sehr häufig Verwerthung für das Drama gefunden
haben. Wer Alles sammeln und lesen wollte, würde wahrscheinlich weit mehr
als zwanzig gedruckte Bearbeitungen zusammenbringen. Die ältesten kunst¬
gerechten waren: italienisch von Gio Giorgio Trissino (aufgeführt um 1514,
gedruckt 1S24). französisch von Mairet (1634) und Corneille (1663), deutsch
von Lobenstein (1680), englisch von Thomson (1730); die letzten deutsch
von Hersch und Geibel. —
Schon dem Alterthum hat die Anekdote selbst häufig die Phantasie be¬
schäftigt. Von einer dramatischen Verwerthung derselben bei den Römern
ist uns Nichts überliefert; daß sie vorhanden war, möchten wir aus der häu¬
figen Erwähnung durch die Geschichtschreiber — Livius, Appianus, Cassius Dio
und Zonaras, und Diodorus — schließen, ferner daraus, daß auch die Maler
sich den Stoff nicht entgehen ließen. Ein leider unvollständig erhaltenes
Wandgemälde von Pompeji, welches offenbar mangelhafte Copie eines bessern
Originals ist, stellt den Moment dar, wo Sophoniba auf dem Brautlager die
Giftschale in Gegenwart des Scipio leert. Der wohlbekannte Portraitkopf
des ältern Scipio Africanus macht den dargestellten Moment zweifellos.*)
Die überlieferte geschichtliche Anekdote ist nach Livius folgende: Die
Carthagerin Sophoniba, Tochter des Hasdrubal, Enkelin des Gisgo, nahe
Verwandte des Hannibal, ein Weib von ungewöhnlichem Geist und von be¬
zaubernder Schönheit, schlaue Punierin und leidenschaftliche Patriotin, wird
von ihrem Vater um 304 v. Chr. dem numidischen König Syphax ver-
mählt, um diesen auf die Seite Carthago's herüberzuziehen. Ihr Gemahl
wird, nachdem Scipio in Afrika gelandet ist, von dessen Unterfeldherrn Lälius
und von Masinissa dem Bundesgenossen der Römer, besiegt und gefangen.
Masinissa, damals noch in blühender Jugend, Prätendent eines Königssitzes
in Numidien, hatte ruhmvoll unter Scipio in Spanien gedient, darauf um
die Krone seines Heimathlandes mit dem Nachbarfürsten Syphax und dessen
numidischer Partei hartnäckig Kampf geführt; er war durch gehäufte Aben¬
teuer und Heldenthaten zu einem berühmten Kriegsmann geworden, ob¬
gleich seine Reiterhaufen wiederholt durch die Uebermacht des Syphax zer¬
streut wurden. Unzerstörbar erschien sein Leben, übermenschlich sein Muth,
er selbst gewaltig an Leib und Geisteskraft — als er im Alter von 90 Jahren
starb, war der jüngste seiner Söhne 4 Jahr alt — ganz das Ideal eines
africanischen Helden. Jetzt nach der Schlacht ritt Masinissa dem Lälius
voraus nach Cirta. der Hauptstadt des Syphax. Als er zum Königspalast
kam. trat ihm Sophoniba entgegen, sank zu seinen Füßen und beschwor mit
schmeichelnder Innigkeit, nur er, der Sohn des Landes, möge über ihr
Leben verfügen, sie aber nimmer der hochmüthigen Feindschaft der Römer
ausliefern. Auch Masinissa wurde von plötzlicher Leidenschaft für die Un¬
widerstehliche ergriffen, er versprach, ihren Wunsch zu erfüllen, und ver¬
mählte sich auf der Stelle mit ihr, weil er sie nur als seine Gemahlin
retten könne. Als Lälius dies erfuhr, verlangte er unwillig die Auslieferung
der Sophoniba. überließ endlich auf das Bitten des Massinissa die Ent¬
scheidung dem Scipio. Diesem aber erschien die hastige Vermählung als ge¬
fährlich. Denn als er den gefangenen Syphax, der einst auch sein Gastfreund
gewesen war, vor sich führen ließ und wegen der Feindschaft gegen die Römer
schalt, da legte Syphax, von Zorn und Eifersucht gestachelt, die ganze
Schuld seiner Feindschaft auf das Haupt des dämonischen Weibes und warnte
den Scipio. sie werde den Masinissa ebenso bethören, wie ihn selbst. Als
nun Masinissa im Lager erschien, empfing ihn Scipio gütig, mahnte ihn
in vertrauter Unterredung eindringlich an die hohen Zielpunkte seines eigenen
Lebens und an die Treue und Selbstüberwindung, die er ihm oft bewährt,
und forderte von ihm die Auslieferung der gefährlichen Feindin. Masinissa
brach in Thränen aus und suchte vergebens den Willen Scipio's zu beugen.
Der Römer blieb fest. Da that Masinissa das Letzte, um der Geliebten sein
Wort zu halten: er übersandte ihr das Gift, welches er sich selbst für den
äußersten Fall durch einen vertrauten Sclaven verwahren ließ, und dazu die
Botschaft, nur dadurch könne er ihr seine Treue erweisen, daß er sie nicht lebend
in die Hände der Römer kommen lasse. Stolz empfing die Frau den Becher.
„Ich nehme das Hochzeitsgeschenk an. und mit Dank, wenn der Gemahl
Anderes nicht zu senden vermochte; nur das melde ihm, ich würde besser
sterben, wenn ich nicht bei meiner Leichenfeier mich vermählt hätte." So
leerte sie den Becher.
Das ist der Bericht des Livius, welchem man ansieht, daß bereits die
Sage und vielleicht die Kunst an der Ausmalung der Anekdote gearbeitet hatte.
Andere Erzähler bringen die Einzelheiten dieser Geschichte durch kleine poe¬
tische Zusätze in festere Verbindung: Masinissa sei schon früher als Jüngling
der Sophoniba verlobt gewesen; ferner, sie habe ihm, da er als Steger der
Hauptstadt Cirta nahte, einen Boten entgegensandt, der die Vermählung
mit Syphax durch Zwang entschuldigte; dann. Masinissa habe ihr selbst im
Geheimen auf fliegendem Rosse das Gift gebracht und die Wahl gelassen,
ob sie lieber trinken wolle, oder aus freiem Willen sich den Römern über¬
liefern. Nur diese Worte habe er gesprochen, dann sei er davon gejagt, sie
aber habe der Amme den Becher gezeigt, diese ermahnt, nicht zu weinen,
denn sie sterbe rühmlich, und habe hochsinnig den Becher geleert. Masinissa
aber habe den Boten der Römer die Todte gezeigt und sie königlich bestattet.
Diese letzten Zusätze des Appian sind zuverlässig Folge einer Zurichtung des
Stoffes durch die Kunstpoesie.
Es ist eine bewegliche Geschichte, sehr anziehende Charaktere, hestig auf¬
brennende Leidenschaften und starker Conflict derselben, höchst dramatische
Situationen: und doch giebt es wenig Stoffe aus alter Zeit, welche drama¬
tischer Behandlung so spröde widerstreben. Keinem der namhaften Dichter,
welche sich an diesem Stoffe versucht haben, ist das dramatische Zurichten der
Handlung gelungen. Zunächst stört für das Drama das Fremdartige in
den Sitten und der Empfindungsweise beider Helden, gerade das, was dem
Hörer die epische Ueberlieferung reizend machen hilft. Der dramatische Dichter
hat die Aufgabe, seine Personen im Lichte der Bühne drei Stunden lang so
handeln zu lassen, daß sie ihr geheimstes Inneres aufschließen und daraus
ihr Thun erklären. Wenn aber der Zuschauer ihren Kampf mit dem Leben
in warmer Theilnahme verfolgen soll, so ist eine unabweisbare Voraussetzung,
daß sie in ihren wichtigen Lebensäuszerungen ihm verständlich und interessant
bleiben. Dazu ist vor Allem nöthig, daß sie im Ganzen unter der Herr¬
schaft derselben Sittengesetze und Lebensordnungen stehen, welche wir haben,
oder welche wir als ein historisches Moment in der Bildung unseres Volkes
zu würdigen gewöhnt sind. Es würde bei diesem Stoff also zunächst die
doppelte Vermählung der Sophoniba eine Klippe sein. Die Tragödie von
Corneille ist unter Anderem daran gescheitert, wie ihm schon Voltaire vorwarf,
und er selbst hat vergebens versucht, sich in einer Vorrede deshalb zu entschul¬
digen. Denn es nützt dem Drama Nichts, wenn Corneille versichert, daß nach
antiker Rechtsanschauung durch die Gefangenschaft des Syphax auch seine
Ehe mit der Sophoniba gelöst worden sei. Uns bleibt die erste Ehe unge¬
müthlich und höchst störend für die folgenden Wirkungen. Aber Syphax ist ja
ohne Mühe zu beseitigen. Da der Dichter unleugbar das Recht hat, den
Stoff nach dem Bedürfniß seiner Kunst umzuformen, so mag der erste Gemahl
der Sophoniba in dem Treffen fallen, er ist für die spätere Handlung unschwer
zu entbehren. Auch Geibel läßt den Syphax zu rechter Zeit sterben und bet
ihm ist die erste große Bewegung im Charakter der Sophoniba gehaltener
Schmerz um den Tod des Gemahls in verlorener Schlacht. Leider liegt das
für unser Ethos Unbehagliche nicht allein in der Doppelehe der Sophoniba,
sondern in dem ganzen Verhältniß des orientalischen Mannes zur Frau.
Neben einer plötzlich aufgeregten Leidenschaft, welche stürmisch fordert, frei
von unsern Rücksichten auf Anstand und Ehre, ist auch Grundlage der Er¬
zählung eine weit niedrigere Stellung des Weibes, welches auch als Herrin
des Harems noch Sclavin des Gemahls ist, über deren Leben und
Tod er unbedingtes Recht hat. Nach Anschauung seiner Zeitgenossen war
Mafinissa, als er der Gemahlin den Giftbecher sandte, nur kluger Politiker,
der das Kleinere dem Größeren, sein Weib einer Königskrone opferte; uns
wird er bei der gewöhnlichen Disposition der Handlung auf der Bühne ver¬
ächtlich. Und dagegen hilft keine Entschuldigung, welche ihm der Dichter
gönnt, sogar nicht Pflicht und Eidestreue gegen die Römer, wenn nämlich seine
Umstimmung an den Höhenpunkt der Handlung fällt, also wie in der Anekdote
das entscheidende Moment des Stückes wird. Wir Germanen vermögen die
Charaktere in dem Drama tiefer zu fassen und mehr von innerem Widerspruch
in ihre Natur zu legen, als die Hellenen, in deren Tragödie jede Umstimmung
des Helden durch menschliches Einreden für einen tödtlichen Fehler des Stückes
galt; aber auch bei uns muß der Held seiner Umgebung an Energie des
Willens und Thatkraft überlegen sein, sonst erlahmt das Interesse. Geibel
hat auch das richtig empfunden: er gibt den Mafinissa ganz auf, Sophoniba
verbündet sich ihrem Jugendgeliebten, im zweiten Act nur aus Patriotis¬
mus. Aber der Dichter hat diesen Helden noch schlechter behandelt, als
nöthig war, denn Mafinissa läßt sich sofort zum Abfall von den Römern ver¬
leiten, er erweist sich als ausgezeichnet unpraktisch, indem er die Sophoniba mit
in das römische Lager nimmt, damit sie auf seine Numidier wirke, und er
läßt sich dort gar noch von Scipio vor seinem Abmarsch überraschen und wieder
auf der Stelle (im dritten Act) so imponiren, daß er ihm die Sophoniba zur
Verfügung übergibt, worauf er aus dem Stück verschwindet. Von da an
wird Scipio Gegenspieler der Heldin und die innern Conflicte verlaufen
zwischen dem Römer und der Karthagerin. Offenbar zu spät für detcnllirte
Ausführung und nicht zum Vortheil für den Charakter der Heldin. Zuerst
war es Syphax, dann Mafinissa, dann Scipio: Sophoniba wird dadurch
unter der Hand in eine stolze unbefriedigte Dame verwandelt, welche den
Rechten sucht. Als sie ihn gefunden und eine zarte Annäherung zwischen
Beiden erfolgt ist, läßt sie sich durch ein Geklatsch der Dienerschaft, daß
Scipio sie nur schone, um sie im Triumph aufzuführen, so weit aufwühlen,
daß sie ihn zu erdolchen beschließt. Glücklicherweise kann sie vor der That,
nachdem sie bei Nacht in sein Zelt geschlichen ist, nicht unterlassen, einen un¬
vollendeten Brief Scipio's an den Senat vom Tische zu nehmen und zu
lesen, worin ihrer gemüthvoll und in großen Ehren gedacht wird. Da weckt
sie selbst den Scipio, wird durch seine besänftigende Worte und durch die
Nachricht von dem freiwilligen Tod ihrer Vertrauten an den unsühnbaren
politischen Gegensatz gemahnt, spricht ihre Empfindung würdig und innig
gegen den Geliebten aus und ersticht sich selbst mit dem Dolch, den ihr der
sterbende Syphax aus der Schlacht gesendet hatte.
Bei solcher Behandlung ist zunächst den Personen ihr Knochengerüst aus
dem Leibe genommen, Alles erweicht, die Härten verschlissen, das Charak¬
teristische abgestreift; Masinissa ist ein elender Schwächling geworden, Sopho-
niba eine Frau, wie aus der modernen weltbürgerlichen Gesellschaft vornehmer
Russen und Polen, an denen eine Nationalität nur aus gelegentlicher Er.
wähnung ihres Patriotismus zu erkennen ist, und Scipio, die stattlichste Figur,
die man gern mit jedem Tüchtigsten vergleichen möchte, wird ein wenig zu sehr
beredter, schönempfindender, tapferer General mit deutschen Augen, etwa wie
Herr v, Gablenz. Die treibenden Motive endlich, das verspätende Anziehen
der Rüstung, jene Idee Sophoniba zur Verführung der Numidter in das
römische Lager zu schmuggeln, die Verleumdung, daß Scipio die Sophoniba
für den Triumph aufbewahre, endlich das verständige Lesen des Briefes vor
dem projectirten Meuchelmord sind sämmtlich übel erfundene Uebereilungen
der Helden oder Motive des Lustspiels. Das Alles läßt sich nicht ver¬
schweigen. Aber trotzdem hat das Stück ein ächter Dichter gemacht. Ton
und Farbe sind durchaus eigenartig, viele colorirende Episoden geben
fast allzu reichen Schmuck und eine Stimmung, wie man sie'durch ein
reizendes orientalisches Märchen erhält, die edle gehobene Sprache wird im
Höhenpunkt: Scipio unter den Numidiern, und in der Katastrophe zu schö¬
nem Pathos. Das Kunstwerk ist in mehren Hauptsachen nicht gelungen,
aber der Künstler bleibt dem Leser werth.
Was endlich blieb bei solchen Aenderungen von der alten Anekdote? Es ist
wahr, der Dichter ist dem Stoff gegenüber souverän, nur durch die Lebensbe¬
dingungen seiner Kunst beschränkt; aber er wird sich doch sehr zu hüten haben,
daß der Stoff sich nicht unter seinen Aenderungen völlig verflüchtige. Es hatte
guten Grund, wenn die Franzosen unter Ludwig XIV. sich gern rühmten,
daß die Handlung ihrer Stücke ganz dem geschichtlichen Stoff entspräche, denn
die Freude an historischer Treue bewirkte wenigstens, daß sie in der Handlung,
wenn auch nicht in den Charakteren, Vieles vermieden, was gesundem Men¬
schenverstand ungereimt erscheint. Jede Umbildung des Stoffes, welche die
Bedürfnisse moderner Kunst in fremde Culturzustände trägt, setzt auch in
Gefahr, innere Widersprüche und greifbare UnWahrscheinlichkeiten zu schaffen;
in der alten Erzählung ist Sophoniba, dem Masinissa zu Knieen liegend und
das gebotene Gift trinkend, immer Sclavin des Siegers oder Gemahls; der
Dichter aber freut sich ihres hohen Sinnes, der stolzen Vaterlandsliebe, welche
grade im Contrast zu ihrer unfreien Lage reizvoll hervortreten. Sein schöpferi¬
sches Bestreben ist, diese hohen weiblichen Eigenschaften recht mächtig heraus¬
zutreiben und dem Hörer imponirend zu machen, er findet dafür solche Situa¬
tionen, also neue Theilstücke der Handlung, in denen die fürstlichen Qualitäten
der Sophoniba: königliche Gesinnung. Herrschaft über die Seelen sich auch in
der Action durchaus anschaulich machen, und er merkt wahrscheinlich nicht,
daß seine Heldin seitdem in einer Weise unter den Männern umherfährt und
Wirkungen austheilt, welche an der wirklichen Sophoniba äußerst anstößig
gewesen wären und sich zu den benutzten Situationen der alten Anek¬
dote gar nicht mehr fügen. Freilich, auch die bescheidene Zuthat, ja treu¬
stes Anschmiegen an die historische Ueberlieferung vermögen jene innere
Dissonanz nicht wegzubringen, welche fast immer zwischen altem Sagen¬
stoff und dem Gemüthsleben des modernen Dramas ist. Wir sind sehr
gewöhnt, hellenische Heidenzeit in der Kunst zu verwerthen, und haben viel¬
leicht das unbefangene Urtheil über zahlreiches Peinliche in der Schule ver¬
loren. Aber einer späteren Zeit wird doch die Iphigenie von Göthe nebst
dem milden König Thoas und Orest trotz ihrer edlen Poesie als ein unheim¬
liches Gedicht erscheinen, in welchem die Tochter einer Familie mit menschen¬
fresserischen Gewohnheiten in einem Lande, wo Menschen geopfert werden, so
sinnig über das Schicksal der Frauen reflectirt. — Nicht hier ist der Ort
auszuführen, wie die Charaktere leiden; je mehr neue Handlung ihnen zuer¬
funden wird, um so mehr verlieren sie die Färbung, welche sie in der ursprüng¬
lichen Erzählung hatten, die Personen und die Situationen schweben zuletzt
ganz in der Luft und sind darauf angewiesen, sich in den traditionell über¬
lieferten Situationen unserer Bühne pathetisch declamirend und schönseelig
zu bewegen.
Aber es muß hier auch bemerkt werden, daß Geibel bei diesem Stoff
zwingende Veranlassung hatte, einen Theil der Handlung neu zu erfinden,
denn die Heldin Sophoniba verharrt nach dem ersten Momente des Fußfalls
vor Masinissa in der Erzählung thatlos bis zu dem Moment, wo sie den
Giftbecher leert, und Masinissa, der weit heftigere Bewegungen und Wand¬
lungen hat, ist zum ersten Helden nicht geeignet.
Auch das Stück Geibel's löst nicht das alte Problem: ob der Stoff So¬
phoniba überhaupt sür das Drama brauchbar sei. Wer aber ein Dichter ist,
darf das nicht von vornherein verneinen, denn er soll das fröhliche Vertrauen
behalten, daß die Dichterkraft über jedes stoffliche Hinderniß zu siegen ver¬
mag; es bedarf nur des rechten Mannes und der rechten Stunde. In der
That geht es mit manchen dieser technischen Schwierigkeiten wie mit dem Et
des Columbus: ein kleiner Eindruck in die harte Schale und das Ungefüge
steht auf den Bretern. Dieses Blatt hat durchaus nicht den Ehrgeiz, einen neuen
Plan vielen berühmten Versuchen gegenüberzustellen; nur auf einen Umstand soll
hier aufmerksam gemacht werden. Das Theilstück derhistorischen Anekdote, welches
bis jetzt noch immer — so viel dem Schreiber bekannt — zum Drama verwerthet
wurde, die Ereignisse von der Niederlage des Syphax bis zum Tode der Sopho¬
niba enthalten in Wahrheit nur Stoff für drei große Scenen: Kniefall der Heldin
vor dem Helden und Verbindung Beider, dann Scipio und-Masinissa, d. h.
Reaction in der Seele des Helden, drittens Schlußwirkung und Katastrophe;
das aber ist in der That nur Umkehr und Schluß eines Drama, Act vier
und fünf. Alles was diese Momente unserer Empfindung tragisch machen
würde: Leidenschaft, Spannung, Schuld, Verhängniß fehlt dem Stoff und
bisher allen seinen Dramen. Dies Alles aber muß aus der früheren Geschichte
des Mafinissa und der Sophoniba genommen werden. Es ist gar nicht nöthig,
dafür viel zu erfinden; bei Livius steht Manches davon: wie Mafinissa gegen
die Grenzen des Syphax seine Raubzüge macht/ wie Hasdrubal mit der Tochter
den Gastfreund Syphax besucht u. s. w.
Der Dichter also, welcher die Aufgabe lockend findet, eine junge ver¬
führerische kluge Diplomatin von punischen Blut mit der heißen Leiden¬
schaft und Heldenkraft eines numidischen Häuplingö zu gesellen uno Beiden
dadurch ein tragisches Schicksal zu schaffen, welches die Heldin vernichtet, der
müßte Beiden doch zuerst unbefangenen Antheil gewinnen, indem er ihre
auflodernde Leidenschaft unter günstigen Verhältnissen darstellt, verschieden
temperirt nach ihrem Charakter, vielleicht so motivirt, daß Mafinissa die
Sophoniba und ihren Vater auf der Reise zu Syphax gefangen nimmt und
ritterlich beschützt. Und ferner im zweiten Act, daß der staatstluge und doppel¬
züngige Hasdrubal den Masinisfa täuscht, dazu die Tochter zum nichtwissenden
Werkzeug gebraucht, etwa durch den Vorwand, den Masinissa mit Syphax
auszusöhnen; dann im dritten Act daß Sophoniba dem Syphax wider ihrer
Seele Wunsch vermählt wird und Masinissa verrathen und in finsterer Leiden¬
schaft sich aus Cirta in das Lager des Scipio rettet und den Römern zuschwört.
Ferner im vierten Act, daß Masinissa seine Rache an Syphax in der Schlacht
nimmt und wieder der Sophoniba gegenüber tritt, in welcher jetzt auch das
heiße Gefühl überwindet, und daß Beide dem Verhängniß verfallen, welches
ihnen die Vergangenheit bereitet, er, weil er ein Parteigänger Roms ge¬
worden, sie, weil sie den Geliebten zu den Römern gescheucht hatte.
Ob auf solcher oder ähnlicher Grundlage ein gutes und wirksames Stück
aufzubauen wäre, das würde unter Anderem davon abhängen, ob es dem
Dichter gelänge, die Handlung in wenigen Personen und großen Situationen
zusammenzuschließen, und ob er im Stande wäre, die Charaktere der beiden
Helden durch reiches charakteristisches Detail lebendig zu machen.
Bequemer ist der Stoff freilich für die große Oper.
Herr Dr. Dörner, bekannt durch eine dogmengeschichtliche Arbeit über
die Lehre von Christus, hatte den schwierigen, aber dankbaren Auftrag er¬
halten, für die historische Commission der bairischen Akademie der Wissen¬
schaften die Geschichte des Protestantismus zu bearbeiten. Er hat sich
dieses Auftrags in einem Werke von 924 Seiten entledigt und seine Auf¬
gabe sich selber dahin festgesetzt, die Entwickelung der protestantischen Theo¬
logie nach ihrer principiellen Bewegung und im Zusammenhang mit dem
religiösen, sittlichen und intellectuellen Leben zu verfolgen. Es wäre zu wün¬
schen gewesen, daß der Herr Verfasser mit dem Leser und, was er zum
Schaden seiner Arbeit unterläßt, mit sich selber vorher näher über die Be¬
handlung seiner Aufgabe zu Rathe gegangen wäre. Er gibt über den Plan
seiner Arbeit so wenig Aufklärung, daß er uns nicht einmal den bei geschicht¬
lichen Darstellungen einer Fachwissenschaft üblichen Rückblick auf die Vor¬
arbeiten gönnt. Dann würden wir doch erfahren haben, daß principielle
Bewegung der protestantischen Theologie die Bewegung ihrer beiden Prin¬
cipien, des materialen, der Rechtfertigung durch den Glauben, und des for¬
malen, der normativen Autorität der heiligen Schrift ist; vielleicht hätte aber
der Herr Versasser dann selber auch die Unzulänglichkeit dieser beengenden schul¬
mäßigen Distinctionen für die reiche Ausbreitung der ganzen protestantischen
Entwickelung gefunden. Ebenso hätte er sich vielleicht überzeugt, daß er theils zu
viel, theils zu wenig anstrebt, wenn er die protestantische Theologie im Zu¬
sammenhang mit dem religiösen, sittlichen und intellectuellen Leben betrachten
will. Zu viel, weil, das Hereinziehen des religiösen und sittlichen Lebens in
eine Geschichte der protestantischen Theologie, soweit dieses Leben nicht als
Geburtsstätte des Dogmas zum Voraus hereingehört, die Geschichte der Theo¬
logie noch mit Elementen aus der Geschichte der Kirche und der Moralität
Übersüllen würde. Und wirklich ist auch in vorliegendes Werk manchmal,
z. B. in der Unionsfrage oder in der Erwähnung der preußischen General¬
synode von 1846, gar zu viel kirchenhistorischer Stoff hereingenommen worden.
Hinsichtlich der Geschichte der Moralität läßt sich dieser Vorwurf freilich nicht
erheben, da das Buch gemäß der theologischen Tradition schon der Entwicke¬
lung der Moral sehr wenig, vollends aber derjenigen der Moralität gar
keine Rücksicht zu schenken weiß. Der thatsächliche Beweis, daß mit der Aus¬
dehnung auf die sittlichen Zustände zu viel angestrebt worden ist! Hingegen
ist es Angesichts der Herrschaft, die sich zeitweise Aufklärung und Philosophie
in der Theologie zu erringen wußten, viel zuwenig gesagt, wenn die letztere
blos im Zusammenhange mit dem intellectuellen Leben, dessen Ausdruck, Re¬
präsentation, Mittelpunkt, höchster Extract sie doch in ihren namhafterer Er.
scheinungen ist dargestellt, werden will. Man sieht: Herr Dörner fühlte mit Recht
das Bedürfniß, de« ihm von der bairischen Akademie dictirten Titel seines
Werks von der Einsicht aus, daß der Protestantismus keine blos lehrwissen¬
schaftliche, sondern eine allgemeinere Entwickelung hat, durch Hinzufügung
näherer Bestimmungen seiner Anschauungsweise von der Sache, näher zu
rücken. Wir müssen aber doch in seiner Auffassung noch zu viel Formalis¬
mus sehen und würden einzig den Titel „Geschichte des Protestantismus" zu
rechtfertigen wissen.
Doch darauf geht eben unsere Hauptanklage gegen das vorliegende ge¬
lehrte Werk, daß wir in ihm die organische Betrachtung der Dinge, das
pulsirende Leben des in der Religion und Theologie thätigen Geistes, die
concrete, anschauliche Nachbildung unendlich lebensvoller und lebenswarmer
Menschheitsproducte vermissen. Schiefe Darstellungen wie die von Shaftes-
bury und Lessing, Aufnahme von Nichtzugehörigem wie Hobbes' Rechts-und
Staatsdeduction, Bücheranzeigen statt Schilderung des Charakters der betreffen¬
den Perioden, loses Aneinanderreihen von Personen oder Lehrgegenständen
statt organischer Verknüpfung, Auszüge aus Schriften statt Portraitzeichnungen,
mangelnde Instruktion, Orientirung und Wegweisung für den Leser sind fühl¬
bare Mängel des Buchs. Es soll darum nicht verkannt werden, daß dem
Verfasser der historische Sinn gegeben ist. Wo derselbe unbeschränkt walten
kann, wo der Geschichtschreiber seinem Gegenstand objectiv gegenüber steht,
leistet er Treffliches. Nicht leicht ist bis dahin das Zeitalter der lutherischen
Orthodoxie so nach allen Seiten erschöpfend, so klar und lichtvoll dargestellt
worden, wie hier, und eine so gründliche, durchaus unbefangene Beleuchtung
des Pietismus, als in diesem Werke, dürfte sich nirgend sonstwo finden.
Auch die Schilderung des Supernaturalismus läßt Wenig zu wünschen
übrig. Aber die Vermittelungstheologie, auf deren rechter Seite der Herr
Verfasser nach seiner dogmatischen und kirchlichen Richtung steht, erlaubt ihm
theils keine völlig getreue und vollständige Auffassung der Geschichte,
theils keine Einsicht in deren Organismus. Es sind die Maßstäbe des
materialen und formalen Princips, die zur Einrahmung der einzelnen Er-
scheinungen in ein zum Voraus festgestelltes Schema herzugebracht werden;
es ist eine Seltenheit, wenn dem phänomenologischen Proceß des Bewußt¬
seins, aus dem doch allein die wechjelvolle Bewegung des Dogmas zu er¬
klären ist, ein Plätzchen eingeräumt wird. Wer wird z. B. aus der Dorner-
schen Darstellung des Verhältnisses zwischen dem lutherischen und reformirten
System den Sachverhalt, den schon Luther mit der Erklärung an Zwingli:
„Ihr habt einen andern Geist als wir" ausgesprochen und den die neueren
Forschungen überzeugend ans Licht gestellt haben, herauslesen? Ueberall sind
diesen beiden Typen wie geflissentlich ihre Spitzen gegen einander abgebrochen,
sodaß man fast auf den Verdacht kommt, daß auf diese Darstellung ein apo- -
logetisches Interesse, nämlich das für die preußische Union als eine Einigung
auch des dogmatischen Besitzstandes, eingewirkt habe. Ein ähnlicher Zweck
scheint auch bei der Zurückverweisung des Anabaptismus (in dem sich doch
offenbar das Reformationsprincip der Heilsgewißheit in einseitiger Er¬
greifung des praktischen Menschen ausgetobt hat) in die Kreise des Ro¬
manismus obgewaltet zu haben. Wer gewinnt, ungeachtet der fleißigen
Ausführung über Luther's successive Lehrausstellungen, einen Einblick in und
einen Ueberblick über das rege Leben der Reformationszeit, wenn auf Luther
kein Sichselbstwidersprechen, dieses Anzeichen gerade für die Stichhaltigkeit
der Gesichtspunkte eines großen Geistes, kommen darf? Wie ist ein be¬
friedigendes Gesammtbild dieses Theologen und Menschheitsbildners möglich,
da die Spaltung der reformatorischen Anschauungsweise in Lutherthum und
Philippismus nicht herausgestellt wird und der letztere gerade nach seinem
nächstliegenden Erzeugnisse, der herrlichen augsburgischen Apologie, nicht charak-
terisirt wird? Welcher Sachkundige vermißt nicht in der Schilderung des eng¬
lischen Deismus die Hervorhebung der Hauptpunkte, in denen er sich als die
Opposition der natürlichen Religion gegen die Offenbarungsreligion offenbarte,
in der Zeichnung des Rationalismus vor Kant, die positiven Züge desselben,
seine Philanthropie, die aufkeimende Humanität und Verherrlichung der Güte und
Vortrefflichkeit der menschlichen Natur, seinen Natursinn und seine ästhetische An¬
lage; endlich bei Kant die Betonung jener Lehre, mit der er die Herzen sogar
vieler Gläubigen seiner Zeit gewann, der Lehre vom radicalen Bösen in
der Menschennatur? Doch selbst gegen solche Alterirungen des Thatbestands,
ungenaue oder nicht zutreffende Bilder wiegen für einen Historiker noch
schwerer großartige Lücken, wie Dörner sie sich hat zu Schulden kommen lassen.
Eine derartige Lücke wollen wir, wie bemerkt, dem Verfasser nicht ausrechnen,
wenn er die Geschichte der theologischen Sittenlehre nicht verfolgt hat, wie¬
wohl sie als Theil der Theologie und zumal bei der Ausdehnung, die er
seinem Plane gegeben hat. hergehört hätte; man ist ja, besonders auch von
der speculativen Schule, nicht daran gewöhnt worden nach der Geschichte
dieser Disciplin zu fragen. Aber durch die Natur der Sache und durch sein
Dringen auf das formale Princip des Protestantismus wäre er aufgefordert
gewesen, uns den ganzen Schicksalsgang der Bibel innerhalb der geschicht¬
lichen Entwickelung vorzuführen. In dieser Beziehung aber hat er nur die
Außenseiten der Behandlung, welche die Bibel durch die Fortentwickelung
der formalen Hermeneutik und der Sprachkunde erfahren hat, dargestellt. Er
verweilt mit Vorliebe bei Bengel's Gnomon; da, wo die gegen die Schrift
eingetretene kritische Bewegung nach Semler's Vorgang ernst wird, vernimmt
man vom Gang derselben nichts Rechtes mehr und lernt man kaum den
Namen des Altmeisters aller biblischen Kritik kennen, bis zuletzt Strauß und
die tübinger Schule, wie wenn sie die einzigen Schuldigen wären, zu einem
förmlichen Jnquisitionsproceß mit reichlichen Suggestionen herhalten müssen.
Dem Verf. hätte besser gelassen, einen kurzen objectiven Ueberblick über die
Einleitungen ins A. u. N. T., über die Untersuchungen über die Abfassungs¬
zeit und die Authenticität der namhafterer biblischen Schriften, die Er¬
klärungsweise der Wundererzählungen zu geben: mit der bloßen Darstellung
des Sachverhalts bekennt der Geschichtschreiber sich ja noch nicht zu einer be¬
stimmten individuellen Ueberzeugung.
Wir glauben dem großen Gegenstande, mit dem eine Geschichtschreibung
des Protestantismus zu thun hat, zu dienen, wenn wir aus Anlaß der
Dörner'schen Periodisirung, die von ihrem Urheber — Dank ihrer subjectiven
Entstehung und Haltung — nirgends näher begründet ist, eine eigene versuchen.
Der Protestantismus — darin stimmen wir mit dem Herrn Verf. überein —
hat drei Perioden durchlaufen, die wir mit ihm im Allgemeinen ungefähr
gleich ansehen, wenn wir in ihnen Thesis, Antithesis, Synthesis erblicken, wie
sich dieses an der Ueberschrift seiner dritten Periode: „Regeneration der evan¬
gelischen Theologie", bei uns etwa „Regeneration des evangelischen Ethos",
zeigen mag. Was uns aber von Herrn Dörner unterscheidet, das ist unser
Rückgang von den sogenannten Principien der Reformation zurück auf das
Bewußtsein, das dieselben aufstellte. So ist für uns die erste Periode,
die der Verf. blos formal als Urzeit des Protestantismus bestimmt und mit der
Concordienformel und der Synode von Dortrecht abschließt, die der Selbst¬
gewißheit des naivreligiösen Subjects und hört dieselbe für uns erst
mit der völligen Ausbildung der kirchlichen Glaubenssysteme auf. Unser Gegner
wendet von seinem Standpunkt aus ein, daß mit der Orthodoxie, wie er es
in der Fixirung seiner zweiten Periode angibt, die Wiederauflösung der Ein¬
heit des reformatorischen Princips, besser der Principien, eingetreten sei. Er
sucht nachzuweisen, daß dort das formale Princip in der Ausbildung und
bekannten Uebertreibung der Lehren von Schriftinspiration, bindenden Sym¬
bolen, magisch wirkenden Sacramenten, geistlicher Amtsgnade vollständig
das Materials überwuchert habe, wie denn von nun an die Lehre von der
Rechtfertigung durch den Glauben kein Centraldogma geblieben, sondern eben
ein Dogma neben andern geworden sei. Gut; aber ist darum das anthro¬
pologische Element der Rechtfertigung, die Form des Bewußtseins, der Ha¬
bitus desselben ein anderer, sein Selbstgefühl und sein Gott- und Selbst-
vertrauen ein auch nur momentan schwächeres, unsichereres geworden? Gewiß
nicht: die egrtituäo sglutis war bei der Orthodoxie gerade so fest, wie bei den
Reformatoren. Aber ein anderer mehr untergeordneter Unterschied ist bei der
Verschiedenheit der Zeiten doch an beiden Erscheinungen nicht zu verkennen.
Der Protestantismus hatte in seiner ersten Periode vermöge seiner Disposition
zu Befriedigung der objectiven Bedürfnisse und Interessen des christlichen und
menschlichen Lebens den Weg zum Kirchewerden durchlaufen; er hatte seine
kirchenbildende Kraft in deren ganzem Umfang bethätigen müssen und es
fällt das Fertigwcrden mit dieser Aufgabe, bei deren Lösung die Anatheme
und Crompromisfe der katholischen Zeit wieder genau zurückkehren (Connor»
diensormel, Jacob Andrea), gerade in die Periode der Orthodoxie. Auf
diese Weise unterscheiden sich die letztere und die der Reformation bei gleicher
Naivetät nur durch die Merkmale der Consolidirung und der Ursprünglichkeit.
Im UrProtestantismus war das Bewußtsein von der Heilssicherheit primitiv,
frisch, jugendlich, demokratisch; das Gefühl dessen, was man hatte, war, weil
man den Besitz erst neu. mit einem kräftigen Ruck erworben hatte, leb¬
haft, intensiv, wie die Menschheit niemals vor- und nachher ein solches Voll-
und Kraftgefühl, als das in Luther lebende war, gehabt hat. In der Periode
der reinen Lehre aber war die kindliche Freude am Heilsbesitze nimmer da,
denn der Besitz war nicht mehr neu, war nicht selber errungen, sondern er¬
erbt; aber die Zähigkeit in seiner Festhaltung — im Guten und Schlimmen,
was Verfasser selber schlagend nachweist war dennoch da; gleich dem Alter,
gleich der Aristokratie, die sich auf ihre Rechte und Vorrechte steift, hielt
die altkirchliche Dogmatik unverrückt ihre Gnadengüter fest, freilich so gut,
als diese ihre beiden Typen, gegen die Unterhöhlung eines Besitzes, den
man nicht immer und immer neu sich befestigt, verblendet. Herr Dörner
führt die protestantische Mystik und Calixt neben dem Pietismus als die be¬
ginnende Opposition gegen die altkirchliche Orthodoxie auf, womit jedoch der
Mystik und Calixt zu viel, dem Pietismus zu wenig Gewicht in der Ent¬
wickelung der Dinge beigelegt ist. Der Pietismus ist ein Bruch mit der
Selbstgewißheit des naivreligiösen Subjects, so stark, wie nur der Deismus
und Naturalismus es sein mochten. Aber die Mystiker arbeiteten nur in
restauratorischer Weise daran, das Voll- und Kraftgefühl der Reformations¬
zeit wieder zu erneuern und aufzufrischen, und Calixt suchte sich auf dem
nüchternen, verständigen Wege Melanchthon's auch ganz gewiß für sein ob¬
jectives, wissenschaftliches Bewußtsein das Heilsgut, z. B. durch Ausbildung
des Standes der Heiligung für die Sittenlehre, zu wahren und zu befestigen.
Die zweite Periode wird vom Verfasser bezeichnet als Sonderleben
der beiden evangelischen Confessionen und Wiederauflösung der Einheit
des reformatorischen Princips, vom 17ten bis zum Anfang des 19ten Jahrh.
Keine glückliche Fassung, da das Sonderleben der Confessionen theils nicht
erst jetzt, sondern schon mit ihrer gesonderten Entstehung seinen Anfang ge¬
nommen, theils sich während des Alles nivellirenden Rationalismus, der in
den Dornerschen Zeitraum hereinfällt, fast aufgelöst hat, überhaupt die sozu¬
sagen stammlich nationale Ausprägung des Protestantismus in dem lutheri¬
schen und reformirten Lehrtypus mehr in die Coordination des Streites, als
in die Succession der Zeit fällt. Wo bleibt denn aber in der obigen Perio¬
denbezeichnung die Rücksicht auf das Hauptmerkmal wenigstens des 18ten
Jahrhunderts? Fast sieht's aus, als ob Verfasser sich scheute, die irreligiöse
Aufklärung, oder wie er diese nicht unrichtig nennt, den siegenden Subjectivis-
nms, in die Fortentwicklung der protestantischen Theologie aufzunehmen.
Aber es hilft Nichts; sie muß hinein, weil sie von Hause aus darin ist. Es
kommt nur freilich hart an, die nüchterne Kälte der Aufklärung und ihre
profane oder ordinäre Betrachtung der Dinge auf eine von Luther's frommer
Innigkeit und Glaubenswärme ausgehende Linie zu setzen. Aber man bedenke,
daß die Reformation durchaus nicht blos Reproduction. Rückkehr zum Evan¬
gelium von der Sündenvergebung, sondern wesentlich auch Produktion, erste
geistige und gemüthliche Bethätigung des „ich will selbst dabei sein" gewesen
ist. Man wird dann einsehen, daß die Reformation nichts Andres, als das
intensivste Erwachen der Selbstheit und des Selbstbewußtseins der Menschheit,
ein Negewerden im Centralorgan des Gewissens bedeutet, dem ein Zustch-
kommen des Geistes auf den peripherischen Gebieten (Zeugen davon sind das
Jahrhundert der Entdeckungen, das Besitzergreifen der ganzen Erde, das
Innewerden des Planeten von seiner Stellung im Weltsystem, die Ergänzung
der Culturbewegung durch das wiedererweckte Alterthum) nicht blos zufälliger
We'1? parallel geht. Es ließe sich leicht zeigen, daß das Agens und das er¬
reichte Ziel Luther's nichts Anderes gewesen ist. als die volle Ausprägung der
edlen d. h. sittlichen Selbstheit, die Sättigung und Kräftigung der ganzen
ein i objective Bedeutung ansprechenden Persönlichkeit. Was er implicite
besaß, das hat die Geschichte nach ihm explieits sich erst erringen müssen.
Wenn anfangs das Ich, intensiv reich, extensiv arm, nur als religiöses sich
als Selbstzweck gesetzt hat, so kam es mit der Erweiterung seines Gesichts-
kreises unter den Fortschritten der Culturentwicklung dazu, den Anspruch, den
das reformatorische Bewußtsein erhoben hat: „ich will selbst dabei sein", auch
für sich, das geistig mündigere, an Verstand entwickeltere zu erheben. Ein
Fortschritt des Selbstbewußtseins, mit dem im Mindesten nicht die Verarmung
desselben an idealem Gehalte gegenüber der Selbstgewißheit des naivreligiösen
Subjects geleugnet werden soll. Diese Verarmung ists, die mit Nothwen¬
digkeit die dritte Periode fordert. Der Factor aber, der in der zweiten Pe¬
riode thätig wird, ist der reflectirende Verstand oder die verständige Reflexion;
das Werk, das in ihr getrieben wird, ist Culturarbeit; unsere Bezeichnung
für sie ist: das Subject jetzt als abstracte Reflexion sich selbst
zum Zwecke, Unter diese Rubrik können scheinbar ganz disparate Erschei¬
nungen aufgenommen werden. Im Pietismus ist das sich in sich vertiefende
Gewissen seinen Bedenken über den gar zu einfachen Weg der lutherischen
Heilsgewißheit nachgegangen und hat nach verständigen Kriterien für die er¬
langte Rechtfertigung vor Gott gefragt. In der Aufklärung, die in Eng¬
land negativ, radical, in Deutschland gründlicher und was neue Gesichtspunkte
betrifft, schöpferischer auftritt, hat der endliche Verstand seine logische und
materielle Befriedigung gesucht. Logisch hat er sich als Deismus und Ra¬
tionalismus durch die Aufstellung und Durchführung des einfachen Dilemma
bethätigt: was die positive Religion bietet, ist entweder das Nämliche, was
ich von mir aus auch oder noch besser weiß, also überflüssig, oder Etwas,
was meinem Wissen widerspricht, also schädlich. Materiell aber hat er seine
subjectiv-endlichen Zwecke, seine Glückseligkeit und seine nothdürftige Recht¬
schaffenheit und Gewisfensberuhigung auf Kosten der ganzen Unendlichkeit der
Menschenbestimmung, welche die Reformation erschlossen hatte, verfolgt. Dieser
eigentlich materiellen Richtung sind aber auch anscheinend blos religiöse Er¬
scheinungen wie der Methodismus und die Brüdergemeinde verfallen: dort
das Experiment mit der Regulirung der sinnlichen Gefühle, hier das be¬
kannte Schwelgen in Empfindungen: beide Male wird der Eudämonismus in
die Religion verpflanzt.
Es kann gar keine Frage sein, daß schon mit Kant, diesem Restaurator
der objectiven Christenaufgabe des Menschen, in seinem Ideal der Gott
wohlgefälligen Menschheit, die dritte Periode anfängt und Lessing, Her¬
der u. A. als seine Vorläufer aufzufassen sind. Wir möchten hier die Ueber¬
schrift: Versöhnung der Culturarbeit und der ethischreligiösen
Tiefe des Glaubens vorschlagen. Es ziemt sich, wie es auch der Ver¬
fasser thut, die letzte Bedeutung auf diesem Gebiete nicht der scheidenden,
sondern der combinirenden Kraft, also nicht den Philosophen, sondern vorläufig
Schletermacher'n zuzusprechen. Er hat wenigstens die Parole ausgegeben. Wie
Börne von Jean Paul rühmt, er habe zum ersten Mal wieder der Welt zu¬
gerufen: „du darfst es sagen, wenn du liebst", so hat Schleiermacher mit seinen
„Reden über die Religion an die Gebildeten unter ihren Verächtern" den religiösen
Funken in den Gemüthern angefacht, ermuthigt, Hunderten und Tausenden ins
Ohr gerufen: „du darfst beten, du darfst glauben!" Aber nicht zu vergessen,
daß er in seinein Dringen auf Selbständigkeit in der Religiosität, auf Frei¬
heit im Glauben, sowie in seiner Wiederaufrichtung, nicht wie Herr Dörner
meint, des Begriffs der Kirche, sondern des religiösen Gemeinwesens im
Contact mit der universellen, sittlichen Gemeinde, wesentliche Bedürfnisse des
Culturlebens zum Bewußtsein gebracht hat und befriedigt wissen wollte, und
daß sein Cultus der „Eigenthümlichkeit" ein specifisches Product moderner
Geistesbildung gewesen ist. Es liegt in der Natur der Sache, daß bei den
beiden mit einander zu vermittelnden Factoren: Christenthum und Bildung
je nach der Individualität bei gleich redlichem Streben nach Versöhnung mehr
Partei für den einen als für den andern genommen wird. Da jedoch die
Richtung auf den einen, objectiven Zweck bleibt, so kann kein Theil den
andern für unprotestantisch erklären. Und so müssen wir uns eben von
beiden Seiten darein fügen, daß die Kritik ihr Culturwerk hin wie her
fortsetzen und daß die Frömmigkeit ihren Glaubensinhalt zu conserviren
streben wird, permanent neben einander gebannte Gegner, die mit einander nur
für das unverwüstliche Leben und die unendliche Entwicklungsfähigkeit des
Protestantismus zeugen.
Von allen Fragen, welche die volkswirthschaftltch gebildeten Kreise be¬
schäftigen, steht dermalen, seitdem die Aufhebung der Zinsbeschränkungen, die
Gewerbefreiheit und die Freizügigkeit als vollendete Thatsachen angesehen werden
können, die sogenannte Realcreditfrage in erster Linie. Sie ist nicht
blos die tiefeingreifendste und sachlich bedeutendste, sie ist auch
wohl die schwierigste; schwierig um deswillen, weil dieselbe nicht einfach
durch eine Umgestaltung der Gesetzgebung gelöst werden kann, weil
es vielmehr auch einer Organisation d es Realereditverkehrs bedarf,
welche für den Realcredit Dasselbe oder doch Aehnliches leistet, was das Bank¬
geschäft als Vermittler zwischen den Creditsuchenden und Capitalien sür den
Credit der Staaten und der großen Communen, also für den sog. öffent¬
lichen Credit, sowie für den Credit der Eisenbahnunternehmungen und
sonstiger großes Verkehrsanstalten leistet.
Die Motive zu dem „Entwurf eines Gesetzes über den Eigenthumserwerb
und die dingliche Belastung der Grundstücke, Bergwerke und selbständigen Ge¬
rechtigkeiten", welche dem preußischen Landtag dermalen zur Berathung vor¬
liegen (Ur. 85 der Drucksachen des Abgeordnetenhauses S. 18) sagen mit
Recht:
„Man verlangt und erwartet von der Gesetzgebung zu viel, wenn man
sich der Hoffnung hingibt, eine Reform des Hypothekenwesens, und gehe sie
auch noch so weit den heutigen Ansprüchen des Capitals entgegen, um es
anzuziehen, könne direct diese Wirkungen hervorrufen. Eine solche Reform
wird die Hauprursache des Mangels nicht heben, ja nicht einmal berühren.....
Alles, was eine Reform des bestehenden Rechts leisten kann, ist eine Be¬
seitigung formeller Hindernisse und Erschwerungen, um den begründeten oder
vermeintlichen Vorwurf zu vermeiden, daß in dem gesetzlichen Bestehen solcher
Hindernisse der Grund liege, weßhalb das Capital ausbleibe oder sich nur
unter drückenden Bedingungen finden lasse."
Andererseits aber wird doch auch die Gesetzgebung diejenigen Einrich¬
tungen zu treffen haben, welche eine dem Bedürfniß entsprechende Organi¬
sation des Realcreditverkehrs zu ihrer Voraussetzung hat. Nur aus der
Grundlage solcher Einrichtungen werden Institutionen errichtet werden kön¬
nen, welche der Aufgabe vollständig Genüge leisten, wird sich ein Geschäfts¬
gang entwickeln und einleben können, welcher durch die größtmöglichste Rasch¬
heit, Leichtigkeit und Billigkeit den nach allen Richtungen so sehr entwickelten
Verkehrsverhältnissen der Jetztzeit entspricht, insbesondere auch die Ansprüche
des durch die Entwickelung des Effectenverkehrs so bequem gewordenen Capi- '
talistenpublicums befriedigt.
Die bereits angezogenen Motive (S. 21) bezeichnen denn auch den der
Reform der Hypothekengesetzgebung vorgezeichneten Weg dahin:
„Daß es bei der Feststellung der allgemeinen Gesichtspunkte ebenso, wie
bei der speciellen Durchführung wesentlich auf die Befriedigung der prak¬
tischen Bedürfnisse des öffentlichen Verkehrs ankomme."
Sowohl praktische Erfahrungen als theoretische Erwägungen lassen nun
Wohl keinen Zweifel darüber bestehen, daß einer der wesentlichsten und für
den Kapitalisten fühlbarsten Mißstände der hypothekarischen Capitalanlage
gegenüber der Anlage in Staatspapieren und sonstigen Effecten der Mangel
eines bequemen und prompter Zinsbezuges ist. Den Staatspapieren sind
besondere Zinsabschnitte (Coupons) beigegeben, welche Papiere an portsur
sind und mittels deren, von Fällen gänzlicher oder theilweiser Insolvenz des
Schuldners abgesehen, der Capitalist seine Zinsen durch Vermittelung des
Bankgeschäfts ohne jede Unbequemlichkeit und mit voller Sicherheit an dem
Verfalltag, vielfach schon früher, einziehen kann. Er gibt dieselben einfach
seinem Banquier ab, der ihm den betreffenden Betrag je nachdem mit einem
kleinen Provisionsabzug baar ausbezahlt oder gutschreibt.
Bei hypothekarischen Capitalanlagen war bisher an eine ähnliche Ein¬
richtung nicht zu denken. An und für sich widersprach schon der ganze Geist
der bestehenden Hhpothekengesetzgebung jeder derartigen Mobilisirung der
Jmmobiliarwerthe. Die Rechtsformen, auf welche der Hypothekenverkehr that-
sächlich angewiesen war und welche auch, weil sie bestimmten materiellen
Rechtsgrundsätzen entsprechen mußten, gar nicht ohne Weiteres mit anderen
Formen vertauscht werden konnten, gestatteten auch wohl die Einfügung
einer derartigen den Papieren an xorteur nachgebildeten Einrichtung gar
nicht. Und, was gewiß ebenfalls nicht unbeachtet bleiben darf, eine solche
Einrichtung würde auch bei dem bisherigen Mangel einer Organisation dese
Realcreditverkehrs gar keinen rechten Sinn und Zweck gehabt haben.
Dies Alles wird sich nun mit der neuen Gesetzgebung ändern. Di
preußischen Hypothekenbriefe werden mehr oder weniger wie Staatspapiere
und andere Effecten zum Gegenstande eines lebhaften und leichten Umsatzes
weiden und sie werden auch wie diese einem wechselnden Curs unterworfen
sein, welcher im Wesentlichen von dem jeweiligen Stand des Zinsfußes ab¬
hängen und sich nach diesem, natürlich in umgekehrtem Verhältniß, reguliren
wird. Und zwar wird dieser Umsatz sehr wesentlich auch noch dadurch er¬
leichtert werden, daß für die Schätzung der in den verpfändeten Objecten
dargebotenen Sicherheiten in den Hypothekenbriefen selbst wenigstens Anhalts¬
punkte dargeboten sind, indem sowohl der Grundsteuerreinertrag als auch
der Nutzungswerth nach den desfallsigen Ansätzen im Grundsteuerbuche in
den Hypothekenbriefen notirt wird. Andererseits wird im Zusammenhang
mit der Umgestaltung der Hypothekengesetzgebung sich voraussichtlich eine
besondere Geschäftsbranche entwickeln, welche sich mit der geordneten und
soliden Vermittelung des Hypothekenverkehrs beschäftigt, ähnlich wie der Ver¬
kehr in Effecten in dem Bankgeschäft eine solche organisirte Vermittelung
bereits besitzt. Thatsächlich bestehen bereits mehrere Institute zum Zweck
der Vermittelung des Realcreditverkehrs, und zwar nicht blos solche,
welche das zu den Darlehen erforderliche Capital selbst durch Ausgabe von
Pfandbriefen beschaffen (wie die baierische Hypotheken- und Wechselbank,
die beiden preußischen Hypotheken-Actiengesellschaften, deren eine bekanntlich
von Hansemann gegründet wurde, die deutsche Hypothekenbank zu Meiningen,
die frankfurter Hypothekenbank, die deutsche Grundcredttbank zu Gotha),
sondern auch solche, deren Geschäftsbetrieb wesentlich auf eine directe Ver¬
mittelung zwischen den Capitalsuchenden und den Capita¬
list en, also auch die Vermittelung gewöhnlicher hypothekarischer Privatdar¬
lehen gerichtet ist. Ich erwähne hier die Hübner'sche Hypothekenversicherungs¬
bank zu Berlin und die Hermann Henkel'sche Hypotheken-, Credit- und Bank¬
anstalt daselbst. Ferner die soeben in der Organisation begriffene, von Staats-
minister a. D. von Bonin, Director des statistischen Bureaus Dr. Engel,
Consul a. D. v. d. Heste, Landrath Jachmann, Buchhändler Janke, General-
director Knoblauch, von dem vortragenden Rath im Landwirthschaftsministerium
Schuhmann und anderen Capacitäten auf volkswirtschaftlichen Gebiete ge¬
gründete preußische Bodencredit-Aetienbank.
Sicherlich wird eine Hauptaufgabe dieser Hypotheken oder — nach einem
der üblichen volkswirtschaftlichen Terminologie sich enger anschließenden, auch
etwas umfassenderen Ausdruck — Realcreditbanken die prompte Auszahlung
der Hypothekenzinsen und resp, Einziehung derselben sein, so daß also der
Hypothekengläubtger bezüglich seines Zinsbezugs nicht von der größeren oder
geringeren Zuverlässigkeit seines speciellen Schuldners abhängig ist, vielmehr
auf die pünktliche Auszahlung seiner Zinsen am Verfalltag seitens dieser
Banken'(gegen einen kleinen Abzug als Provision und Ersatz des Zinsver¬
lustes) sicher rechnen kann,' ebenso sicher wie er auf die Einlösung seiner
Coupons durch den Banquier rechnen darf.
Die dem Landtag vorliegende neue Hypothekengesetzgebung dürfte nun
nach dieser Richtung hin einer Verbesserung allerdings sähig sein. Es läßt
sich nämlich nach den dort getroffenen Einrichtungen die einzelne Zinsforde¬
rung von der Capitalforderung nicht als eine selbständige, ihrem eigenen
Schicksal überlassene ablösen.
Nach § 43. des erwähnten Gesetzentwurfes kann das mit einer Hypo¬
thek verbundene persönliche Recht nur gemeinsam mit der Hypothek abgetreten
werden, indem im Gegensatz zu dem römischen Pfandrechtssystem die Hypo¬
thek das Principale, die persönliche Forderung nur das Accessorium ist. Es
kann also nicht einmal die Zinsforderung als eine persönliche Forderung von
der Hypothek abgelöst und als ein selbständiger persönlicher Anspruch mittels
(Zession an einen Dritten übertragen werden.
Als dinglicher, hypothekarisch gesicherter Anspruch bildet aber die Zins-
forderung nach den vorliegenden Entwürfen lediglich einen Annex der Haupt¬
forderung . indem das durch den Eintrag begründete Hypothekenrecht sich auch
auf die Zinsen (wie auch auf die Kosten der Kündigung, der Klage und Bei¬
treibung) erstreckt (vergl. § 28 des zweiten Entwurfs).
Die neue Hypothekengesetzgebung, wie sie in den betreffenden Entwürfen
vorliegt, setzt also der durch die thatsächlich vorliegenden Bedürfnisse un¬
bedingt gebotenen und eine der wesentlichsten Voraussetzungen einer Orga¬
nisation des Realcreditverkehrs bildenden Einziehung der Hypothekzinsen und
resp, prompter Auszahlung dieser Zinsen durch die Realcreditbanken außer¬
ordentliche Schwierigkeiten, vielfach selbst unübersteigliche Hindernisse entgegen.
Bei einer in dieser Richtung unveränderten Einführung der vorliegenden
Entwürfe würde sich die Sache praktisch und in größerem Maßstabe nur
durchführen lassen auf Grund einer fiduciarischen Übertragung der Hypo-
thekenbriefe an die betreffende Realcreditbank, sei es auf Namen,
sei es mittels Blancoindossaments (vergl. § 57.), denn die Ertheilung
einer bloßen Vollmacht zur Einziehung der betreffenden Jahreszinsen würde
auf alle Fälle einen etwas schwerfälligen Geschäftsgang und die Errich¬
tung besonderer vielfach selbst mit Stempelkosten belasteter Urkunden nöthig
machen; in vielen Fällen würde sie, da sie dem Bevollmächtigten kein eignes
Recht gibt, eine sofortige Vorlagsweise Auszahlung der Zinsen durch die be¬
vollmächtigte Realcreditbank sogar geradezu ausschließen. Aber ebenso setzt
auch selbstverständlich die fidueiarische Überlassung des betreffenden Hypo¬
thekenbriefes selbst an die die Zinszahlung und resp. Wiedereinziehung be¬
sorgende Bank ein Maß von Vertrauen in die Solvenz derselben und in die
Solidität ihres Geschäftsbetriebes voraus, welches in vielen Fällen- — mit
Recht oder Unrecht, bleibt für das Ergebniß selbst ganz einerlei — seitens
der Hypothekenbesitzer nicht gewährt werden mag, ja welches den sich vor¬
aussichtlich nach Analogie der kleinen Privatbankgeschäfte entwickelnden Privat-
Realbankgeschäften in vielen Fällen kaum gewährt werden kann.
Zur Vollständigkeit der Organisation wird aber gerade die Ent¬
wickelung solcher Privatgeschäfte zur Vermittelung des Realcreditverkehrs
innerhalb bestimmter local beschränkter Gebiete und für die kleineren Ge¬
schäfte nicht zu entbehren sein, mag nun im Uebrigen — was eine Frage
zukünftiger, voraussichtlich auch nicht überall gleichmäßiger Entwickelung ist
— diese neue Branche sich zu einer selbständigen Geschäftsbranche, gesondert
von dem bisherigen Bankgeschäfte, ausbilden oder mit diesem verbunden
werden, so daß also das bisherige Bankgeschäft diese neue Geschäftsbranche-
in sich ausnimmt. Man wird daher jedenfalls gut thun bei der neuen Le
gislation auch die aus der Entwickelung solcher Privat-Realcreditbankgeschäfte
sich ergebenden Anforderungen zu beachten und nicht in den einzuführenden
Einrichtungen einer solchen jedenfalls thatsächlichen Bedürfnissen entsprechen¬
den Entwickelung Hemmnisse zu bereiten.
Unseres Erachten« läßt sich nun der in der angedeuteten Richtung vor¬
liegende Mangel der beabsichtigten Legislation einfach dadurch ausgleichen,
daß man den Hypothekenbriefen wenn nicht obligatorisch doch jedenfalls
facultativ besondere Zinsabschnitte ganz nach Analogie der Coupons der
Börsenpapiere beifügt, in welchen die Identität der betreffenden Zinsforderung,
also vor Allem ihr Zusammenhang mit dem betreffenden Hypothekenbrief,
sowie die sonstigen für die selbständige Uebertragbarkeit und Einklagbarkeit
erforderlichen Punkte kurz angegeben sind.
In der That stehen der Durchführung dieses Vorschlags, so unerwartet
er Manchem kommen mag. weder theoretische Bedenken noch erhebliche prak¬
tische Schwierigkeiten entgegen. Vor Allem ist zu bemerken, daß der Hypo¬
thekenbrief selbst im Sinne der neuen Legislation nicht wie die bisherigen
Schuld- und Verpfändungsurkunden die die eigentliche causa der persönlichen
Forderung sowohl als des Hypothekenrechtes selbst bildende Willenserklärung
des Verpfändenden enthält, sondern eine den betreffenden Eintrag im Hypo¬
thekenbuch reproducirende einseitig von dem Hypothekenamt ausgefertigte Ur¬
kunde ist, welche die Bestimmung hat, ein selbständiger Träger des be¬
treffenden Hypothekenrechts als einer selbständigen dinglichen Belastung*)
des Hypothekenobjects zu sein, insbesondere also als Vehikel bei Ueber-
tragungen zu dienen.
Es ist nun nicht einzusehen, warum nicht ganz gleichartige, vom Hypo¬
thekenamt über die einzelnen Zinsforderungen im Voraus auszufertigende
und den betreffenden Hypothekenbriefen beizugebende Zinsabschnitte, welche
die für die Identität und Größe der Forderung maßgebenden Momente
enthalten, also insbesondere das belastete Object den Betrag und die Rang¬
ordnung der Hauptforderung, sowie den Betrag der betreffenden Zinsfor¬
derung, den Fälligkeitstermin und die betreffende Periode, kurz theilweise unter
Hinweis auf die näheren Angaben des Hypothekenbuchs selbst, bezeichnen,
ebenfalls als selbständigen Träger der betreffenden periodisch wiederkehrenden
Zinsforderungen ausgegeben werden können, gerade so wie mit den Börsen¬
effecten Zins- und resp. Dividenden-Coupons ausgegeben werden, um in Ver¬
bindung mit denselben und bis zur Fälligkeit des einzelnen Coupons das
Schicksal des Effectes theilend, zu cursiren, nachher aber abgeschnitten und
als selbständige Zinsforderung ihren selbständigen Weg zum Banquier und
von diesem durch vielleicht zahlreiche Zwischenhäute zu dem den Coupon ein¬
lösenden Schuldner selbst zu machen.
Ebenso versteht es sich auf der andern Seite von selbst, daß die Bei¬
fügung solcher Coupons zu den Hypothekenbriefen den Hypothekenämtern
nicht ohne Vergütung angesonnen werden soll. Der dadurch entstehende
Mehraufwand an Arbeitskosten, an Materialien und insbesondere auch an
Verantwortlichkeit der Hypothekenbehörden kann einfach durch einen ent¬
sprechenden Zuschlag zu den Kosten und Stempelgebühren für die Ausfertigung
des betreffenden Hypothekenbriefs erhoben werden. Bei den sehr erheblichen
Vortheilen, welche die vorgeschlagene Einrichtung darbietet, würde selbst ein
wirklich erheblicher Mehraufwand den Gesetzgeber nicht abhalten dürfen, die¬
selbe, zumal da sie eine rein facultative sein soll, zuzumuthen. Allein eine
beträchtliche Vermehrung der Kosten wird dadurch voraussichtlich nicht einmal
veranlaßt werden. Man braucht nur dem Drucker zu geben was des Druckers
ist, um ohne erheblichen Aufwand diese Zinsabschnitte herzustellen; zumal da
ja ein sehr großer Theil ihres Inhalts in allen Fällen derselbe bleibt, also
mittels feststehender Formen, in welche der wechselnde Inhalt eingefügt wird,
hergestellt werden kann.
In den Jahren 1803—1830 verschwanden die begüterten Mannsklöster
in Deutschland. Nur in Oestreich blieben die bestehen, welche der Säcularisation
unter Joseph entgangen waren. Der Wunsch sie aufzuheben wird lauter als
je. Daß der Staat durch das Klostervermögen seinen kranken Finanzen mit
einem Male aufhelfen könnte, ist eine im Volke weit verbreitete Ansicht. Wozu,
sagen Entschiedene, brauchen wir die großen Gütercomplexe, neben welchen
der kleine Grundbesitzer nicht aufkommen kann, oft verarmt? Und die
Geistlichkeit versteht die Wirthschaft überhaupt nicht, sie braucht kein Ver¬
mögen. Könnte man mit dem Klostergut nicht gründlich unserm Unterrichts-,
namentlich Volksschulwesen aushelfen? Oder seht hin, wie schlecht die Pfarrer
und Capläne auf dem Lande dotirt sind, während die Mönche ein fürst¬
liches Leben führen und keine Arbeit thun? Wäre es nicht billig, das Kloster¬
vermögen zum Pfarrvermögen zu schlagen? — So ist man sehr bereit, eine Ver¬
wendung für das Klostergut zu finden. Selbstverständlich halten wir eine
Aufhebung der Mönchsgenossenschaften für geboten. Nur kann jedem mit
den östreichischen Verhältnissen Vertrauten nicht entgehen, daß über die volks-
wirthschaftliche Seite der Frage nicht die wünschenswerthe Klarheit herrscht,
und daß auch Solche nicht genügend unterrichtet sind, bei welchen man
Kenntniß der thatsächlichen Verhältnisse erwarten sollte.
Man unterscheidet nämlich zunächst sehr oft nicht zwischen den Klöstern
überhaupt und den begüterten, den Abteien, welche hier zu Land mit dem
Namen Stifter bezeichnet werden. Und doch ist dieser Unterschied maßgebend.
Es haben nämlich unter den Klöstern nur-einige eigenes Vermögen, während
die übrigen vermögenlos sind und, um existiren zu können, Zuschüsse aus
dem sogenannten Neligionsfond beziehen. Auf sie finden also die oben aus¬
gesprochenen Ansichten nur ausnahmsweise Anwendung.
Begüterter Abteien oder Stifter gibt es aber in den deutsch-östreichischen
Kronländern im Ganzen nur 46, und zwar besitzen die Benedictiner 20, die
Prämonstratenser 7, die Cistercienser 11, die regulirten Chorherrn 7, die
Kreuzherrn 1.
Davon finden sich in Oestreich unter der Enns: g.) S Benedictiner-
Abteien: zu den Schotten in Wien, Altenburg. Göttweih, Meil, Seiten-
stetten; b) 1 Prämonstratenser-Abtei: Geras; e) 4 Cistercienser-Abteien:
Heiligenkreuz, Neu-Kloster, Lilienfeld, Zwettel; ä) 2 Propsteien der lateranen-
fischen Chorherrn: Klosterneuburg, Herzogenburg; zusammen: 12 Stifter.
2. Oestreich ob der Enns hat: g.) 2 Benedictiner-Abteien: Krems¬
münster, Lambach; d) 2 Cistercienser-Abteien: Schlierbach. Wilhering; e) 2
lateranensische Chorherrn-Propsteien: Se. Florian, Reichersberg; ä) 1 Prä¬
monstratenser-Abtei: schlägt; zusammen: 7 Stifter.
3. Böhmen hat: g,) 3 Benedictiner-Abteien: Emaus in Prag. Se. Mar-
gareth bei Prag. Braunau; b) 3 Prämonstratenstt-Abteien: Seelau, Strahof
bei Prag, Tepl; e) 2 Cistercienser-Abteien: Offegg, Hohenfurt; ä) 1 Kreuz¬
herrnstift; zusammen 9 Stifter.
4. Tirol und Vorarlberg hat: «,) 2 Benedictiner-Abteien: Fleche,
Marienberg; 2 Benedictiner-Priorate: Gries, Meran; K) 1 Prämonstratenser-
Abtei: Wilten; e) 1 Cistercienser-Abtei: Stams; 1 Priorat: Mehrerau; 6)1
regulirte Chorherrn-Propstei: Neustift; zusammen: 8 Stifter.
6. Steiermark hat: a) 2 Benedictiner-Abteien: Admont, Se. Lamp¬
recht; b) 1 Cistercienser-Abtei: Rein; o) 1 regulirte Chorherrn-Propstei- Voran;
zusammen: 4 Stifter.
6. Mähren hat: a) 1 Benedictiner-Abtei: Raigern; d) 1 Prämonstra¬
tenser-Abtei: Neu-Reisch; e) 1 Chorherrn-Stift: Altbrünn; zusammen: 3
Stifter.
7. Kärnthen hat: 1 Benedictiner-Abtei: Se. Paul.
8. Salzburg hat 2 Benedictiner-Abteien: Se. Peter bei Salzburg,
Michaelbeuern.
Unverhältnismäßig größer ist die Zahl der Klöster, nämlich 241, und
zwar 1. in Böhmen: 69. — 2. in Tirol: S8. — 3. in Oestreich unter der
Enns: 37. — 4. in Mähren: 31. — 5. in Steiermark: 24. — 6. in Oest¬
reich ober der Enns: 10. — 7. in Salzburg: 7. — 8. in Kärnthen: 5. —
Davon leben in 65 Klöstern Capu einer (25 in Tirol; 16 in Böhmen;
7 in Steiermark; 5 in Mähren; 4 in Salzburg; je 3 in Oestreich ober und
unter der Enns; 2 in Kärnthen). — In 53 Reformaten (19 in Tirol;
16 in Böhmen; 7 in Steiermark; 4 in Oestreich unter der Enns; 3 in Mähren;
je 2 in Oestreich ober der Enns und Salzburg). — In 28 Piaristen (13
in Böhmen; 10 in Mähren; 4 in Oestreich unter, 1 in Oestreich ober der
Enns). — In 21 servilen (10 in Tirol; 5 in Oestreich unter der Enns;
je 2 in Böhmen und Kärnthen; je 1 in Salzburg und Steiermark). — In
12 Minoriten (4 in Mähren; je 3 in Böhmen und Oestreich unter der
Enns; 2 in Steiermark). —In 12 barmherzige Brüder (4 in Mähren;
3 in Oestreich unter der Enns; 3 in Böhmen; 1 in Oestreich ober der Enns;
1 in Steiermark). — In 10 Redemptoristen (3 in Oestreich unter der
Enns; je 2 in Böhmen und Steiermark; je 1 in Oestreich ober der Enns.
Tirol und Mähren). — In 9 Dominicaner (je 3 in Böhmen und Mähren;
2 in Oestreich unter der Enns; 1 in Steiermark). — In 9 Augustiner (in
Böhmen). — In 7 Jesuiten (je 2 in Oestreich unter der Enns und Tirol;
je 1 in Oestreich ober der Enns, Kärnthen und Böhmen). —In 4 Barna-
biten (in Böhmen).— In 2 Carmeliten (1 in Oestreich unter der Enns,
1 in Steiermark), Je 2 Deutsche Ordens-Herrn (1 in Mähren, 1 in
Tirol), In 2 Johann iter (1 in Böhmen, 1 in Mähren), in 1 Mechita-
risten (in Oestreich unter der Enns), 1 Lazaristen (Steiermark), 1 Mis¬
sionspriester (Oestreich unter der Enns), 1 Schuldrüder (Oestreich
unter der Enns), 1 Marienbrüder (Steiermark).
In diesen zuletzt angeführten 241 Klöstern leben 1668 Priester, 1489
Andere, zusammen 3147 Individuen, während in den 46 Stiftern 1783 Priester,
388 Andere, zusammen 2171 Individuen wohnen. Im Ganzen gibt es also
in den 8 angeführten Kronländern 287 Ordenshäuser, in welchen 3441
Priester, 1877 Andere, zusammen S318 Individuen leben. Rechnet man, daß
die Gesammtsumme der Priester in den 8 Kronländern 14,016 beträgt, so
ergibt sich, daß ^/z derselben den 46 Stiftern, dem Negularclerus aber über¬
haupt etwas weniger als ^4 angehört.
Von diesen 1783 Stifts^Priestern beschäftigen sich ungefähr 200 mit dem
Lehramte in Mittelschulen. Es gibt nämlich in Oestreich neben sog. Staats¬
gymnasien auch geistliche Gymnasien, welche von Bischöfen oder den Stiftern
unterhalten und besetzt werden. Die Zahl solcher geistlichen Gymnasien be¬
trägt 15, von welchen 10 die Benediktiner, 3 die Prämonstratenser, 2 die Cister-
cienser besetzen (17 Gymnasien besetzen die Piaristen, 5 die Franciscaner,
2 die Augustiner, 3 die Jesuiten). Die Stifter besorgen ferner 4 Realschulen,
abgesehen davon, daß ihre Conventualen vielfach Professuren der Theologie
an Universitäten, bischöflichen Lehranstalten u. s. w. bekleiden. Die Zahl
der so beschäftigten Stiftsmitglieder dürfte 60 übersteigen.
Gegen 1000 Priester sind in der Seelsorge beschäftigt: es versehen
nämlich die 46 Stifter 452 Pfarreien, 410 andere Seelsorgstationen, und
zwar in Oestreich unter der Enns 142 Pfarreien, 65 andere Stationen, in
Böhmen 116 Pfarreien, 113 andere Stationen, in Oestreich ober der Enns
94 Pfarreien, 71 andere Stationen, in Steiermark 57 Pfarreien, 56 andere
Stationen, in Tirol 28 Pfarreien, 78 andere Stationen, in Salzburg 10
Pfarreien, 18 andere Stationen, in Mähren 8 Pfarreien, 9 andere Stationen,
in Kärnthen endlich 6 Pfarreien.
Es bleiben also nach Abrechnung von 1000 mit der Seelsorge beschäf¬
tigten und ungefähr 260 im Lehramte thätigen Stiftspriestern ungefähr 500
übrig, welche keine specielle, dauernde Beschäftigung haben. Diese sind theils
Religionslehrer an den häufig mit den Stiftern verbundenen Pfarrschulen,
theils, und zwar zum größten Theil, alte emeritirte Pfarrer und Gymnasial¬
lehrer, welche, wenn sie ihrem speciellen Berufe nicht mehr vorstehen können,
in das Stift zurückkehren und hier, von Funktionen befreit, ihr Leben be¬
schließen. Es sind das ferner die Leiter der Abteien lAebte, Prälaten —
Prioren, Subprioren), sowie jene, welche der Küche und dem Keller, kurz
dem Hauswesen vorstehen oder endlich als Provisoren, Jnspectoren, Forst¬
verwalter um das Vermögen der Stifter sorgen. Die Stifter haben nämlich
zwar weltliche Beamte, aber die Oberleitung des Betriebes in Oekonomie
und Forstwirthschaft ist Geistlichen des Stiftes anvertraut, welche so die
äußeren Geschäfte der Stifter besorgen, während dem Prior die Aussicht über
das innere, geistige Leben zukommt und dem Abte die oberste Leitung sowie die
Repräsentanz verbleibt. Selbstverständlich muß der Provisor :c. dem ver¬
sammelten Convent d. h. allen Geistlichen des Stiftes in einem Capitel nicht
blos Rechnung über seine Gebahrung legen, sondern auch bei wichtigeren
Fragen z. B. bei Neubauten :c. die Bewilligung desselben einholen, aber auf
den Betrieb des Feldbaues, auf die Forstcultur kann Abt und Convent keinen
directen Einfluß ausüben. Das bleibt dem Provisor :c. überlassen, der also, je
nachdem er ein guter oder schlechter Wirth und die Wahl des Prälaten eine
gute oder schlechte gewesen ist — denn der Abt ernennt alle diese Funktionäre
— ein Stift in seinen Vermögensverhältnissen ebenso heben, wie zurück¬
bringen kann. Denn das Vermögen derselben besteht fast ausschließlich in
Grund und Boden. Was sie sonst an fundirten Revenuen besitzen ist unerheblich.
Um so bedeutender aber ist der Grundbesitz und das aus demselben fließende
Erträgniß. Ich führe, um in diese bisher überhaupt wenig, in weiteren
Kreisen aber gar nicht bekannten Verhältnisse eine Einsicht zu gewähren, den
Besitzstand der oben erwähnten böhmischen Stifter an, einmal weil
mir über diese zuverlässige Zahlen zu Gebote stehen, und dann, weil die
böhmischen Stifter die reichsten sind.
Obenan unter diesen Stiftern stehen Strahof mit 16,238 Joch
(Quadratklaftern lasse ich weg; 1 Joch — 1600 Quadratklaftern); Brau-
nau und Margareth mit 16,062 Joch. Tepl mit 15,699 Joch. Dann folgen
das Kreuzherrnstift mit 9764 Joch, Hohenfurt mit 9797 Joch, Ossegg mit
6258 Joch, Seelau mit 5068 Joch, Emaus mit 1985 Joch landtäflichen
Besitzes (der nicht landtäfliche Besitz ist unbedeutend und wird daher hier
übergangen). Das Einkommen aus solchen Gütern ist an sich jedenfalls
bedeutend, hängt aber, was selbstverständlich, nicht blos von der Beschaffen¬
heit des Bodens ab, sondern auch vom Betriebe. Und daß dieser im Ein¬
zelnen Manches zu wünschen übrig läßt, kann nicht in Abrede gestellt werden.
Er leidet aber nicht blos unter den Nachtheilen, welche den Großgrundbesitz
überhaupt drücken und ihn weniger ertragfähig machen, als den kleinen: es
finden sich specielle Ursachen dieses theilweise dem Grund und Boden nicht
entsprechenden Erträgnisses. Die Provisoren sind häufig ihrer großen Aus¬
gabe nicht gewachsen. Die Verwalter (die weltlichen) sehen zu sehr auf ihren
eigenen Vortheil, es fehlt das stramme Regiment, das die Regierung des
Krummstabes überall vermissen läßt, eine Ursache, warum auch bei uns das
Leben unter dem Krummstab gepiesen wird. Manchmal lassen sich Vorsteher
der Stifter auch von zu sonderbaren Grundsätzen bei ihrem Betriebe leiten.
So ist mir z. B. zuverläßlich bekannt, daß der verstorbene Prälat eines
Stiftes von seinen damaligen Unterthanen darauf aufmerksam gemacht wurde,
daß sie beim Brunnengraben — auf Steinkohlen gestoßen seien. Der Prälat
ließ wohl einen Schacht anlegen, aber die Resultate entsprachen nicht den
Erwartungen. Der Provisor will einmal selbst nachsehen, verunglückte jedoch
hierbei im Schachte, worauf der Prälat den Schacht zuwerfen und den Bau
einstellen läßt. Gott, meint er, habe strafend gezeigt, daß man sich mit den
Schätzen auf der Erde zufrieden stellen und nicht in der Erde wühlen soll.
Jetzt befindet sich an dieser Stelle eines der großartigsten Kohlenbergwerke,
natürlich nicht im Besitze des Stiftes. Indeß so irrationell geht es nicht
überall zu. Manche Stifter sind sogar als wahre Musterwirthschaften zu be¬
zeichnen, welche in ihrem Betriebe einen Vergleich mit den bestorganifirten
aushalten. Was Tepl für Martenbad, das seine Größe sicher nicht blos der
Natur, sondern auch den Bemühungen der tepler Prälaten verdankt, gethan
hat, ist bekannt. Braunau ist mit Recht wegen seiner Forstcultur geschätzt
und sucht auch in der Oekonomie auf der Höhe der Zeit zu stehen. Kloster¬
neuburg, das, im Besitze herrlicher Weinberge, vor Kurzem zur Nutzbar¬
machung seiner großartigen Keller, die es noch aus den Zeiten hat, in welchen
die Weinzehente bei ihm eingelagert wurden, umfangreiche Weinberge bet
Schomlau in Ungarn gekauft hat, hat sich nicht blos Reben vom Rheine
kommen lassen, sondern auch Winzer von da verschrieben, damit dieselben
den Weinbau nach allen Regeln der rheinischen Kunst einführen, welche
bisher in Oestreich so wenig nachgeahmt wurde. Je besser aber die Stifter
verwaltet werden, um so vermögender sind sie natürlich. Geordnete Ver¬
mögensverhältnisse aber haben sie alle, verschuldet ist keines, was sicher nicht
zum geringsten Theil damit zusammenhängt, daß die Stifter ihr Besitzthum
nur sehr schwer belasten können. Sie bedürfen nämlich, wenn die Belastung
mehr als 1000 Gulden beträgt, wie zu jeder Veräußerung über 100 Gulden,
nicht nur des Consenses des betreffenden Bischofes, sondern auch der landes¬
fürstlichen Zustimmung. Ohne eine solche ist Eintragung in die öffent¬
lichen Bücher, welche sofort der politischen Stelle anzuzeigen ist. unmöglich,
und jede Belastung, wie Veräußerung ohne Einhaltung der bestehenden Vor¬
schriften, also auch jede Eintragung ohne die Erklärung der politischen Stelle,
ist null und nichtig. Die Belastung unterliegt also geradezu der landesherrlichen
Genehmigung, woraus hervorgeht, wie wenig jene östreichischen Zeitungen
von den thatsächlichen Verhältnissen verstanden, welche vor Kurzem behaupteten,
daß die Stifter aus Furcht vor der Säcularisation im Auslande große Capi¬
talien auf ihr Besitzthum aufnahmen. Kein Capitalist würde ohne landes¬
fürstliche Erlaubniß das Geld dargeliehen, d. h. in dem gegebenen Falle
aufs Spiel gesetzt, und das Ministerium würde die Erlaubniß sicher nicht
ertheilt haben. Auch sonst wahrt sich der Staat das Recht eines Einblickes
in das Stiftsvermögen, und es sind daher die mit Führung der öffentlichen
Bücher betrauten Behörden angewiesen, von jeder Erwerbung unbeweglichen
Eigenthums durch die Stifter der politischen Landesstelle Anzeige zu erstatten.
Dasselbe hat zu geschehen bei allen Veränderungen des in die öffentlichen
Bücher eingetragenen unbeweglichen Eigenthums, wozu außerdem noch die
Erklärung des betreffenden Bischofes nothwendig ist, daß der Körperschaft
ihrer Ordensregel gemäß die Befähigung zum Erwerb überhaupt zusteht.
Legen sie Geld in Staatspapieren an, so sollen sie nur östreichische kaufen^
welche dadurch dem Markte ein für alle Mal entzogen sind. Die im Besitz
der Stifter befindlichen Staatspaptere lauten nämlich nicht an xortöur, sondern
sind vinculirt, d. h. auf den Namen des Eigenthümers geschrieben, der dann
auch die Zinsen nicht gegen Abgabe der Coupons, sondern für eine Quittung
bei der Landeskasse erhält und seine Obligation nur mit Zustimmung der
Landesstelle verkaufen kann. Wie viel k. k. Staatspapiere sich in den Händen
der einzelnen Stifter befinden, kann ich nicht angeben, ich weiß aber, daß
ein Stift bei einem der letzten östreichischen Anlehen 100,000 Gulden ge¬
zeichnet hat. Freilich hat man damals an den Patriotismus der Stifter
appellirt, von denen sich auch einige so stark engagirten, daß sie nur mit
aller Anstrengung den übernommenen Verpflichtungen gerecht werden konnten.
Denn baares Geld ist auch bei den Stiftern trotz ihres großen Grundbesitzes
nicht immer in Ueberfluß, da die laufenden Ausgaben sehr bedeutend sind, wie
erwähnt, Feld und namentlich Wald geschont wird und industrielle Unter¬
nehmungen mit ganz vereinzelten Ausnahmen (Ofsegg fabricirt Wollstoffe)
nicht cultivirt werden. Einen erklecklichen Theil der Einnahmen verschlingen
auch die Steuern und die übrigen Lasten. Es zahlen nämlich auch die
Stifter, was Manchen nicht bekannt zu sein scheint, gleich allen Großgrund¬
besitzern dem Staate die Grund- und Gebäudesteuer, und zwar ohne die
Zuschlage, erstere mit 21V» Procent des reinen Catastralertrages, letztere
mit 16 Procent des wirklichen oder möglichen Einkommens.
Nach diesem Satze zahlen die oben angeführten 9 (8) Stifter folgende
Beträge ohne Zuschlage: Braunau, Margaret!) 18.536 Gulden 96 kr.
Grundsteuer, 682 Gulden 27 kr. Gebäudesteuer; Strahof 16,191 Gulden
20 kr. Grundsteuer, 446 Gulden 5 kr. Gebäudesteuer; Kreuzh errn Stift
12,234 Gulden 29 kr. Grundsteuer. 948 Gulden 76 kr. Gebäudesteuer; Tepl
11.701 Gulden 48 kr. Grundsteuer, 387 Gulden 31 kr. Gebäudesteuer; Ossegg
10,369 Gulden 28 kr. Grundsteuer, 258 Gulden 33 kr. Gebäudesteuer;
Hohenfurth 4665 Gulden 73 kr. Grundsteuer, 287'Gulden 61 kr. Ge¬
bäudesteuer; Seelau 3626 Gulden 82 kr. Grundsteuer, 209 Gulden 6 kr.
Gebäudesteuer; Emaus 2522 Gulden 71 kr. Grundsteuer, 52 Gulden 26 kr.
Gebäudesteuer. Aber mit diesen Summen sind die Steuerquoten überhaupt
kaum zur Hälfte erreicht. Der Staat schlägt nämlich seit 1860 zu diesem
Steuersimplum der Grundsteuer einen außerordentlichen Drittelzuschlag und
außerdem den sogenannten Kriegszuschlag im Betrag von einem Sechstel der
einfachen Gebühr, wozu durch das Gesetz vom 26. Juni 1868 abermals ein
Zwölftelzuschlag kam. Zu diesen Staatssteuern kommen ferner die Lan¬
dessteuern, welche mit dem Grundentlastungsbetrag in den einzelnen Kron¬
ländern zwischen ein und zwei Dritteln des Steuerbetrages schwanken, ferner
die in den einzelnen Kronländern verschiedenen Bezirkssteuern und cnd-
ich die Co mmunalsteue rü. Alles dieses zahlen natürlich die anderen
Großgrundbesitzer im Verhältnisse ihres Besitzes auch, aber die Stifter stehen
diesen als Steuerzahler nicht gleich, sondern der menschliche Scharfsinn hat
bei ihnen auch noch andere ergiebige Steuerobjecte entdeckt. Nach östreichi¬
schen Rechte ist der einzelne Geistliche eines Stiftes unfähig, Vermögen zu
erwerben, er hat also auch keinen Anspruch auf den Pflichttheil, erbt nicht
ad intkstÄw, noch ex testamento, der Staat kommt also um die Erb¬
steuer. Um sich dafür schadlos zu halten, zahlen die Stifter jährlich an den
Staat eine Abgabe als Erbsteueräquivalent. Dazu kommt die sog.
Wahlsteuer, gleichfalls eine specifische der Stifter. Jeder neu erwählte
Abt hat nämlich für seine Wahl eine Steuer zu entrichten, welche sich nach
der Zeit richtet, welche sein Vorgänger dem Stifte vorstand. Je länger er
Abt war, um so höher ist die Steuer, die manchen neugewählten Prälaten,
wenn sein Vorgänger lange gelebt hat, in Verlegenheit bringen kann. Um
dem vorzubeugen, pflegen denn auch vorsichtige Prälaten die Wahlsteuer
während ihrer Wirksamkeit zusammen zu sparen, damit sie der Nachfolger
vorfinde. Außerdem haben die Stifter einen Betrag zu dem sogenannten
Religionsfond zu leisten d. h. dem aus dem Vermögen der säcularisirten
Klöster u. s. w. gebildeten Forte, aus welchem, soweit er in den einzelnen
Kronländern solvent ist, Patronatslasten und Aehnliches bestritten werden. Und
zwar zahlt zu diesem Forte Strahof 2834 Gulden. Tepl 2100 Gulden.
Braunau 1624 Gulden, die übrigen böhmischen Stifter 2604 Gulden. Hat
ein Stift ein Gymnasium oder eine Realschule, so entsteht dadurch eine neue
Last, welche einer neuen Steuer gleichkommt. Denn abgesehen davon, daß
der Staat dem Stifte Admont für das Gymnasium in Graz 7455 Gulden
und dem Stifte Tepl für das Gymnasium in Pilsen 3885 Gulden zahlt,
müssen die Stifter die Gymnasien vollständig aus eigenen Mitteln unter¬
halten. Nicht blos für Gebäude, Sammlungen, Bibliotheken haben sie zu
sorgen, sie müssen auch die Lehrer besolden — das Schulgeld aber an den
Staat abführen.
Das Einkommen der Stifter, welche auch die mit dem Kirchen- und
Schulpatronat verbundenen Lasten zu tragen haben, ist also stark belastet.
Nichtsdestoweniger nimmt das Vermögen derselben im Ganzen fortwährend
zu, wie aus den Zeichnungen bei Anlehen, aus Neubauten u. A. zu ent¬
nehmen ist. Aber die Säkularisation dieser 46 Stifter würde die Milliar¬
den unserer Schuld doch nicht verringern. Grade jetzt werden 1.378,918
Joch Domänen nach dem Gesetze vom 20. Juni 1868 verkauft und die
Schuldenlast hat sich nicht vermindert, nicht einmal das Gleichgewicht zwischen
Einnahmen und Ausgaben konnte hergestellt werden. Was wird also der
Grundbesitz der 46 Stifter helfen, welche zusammen nicht 200.000 Joch be¬
sitzen? Ja, wenn die Stifter baares Geld, wenn sie sehr große greifbare
Gold- und Silberwerthe besäßen, dann hätte man leichtes Geschäft. Leider
ist dem nicht so. Die Werthsachen reduciren sich meistens auf Monstranzen
und Kelche, auf Ringe und Ketten. Ich habe mehrere der reichsten Klöster
besucht und die Schätze, welche man mir mit einer gewissen Ostentation
wies, gesehen, aber in keinem waren sie mehr als ein paar Tausend Gulden
werth, und diese Werthsachen sind in der Mehrzahl Kunstalterthümer. Die
Bibliotheken sind in manchen Stiftern reich und sehr wichtig, aber der Geld¬
werth derselben ist selbstverständlich nicht in Anschlag zu bringen, denn das
Werthvollste kann ja der Staat nicht verkaufen, er müßte es sogar
selbst verwalten, nicht ohne eigenen Geldaufwand. Ein großer Werth
steckt ferner in den Gebäuden namentlich der Stifter in Ober- und Nieder¬
östreich, in welchen die Kaiser oft Monate lang gelebt haben und welche Alles
so darnach einrichten mußten, um den Kaiser kaiserlich empfangen zu können.
Wer Oestreich besucht hat, wird die prachtvollen Kaisergemächer in Kloster-
neuburg, Meil?c. kennen. Aber auch diese Pracht würde bei einer Säcula-
rtsation schwerlich bezahlt werden.
Die Hauptsache aber ist, daß der Staat bei der Verfassung der katholischen
Kirche nur unvollständige Mittel besitzt, das gesammte bewegliche Vermögen
der geistlichen Stiftungen in seine Hand zu bekommen. Die moderne Ent¬
wickelung des Geldverkehrs und des Effectenhandels ist nicht am wenigsten
den geistlichen Corporationen zu Gute gekommen. Durch ganz Europa ziehen
sich in unübersehbarem Netzgeflecht die Geldoperationen und Bankgeschäfte
der frommen Herrn: über Oestreich hinaus, sogar in das protestantische
Leipzig, wo sie die stillen Unternehmer und Capitalien einer Bank sind, nach
den Niederlanden und Belgien, ihrem Hauptsitz, von da nach Paris und
soaar in die Bank von England. So lange die Zuwendungen und Erspar¬
nisse einer geistlichen Corporation in liegenden Gründen und Hypotheken
angelegt wurden, waren sie leicht zu übersehen; jetzt hütet sich die Geistlichkeit
vor solchen Anlagen, Vieles geht nach dem Ausland unter fingirten Namen,
unter Aussicht treuer Verwalter, durch die kluge Benutzung der raffinirtesten
Mittel modernen Geldverkehrs jeder Controle enthoben. Der National¬
ökonom und der Staatsmann werden vielleicht in diesem Sachverhältniß einen
neuen zwingenden Grund finden, ferneren Zuwendungen an die todte Hand zu
steuern und alle Corporationen aufzuheben, deren Princip und Organisation
eine geheime Aufsammlung von Werthmassen und eine Verwendung derselben
zu socialen und politischen Zwecken möglich macht, welche sich jeder staatlichen
Beaufsichtigung entziehen. In Oestreich sind übrigens nur einige Stifter in
der Lage große Capitalien anzulegen.
Endlich aber wäre ja der Erlös aus unsern säcularisirten Stiftern nicht
einmal reiner Gewinn. Denn offenbar müßte aus demselben Vieles geleistet
werden, was bisher von den Stiftern bestritten worden ist. Der Staat
müßte zunächst auf Rechnung dieses Erlosch die jetzt von den Stiftern
unterhaltenen Is Gymnasien und 4 Realschulen übernehmen. Angenommen
ein Gymnasium koste Alles in Allem 10.000 Gulden, so würde schon dadurch ein
Aufwand von 200.000 Gulden jährlich entstehen. Dann sind die 452 Pfarreien
und 410 anderen Seelsorgstationen, welche der Staat dann gleichfalls über¬
nehmen müßte. Aligesehen davon, daß man den jetzt in den Stiftern lebenden
Sustentationsmittel, wenn auch noch so geringe, nicht verweigern könnte?
Ob die Zinsen des Erlosch aus dem Stiftsvermögen wohl hinreichen würden,
die Lasten, welche man zugleich mit in den Kauf nehmen müßte, zu com-
pensiren?
Endlich müßte der Staat die gegenwärtigen Mitglieder der geistlichen
Corporationen ernähren. Sie würden ihm wahrscheinlich mehr kosten, als
jetzt den Orden, falls man sie nicht, wie Joseph II.. zu Proletariern machte.
Denn jetzt vermindert allerdings die mönchische Hausordnung und das Zu¬
sammenleben die Kosten. Die Kleidung der Mitglieder ist einfach, die Ein-
richtung ihrer Zimmer über alle Maßen ärmlich, oft leider sogar unsauber,
ein Fehler, den das mönchische Junggesellenleben nur zu oft im Gefolge hat.
Es kommen also Bedürfnisse jetzt nicht in Betracht, welche berücksichtigt werden
müßten, wenn der Staat die Stifts-Gymnasien und Stifts-Pfarreien über¬
nehmen und durch weltliche Lehrer sowie durch vom Staate bezahlte Pfarrer
besetzen wollte. Unmöglich könnten die Pfarrer und die Gymnasiallehrer,
wenn sie einzeln Hausen müßten, mit dem auskommen, was das Stift auf¬
wendet, von dem der Einzelne Wohnung, Heizung, Kleidung und Nahrung
hat. Für das Frühstück sorgt das Stift nicht. Mittag und Abends ist der
Tisch allerdings wenn auch nicht fein, so doch reichlich, an Sonn- und Fest¬
tagen sogar überreich. In keinem Stift wird für den vollständigen Unter¬
halt des Einzelnen — abgesehen von Wohnung, Licht, Heizung — mehr ver¬
anschlagt, als 300 Gulden. Werden diese aber von einer Communität von
zwanzig bis vierzig und mehr Personen als eingelegt betrachtet, so ergibt
das eine Summe, von der sich allerdings in Speise und Trank ein Leben
führen läßt, um das man die Stifter nicht mit Unrecht beneidet. Geld er¬
hält eigentlich kein Mitglied des Stiftes, die Vorstände ausgenommen. Ge¬
wisse Leistungen aber, welche das Stift zu machen hat, kann sich der Einzelne
in Geld zahlen lassen, wovon er seine kleinen Bedürfnisse, wie Tabak, Früh¬
stück und Aehnliches bestreitet. Im Durchschnitt beträgt diese Begabung je
nach den Stiftern monatlich zwischen 8 und 12 Gulden. Die Vorstände
haben, wie erwähnt, mehr; über bedeutende Mittel aber verfügt allein der
Prälat, der Abt. In einigen Stiftern kann er gegen nachträgliche Ver¬
rechnung überhaupt über das Vermögen des Stiftes disponiren, in anderen,
den meisten, ist ihm für seine Person, abgesehen von seiner Verpflegung :e.,
wofür das Stift sorgt, eine bestimmte Summe ausgeworfen, bet deren Be¬
stimmung auf die nothwendige Repräsentation reichliche Rücksicht genommen
ist. Der Prälat wohnt auch in einem eigenen Theile des Stiftes, der Prä-
latur, welche in ihrer mitunter prächtigen, stets gediegenen Einrichtung und
Ausstattung vielfach bewundert, freilich oft auch als Maßstab des Lebens der
übrigen Stistsmitglieder angenommen wird. Doch ist dann ein gewaltiger
Unterschied und ein Schluß von den Verhältnissen der Prälatur auf die der
übrigen Stiftsmitglieder nicht zutreffend. Daß -indeß auch in der Prä¬
latur Vieles von dem jeweiligen Prälaten abhängt, versteht sich von selbst;
Manche haben ihre Stifter pecuniär sehr heruntergebracht, manche durch Klug¬
heit und Sparsamkeit das bewegliche und unbewegliche Vermögen vermehrt.
Alles zusammengerechnet, scheint uns, daß der Staat bei Einziehung der
Stifter mit ihrem Vermögen nicht die Lasten bestreiten könnte, welche er mit
übernehmen müßte, zumal da die Gymnasien und Schulen der Stifter
mit einer neuen besseren Organisation auch größere Summen beanspruchen
müßten. Deshalb ist die verbreitste Hoffnung, den östreichischen Finanzen
durch die Stiftsgüter aufzuhelfen, ebenso trüglich, wie manche andere, auf
welche man leider ebenso fest baut. Wir kommen daraus zurück.
Das Verhältniß der Presse zu den gegenwärtigen Verwickelungen der
großen europäischen Politik sieht in mehr als einer Beziehung dem Bilde
gleich, welches Homer von den streitenden Troern und Griechen entwirft,
deren Kriegsglück nicht durch die eigenen Waffen, sondern durch die Händel
und Intriguen der Olympischen bedingt wurde. Das Resultat einer retro-
spectiven Betrachtung der letzten vier Wochen uno ihrer Geschichte kommt
für den Beobachter, dem um die Dinge selbst, nicht um das zu thun ist,
was von ihnen gesagt wird, auf das Wissen vom Nichtswissen heraus. Wohl
verkündet eine große Zahl unserer Zeitungsblätter den Lesern täglich mit
beneidenswerther Unbefangenheit, die politische Lage sei genau die und die
— aber diese absoluten Wahrheiten halten immer nur 24 Stunden lang
vor und die zu ihrer Erhärtung angeführten Gründe haben, bei Licht be¬
sehen, mit dem Einmaleins in der Göthe'schen Hexenküche verzweifelte
Aehnlichkeit. Als die Verhandlungen über das Zustandekommen der pariser
Conferenz schwebten, wußten die Conjectural-Politiker ganz genau, daß die¬
selbe nicht nur gesichert sei, sondern auch zu einem befriedigenden Abschluß
des türkisch-griechischen Conflicts führen müsse — nur über die Grundlagen
der Verhandlung war Niemand im Klaren; als die Diplomaten ihr Werk
beendet hatten, gab es kein größeres Blatt, dessen pariser Correspondenten
nicht die Lösung der obschrveoenden Differenzen sicher vorausgesagt hätten —
daß man nicht genau wisse, was eigentlich beschlossen worden, wurde nur
in Parenthese bemerkt. Ebenso ging es mit dem östreichisch-preußischen Zei¬
tungskriege zu. Warum derselbe erst mehrere Wochen nach der Veröffent¬
lichung des wiener Rothbuchs ausbrach und warum er beigelegt wurde, als
die Parteien erst recht in Feuer kamen, ist ein Geheimniß geblieben — auf
welcher Seite das bessere Recht sei, glaubte nichtsdestoweniger jeder Deutsche
zu wissen, der gelegentlich einen Leitartikel zu Stande gebracht hatte. Weder
von dem wahren Causalzusammenhang der Differenzen zwischen Constantinopel
und Athen, noch von der Stellung der meisten Großmächte zu demselben liegt
genaue Kunde vor; was Rußland und Preußen eigentlich wollen oder gewollt
haben, läßt sich weder aus den offiziellen, noch aus den journalistischen Kund¬
gebungen dieser Staaten mit Sicherheit errathen; Frankreichs Haltung wird
in Deutschland ganz anders beurtheilt als in Rußland oder Oestreich —
und doch gibt es Leute, die dem neubegonnenen Jahre bereits das Horoskop
stellen und nicht nur genau wissen, was sie selbst wollen, sondern keinen
Zweifel darüber aufkommen lassen wollen, was von Andern gewollt wird.
Wenn es wahr ist, daß ein Wahn, der uns beglückt, höheren Werth hat,
als eine Wahrheit, die uns zu Boden drückt, so haben die Allwissenden das
beste Theil erwählt. Uns will bedünken, die Nebel, welche über der nächsten
Zukunft liegen, sind so dicht, daß nur Eines mit Gewißheit feststeht: bis
zur nächsten Krisis in der großen europäischen Politik wird bei uns in
Deutschland die freie, auf Selbstbestimmung des Volkes beruhende innere
Entwickelung des Staatslebens auf die engsten Kreise beschränkt sein. So
lange die Resultate des Jahres 1866 nicht nach Außen hin sicher gestellt
sind, so lange diplomatische Rücksichten in erster Linie darüber bestimmen, wie
sich unser Verhältniß zum Süden gestaltet, so lange Kriegsbesorgnisse die
Fesseln, welche der prager Vertrag dem deutschen Selbstbestimmungsrecht
auferlegt hat, immer enger ziehen und die Bestrebungen unserer süddeutschen
Freunde gegenstandslos machen, so lange endlich eine bis an die Zähne be«
waffnete Armee die einzige vernünftige Antwort ist, welche wir den Provo-
cat oren aus Wien und Paris geben können — so lange wird von ernsten
Fortschritten der freiheitlichen Entwickelung, mag dieselbe auf den Parlamen¬
tarismus, die Selbstverwaltung oder die Erweiterung des neuen Bundes be¬
zogen werden, auf die Dauer nicht die Rede sein können. Jede Veränderung
und Störung der internationalen Beziehungen zwischen den europäischen
Großstaaten wird und muß zur Frage nach der Zukunft Deutschlands werden,
bis unsern Feinden noch ein Mal bewiesen ist, daß wir die Macht haben,
uns jedes Dareinreden in die deutschen Dinge zu verbitten. Die orientalische
und die römische Frage, die Entscheidung über den künftigen Schwerpunkt
der östreichischen Monarchie und Frankreichs innere Gestaltung — sie alle
stehen mit Deutschlands Zukunft in so engem Zusammenhang, daß jede
Bewegung in ihnen auf uns zurückwirkt und wir je nach ihrer Configuration
die Stellung einzurichten haben, welche wir zu unsern eigenen Aufgaben und
zu der Regierung einzunehmen haben, welche zur Lösung derselben herange¬
zogen werden muß.
Aber nur für die unverbesserlichste Kurzsichtigkeit kann das Unbehagen
an dieser Situation z^ Anklage gegen die neugeschaffenen Zustände werden.
Wem hat zweifelhaft sein können, daß die Erhebung und Consolidirung
Deutschlands zu einer Großmacht gewaltsam gegen den Neid und die Eifer¬
sucht der Nachbarn durchgesetzt werden müsse, daß unsere Mündigsprechung
im Rath der europäischen Völker um so größere Schwierigkeiten zu über¬
winden haben würde, je länger sie verschoben worden und je älter und
anspruchsvoller das Staatsbewußtsein der übrigen Völker geworden? Die
Periode der Concentration aller deutschen Kräfte um einen Punkt, der Zeit¬
opfer für die Durchführung längst geb/egter und vollberechtigter Wünsche, der
geduldigen Vorbereitung zum Kampf um eine gleichberechtigter Stellung, sie
war unausbleiblich, nachdem wir Slaven und Romanen ein halbes Jahr¬
hundert lang mit der Hoffnung geschmeichelt hatten, Deutschland werde für
alle Zeiten eine politische Kinderstube bleiben. Diese Periode muß durch¬
gemacht werden, ohne Kleinmuth und schwächliches Verzagen an ihrem sieg¬
reichen Ausgang, aber auch ohne Illusionen über ihren Ernst und ihre Schwie¬
rigkeiten. Und zu diesen zählen wir in erster Reihe die unerfreuliche, aber
unveränderliche Thatsache, daß der Schwerpunkt alles staatlichen Lebens für
eine Zeit lang wieder in die Cabinette verlegt ist und die auswärtige Politik
und ihre Rücksichten bleiern auf der Entfaltung des innern Staats- und
Volkslebens lasten. Eine von täglichen Kriegsmöglichkeiten umgebene Volks¬
vertretung kann wenig mehr als ihre Tagesarbeit thun, einen erweiterten
Einfluß auf den Gang der Staatsgeschicke vermag sie auch in dem Besitz
höchster innerer Reife nicht zu erzwingen.
Diese Umstände erklären zur Genüge, warum die fleißige Arbeit, in welche
das berliner Abgeordnetenhaus seit dem Beginn des neuen Jahres getreten
ist, ungleich weniger Beachtung gefunden hat, als zu andern, selbst ma¬
teriell minder ergiebigen Zeiten, und daß die preußische Staatsregierung aus
ihrer Empfindung, die eigentliche Herrin auch der innern Situation zu sein,
fort und fort kein Geheimniß gemacht hat. Daß es nichtsdestoweniger zur
Verständigung über verschiedene Streitpunkte gekommen ist, liefert in erfreu¬
licher Weise den Beleg dafür, daß das Ministerium von der Conflictszeit nicht
weniger gelernt hat, als die Kammer, und in richtiger Erkenntniß des wahren
Charakters und der unveränderlichen Natur des preußischen Staates in der
Zeit ihres erhöhten Einflusses besonderes Gewicht auf eine Verständigung mit
der Volksvertretung legt. Die Einverleibung Lauenburgs in die Monarchie ist
vom Grasen Bismarck bei Gelegenheit des Tochter'schen Antrags auf Ein¬
ziehung des lauenburger Antheils an den von Preußen übernommenen Zinsen
der dänischen Staatsschuld in directe Aussicht gestellt worden, die Abstriche
des Hauses von dem Etat für das Jahr 1869 sind (einschließlich der ver¬
weigerten Summe für die Hilfsrichter des Obertribunals) so genau berück¬
sichtigt worden, daß das Etatgesetz mit allen Stimmen gegen zwei angenommen
wurde; endlich ist in Sachen des Verkaufs der Köln-Mindener Eisenbahn
dir Indemnität des Landtags eingeholt und tabu'res das Recht der Volksver-
tretung auf Zuziehung bei Veräußerung staatlicher Einnahmequellen offen
anerkannt worden. Die Altconservatioen haben diese Gelegenheit nicht un¬
benutzt gelassen, um ihre diese Verstimmung darüber zu zeigen, daß die Tage
vorüber sind, in denen das Bestreben, das Recht der Volksvertretung zu ver¬
kürzen, für das A und O aller konservativen Weisheit galt. In der Ge¬
schichte des parlamentarischen Lebens dürfte es beispiellos sein, daß eine Partei
mit aristokratischen Prätensionen so hartnäckig bestrebt gewesen ist, ihren
eigenen Einfluß dadurch zu erhöhen, daß sie das Recht des Körpers, zu
welchem sie gehört und dem sie, staatsrechtlich betrachtet, ihre Existenz als
solche verdankt, zu schmälern sucht. — Der Justizminister Dr. Leonhardt hat
dei verschiedenen Gelegenheiten gezeigt, daß ihm selbst daran gelegen ist, die
Übeln E>ut>nate zu verwischen, die sein cvnflictsdurstiger Eifer'in einer bösen
Stunde hervorgerufen hatte. Nicht nur, daß er dem Hause in Sachen der
Hilisrichrer per>önkich seinen veränderten Standpunkt bezeichnete: bezüglich des
Koich'schen Antrags aus Abschaffung des Judeneides hat er seine entgegenkommen»
den 'Absichten geflissentlich hervorgehoben, ebenso bei Gelegenheit des Wölsel'sehen
Antrags auf Abschaffung der Eheverbote wegen Standesungleichheit. Wir wissen
wohl, daß die besondere Hervorhebung selbstverständlicher Forderungen des par¬
lamentarischen Decorums für ein Vertrauensvotum an die Gesundheit unseres
Constitutionalismus nicht gelten kann—wie die Dinge ein Mal liegen und in
Anbetracht des reichlichen Gebrauchs, den der mit der rothen Demokratie ver¬
bünd, te Particularismus, von dem ärgerlichen Auftritt im December V. I.
gemacht hat, darf nicht unerwähnt bleiben, daß das damals gegebene Aergerniß
auegeglichen worden ist. Es ist das um so nachdrücklicher zu constatiren,
als Or. Leonhardt durch das in den letzten Tagen zur Vorberathung ge¬
kommene Hypothekengesetz aufs Neue den Beweis dafür geführt hat, daß die
liberale Presse allen Grund hatte, seine Berufung in das Justizministerium
als eine Bürgschaft für die günstige Entwickelung der preußischen Rechts¬
pflege zu begrüßen. Mögen die Berathungen in der Commission auch zu
der einen oder der anderen Veränderung im Detail führen — die Annahme
des Gesetzentwurfs kann schon nach den Vorverhandlungen vom 23. Januar
als gesichert angesehen werden; die Ausstellungen welche Baehr und Laster
an den Einzelbestimmungen gemacht haben, enthalten eine zu direcre Aner¬
kennung der Richtigkeit der Grundprincipien des Entwurfs, als daß die
Herren Waldeck und Reichensperger Aussicht hätten, mit der principiellen
Opposition, welche sie demselben machen wollen, durchzudringen. — Desto un¬
günstiger sind die Aspecten, unter denen das Muster'sche Schulgesetz und
die projectirte neue Kreisordnung das Licht der Welt erblicken werden. Das
Schicksal des ersteren dürfte durch den Commissionsbericht bereits entschieden
sein und wenn es sich auch bewahrheitet hat, daß das Gesammtministerium
die Eulenburg'schen Entwürfe einer vollständigen Umarbeitung unterzogen
hat, so wird an dem Mißtrauen, mit welchem die Majorität denselben ent¬
gegensieht, dadurch schwerlich Etwas geändert werden. Daß schon die gegen¬
wärtige Zession zu einer neuen Kreis- und Provincial-Oronung führen wert>e,
war von vornherein so unwahrscheinlich, daß man sich über die Schwierig¬
keiten, auf welche der neue Entwurf auch im günstigsten Falle stoßen wird,
wohl auf keiner Seite Illusionen gemacht hat. Bei der ungeheuren Trag¬
weite der durch diese neuen Organisationsgesetze in Wendung kommenden
staatlichen Umgestaltung ist kaum darauf zu rechnen, daß auch nur innerhalb
der einzelnen Fractionen eine Einigung über die Principien der wieder zu
belebenden Selbstverwaltung stattfinden werde. Nach den bisher gemachten
Erfahrungen liegt wenigstens die Annahme nah, daß der Gegensatz zwischen
altpreußischen und nicht-altpreußischen Anschauungen darüber, was Selbst¬
verwaltung heißt, aufs Neue zu Tage treten werden. Dessen zu geschweige«,
daß die Demokratie in ihren hervorragendsten Führern wenig geneigt erscheint,
der Starrheit des centralistischen Staatsbegriffs irgend Etwas zu vergeben.
Steht die gesammte Lehre von dem Verhältniß des Staats zu provinciellen
und communalen Individualitäten doch überhaupt in keinem der gebräuchlichen
Parlhcikatechismen und lassen uns doch hier die sonst so einflußreichen Tradi¬
tionen aus der Periode des abstracten Liberalismus, der es nie mit weniger
als dem gesammten Staat zu thun hatte, so gut wie vollständig im Stich.
Wie verhängnißvoll der Einfluß französischer Muster auf unser Staatsleben
und unsere Partheidoctrinen gewesen, wird sich bei dieser Gelegenheit wahr¬
scheinlich mit erschreckender Deutlichkeit zeigen!
Von dem parlamentarischen Leben der übrigen deutschen Staaten ist trotz
der vielgerühmten größeren Freiheit desselben wenig zu sagen. In Stuttgart
hat die mit der nationalen na uoe verbündete Regierungs- und Mittelpartei
einen entschiedenen Sieg über den preußenfeindlichen Radicalismus davon¬
getragen. Baiern hat sich mit dem von Herrn von Varnbühler bezeichneten
Standpunkt einverstanden erklärt — auf die Oppositionsmänner von Offen¬
burg scheinen die entschiedene Haltung des Ministeriums Jolly und die Mi߬
billigung ihrer Sonderbündelei durch die norddeutsche Presse einen so nach¬
haltigen Eindruck gemacht zu haben, daß die Führer eingelenkt und erklärt
haben, sich mit einem „strammen" Zusammengehen der liberalen Parteien be¬
gnügen zu wollen. Sachsen rüstet zu den Landtagswahlen, den ersten die
nach dem reformirten Wahlgesetz und ohne Ausschluß der Oeffentlichkeit
vorgenommen werden, in Mecklenburg hat der zu Malchin versammelte
Landtag durch Bewilligung eingreifender Umgestaltungen des Steuer¬
wesens neue Löcher in die alte Feudalverfassung schlagen müssen. Ist auch
die gehobene Stimmung, welche die Erfolge von 1866 allen Freunden
der nationalen Sache eingeflößt hatten, fast überall verflogen, so nimmt die
Consolidirung der neu geschaffenen Verhältnisse doch allenthalben ruhigen Fort¬
gang und ist an die Stelle der abwehrenden Scheu vor der neuen Ordnung
der Dinge friedliche Gewöhnung, der Vorläufer wirklicher Zufriedenheit ge¬
treten. Der nächste Reichstag wird dem norddeutschen Bunde eine Erweite¬
rung seiner Machtsphäre auf verschiedenen wichtigen Lebensgebieten bringen;
wichtiger noch, als die Uebertragung des Etats des auswärtigen Ministeriums
aus das Bundesbudget, erscheinen die im Bundeskanzleramt getroffenen Vor¬
bereitungen zu directerer Controle des Eisenbahnwesens. Der Widerstand,
den das preußische Handelsministerium dieser Bewegung zu leisten Miene
macht, wird von der Majorität des Reichstags, dessen Interessen in diesem
Fall mit denen des Bundeskanzleramts zusammenfallen, mühelos zum
Schweigen gebracht werden — wird die Erkenntniß von der Nothwendigkeit
einer einheitlichen Leitung des Eisenbahnwesens doch von dem gesammten Han¬
delsstande und den Vertretern des wirthschaftlichen Fortschritts längst getheilt.
Während das englische Parlament in die Ferien geschickt worden ist,
um den neuen Ministern Zeit zur Durchsetzung ihrer Neuwahlen und zur
Vorbereitung ihrer Vorlagen zu gönnen. Frankreichs gesetzgebender Körper
wohl eröffnet worden ist, seine regelmäßigen Arbeiten aber noch nicht auf¬
genommen hat, sind die beiden Häuser des wieder Reichsraths schon seit
längerer Zeit wieder an die Arbeit gegangen. Wenn man die Zeitungs¬
berichte über die Verhandlungen dieser Körperschaften liest, so möchte man
meinen, das Oestreich, dessen Interessen in ihnen discutirt werden, habe
mit dem östreichischen Staat, dessen Staatskanzler der Graf Beust ist und dessen
Namen uns begegnet, so oft von der orientalischen oder einer andern Frage
der großen europäischen Politik die Rede ist — schlechterdings Nichts zu thun.
Im Reichstag wird so ausschließlich von den inneren Staatsbedürfnissen und
von den Maßregeln zur Durchführung der im vorigen Jahre beschlossenen
neuen Gesetze gehandelt, als ob es für den Kaiserstaat gar kein Ausland
und gar keine große Politik, keinen orientalischen Conflict und keine Möglich¬
keit eine Friedensstörung gebe, und als habe Oestreich mit der unermüd¬
lichen diplomatischen Vielgeschäftigkeit seines Premiers schlechterdings Nichts
zu thun. Man beräth Vorschläge zur Bekämpfung der bischöflichen Opposi¬
tion gegen das Ehegesetz, man wechselt die alten östreichischen Obligationen
gegen die Papiere der neuen Rentenschuld ein, stellt Erwägungen darüber
an, ob die Regierung verpflichtet sei auch die ihr mißfälligen Beschlüsse der
Provinciallandtage (die bisher eingebrachte Jnterpellation hat es zunächst mit
den Anträgen der lemberger Versammlung vom Sommer v. I. zu thun) vor
die Reichtsvertretung zu bringen, man creirt einer neuen Pairsschub, um das
Gesetz über die Schwurgerichte durch das Herrenhaus zu bringen — nur von
den Dingen ist mit keinem Wort die Rede, an welche das übrige Europa
zunächst denkt, wenn von Oestreich und östreichischer Politik die Rede ist.
Das System des Dualismus hat den Grafen Beust in die glückliche
Lage versetzt, seine auswärtige Politik auf eigene Hand und ohne jede
Verpflichtung zu Rechenschaft vor der Volksvertretung treiben zu können;
haben die Parlamente Ungarns und Cisleithaniens die zur eventuellen
Unterstützung seiner Noten und Depeschen erforderlichen Militärkräfte be¬
willigt, so hat der Reichskanzler volle zwölf Monate lang für den Schauplatz
seiner Lieblingsthätigkeit fast völlig freie Hand, ein Umstand, der wesentlich
dazu beigetragen haben mag. den weiland hochconservativen sächsischen Minister
mit dem Parlamentarismus zu versöhnen. Sein Reich hat mit „dieser Welt"
der Staatsschulden-, Concordats- und Unterrichtsgesetze im Grunde Nichts zu
thun, nach Bucharest, Constantinopel und Belgrad dringen die Blicke auch
der mißtrauischsten Oppositionsmänner nicht so leicht, und einzig das unbe¬
queme Ungarn erinnert den genialen Staatsmann daran, daß er noch nicht
in der „besten Welt" angelangt ist. Die Zeitungsgerüchte über MißHellig¬
keiten zwischen dem Reichskanzler und dem Grafen Andrassy sind im Drang
der ungarischen Wahlkämpfe (die das längst vorhergesagte Zusammengehen
der Linken mit der äußersten Linken zur Thatsache gemacht haben) neuerdings
wieder verstummt; daß sie nicht unbegründet waren, hat sich durch die Stel¬
lung der ungarischen Presse zu dem östreichisch-preußischen Zeitungskriege
und durch die Artikel, welche der Pesther Lloyd der Beendigung desselben
widmete, mehr als bestätigt. So lange die Deal-Partei am Nuder bleibt —
und der Ausfall der Wahlen ist der Fortdauer ihrer Herrschaft günstig ge¬
wesen — wird Ungarn zwar niemals directer Bundesgenosse der preußisch¬
deutschen Politik werden; die Interessen beider Staaten sind aber zu eng
mit einander verbunden, als daß sie sich auf die Dauer verleugnen ließen.
Daß Ungarn eine Wiederaufnahme des östreichischen Supremats über
Deutschland zu fürchten Grund hat, kommt eigentlich erst in zweiter Reihe
in Betracht — hat es doch Zeiten gegeben, in denen kein principieller Gegen¬
satz zwischen dem großdeutschen Programm und der Partei der ungarischen
Nechtscontinuität bestand, und haben doch beide Richtungen noch heute in
dem Gegensatz gegen den Föderalismus ein mächtiges Bindeglied. — Preußens
Freundschaft hat in den Augen der Magyaren aber dadurch einen unver¬
äußerlichen Werth, daß diese Macht wegen ihrer nahen Beziehungen ,zu Ru߬
land allein im Stande ist, dem unversöhnlichen Hasse des Panslavismus
gegen das aristokratische Magyarenthum Schranken anzulegen. So lange
die pesther Staatsmänner der berliner Regierung gegen das Zustandekommen
eines preußenfeindlichen Bündnisses der Cabinette von Wien und Paris Bürg¬
schaft leisten, ist Preußen Ungarns natürlicher Anwalt gegen den russischen
Antagonismus. Hört Preußen auf, der ungarischen Sache in Petersburg das
Wort zu reden, hat Oesterreich von ungarischen Sympathien für Preußen
Nichts mehr zu fürchten, so stehen die Magyaren inmitten einer Welt von
slavischen Feinden isolirt da, denn sie wissen sehr wohl, daß Oestreich bei
seinem Ausgleich von 1867 blos aus der Nothwendigkeit eine Tugend gemacht
hat und zwar eine Tugend, die ihm bei dem größten Theile seiner Staats¬
angehörigen nicht als Vorzug angerechnet wird. Bei der Entschiedenheit,
mit welcher man den Dualismus russischer Seits als Beeinträchtigung des
Interesses und der Würde der Slawen verurtheilt, bildet Ungarn sür die
preußisch-russischen Beziehungen nur eine Schwierigkeit, und die Magyaren
haben allen Grund, Preußens Glauben an dir Aufrichtigkeit ihrer Friedens¬
freundschaft auf nicht allzuharte Probe zu stellen. Daß „Preußen" — wie
der officieuse Invalide sich ausdrückt — „für das System des österreichisch¬
ungarischen Dualismus noch lebhafter eingenommen, als irgend eine der
Parteien in jdiesen Ländern selbst", bildet in den Augen der russischen Na¬
tionalpartei den schwersten aller dem Grafen Bismrrk gemachten Vorwürfe,
den Haupthebel der Moskaner Wünsche für eine russisch-französische Alliance.
Als Herr von Lavalette am Ausgang des vorigen Jahres in die Stelle
de Moustier's trat („des Clericalen von der schlechtesten Sorte", wie man in
Moskau sagte), wa< die Hoffnung auf eine russisch-französische Entente in der
orientalischen Frage und ein an diese anknüpfendes Bündniß das Lieblings¬
thema der russischen Presse. In Frankreich selbst hat man von Hause aus
anders geurtheilt; die Regierungspartei will von keinem Bündnisse wissen,
das zugleich den Frieden und die guten Beziehungen zu Oestreich stören
könnte, die liberale Opposition wartet mit Ungeduld auf die Beilegung des
türkisch-griechischen Zwistes, dessen Fortdauer die Aufmerksamkeit der Pariser
von den Angriffen abziehen würde, welche gegen die innere Politik des Kaiser¬
reichs vorbereitet werden. Die Thronrede, mit welcher die Session der Kam¬
mern am 18. Januar eröffnet wurde, ist trotz ihres friedlichen Tenors in
Beziehung auf die auswärtige Politik ziemlich nichtssagend — ihre Haupt¬
wichtigkeit beruht auf der Stellung, welche der Kaiser zu den innern Fragen
einnimmt. Das persönliche Regiment und die persönliche Verantwortlichkeit
des Staatsoberhaupts werden mit einer Schärfe und Entschiedenheit in den
Vordergrund gestellt, welche alle Zweifel daran ausschließt, daß das bisherige
System aufrecht erhalten werden soll und daß von weiteren Concessionen an
die Volkswünsche nicht die Rede ist. Das Kaiserthum. das sich auf die
Massen stützt, rechnet nur mit diesen und so lange das Landvolk ruhig bleibt,
Armee und Clerus in der Aufrechterhaltung des Lotus puo ihr Interesse
sehen, gelten die Unzufriedenheitsäußerungen der gebildeten Classen für Ver¬
leumdungen und Sophismen, welche kaum die Oberfläche bewegen. Zu
welcher dieser beiden Kategorien die Klagen über die nicht enden wollen¬
den Baudin - Processe und die Verabschiedung des toulouser Prokurators
Baron Se'guier gehören, wird freilich nicht gesagt. Wenn der Kaiser
aber daraus rechnet, daß auch diese Verletzungen des nationalen Rechtsgefühls,
wenn sie sammt den Blutscenen auf der Insel Ne'union in der Kammer zur
Sprache kommen, bloßen Lärm und zwar einen Lärm machen werden, den
der nächste Lärm über eine pariser Stadtgeschichte übertäubt — so hat er
nach den Erfahrungen der beiden letzten Jahre nicht eben Unrecht. Man
braucht nur den parlamentarischen Maßstab der dreißiger und., vierziger
Jahre an die Verhandlungen des corpL legiLlatik von 1865, 1866 und
1867 zu legen, um gewahr zu werden, wie ungeheuer die Rückschritte sind,
welche Frankreichs politische Bildung und namentlich die Kriegskunst der
liberalen Opposition zufolge der Kirchhofsstille gemacht hat, welche den
revolutionären Stürmen von 1848 und 1849 folgte und fast ein Jahr¬
zehnt lang andauerte. Trotz des leidenschaftlichen Kampfes mit einer
brutalen, das ABC alles parlamentarischen Anstandes mit Füßen treten¬
den Majorität, haben die in der Opposition vereinigten Führer der alren
Parteien es bis jetzt nicht nur nicht dahin bringen können, in den wichtigen
auswärtigen Fragen, welche im Vordergrunde der Volkstheilnahme standen,
zusammenzugehen, ihre selbstgefällige Eitelkeit ist so groß gewesen, daß die
einzelnen Redner um des ordinären Effects willen keinen Anstand nahmen,
auch in Principienfragen ihr Licht auf Unkosten der gemeinsamen Partei¬
farbe leuchten zu lassen. Grade die ausgezeichnetesten der liberalen Wort¬
führer repräsentiren die alten Schwächen des französischen Parlamentarismus
in so eminenter Weise, daß von wirklicher Fühlung zwischen ihnen und den
Bedürfnissen der neuen Generation nur ausnahmsweise die Rede sein kann
und es im Grunde nur die gemeinsame Antipathie gegen die despotische
Willkür der Machthaber ist, welche die gebildeten und freisinnigen Franzosen
der Jetztzeit zu Hintermännern der Thiers, Glaize, Favre und des ver¬
storbenen Berryer machte. Zieht man endlich in Betracht, daß der während
der letzten Session ausgefochtene Kampf um die Erneuerung des englisch-
französischen Handelsvertrags einzelne der berühmtesten Freiheitspartisane
in das Lager des Protectionismus führte, während die Negierung das Frei¬
handelssystem und die wirthschaftlichen Zeitideen vertheidigte, so wird man
sich nicht darüber täuschen können, daß die gegenwärtige Opposition dem
Kaiserreich wohl Verlegenheiten, nicht aber ernste Gefahren bereiten kann.
Ein Erfolg dieser Opposition läßt sich zwar schon gegenwärtig nicht bestreikn,
seine Früchte werden aber erst von der Zukunft, freilich einer nicht mehr
entfernten, gepflückt werden: die Schattenseiten des gegenwärtigen Systems
sind klar genug ins Licht gesetzt worden um einen von den bisherigen Er¬
gebnissen wesentlich verschiedenen Ausfall der Wahlen zu verbürgen Der
feste Glaube der kaiserlichen Thronrede daran, daß das französische Volk diese
Gelegenheit dazu benutzen werde, der Regierung ein allgemeines und unein¬
geschränktes Vertrauensvotum zu geben, dürfte selbst unter den Getreusten
seiner Getreuen nur noch wenige Gläubige finden. Daß den Neuwahlen
ein Krieg vorhergehen werde, ist gegenwärtig unwahrscheinlicher als je früher;
der Eindruck unter dem die Wähler an die Urnen treten, wird mithin der
fein, das das äußere Ansehen des Kaiserreichs durch die zahlreichen Ent¬
täuschungen der letzten sechs Jahre vermindert worden ist, während die Staats¬
schuld fortwährend zunahm, das Maß der auf dem Volk ruhenden Lasten
vermehrt wurde und das öffentliche Behagen sich verminderte. Je mehr die
Eindrücke verblassen, welche die gegenwärtigen Repräsentanten der gebildeten
Klasse aus der Zeit der permanenten socialistischen und radicalen Ruhestörungen
mitgebracht haben, desto greller treten die Rückschritte hervor, welche Frank¬
reich unter der Herrschaft der „Ordnung" in Bezug auf bürgerliche Freiheit
und öffentliche Moral gemacht hat, desto dringender macht sich der Anspruch
geltend, das Vaterland der modernen kontinentalen Ideen nicht mehr von
den Vorzügen ausgeschlossen zu sehen, deren sich die übrigen Culturvölker
des Melttheils in aufsteigender Linie erfreuen. Ueberdies ist die financielle Lage
eine tägliche Mahnung an den hohen Preis, den der Staat für die Segnungen
einer achtzehnjährigen Ordnung, „wie sie in der neueren Geschichte Frankreichs
ohne Beispiel ist", zahlen mußte. Der Magne'sche Budgetvoranschlag hat. trotz
seiner pomphaften Ankündigung, daß es keines rectificativen Budgets be¬
dürfen werde, daß die schwebende Schuld vermindert, die Summe der indirec-
ten Einnahmen gewachsen sei, im Publicum und in der Presse eine so un¬
günstige und ungläubige Aufnahme gefunden, daß über die Erschütterung
des Staatscredits im eigenen Lande alle Zweifel ausgeschlossen sind.
Freilich können die pariser Finanzkünstler sich noch immer damit trösten,
daß ihre Geldverhältnisse günstiger und geordneter sind, als die aller übrigen
romanischen Staaten Europas. In Italien, wo das Ministerium angesichts
der Unruhen über die Mahlsteuer und der Ungefügigkeit der liberalen Par¬
teien im Parlament einen überaus schwierigen Stand hat, weist das Budget
für 1869 trotz einer außerordentlichen Einnahme von 70 Millionen (für den
Verkauf von Kirchengütern) ein Deficit von 12 Millionen auf, und-will
Herr Cambray-Digny das Steigen der Rente auf 70 abwarten, ehe er eine
neue Anleihe abzuschließen versucht; in Portugal hat die Unfähigkeit des
Staats, die Zinsen der englischen Anleihe zu zahlen, zu einer Ministerkrisis
geführt, in Spanien sucht man sich durch Ersparnisse aller Art aus den Ver¬
legenheiten zu ziehen, in welche die provisorische Regierung durch die heillose
Wirthschaft ihrer Vorgänger und den neuen Stoß gerathen ist. welchen die
andalusischen Schilderhebungen dem Staatscredit gegeben haben. Der Aus¬
fall der Corteswahlen ist wider Erwarten der Sache der constitutionellen
Monarchie, mit welcher sich die Herren Prim, Serrano und Olozaga identi-
ficirt haben günstig gewesen — freilich nur unter der Voraussetzung, daß
die Demokraten mit den monarchischen Liberalen besser zusammengehen, als
bisher. Des italienischen Generals Cialdini dauernder Aufenthalt in der spa¬
nischen Hauptstadt hat die halbvergessene Candidatur des Herzogs von Aosta
wieder in Curs gesetzt und zu der Entdeckung geführt, daß das Savoyische
Königshaus auf Grund der bei Beendigung des großen spanischen Erbfolger-
kriegs geschlossenen Verträge, als das zur Thronfolge nächstberechtigte anzu¬
sehen ist. Schwerer als diese Berufung auf das historische Recht wird der
Umstand wiegen, daß der einzige neben dem italienischen Prinzen genannte
Candidat, der Herzog von Montpensier, auf den Widerspruch Frankreichs
stoßen würde und daß England ein näheres Interesse daran hat. den Sohn
Victor Emanuel's auf dem Bourbonenthron zu sehen, als einen Sprossen
des exilirten und halb vergessenen Hauses Orleans. — Die clericale Oppo¬
sition in Spanien hat inzwischen einen neuen Beweis ihres ruhelosen
Eifers und ihres weitgreifenden Einflusses auf die Volksinstincte geliefert:
noch bevor der erste öffentliche protestantische Gottesdienst in der Heimath
katholischer Intoleranz abgehalten wurde, ist der Regierung eine von fünfzehn¬
tausend, zum Theil den 'angesehensten Familien angehörigen Frauen und
Mädchen unterzeichnete Adresse übergeben worden, welche im Namen der
nationalen Tradition gegen jede Störung der spanischen Glaubenseinheit
feierlichen Protest erhebt und mindestens als Vorläufer ähnlicher Manifesta¬
tionen von anderer Seite ins Gewicht fällt. — Zunächst steht die Entschei¬
dung über die künftige Staatsform und die mit dieser zusammenhängende
Thronfolge an der Spitze der spanischen Tagesordnung und bis zu ihrer
Erledigung sind alle übrigen Regierungsmaßnahmen bloße Provisorien.
Eine andere, freilich minder schwierige Thronsolgefrage ist im Norden Frank¬
reichs, in Belgien durch den Tod des Herzogs von Brabant aufgethan wor¬
den; damit der Graf von Flandern seinem nunmehr kinderlosen Bruder suc-
cedire. bedarf es nicht nur der Einwilligung dieses Fürsten, sondern auch
einer förmlichen Wahl durch die Kammern. Nachdem England noch vor
Kurzem erklärt Hat, es werde die Aufrechterhaltung der belgischen Unab¬
hängigkeit unter allen Umständen als eine dringende Forderung der brittischen
Ehre und des brittischen Interesses ansehen, sind die Besorgnisse vor einer
Belgiens Sicherheit gefährdenden französischen Einmischung in die Thron¬
solgefrage als wenigstens vorläufig beseitigt anzusehen.
Die wenigen Tage, welche noch bis zum Schluß des Januars ausstehen,
sollen Griechenlands Antwort auf die Forderungen bringen, welche die Con-
serenz an die Vernunft und das Rechtsgefühl dieses turbulenter kleinen Staats
gestellt hat. Je näher der Zeitpunkt der Entscheidung rückt, desto unruhiger
zeigen sich die Augurn, welche die Erreichung des von der Conserenz ange¬
strebten Ziels schon vor Wochen als gesichert bezeichneten. Bevor die Ant¬
wort der Negierung von Athen vorliegt, läßt sich weder sagen, wie die Sache
enden wird, noch welche Stellung die einzelnen Großmächte zu derselben in
Wahrheit einnehmen. Die Pforte hat in den Verhandlungen über die Aus¬
weisung der griechischen Unterthanen eine Festigkeit bewiesen, wie sie ihr
weder von Freunden noch von Feinden zugetraut worden; sie wird sich für
den Fall der Weigerung Giechenlands kaum daran hindern lassen, Ernst zu
machen und die relativ reichlichen Mittel, welche ihr von den africanischen
Vasallenstaaten zur Verfügung gestellt sind, zur Geltendmachung ihres Rechts
zu gebrauchen. Oestreich und England werden sie nicht daran verhindern,
Frankreich, dessen Presse im Gegentheil „Gensdarmendieste" für die Türkei
fürchtet, wird sich auch schwerlich auf einen Conflict mit Englands orienta¬
lischer Politik einlassen. Und Nußland? Die Zuversicht der officiösen Federn,
welche täglich verkünden, das Petersburger Cabinet habe in Athen dringend
zum Gehorsam gegen die Conferenzbeschlüsse gerathen, wird durch den Eifer
Lügen gestraft, mit welchem dieselben Journale die Nachricht dementiren,
eine russische Flotille sei trotz des baltischen Eises bereits auf dem Wege zum
Piräus:
Das Burgtheater. Ein Beitrag zur deutschen Theatergeschichte. VonHeinrich
Laube. Mit dem Portrait des Verfassers in Stahlstich. Leipzig. I. I. Weber.
1868. (1869.)
Daß die Schicksale der deutschen dramatischen Kunst nicht durch das
Theaterleben einer Hauptstadt bestimmt werden, wie in Frankreich und
.England, das hat zu Zeiten deutscher Kunst das Gedeihen beeinträchtigt und
wieder ihren Verfall aufgehalten; es hat Dichtern und Schauspielern wie dem
Publicum die Sicherheit und Continuität der Kunstbildung vermindert, es ist
auch eine Schutzwehr geworden gegen die schädlichen Einwirkungen, welche
zeitweiser Verfall großer Bühnen auf das Streben der Schaffenden und die
Theilnahme der Genießenden ausübte. Seit es in Deutschland ein ästhe.
tisches Urtheil über dramatische Leistungen der Bühne gibt, also seit etwa
120 Jahren, hat bald die eine, bald die andere Stadt im Vordergrunde
des Theaterlebens gestanden; unter der Neuberin Leipzig, unter Eckhoff und
Schröder Hamburg, daneben wenige Jahre unter Eckyoff Gotha, unter
Dalberg Mannheim, unter Goethe und Schiller Weimar, unter Jffland
Berlin. Auch als die breitere Entwickelung des Bühnenlebens, welche die
Traditionen von Hamburg, Weimar und Berlin in größeren Häusern zu
bewahren suchte, unter unkünstlerischer Jntendantenwirthschaft und den pecu-
niären Bedrängnissen der Stadttheater eine Verwilderung herbeizuführen
drohte, und als neue reale Culturinteressen die Theilnahme der Deutschen an
ihrer Bühne in aufgeregten Jahren verminderten, hat sich während öder Theater¬
zeit die unsicher dahinflatternde Kunst, bald hier bald dort auf kurze Zeit
ein Nest gebaut, zuweilen unter den schwierigsten Verhältnissen, wie durch
Immermann in Düsseldorf. Und wir dürfen sagen, zu keiner Zeit hat es
ganz an Männern gefehlt, welche für sich und die Bühne Besseres erstrebten,
als pecuniären Gewinn und rohe Handwerksarbeit.
Seit 28 Jahren hat Heinrich Laube sein Talent vorzugsweise dem
Theater gewidmet; bis zum Jahre 1848 in Leipzig als Dichter und Kritiker,
in den letzten 18 Jahren als Leiter der altberühmten Hofbühne von Wien.
Schon als Schriftsteller hatte er, — um nur die Technik seiner Stücke hervorzu¬
heben — das große Verdienst, daß er mehr als ein anderer der schreibenden Zelt¬
genossen, welche nicht selbst der Bühne angehörten, die Lebensbedürfnisse des
Theaters mit Kenntniß und Sorgfalt in Rechnung brachte, und ebenso die Rechte
der Autoren gegenüber den Bühnen mannhaft vertrat. Er wurde dadurch mehr
und geschickter als Gutzkow Begründer einer würdigen Stellung der Autoren
zu den Theaterleitungen; wir verdanken die Aufbesserung der Honorare. Ein¬
führung der Tantieme, die Anerkennung der Eigenthumsrechte des Autors
zum großen Theil der rührigen und bestimmten Weise, in welcher'er sich zu
den Bühnen stellte. Die detcnllirte samische Aptirung seiner Stücke veran¬
laßte aber auch die Schriftsteller, sorglicher aus ihrer Schreibstube in die
Coulissen zu sehen und sich ernsthafter darum zu kümmern, wo das Geheim¬
niß des dramatischen Lebens und der Erfolg eines Stückes auf der Bühne
zu suchen sei. Daß etwa von dem Jahre 1840 die dramatische Technik in
deutschen Bühnenstücken einen wesentlichen Fortschritt zeigt, das ist in der.
That zum großen Theil das Verdienst von Heinrich Laube.
Mit Beginn des Jahres 1850 wurde er Director des Burgtheaters. Acht¬
zehn Jahre hat er diesem Institut vorgestanden, längere Zeit, als in der Regel
einer reformirenden Kraft an der deutschen Bühne vergönnt war. Er hatte
dabei mit Schwierigkeiten zu kämpfen, welche zur Zeit der Uebernahme so
groß waren, daß sie wohl einem weniger muthigen Mann die Lust hätten
nehmen können. Zwar hatte das Theater auch unter den letzten energielosen
Jahren seines Vorgängers Holbein einige Vorzüge einer guten Hofbühne nicht
verloren. Ein theilnahmvolles, durch häufigen Besuch in kleinem Hause ge¬
bildetes Publicum, einige Talente ersten Ranges, zumal für das gemüthvolle
Lustspiel; aber alles Andere war verwüstet, das Personal höchst unvollständig,
die Leitung in den Händen herrschlustiger Regisseure, ein arges Cliquenwesen
unter dem Personal jeder Ergänzung durch frische Kräfte abgeneigt, das
Repertoire jämmerlich mangelhaft, ein langes Verzeichniß verbotener Stücke,
die ganze Wirthschaft salopp und veraltet. Auch seiner neuen Stellung fehlten
einige der Bedingungen, welche fröhliches Gedeihen verbürgen; er war als
Director einer obersten Hofcharge untergestellt, welche dem Hofe gegenüber
die Verantwortung zu tragen hatte und der Kunst ganz fremd war; erhalte
nicht einmal das Recht, neue Stücke selbständig zu wählen, das Repertoire
zu bestimmen, Schauspieler zu engagiren und zu entlassen. Wie er sich
trotzdem durchsetzte, das möge man in seinem Bericht selbst nachlesen. Un¬
ermüdlich im Aufspüren neuer Kräfte, scharfsichtig im Erkennen eines guten
Kerns in der unfertigen Ausbildung, und obgleich er nicht selbst darstellen¬
der Künstler gewesen war, doch geschickt, anzulernen und Fehler abzugewöhnen,
dabei immer von dem stolzen Wunsche erfüllt, das Burgtheater zur ersten
Bühne des deutschen Schauspiels zu machen. Vor Allem von einer dauern¬
den und nicht zu ermüdenden Arbeitskraft, sowohl auf der Bühne, als gegen¬
über den Dichtern. Er las fast jedes eingesandte Stück selbst, zuweilen in
schlaflosen Stunden der Nacht, wenn die Tagesarbeit ihm nicht Zeit ließ.
Er führte die ganze Correspondenz mit den Schriftstellern, machte Vorschläge,
strich und richtete ein mit beharrlichem Eifer und mit schöner jugendlicher
Freude an dem Gelingen. Er trotzte auch der Beschränktheit seines Publi-
cums; hatte er ein Stück, einen gewordenen Darsteller als tüchtig im Kern
erkannt, so setzte er das Stück trotz leerer Häuser doch wieder an, und hielt
den Künstler trotz aller Angriffe doch obenauf in geeigneten Rollen, bis sich
das Publicum in das unschmackhafte Schöne der Stücke gefunden, und bis
der Schauspieler die störenden Mängel abgeschliffen hatte. Daß Laube sich
zuweilen täuschte, war natürlich, in der Regel aber behielt er Recht gegen den
Hof, die Kritik und das Publicum.
Natürlich bereitete ihm seine Leitung auch Feindschaft unter den älteren
Schauspielern, die sich zurückgesetzt fühlten, unter den schwachen und anspruchs¬
vollen Schriftstellern, die größere Begünstigung verlangten; die Einen warfen
ihm zu große Gefügigkeit nach oben vor. Andere herbe und rauhe Worte.
Aber jedes Theater ist ein despotisches Institut; es kann nur gedeihen, wenn
ein einheitlicher Wille, kurz entschlossen, sich Achtung und Gehorsam erzwingt.
Wer die ganze Fülle der Autorität bei einem Theater in sich vereinigt, dem
kommt, wie Künstlernatur ist, der unterwürfige Wille der Schauspieler viel
mehr entgegen, und wenn er wirklich etwas von dem Handwerk versteht,
wird ihm die Tageseinwirkung auch in den schonendsten Formen weit leichter.
Laube war von vornherein in einer kriegerischen Stellung; er mußte impo-
niren und Fügsamkeit erzwingen, in Wahrheit ahne die volle gesetzliche
Autorität zu haben, welche für gleichmäßige Leitung nothwendig ist. Nach
einigen Jahren erkannten die Wiener den Werth seiner gescheidten und rühr-
samen Arbeit; der Theaterbesuch stieg, auch das Ansehen der Bühne in
Deutschland wuchs, er selbst wurde der Stadt eine Autorität in allen Theater¬
sachen, und was die Hauptsache war, die Schauspieler arbeiteten — wenige
ältere Separatisten ausgenommen — mit Vertrauen und Hingabe unter
seiner Führung. -
Mitten in der gedeihlichsten Thätigkeit wurde Laube veranlaßt, seine
Leitung des Burgtheaters aufzugeben. Wahrscheinlich hatte seine Führung
in 18 bewegten Jahren den Höflingen nicht selten Anstoß gegeben. Man
ist in Wien zu bequem und zu wenig arbeitslustig, um kleinlich zu sein, aber
man ist sehr hochmüthig und engherzig, die Hosstaffage fängt dort erst mit
dem Freiherrn an. der Vollmensch erst mit der Durchlaucht vom alten Reichs-
adel, und es gilt als eine besondere Concession an die Zeit, wenn davon in
der Noth Ausnahmen gemacht werden. Die Oberhofchargen, welche bis
dahin das Burgtheater nach oben repräsentirt hatten, waren nur durch ge-
legentliche Einmischung lästig geworden, und Laube scheint durch eine kluge
Verbindung von Fügsamkeit und Energie im Ganzen wohl mit ihnen fertig
geworden zu sein. Jetzt beschloß man bei Hofe etwas, was dort als eine
fast demokratische Aenderung erschien: der neue Chef des Instituts, welches
für die öffentliche Meinung Wiens eine so große Bedeutung gewonnen hatte,
sollte selbst eine Concession an die fortschreitende Zeit sein, ein Mann, der
nicht nur die Qualifikation eines Hofdieners hatte, sondern auch eigene geistige
Bedeutung, und doch als Mann von Familie und geborner Oestreicher die
wünschenswerthen Sicherheiten gab. Der Freiherr Münch-Bellinghausen, selbst
namhafter dramatischer Dichter, wurde zum Vorgesetzten Laube's ernannt.
Natürlich wollte Baron Münch selbst das Detail regieren, und die abhängige
Stellung wurde für das Selbstgefühl Laube's mit Recht unerträglich. So
schied er ungern aus seiner Thätigkeit, die ihm sehr lieb geworden war, und
aus einem Kreise von Künstlern, die er zum großen Theil gefördert und ge.
formt hatte und die mit warmer Verehrung an ihm hingen.
Näheres möge man in dem angezeigten Buche nachlesen. Es enthält
eine kurze Geschichte des Burgtheaters vor Laube's Direktion, dann nach
Jahren geordnet eine Uebersicht über seine Thätigkeit, zahlreiche Charakteri¬
stiken von Schriftstellern und ihren Werken und von den darstellenden Künst-
sern der Hofbühne. Die Abschnitte desselben sind zuerst als Journalartikel ge.
lchrieben, sie verleugnen in Ton und Farbe diesen Ursprung nicht, und man
ersehnt bei der Zusammenfügung in ein größeres Werk zuweilen breitere
Ausführung, welche genaueren Einblick in seine eigene Arbeit, in seine Aende¬
rungen bei Zurichtung der Stücke und die Grundsätze derselben so wie in das
Detail der Ausführung bei hervorragenden Rollen seiner Schauspieler gewährte.
Aber wie das Buch vor uns liegt, ist es ein sehr unterhaltendes und auch
lehrreiches Werk, mit der unverwüstlichen Frische und Offenheit geschrieben,
welche dem Verfasser von jeher eigen waren. Der beste Eindruck desselben
aber ist, daß man aus ihm erfährt, wie ein ganzer Mann mit größter Hin¬
gabe und Pflichttreue seinem erwählten Berufe gelebt hat.
Leipzig hat Ursache, sich zu der Veränderung Glück zu wünschen, welche
dem erfahrenen Dichter möglich machte, die Leitung des hiesigen Stadttheaters
zu übernehmen. In diesen Tagen hat Laube die Direction unter günstigen
Auspicken übernommen. Möge ihm hier Freude und Lohn werden und
der deutschen Bühne seine Thätigkeit auf lange zum Heil sein!
Regierung und Stände halten es bei uns noch immer für ihre Aufgabe,
den praktischen Beweis zu führen, daß Mecklenburg auf seine Eigenthümlich¬
keit als Feudalstaat nicht zu verzichten brauche, um seinen Bundespflichten
zu genügen. Man nimmt die neuen Gesetze und Einrichtungen in sich auf
und trifft die nothwendigen Anstalten zu ihrer Ausführung; aber man ändert
an dem Gefüge des Staates auch nicht mehr als das Unerläßliche und er¬
wartet in dem glücklichen Wahn, damit aller Verantwortlichkeit überhoben
zu sein, wie es dem Neuen gelingen werde, sich mit dem Alten zu vertragen.
Daß es ganz entgegengesetzte staatliche Lebensbedingungen sind, welche auf
mecklenburgischem Boden ihre Ausgleichung suchen sollen, daß es ein logischer
und thatsächlicher Widerspruch ist, den modernen Geist des Bundes mit dem
mittelalterlichen Geist der mecklenburgischen Staatseinrichtungen in Ver¬
bindung zu bringen, und daß das so geschaffene Zwitterwesen dem Unter¬
gange entgegentreiben muß, diese Sorge beunruhigt die Personen nicht,
welche in der Regierung und in der ständischen Vertretung über die Ge¬
schicke des Staates zur Zeit verfügen. Sie wollen vor Allem von den alt¬
gewohnten, ihnen selbst und ihren Parteigenossen nutzbringenden feudalen
Einrichtungen und Zuständen das irgend Mögliche retten, und halten sich
für große Künstler, wenn sie den Staat Mecklenburg in den Stand bringen,
daß er allen Geboten der Bundespflicht äußerlich nachkommt und doch von
seinem alten Wesen nichts einbüßt. Sie stellen dem Bunde die Soldaten,
auf welche er Anspruch macht, sie erheben die Zölle und Steuern, welche
seine Gesetze vorschreiben, sie zahlen den Matricularbeitrag, welcher durch
die Kopfzahl der Bevölkerung bedingt wird, sie bringen die Gesetze über Zug¬
freiheit, Gewerbefreiheit, Eheschließungsfreiheit und jede sonstige Freiheit zur
Anwendung, aber sie lassen Alles, was von den Forderungen des Bundes
nicht unmittelbar berührt wird, bei Bestand und glauben Wunder, wie groß
die Staatskunst ist, welche zugleich dem Landesgrundgesetzlichen Erbvergleich
von 1756 und der Bundesverfassung von 1867 gerecht wird.
Freilich wird die Aufgabe, zwischen zwei verschiedenen Staatsprincipien
das Gleichgewicht aufrecht zu erhalten, immer schwieriger, je weiter und
tiefer die vom Bunde ausgehende Einwirkung in das Leben des alten Feudal¬
staats dringt, und zugleich wird bei der Annahme und Aneignung der
Bundesgesetze auf Seiten der Feudalen ein immer höherer Grad der Ver¬
leugnung ihrer politischen Grundsätze gefordert. Scheint auch das Letztere
dieser Partei nicht zu große Unbequemlichkeit zu bereiten und hat sie z. B.
mit wunderbarer Gelassenheit sich in das allgemeine Wahlrecht für die
Bundesvertretung gefügt, so scheinen die Feudalen doch schon jetzt von einer
Vorahnung ergriffen zu sein, daß der Zeitpunkt mit raschen Schritten heran¬
naht, wo das alte mecklenburgische Staatswesen von der vordringenden
Bundesgesetzgebung dergestalt durchlöchert sein wird, daß auch die entschieden¬
sten Anhänger desselben es nicht mehr aufrecht zu erhalten vermögen.
Daß sich das Vertrauen in die Zukunft des Feudalstaats nur noch auf
einen kleinen Kreis beschränkt, ersieht man aus dem geringen Werth, welchen,
wie der schwache Besuch des letzten Landtags beweist, die Vertreter selbst auf
dessen Verhandlungen legen. Von ungefähr 700 zur Theilnahme an den
Landtagsverhandlungen berechtigten Rittergutsbesitzern waren selten mehr als
L0 anwesend und während der letzten Wochen sank diese Zahl sogar bis auf
23 herab. Außer einigen wenigen Freiwilligen, dem Herrn Pogge-Pölitz
und seinen Brüdern, welche als die früheren Führer der liberalen Partei in
der Ritterschaft jetzt fast nur noch in ihrer Person diese Partei auf Land¬
tagen repräsentiren, waren es fast nur diejenigen adeligen Ritter, welche
durch ihr ständisches Amt zur Theilnahme an der Landtagsversammlung ver¬
pflichtet sind und außerdem durch Diäten und Reisegelder für die Erfüllung
dieser Pflicht eine sehr ausreichende Entschädigung empfangen: die acht
Landräthe und drei Vice-Landmarschälle, die drei ritterschaftlichen Deputirten
zum ständischen engeren Ausschusse, verschiedene ritterschaftliche Klosterbeamte
,u. f. w. In diesem Kerne der adeligen Ritterschaft verbindet sich eine sehr
entschiedene Abneigung gegen den norddeutschen Bund mit dem Bewußtsein,
sich in das Unvermeidliche einstweilen schicken zu müssen, um nicht noch mehr
zu verlieren. Nur darin herrscht innerhalb dieses Kreises noch ein kleiner
Unterschied, daß Einige es für gerathen halten, ihre Abneigung gegen den
Bund still in sich zu verschließen, während Andere mit ihrer feindseligen
Stimmung offen hervortreten. Zu jener vorsichtigeren Classe von Gegnern
gehören der Landrath Graf v. Bassewitz, Mitglied des Reichstags, und
der Kammerherr v. Oertzen auf Kotelow, welchen eine falsche Addition der
strelitzischen Regierungskanzlei auf einige Monate in der Herbstsession von
1867 zum Mitglied des Reichstags gemacht hatte; unter den offenen
Gegnern des norddeutschen Bundes ragen besonders hervor der Landrath
Josias v. Plüskow auf Cowalz. welcher im Jahre 1866 für die Ableh¬
nung des Bündnißvertrages mit Preußen stimmte und sich neuerdings
durch seine Theilnahme an der Welfenagitation in Hannover bekannt gemacht
hat, und der Landrath v. Oertzen auf Woltow, welcher als Mitglied des
constituirenden Reichstages dem Zustandekommen der Bundesverfassung seine
passive Assistenz lieh. Als er sich am 4. Januar in der Landtagsversamm-
lung um die Frage handelte, ob den Städten das Recht einzuräumen sei,
die Landbewohner, welche Mehl, Brod und Fleisch in die Städte einführten,
zur städtischen Gewerbesteuer heranzuziehen, äußerte sich Herr v. Plüskow
wie folgt: es handle sich bei dieser Frage darum, das Nothgewerbegesetz,
welches alle unsere Verhältnisse nach und nach durchlöchere, soviel als
möglich für Mecklenburg unwirksam zu machen. Er halte es für ein
Unglück, wenn das Gewerbe auf das Land hinausziehe und es müsse den
Ständen sehr daran gelegen sein, dasselbe möglichst auf die Städte zu beschränken.
Er sei deshalb für eine Erhöhung der Steuer der Landgewerbe durch die
Auferlegung einer städtischen Steuer, damit es dadurch dem Gewerbe un¬
möglich gemacht werde, auf dem Lande zu existiren. Fast noch stärker äußerte
sich bei derselben Gelegenheit der Landrath v. Oertzen: er halte sowohl
das Nothgewerbegesetz wie die ganze vom Bunde ausgehende Gesetzgebung
für ein Unglück Mecklenburgs, und erblicke die Ausgabe der Stände darin,
die Folgen der Bundesgesetzgebung sür das Land so viel als möglich zu para-
lysiren.
Verhältnißmäßig zahlreicher als die Ritter waren die Deputaten der
städtischen Magistrate, die sogenannte Landschaft, erschienen. Die Mitglieder
der Landschaft empfangen sämmtlich Diäten und Reisegelder, und zwar letztere
nach einer aus alter Zeit stammenden sehr einträglichen Berechnungsweise.
Erfahrungsmäßig verzichten sie nur ungern auf die Theilnahme am Landtage,
welche ihnen eine angenehme Erholung von den Strapazen der Verwaltung
der Stadtangelegenheiten darbietet, ihnen manche gesellige Unterhaltung und
Zerstreuung verschafft und keine irgendwie anstrengende Arbeit zumuthet..
Die Bürgermeister hatten sich daher auch diesmal fast vollzählig eingefunden,
und selbst gegen den Schluß des Landtages waren ungefähr zwei Dritttheile
der Berechtigten anwesend. Sie wußten auch diesmal wieder die verschieden¬
artigen Rücksichten, welche sie theils gegen die Regierung, theils gegen die
Ritter, als deren Patrimonialrichter oder Sachwalter sie vielfach fungiren,
theils gegen ihre eigenen Bürgerschaften zu nehmen haben, recht gut mit
einander zu vereinigen, und selbst in denjenigen Fragen, in welchen sie aus
Rücksicht auf ihre Bürgerschaften nicht unbedingt den Regierungsvorschlägen
zustimmen konnten, wußten sie es doch so einzurichten, daß wenigstens die
Hoffnung auf einen schließlichen Erfolg der Verhandlungen offen erhalten
blieb. Etwas mehr als gewöhnlich zeigten sich die Magistrate beflissen, den
Wünschen der Bürgerschaften Rechnung zu tragen, .und die Lcmdtagsdepu-
tirten aus ihrer Mitte in diesem Sinne zu instruiren. Einer derselben, der
Magistrat zu Parchim, fand sich sogar veranlaßt, den städtischen Deputirten,
Bürgermeister Sommer-Dierßen. abzuberufen, weil er bei seinen Ab¬
stimmungen die Jnstructionen seiner Committenten gänzlich unbeachtet ließ,
und es erschien eines Tages, vom Magistrate gesandt und durch Brief und
Siegel beglaubigt, ein neuer Parchim'scher Vertreter, der Senator Stege¬
mann, um das Recht der Stadt auf Sitz und Stimme auszuüben. In¬
dessen wollte es diesem, trotz des Documentes und des Stadtsiegels, nicht ge¬
lingen, sich in dieser Eigenschaft zur vollen Anerkennung zu bringen, da der
Bürgermeister Sommer hartnäckig den einmal eingenommenen Platz be¬
hauptete und vom Landtagsdirectorium bei der Ausübung der Stimmführung
geschützt wurde. Dem neuen Vertreter wurde nur ein Sitz, aber, so lange
der erstere dem von ihm behaupteten Rechte nicht entsagt haben würde, keine
Stimme zugestanden. Der Parchim'sche Magistrat ließ es an keinem Versuche
fehlen, seinem Abberufungsschreiben Nachachtung zu verschaffen. Er be¬
drohet? sein renitentes Mitglied mit einer Geldstrafe von 200 Thlr. für den
Fall, daß es nicht ungesäumt sich zurückziehen und die Heimreise antreten
würde, und kündigte ihm schließlich an, daß er die Hilfe des Gerichtes nach¬
zusuchen Willens sei. um seine Entfernung aus der Landtagsversammlung zu
bewirken. Der Bürgermeister Sommer ließ sich aber dadurch nicht irre
machen, er hielt an Sitz und Stimme fest und kehrte in seine Vaterstadt
erst zurück, als der Landtag geschlossen war.
Den Hauptgegenstand der Verhandlungendes Landtags bildete die Re¬
form des Steuermodus.
Das mecklenburgische Steuerwesen zerfällt, nach der Bestimmung und Be¬
handlung der erhobenen Steuern, in zwei getrennte Systeme: ein altes und
ein neueres. Die Steuern nach ven alten System werden dem Großherzog als
aversioneller Hilfsbeitrag zur Bestreitung gewisser, durch die Führung des
Landesregiments bedingter Kosten entrichtet, in erster Linie ruhet die Ver¬
pflichtung zur Bestreitung dieser Kosten auf den Einkünften aus dem Domanial-
besitz. Die zu diesem Systeme gehörigen Steuern, die sogenannte ordent¬
liche Contribution, bestehen im Domanium und in der Ritterschaft aus einer
nach festen Sätzen zu entrichtenden Hufensteuer, welche jedoch im Domanium
in neuerer Zeit auf eine Quote des Pachterbegriffes zurückgeführt ist, und
einer Nebensteuer, welche von denjenigen Personen erhoben wird, die von
der Hufensteuer nicht ergriffen werden. In den Domanial- und ritterschaft-
lichen Flecken liegt der städtische Steuermodus ganz oder theilweise zu
Grunde. In den Städten wurde neben der Grund-, Vieh- und Erwerb¬
steuer früher eine Handelssteuer, von der eingeführten Handelswaare nach
dem Werth, eine Mahlsteuer und eine Schlachtsteuer für die landesherrliche
Casse erhoben. Diese indirecten Steuern wurden jedoch in neuerer Zeit in
Fixsteuern umgewandelt: die Handelssteuer in eine Handelsclassensteuer,
welche von den Kaufleuten und handeltreibenden Handwerkern nach Mittel¬
sätzen entrichtet wird, die nach der Größe der Städte verschieden sind, die
indirecte Mahl- und Schlachtsteuer in eine Fixsteuer, welche nach gewissen,
im Verhältnisse zur Einwohnerzahl der Städte sich steigernden festen Sätzen
erhoben wird. Mit den Seestädten bestehen Separatverträge wegen der Zah¬
lung der ordentlichen Contribution. Gleichzeitig mit der gesetzlichen Fest¬
stellung der Handelsclassensteuer und der fixirren Mahl- und Schlachtsteuer,
am 1. Oct. 1863, wurde zur Ablösung der Landzölle und des größeren
Theiles der Handelssteuer, ein beide Großherzogrhümer, jedoch mit Ausschluß
des Strelitz'schen Fürstenthums Ratzeburg, umfassender Grenzzoll mit niedrigen
Sätzen (im Maximum 2»/^ Thlr. für den Centner) eingeführt, welcher zu¬
sammen mit der Handelsclassensteuer für den Großherzog von Mecklenburg-
Schwerin eine feste Jahreseinnahme von 200,000 Thlr. abwerfen sollte.
Ueberschüsse kamen im Verhältniß von 30 und 70 Procent zwischen der
landesherrlichen Casse und der Landes-Necepturcasse zur Theilung. Die Aus¬
künfte aus der gesammten ordentlichen Contribution stehen dem Großherzoge
zur Verfügung, ohne daß den Ständen eine Mitwirkung bei der Verwendung
oder eine Controle zusteht und ohne daß auch nur irgend eine Mittheilung
darüber an die Oeffentlichkeit tritt.
Neben diesem ordentlichen Steuersystem besteht seit dem Jahre 1809
ein außerordentliches Steuersystem, welches theils Stempel- und Erbschafts¬
steuern, theils die sogenannte außerordentliche Contribution zu seiner Ver¬
fügung hat und die Auskünfte hieraus in einer unter gemeinsamer landes¬
herrlich-ständischer Aufsicht stehenden Casse, der Landesreceptureasse, vereinigt.
Die Steuerarten der außerordentlichen Contribution bestehen aus einer sehr
bunten Mischung: Hufensteuer, Gewerbesteuer, Einkommensteuer, Zinsen¬
steuer ze. Die Casse wurde anfangs nur zur Abbürdung von Landesschulden
gegründet und sollte nach Erfüllung dieses Zweckes mit dem ganzen außer¬
ordentlichen Steuersystem wieder eingehen; es tauchten jedoch immer neue
Bedürfnisse auf, namentlich die Landeshilfen zu Chausseen und Wasserbauten,
später auch zu Eisenbahnen, und so hat sich denn dieses außerordentliche
Steuersystem neben dem ordentlichen fest eingebürgert. Ueber das Bedürf¬
niß wird jährlich ein Voranschlag vorgelegt und zwischen Regierung und
Ständen vereinbart und die Deckung findet, abgesehen von den Stempel-
und Erbschaftssteuer-Auskünften, durch Ausschreibung der entsprechenden An¬
zahl von Simplen der außerordentlichen Contribution statt. In den letzten
Jahren sind gewöhnlich 2 bis 2^ solcher Simplen erhoben werden, der Er¬
trag aus einem Simplum beträgt gegenwärtig ungefähr 130.000 Thlr. Der
Voranschlag der Einnahmen und Ausgaben und die ständische Mitwirkung
bei der Controle lassen diese Einrichtung als eine Art von partieller Einfüh¬
rung des Budgetsystems erscheinen.
Durch den Anschluß Mecklenburgs an den Bund und den Eintritt in
den Zollverein wurden die Grundlagen dieses Steuersystems und namentlich
der ordentlichen Contribution erschüttert. Bei dem hauptsächlichsten Theile
der städtischen Steuern zur ordentlichen Contribution, der Handelsclassen¬
steuer und der fixirten Mahl- und Schlachtsteuer, wurde eine Beschränkung
des Gewerbebetriebes auf die Städte vorausgesetzt, welche durch die neuen
Bundesgesetze aufgehoben war. Die Gewerbe der Kaufleute, Bäcker und
Schlächter können jetzt auch auf dem platten Lande betrieben werden und
die sehr erheblichen Beschränkungen, welchen die Einfuhr von Mühlenfabrikaten,
Brod und Fleisch in die Städte bisher unterworfen war, ließen sich der For¬
derung des freien Verkehrs gegenüber nicht länger aufrecht erhalten. Ange¬
sichts der Verbrauchssteuern des Zollvereins war die Heranziehung der
Brauer und Brenner zu Landessteuern von ihrem Betriebe nicht länger
ausführbar. Die Handelsclafsensteuer war unter der Voraussetzung eines
niedrigen Grenzzolls eingeführt worden; mit der Einführung des Zollvereins¬
tarifes wurde diese Voraussetzung hinfällig. Die Erwägung dieser Verände¬
rungen hatte schon dem Landtage von 1867 Veranlassung gegeben, eine Re¬
vision des Steuerwesens zu beantragen, und es waren, da auch die Regie¬
rung sich der Einsicht in die UnHaltbarkeit der bestehenden Steuereinrichtungen
nicht verschließen konnte, schon damals ständische Deputirte zur Vorberathung
mit landesherrlichen Commissarien erwählt, auch im Oetober 1868 nach
Schwerin berufen worden. Mit diesen wurde, wenn auch nur oberflächlich,
der Plan der Regierung durchsprachen und demnächst in Gestalt von „Grund¬
zügen eines Gesetzes, betreffend die Erhebung der dem Landesherrn zustehen¬
den ordentlichen Contribution und der Bedürfnisse der Landesrecepturcasse
nach einem einheitlichen Modus" vor den Landtag gebracht.
Die Landtagsproposition erklärte eine Revision der bestehenden inneren
Steuergesetzgebung „in Betracht der jetzigen Zeitverhältnisse, namentlich in
Berücksichtigung der durch den Zollverein überkommenen veränderten Be¬
steuerung und der größeren finanziellen Belastung des Landes durch die Be¬
ziehungen zum norddeutschen Bunde" für geboten. In ähnlicher Weise
wurde in einem großherzoglichen Rescripte vom 26. November die Revision
des Steuerwesens durch die Rücksicht auf die jetzigen Zeitverhältnisse und
die durch die Bundesgesetzgebung einer Umgestaltung entgegengeführten Ge¬
werbeverhältnisse, nebenbei auch durch den Wunsch einer endlichen Beseitigung
aller wirklichen und vermeintlichen Ungleichheiten in der Besteuerung, begrün¬
det. Der in seinen Grundzügen vorgelegte Plan ging im Wesentlichen auf
eine Zusammenfassung der verschiedenen Steuerarten in eine allgemeine Ein¬
kommensteuer. Aber in Erwägung, daß bei einer ausschließlichen Einkommen¬
steuer ein unverhältnißmäßig hoher Procentsatz erforderlich werde und daß
die Erhebung einer besonderen Grund- und Gewerbesteuer neben der Ein-
kommensteuer, das Bedenken einer doppelten Besteuerung der Grundbesitzer
und der Gewerbtreibenden gegen sich habe, hatte man in der Vorlage eine
allgemeine Einkommensteuer nach dem Muster der preußischen mit einer Be¬
steuerung der einzelnen Vermögens- und Erwerbsarten nach äußerlichen Merk¬
malen (Factorensteuer) in der Weise verbunden, daß die vollen Beträge der
letzteren Steuer, als Minimalsteuer erhoben, auf den Betrag der von den
Steuerpflichtigen zu erlegenden Einkommensteuer, falls diese im einzelnen
Falle einen höheren Betrag ergebe, in Abrechnung gebracht werden solle.
Die zu erhebenden Steuern sollten hiernach in folgende sieben Arten zer¬
fallen: 1) Grundsteuer, 2) Gewerbesteuer, 3) Besoldungssteuer, 4) Erwerb¬
steuer (von dem Erwerb aus der Ausübung wissenschaftlicher Kenntnisse und
künstlerischer Leistungen, sowie aus höheren Privatdienstverhältnissen), 3) Zinsen¬
steuer, 6) Lohnsteuer (für den Verdienst aus geringerer Lohnarbeit), 7) eine
allgemeine classificirte Einkommensteuer von jedem, den Jahresbetrag von
1S00 Thlr. übersteigenden Einkommen. Die Steuern unter Ur. 1 bis 6
sollten neben einander entrichtet werden; von der classificirten Einkommen¬
steuer sollte der Einkommensteuerpflichtige die nach Ur. 1 bis 6 zu zahlenden
Steuerbeträge in Abzug bringen. Die Voraussetzung dieses Steuerreform-
projects bildete die Annahme, daß der Betrag der ordentlichen Contribution,
soweit dieselbe nicht durch den jetzt bei dem Zollverein in Wegfall gekom¬
menen mecklenburgischen Grenzzoll repräsentirt wurde und unter Abrechnung
von 65,000 Thlrn., welche an der Steueraufkunft aus dem Domanium ge¬
kürzt werden sollten, ferner der Betrag der außerordentlichen Contribution
mittelst des neuen Modus aufzubringen sei. Der zu deckende Betrag an
ordentlicher Contribution wurde hiernach auf 383,000 Thlr. berechnet, der
Betrag an außerordentlicher Contribution, unter Annahme des bisherigen
Erfordernisses von 2 bis 2'/z Simplen im Jahr (ü, 130,000 Thlr.), auf
260.000 bis 325.000 Thlr. berechnet, der zu deckende Gesammtbetrag also
auf 615,000 bis 680.000 Thlr. Die Einnahme aus einem Simplum nach
dem projectirten neuen Modus glaubte man auf 360,000 bis 370,000 Thlr.
veranschlagen zu dürfen und demnach mit der Erhebung von 1^ bis 2
Simplen der neuen, sogenannten einheitlichen Steuer vollständig ausreichen
zu können. Die Einkommensteuer, welche bei der einfachen Erhebung zu
1^/2 Proc. angenommen war, würde sich bei der eindreiviertelfachen oder
zweifachen auf 2^ bis 3 Procent vom Einkommen stellen.
Es wäre wohl, dieser Vorlage gegenüber, vor Allem die Frage zu
erheben gewesen, wie es sich mit dem Rechtsansprüche des Großherzogs auf
die Forterhebung der ordentlichen Contribution und folglich mit der recht¬
lichen Begründung der landesherrlichen Forderung .von 355.000 Thlr. als
jährlicher Aversionalzahlung zur Ablösung der von dem Großherzoge erho¬
benen ordentlichen Contribution verhalte.
Nach den Bestimmungen des landesgrundgesetzlichen Erbvergleichs soll
die ordentliche Contribution dem Landesherrn als Beihilfe „zu Garnisons-,
Fortifications- und Legationskosten, zu Reichs- und Kreis-Deputations-Tagen",
also zur Bestreitung der Kosten des Reichsverbandes dienen. An die Stelle
des Reiches trat zuerst der deutsche, dann der norddeutsche Bund, an die
Stelle der Reichszwecke traten daher für die ordentliche Contribution die
Bundeszwecke. So weit nun die Beiträge für die Zwecke des norddeutschen
Bundes von der Bevölkerung in neuer Form, in der Form von Zöllen und
Verbrauchssteuern, erhoben werden und unmittelbar in die Bundeseasse
fließen, hat die Bevölkerung ohne Zweifel einen Rechtsanspruch darauf, daß
ihr diese neue Form der Zahlung für Bundeszwecke auf ihre bisherige Ver¬
pflichtung zur Zahlung der ordentlichen Contribution in Anrechnung gebracht
werde. Die durch die Zölle und Verbrauchssteuern dem Lande auferlegte
Steuerlast berechnet sich, nach Maßgabe des für das Jahr 1868 angesetzten
Aversums auf 956,000 Thlr. Die bisher gezahlte ordentliche Contribution
lieferte, nach der Regierungsvorlage, eine Jahreseinkunft von 420,300 Thlr.,
wovon 188.500 Thlr. auf das Domanium, 103,300 Thlr. auf die Ritterschaft,
113.663 Thlr. auf die Landstädte, 10,130 Thlr. auf Rostock und 2707 Thlr.
auf Wismar fallen. Dazu kommt noch die durchschnittliche Aufbringung an
mecklenburgischem Grenzzoll mit 278,000 Thlr. Brutto, was an bisheriger
ordentlicher Contribution im Ganzen einen Betrag von 698,300 Thlr. er¬
gibt. Die Belastung der Bevölkerung durch die neuen Zölle und Verbrauchs¬
steuern ergibt also ein Mehr gegen die frühere Leistung an ordentlicher
Contribution von 257,700 Thlr. Letztere ist also durch erstere nicht nur
im einfachen, fondern in mehr als dem einundeindrittelfachen Betrage bereits
abgelöst. Wird nun jetzt noch die Fortzahlung der ordentlichen Contribution
oder deren Ablösung durch eine jährliche Zahlung von 355,000 Thlr. an die
landesherrliche Casse beansprucht, so heißt dies mit andern Worten: von
der Bevölkerung die Zahlung von 1,311,000 Thlr. verlangen, wo dieselbe
bisher nur 698,300 zu zahlen rechtlich verpflichtet war, also eine Steigerung
der Leistung um 87^ Procent.
Von Seiten der Regierung war begreiflich das Recht auf Forterhebung
der ordentlichen Contribution als selbstverständlich angesehen worden und
die Vorlage sprach daher von derselben als einer dem Großherzoge „zustän¬
digen". An den Ständen wäre es nun gewesen, die Frage, wie weit diese
frühere „Zuständigkeit" durch die mit der Bundesverfassung und dem Zoll-
verein eingetretenen neuen Verhältnisse rechtlich alterirt worden sei, einer
strengen Prüfung zu unterziehen. Aber die Rechtsfrage blieb auch von dieser
Seite unberührt: man begnügte sich, das Bedürfniß der landesherrlichen
Casse ins Auge zu fassen.
Dies geschah aber in der denkbar oberflächlichsten Weise. Die Regierung
legte einige Ziffern vor, welche eine Zusammenstellung der aus dem Eintritt
Mecklenburgs in den Bund und in den Zollverein der landesherrlichen Casse
erwachsenen Erleichterungen und neuen Belastungen geben und dadurch die
Unentbehrlichkeit der Forterhebung des Hilfsbeitrages in der Höhe von
355,000 Thlr. darthun sollten. Zwar mußte die Regierung selbst ein Plus
von 57,000 Thlr. zugestehen, um welches nach dieser ihrer eigenen Berech¬
nung die neuen Belastungen der landesherrlichen Casse durch die ihr zu Theil
gewordenen Erleichterungen überwogen wurden; aber sie wies auf die demnächst
bevorstehende Steigerung des an die Bundescasfe zu zahlenden Matricular-
beitrags und auf verschiedene sonstige Einbußen hin, welche jenen Vortheil
bald wieder verschlingen würden und daher eine Abminderung der landesherr¬
lichen Einnahme aus der Contribution nicht zulässig erscheinen ließen. Die
Mitglieder der Commission wußten dem Landtage über diese Angelegenheit
nichts weiter zu berichten, als daß durch die vorgelegten Ziffern anscheinend
das Bedürfniß hinlänglich constatirt werde. Eine Prüfung der Ziffern
unterblieb gänzlich, obwohl dieselben zum Theil schon eine Vergleichung mit
allgemein bekannten Thatsachen nicht aushielten. So hatte die Zusammen¬
stellung den Matricularbeitrag Mecklenburg-Schwerins für das Jahr 1868
zu 400,000 Thlr. angegeben, obgleich der Bundeshaushalts-Etat denselben
nur zu 366,000 Thlr. bestimmt. Bei den übrigen Positionen erhellt nicht
einmal, ob dieselben den Durchschnittsbetrag oder den Betrag eines einzelnen
Jahres angeben. Ueber die Gesammteinnahmen der landesherrlichen Casse
und deren Verwendung vermochte die Commission nichts mitzutheilen. Daß
das Domanialvermögen, welches einen Capitalwerth von nahezu 100 Millio¬
nen Thalern darstellt, durch die in der Ausführung begriffene Maßregel
der Vererbpachtung von 4000 Bauergehöften sich um einen Capitalwerth zu
steigern verspricht, welcher in den Kreisen der Domanialbeamten selbst auf
9 Millionen Thaler veranschlagt wird, sich in Wirklichkeit aber noch weit
höher belaufen wird, und daß dazu noch eine gleichfalls Millionen an
Capitalwerth betragende Ersparung an Verwaltungskosten hinzutreten wird,
kam in der Verhandlung eben so wenig zur Erwähnung als die Eventualität
einer sonstigen Vermehrung der landesherrlichen Einnahmen z. B. aus dem Er¬
trage der landesherrlichen Eisenbahnen, oder einer Ersparung in den Ausgaben.
Das Bedürfniß wurde in der Höhe von 355.000 Thlr. von beiden Ständen
anerkannt und zwar als ein bleibendes, und nur so weit glaubte man diese
Anerkennung einschränken zu müssen, daß man für den Fall einer Steigerung
des Matricularbeitrages über den Betrag von 600,000 Thlr. oder einer
Abminderung desselben unter den Betrag von 200.000 Thlr. eine neue Ver¬
einbarung über die Höhe der Aversionalzahlung vorbehielt. Man statuirte
hiernach ein Bedürfniß der landesherrlichen Casse von 366.000 Thlr., gleich¬
viel, ob die Ausgaben derselben an Matricularbeitrag 400,000 Thlr. mehr
oder weniger betragen, Bei so geringem Aufwands von Mühe in der Er-
gründung des Bedürfnisses wird man sich nicht wundern, wenn andrerseits
auch die Frage unerörtert blieb, ob denn auch die Bevölkerung im Stande
sein werde, neben der Aufbringung an Zöllen und Verbrauchssteuern für
die Bundescasse noch die Mittel zur Deckung jenes angeblichen Bedürfnisses
zu erschwingen und dadurch die bisherige Zahlung an ordentlicher Contri-
bution von 698,300 Thlr. auf 1,311,000 Thlr. oder um 87^ Procent zu
steigern. Ein naives Zeugniß sür die Art der Behandlung der Bedürfni߬
frage stellte später die Landschaft sich selbst aus, indem sie den Vorbehalt
hinzuzufügen für dienlich hielt, daß die Anerkennung des Bedürfnisses nur
unter der Voraussetzung erfolgt sei, daß man sich über den Ausbringungs¬
modus einigen werde.
Der Hauptgrund, weshalb die Stände es vermieden, tiefer in die Be¬
dürfnißfrage einzugehen, lag ohne Zweifel darin, daß sie fürchteten, dadurch
auf den bedenklichen Weg zum constitutionellen Staat zu gerathen. Das
Verlangen nach einem Budgetsystem war bereits in mehreren Bürgervertre¬
tungen (Rostock, Parchim, Güstrow) wiederholt laut geworden und in Form
von Jnstructionen den Landtagsdeputirten mitgegeben worden. Auch der
im December gegründete mecklenburgische Handelsverein war mit einer dahin
gehenden Petition an den Landtag gegangen. Aber in den Plenarver-
sammlungen des Landtags kam diese Frage gar nicht zur Verhandlung,
in einer Versammlung der Landschaft wurde der Antrag auf Ein¬
führung des Budgetsystems mit 24 gegen 7 Stimmen und in einer Ver¬
sammlung der Ritterschaft ohne Abstimmung zurückgewiesen. Es sei Schade
um die schöne Dinte — bemerkte in letzterer Herr Ulrich von Dewitz auf
Groß-Miltzow — welche auf den Antrag verwendet worden sei. Ließe man sich
auf das Budgetsystem ein, so würde es den Ständen ergehen, wie den Vor¬
eltern im Paradiese, mit flammendem Schwerte würden sie aus dem Heilig-
thume der ehrwürdigen Verfassung vertrieben werden. — Die Unvereinbar¬
keit der feudalen Verfassung mit dem Budgetsystem ist unbestreitbar, und da
den Ständen daran liegt, die alte Verfassung zu erhalten, so sträuben sie
sich gegen eine Neuerung, welche unmittelbar zum Untergange der jetzigen
Vertretung führen müßte. Auch vielen Privatinteressen liegt an der Erhal¬
tung einer Einrichtung, bei welcher der Landesherr gleichsam in der Stellung
eines Unternehmers der Staatsanstalt erscheint und gegen eine vereinbarte
jährliche Abfindung für eigene Rechnung und auf eigene Gefahr die Leitung
der Staatsgeschäfte besorgt.
So verblieb man also durch erneuerte Sanctionirung des Systems der
Aversionszahlungen auf dem Boden der alten Verfassung. Wegen des Aufbrin-
gungsmodus entstanden aber zwischen Ritter- und Landschaft so große Diffe¬
renzen, daß der Versuch einer Ausgleichung und damit die Erledigung der
ganzen Vorlage bis zum nächsten Landtage verschoben werden mußte.
Die Regierung hatte bereits vorausgesehen, daß selbst für den Fall,
daß die Einigung über die Grundzüge der neuen Steuerordnung gelingen
würde, doch noch bis zur Ausführung eine geraume Zeit verfließen werde
und daß auf ein Jnterimisticum Bedacht zu nehmen sei, welches die unhalt¬
baren Theile der ordentlichen Contribution, die Handelsclassensteuer und die
Mahl- und Schlachtsteuer so weit modificirte, daß sie sich noch für einige
Zeit aufrecht erhalten ließen. Sie hatte einen solchen Ausweg um so mehr
aufsuchen müssen, als es ihr im Laufe der Zeit klar geworden war, daß
sich ihre anfängliche Absicht, die bestehenden Beschränkungen hinsichtlich der
Einfuhr von Mühlenfabrikaten, Brod und Fleisch in die Städte aufrecht
zu erhalten, dem Artikel 33 der Bundesverfassung und dem Artikel 8
des Zollvereins-Vertrages gegenüber nicht rechtfertigen ließe, daß vielmehr
eine vollständige Freigebung dieses Imports unvermeidlich sei. Während sie
denn auch wirklich einen Antrag dieser Art an den Landtag richtete, glaubte
sie dem städtischen Interesse eine genügende Concession zu machen, indem sie
sich bereit erklärte, für das nächste Jahr auf den dritten Theil der Handels¬
classen- und der Mahl- und Schlachtsteuer unter der Voraussetzung zu ver¬
zichten, daß die auf dem Lande sich niederlassenden Krämer, Bäcker und
Schlachter in entsprechender Weise zur ordentlichen Contribution herangezogen
würden.
Die Landschaft hatte sich früher, in einer Anwandlung von gehobenem
Selbstbewußtsein, mit sehr starken Worten gegen die fernere Zulässigkeit
der genannten Steuern ausgesprochen. Auf einem landschaftlichen Convent
zu Güstrow am 14. Aug. 1868 wurde mit 33 gegen 1 Stimme beschlossen,
eine Eingabe in dieser Angelegenheit an beide Großherzoge zu richten und
dieselbe durch eine Deputation überreichen zu lassen. In dieser Eingabe
heißt es: „Diese Steuern (die Handelsclassen-, Mahl- und Schlachtsteuer)
basiren wesentlich auf den paciscirren Rechten des exclusiver Nahrungs¬
betriebes. Durch das Bundesgesetz vom 8. v. M., betreffend den Betrieb
der stehenden Gewerbe, sind diese Vorrechte den Städten allgemein entzogen
und ist hiervon der Wegfall der correspondirenden Pflichten nur eine Selbst¬
folge. Die Forterhebung der gedachten Steuern würde das in Mecklenburg
bisher stets hochgehaltene allgemeine Rechtsbewußtsein aufs Aeußerste
verletzen und die Behörden in die bis jetzt nicht gekannte Lage bringen,
gegen dasselbe nöthigenfalls mit Zwangsmaßregeln vorzugehen."
Indessen ließ sich die Landschaft, deren Deputation bereits bedeutet
worden war, daß diese Rechtsanschauung höchsten Ortes keinen Anklang finde,
auf dem Landtage gar bald eines Anderen belehren. Von ihrem Rechts¬
standpunkte herabtretend bot sie dem Großherzog SO Proc. des letztjährigen
Ertrages der genannten Steuern (nach Abrechnung der schon hinweggefalle¬
nen Quote der Brau- und der Mahlsteuer) unter der Voraussetzung der Be¬
steuerung der betreffenden ländlichen Betriebe an. Nach einigem Sträuben
der Regierung wurde auf Grund dieser Vorschläge die Einigung erzielt.
Nicht minder leicht wickelte sich eine andere Differenz ab. Auf Grund
einer Vereinbarung der mecklenburgischen Staatsregierungen mit dem Zoll¬
bundesrath war im der Vollziehung des Anschlusses Mecklenburgs an den
Zollverein eine Nachverzollung angeordnet worden, deren Nettoertrag zur
Hälfte in die landesherrliche Casse fließen und als Entschädigung für den
mit dem Eintritt in den Zollverein wegfallenden Transitzoll auf der Berlin-
Hamburger Eisenbahn dienen sollte. Die Verordnung litt an zahlreichen
Härten, und erregte dadurch, namentlich im Handelsstande große Unzufrieden¬
heit. Die anhaltende Bestürmung des Großherzogs und des Finanzministers
mit Petitionen und Deputationen rief endlich das Versprechen hervor, daß
den Benachteiligten, soweit nicht der großherzoglichen Regierung in dieser
Beziehung die Hände gebunden seien, eine Entschädigung gewährt werden
solle. Zum Entschädigungsfond wurde die Hälfte der großherzoglichen Ein¬
nahme aus der Nachsteuer bestimmt, und, als die Besorgniß entstand, daß
dies nicht ausreichen möchte, um alle berechtigten Reclamattonen zu befrie¬
digen, noch ein Theil des auf 780,000 Thlr. sich belaufenden Restes der alten
Zollcasse, falls dieser Rest dem Antrage gemäß dem Großherzog zur Ver¬
fügung gestellt würde. In dieser Gestalt kam die Sache vor den Landtag
mit der Aufforderung, daß die Stände durch Deputirte bei der Feststellung
der Entschädigung mitwirken möchten. Die Stände wiesen anfangs diese
Vorschläge entschieden zurück und machten den Versuch, die Rechtsgiltigkeit
der Nachsteuerverordnung anzufechten. Die Landschaft erklärte sogar den
Vertrag vom 23. Juli 1868 mit dem Zollbundesrath wegen der Nachver¬
zollung nicht für zu Recht bestehend, und wollte ihr ferneres Verhalten in
dieser Angelegenheit von dem Resultat einer Verhandlung über die Höhe der
zu gewährenden Entschädigung abhängig machen. Als aber ein großherzog¬
liches Rescript den Ständen vorhielt, daß nothwendige Ausführungsver¬
ordnungen nicht von ihrer Zustimmung abhängig gemacht werden könnten
und daß eine rasche Erledigung sich um so mehr empfehle, als der Gro߬
herzog dem Bunde gegenüber nicht in der Lage sei, die Beitreibung der
Nachsteuerbeträge in eine ungewisse Zukunft zu verschieben, lenkten sie rasch
ein und erklärten sich mit allen Regierungsvorschlägen einverstanden. Die.
Regierung hatte außerdem noch die Einleitung einer neuen Verhand¬
lung mit dem Bundesrath des Zollvereins in Aussicht gestellt, wobei je¬
doch zur Vermeidung von Mißverständnissen bemerkt wurde, daß damit selbst¬
verständlich nicht beabsichtigt werde, das ganze Abkommen vom 23. Juli
1868 zum Gegenstande erneuerter Verhandlungen zu machen, sondern daß sich
dieselben wesentlich auf die Einwirkung größerer Freiheit bei der Leistung von
Entschädigungen und auf die Herabsetzung einiger Tarifpositionen zu be¬
schränken haben würden.
Als ein weiterer Gegenstand finanzieller Natur, welcher den Landtag
beschäftigte, mag noch kurz eine Forderung des Großherzogs von 200.000 Thlr.
als Beihilfe zu dem von ihm übernommenen Bau einer Verbindungsbahn
zwischen der mecklenburgischen Eisenbahn und Lübeck erwähnt werden. Die
Beihilfe sollte, wie bei der Fnedrich-Franz-Bahn, zu welcher die Stände
einen Zuschuß von 800,000 Thlr. bewilligten, wieder die Form eines reinen
Geschenks haben, ohne Anspruch auf Dividende und Amortisation. Der
Unterschied war nur der, daß damals die Forderung noch vor Beginn des
Baues gemacht wurde, das Zustandekommen daher von der Bewilligung ab¬
hängen konnte, während der Bau der Bahn auf Lübeck längst begonnen
und seiner Vollendung bereits nahe ist. Die Stände lehnten diesmal die
Gewährung der Beihilfe ab, und beschlossen, die bedrängte und ungewisse
Lage der finanziellen Verhältnisse des Landes als Grund der Ablehnung auf¬
zuführen. Vielleicht wirkte bei der Ablehnung auch der Gedanke mit, daß,
wer allein die Früchte eines Unternehmens ernten wolle, auch allein die
Kosten tragen könne, und daß es überhaupt seine Bedenken haben möge,
wenn der Landesfürst seine Capitalien in großartigen Eisenbahnunterneh¬
mungen anlege, welche der ständischen Controle gänzlich entzogen sind und
noch außerdem durch den beabsichtigten Ankauf der mecklenburgischen Eisenbahn
für Rechnung der landesherrlichen Casse einen weiteren Umfang zugewinnen
streben. Die Regierung schöpfte aus dem Ablehnungsgrunde den Anlaß, eine
Erneuerung ihres Antrages zu gelegenerer Zeit in Aussicht zu stellen.
Eine Vorlage wegen einer Reform der Armengesetzgebung, welche sich
gleichfalls auf gewisse Grundzüge beschränkte, gelangte in der Hauptsache,
nämlich in Betreff der beabsichtigten Bildung von Armenverbänden, wegen
des Widerstrebens der Ritterschaft nicht zur Annahme. Dagegen kam es zur
Einigung wegen einer neuen Regelung des Schulwesens im Ritterschaftlichen
und in den städtischen Gütern. Die neue Ordnung, obgleich sie in einigen
Punkten Anerkennung verdient und einen Fortschritt von dem bisherigen Zu-
stände bezeichnet, läßt aber das Schulpatronat der Rittergutsbesitzer bestehen
und behält daher eine Einrichtung bei, welche der kräftigen Ausführung ihrer
Vorschriften fortwährende Hindernisse droht.
Trotz der langen Dauer des Landtags — vom 13. November 1868 bis
zum 9. Januar 1869 —-, hat derselbe doch nur höchst geringe Ergebnisse aufzu¬
weisen. Die Lösung seiner Hauptaufgabe, die Reform des Steuerwesens, ist,
ohne Hoffnung auf Gelingen, der Zukunft überlassen geblieben und inzwischen
ein Jnterimisticum der Steuereinrichtungen geschaffen worden, welches die
Unverträglichkeit derselben mit dem Zollvereinssteuerwesen nur verhüllt, nicht
beseitigt. Nur das Eine mag an diesen Verhandlungen tröstlich erscheinen,
daß sie es von Neuem der Bevölkerung klar vorführen, wie ein Staat mit
solcher Vertretung und solcher Verfassung den Verpflichtungen nicht mehr ge¬
wachsen ist, welche er nach Außen und gegen sich selbst zu erfüllen hat, und
daß daher durch diesen Landtag ein neues starkes Zeugniß für die Noth¬
wendigkeit und Dringlichkeit einer Verfassungsreform abgelegt worden ist.
Zu den Lieblingsgegenständen der modernen russischen Geschichtsforschung
gehört der Pugatschew'sche Aufstand. Allein im verflossenen Jahre ist eine
ganze Reihe von Monographien über den kühnen Kosakenhäuptling erschienen;
bald werden die Verhältnisse geschildert, unter denen er aufgewachsen, bald
werden die einzelnen hervorragenden Persönlichkeiten seiner Umgebung charak-
terisirt, oder Nachweise dafür gesammelt, daß er nur der Nachfolger einer
langen Reihe russischer nationaler Rebellen*) gewesen, die sich keineswegs mit
ihm schloß, sondern durch das gesammte Jahrhundert der westeuropäischen
Fremdherrschaft ihr Wesen trieb und die nothwendige Reaction gegen die
Mißhandlung der nationalen Traditionen und ihrer Vertreter, der unteren
Volksschichten, bildete. Wie ein rother Faden zieht sich durch all' diese histo¬
rischen und culturgeschichtlichen Arbeiten die Tendenz, die Bedeutung dieses
von der officiellen Historiographie für das Resultat eines Betruges aus¬
gegebenen Aufstandes zu erweitern, aus der Emeute eine nationale, innerlich
berechtigte Revolution des Volksbewußtseins gegen die westlichen Cultur¬
einflüsse zu machen.
Und in der That wohnt diesem Gedanken, unbeschadet der Ausschreitungen
und Unwahrheiten, zu denen er geführt, ein gewisses Recht inne.. Bis zu
welchem Grade die Gleichgültigkeit der russischen Staatskunst des 18. Jahr¬
hunderts gegen die inneren Zustände des Reichs und das Wohl und Wehe
seiner Bewohner ausgeartet war, in wie krankhafter Weise alle Gedanken
der leitenden Staatsmänner sich auf die auswärtige Politik und die Er¬
weiterung der russischen Grenzen concentrirten — das hat man in Rußland
selbst noch vor zehn Jahren nicht gewußt und ist erst durch die neueren
russischen Geschichtsforscher, denen die Archive in ziemlich liberaler Weise ge¬
öffnet wurden und die ihr Augenmerk zum ersten Male wieder auf die Volks¬
geschichte richteten, ans Licht gezogen worden. Gerade der Pugatschew'sche
Aufstand liefert die schlagendsten Beweise dafür, daß die Regierung selbst in
den vielgepriesenen Zeiten Katharina's II. keine Ahnung von den wirth¬
schaftlichen und geistigen Bedürfnissen des Volks hatte. Obgleich auf der Hand
lag, daß dieser Aufstand niemals die Bedeutung erlangt hätte, zu der er gewachsen,
wenn er nicht an den niederen Volksclassen mächtige Verbündete gehabt, ge¬
schah nicht das Mindeste, um die Wunden zu heilen, an denen das Volk
krankte, weder wurde die Lage des leibeigenen Bauernstandes gebessert, noch
die wahnsinnige Strenge gemildert, mit der die herrschende Kirche die alt¬
gläubigen Secten verfolgte, und gerade dadurch in den Augen des Volks
verklärte. Der Sieg der Regierung über diese Revolution, welche den Staat
in seinen Grundfesten erschüttert hatte, wurde vielmehr in blinder Thorheit
dazu ausgebeutet, das auf den Leibeigenen ruhende Joch zu Gunsten der
Gutsbesitzer zu erschweren und die argwöhnische Strenge der Gesetze über
die Sectirer zu verdoppeln.
Wie unfähig die Negierung der „aufgeklärten" Katharina gewesen, die
russischen Volksbedürfnisse und damit das Wesen des Pugatschew'schen Auf¬
standes auch nur richtig zu verstehen, geschweige denn zu behandeln, wie ver¬
kommen der gesammte russische Regierungsmechanismus jener Zeit war. das
hat neuerdings D. L. Mordawzew, der Verfasser der zu einem starken Bande
angewachsenen Abhandlung: „Die russischen Staatsmänner des vorigen Jahr¬
hunderts und Pugatschew" (I^ooicis roov^xo'iMiiiii.iiz ^Ä'rsFll iixoni^aro
n H^iMsiZi,, abgedruckt in Krayewski's OröMoio. Mimomi, 1868, Bd.
8, 9 und 10) mit entsetzlicher Klarheit und unerbittlicher Schärfe dargethan.
Mordawzew hatte sich schon früher durch verschiedene Monographien über
Pugatschew und seine Zeit, namentlich durch die Schrift: „Jwanow, ein
Obrist P.'s", vortheilhaft bekannt gemacht. Seine neueste Schrift ist dadurch
besonders interessant, daß der Versasser vorzugsweise die Archive russischer
Provinzialstädte zu Rathe gezogen und in diesen Actenstücke gefunden hat,
welche die Verkommenheit der Zustände von 1773 noch sehr viel deutlicher
bloslegen, als es die in den beiden Reichsarchiven gefundenen Berichte der
Gouverneure thun. Während in der Correspondenz mit den Centralbehörden
immer noch ein gewisses Decorum beobachtet werden mußte, wenn die Be¬
richterstatter nicht aller Aussichten auf Rang und Orden verlustig gehen
sollten, zeigen sie sich im Verkehr mit College» und Subalternen in ihrer
ganzen Rathlosigkeit und Unzurechnungsfähigkeit. „Die Papiere, welche mir
vorlagen", heißt es in der Einleitung, „sind großen Theils auf zerknitterten
Fetzen geschrieben, man sieht ihnen an, daß sie in irgend einem Winkel oder
Gebüsch abgefaßt wurden; so z. B. die Berichte der dorischen Kosaken-Ata-
mans über den Verrath ihrer Leute, die alle Spuren davon tragen, daß sie
in der Seelenangst vor Entdeckung durch die Abgefallenen eilig hingeworfen
sind. Sie sind lebendige Zeugen einer schrecklichen Vergangenheit, und weil
auf dem Feldzug, unter freiem Himmel oder in Schlupfwinkeln geschrieben,
reden sie deutlicher, als sorgfältig ausgearbeitete Tractate."
Wie unfähig die russischen Provinzialbehörden gewesen, das Wesen der
Pugatschew'schen Rebellion zu verstehen und irgend wirksame Maßregeln
gegen denselben zu ergreifen, so lange sie auf kleine Proportionen beschränkt
blieb, geht gleich aus den ersten Blättern unserer Schrift, einer Parallele
zwischen den Erfolgen der Aufrührer und den Vorkehrungen hervor, welche
gleichzeitig zu Zaryzin getroffen wurden, dem wichtigen Punkt, der die Be¬
ziehungen des östlichen Rußlands zu der dorischen Heimath Pugatschew's
vermittelte, dem Centrum der Linie, welche den an der Wolga geschlagenen
Funken an den Don leiten mußte. In Zaryzin hatten Bogomolow und
Chaillu, die Vorgänger Pugatschew's, ihre Hauptrolle gespielt, hier hatte
Bogomolow's „Kanzler" Dolotin seinen weitreichenden Einfluß geübt, Hieher
mußte sich Pugatschew wenden, wenn er nach Süden durchbrechen und die
Vereinigung mit seinen Landsleuten ins Werk richten wollte, die als Alt¬
gläubige und geschworene Feinde der neuen Militärreglements doppelt ge-
fährlich waren. Am 18. September 1773 war Pugatschew mit 300 Kosaken
vor Jaißk erschienen, am 20. hatte er Jelez, am 24. Rassipna, am 27. Nishni-
Oserna und Tatischewa, am 29. Tschernoretschin, am 1. October Sakmarsk
genommen, am 6. October war er vor Orenburg erschienen, um 8 Tage
später die erste der gegen ihn ausgesandten Armeen zu schlagen. In Zaryzin,
wohin sich sofort Aller Augen wandten, traf die erste Kunde von dem Er¬
scheinen des gefährlichen Abenteurers erst am 23. October ein, elf Tage, nach¬
dem sie in das entfernte Petersburg gelangt war. Der Kosak, der dem
Commandanten die wichtige Nachricht bringen sollte, hatte zur Reise von
Kasan bis Zaryzin volle fünfzehn Tage gebraucht; das „geheime Packet",
welches er mitbrachte, enthielt einige dürftige Notizen, denen man nur ansah,
daß der Verfasser, General v. Brandt, Gouverneur von Kasan, sich in todt-
licher Angst befand. Das Volk war von dem Vorgefallenen schon früher
unterrichtet gewesen, der Name Pugatschew war auf dem Markt von Zaryzin
bekannt gewesen, ehe er in der Commandantur auch nur genannt worden. Die
erste Kunde hatte ein Weib gebracht und das Volk staunend aus dem Munde
desselben vernommen. Kaiser Peter sei plötzlich erschienen, um an der Spitze
seines Volks das Joch seiner Feinde, der Beamten und Edelleute, zu brechen.
Trotzdem, daß diese Gegend wenige Jahre zuvor der Schauplatz eines Auf¬
standes gewesen war, die Unzufriedenheit des Landvolks, die Aufregung der
Kosaken und Sectirer Niemand unbekannt sein konnte, sehlte es so voll¬
ständig an Truppen, daß Befehl ertheilt wurde, die Gutsbesitzer sollten sich
mit ihren Leuten waffnen, um die schwachen Garnisonscommandos zu unter¬
stützen.
Aber das gesammte niedere Volk stand zu dem nationalen Pseudokaiser,
nachdem es nur den Namen desselben vernommen; die Kosaken, auf welche
man hauptsächlich angewiesen war, zeigten sich als seine nächsten Verbün¬
deten; in den Landestheilen östlich von der Wolga, dem ersten Schauplatz
des Aufstandes, eilten die von den Beamten mißhandelten Kirgisen sofort
unter die Fahnen der Rebellion. Altgläubige Sendboten wußten das auf¬
geregte Volk auf das Erscheinen Peters III. vorzubereiten, an manchen Orten
brach der Aufstand aus, noch bevor die weiße Fahne mit dem altgläubigen
Kreuz, welche dem neuen Herrscher vorhergetragen wurde, sichtbar geworden
war. Die Partei „des Kaisers" war allenthalben populärer als die der
Kaiserin. Einzelne Scenen dieser Art werden uns geschildert. — Mehrere Tage
bevor Pugatschew vor Saratow erschien, ruft ein zerlumpter Knecht Lasar
plötzlich auf offenem Markt mit lauter Stimme: „Den Herren und den Be¬
amten brauchen wir nicht mehr zu gehorchen."
„Was heißt das?" herrscht ein vorübergehender Edelmann Unshenzow
den Schreier an.
„Gott allein wird unser Herr bleiben und darauf werden wir nächstens
den Eid leisten."
„Alle russischen Unterthanen haben der großen Kaiserin Katharina den
Eid der Treue geleistet."
„Dieser Eid gilt nichts mehr", gibt der zerlumpte Knecht mit frecher
Miene zur Antwort.
„Hallunke, Du redest eine verbrecherische Sprache", ruft der erschreckte
Gutsbesitzer aus.
„Gestern war das Verbrechen, heute ist es Wahrheit und Recht. Wir
russischen Leute sind durch einen Betrug und mit Uevergehung des wahren
Herrschers in Eid und Pflicht genommen."
Die Wechselrede hat eine Menge müßigen Volks versammelt, ramene-
ZZZ
lich die Salzträger, welche auf dem Markt beschäftigt sind, umringen den ent¬
setzten Edelmann mit drohenden Mienen. Lasar ist in förmliche Raserei ge¬
rathen und schreit aus Leibeskräften:
„An den Galgen mit allen Herren und Beamten."
„Nehmt ihn fest, guten Leute", bittet der Edelmann.
„Ergreift ihn — hängt alle Eure Peiniger, keiner von ihnen soll uns
entrinnen."
Ein Dutzend kräftiger Fäuste hat den- unglücklichen Unshenzow gepackt.
Lasar aber ruft denselben zu: „Der große Zar Peter Feodorowitsch bringt
uns Allen die Freiheit. Wir müssen uns bei ihm eine Belohnung verdienen
und all' die Bösewichter und Verräther vernichten, welche den wahren Herr¬
scher beseitigen wollten, um unsern Lohn zu verzehren."
Der wüthende Pöbel fällt über Unshenzow und die Beamten des
Salzcommissariats her. welche diesem zu Hilfe geeilt sind. Unshenzow ruft
Soldaten herbei, Lasar und die von ihm aufgestachelter Proletarier springen
in ein Boot und entfliehen, ohne daß man ihrer habhaft werden kann. Das
Gerücht von diesem Auftritt verbreitet sich in der Stadt und erzeugt all¬
gemeine Aufregung und Angst. Die Autorität der Behörden ist vernichtet,
seitdem der eine Proletarier die Kunde von dem neuen Kaiser verbreitet hat.
Ein Kaufmann, der der Krone unentgeltlich Eisen geliefert hat, damit
dasselbe für die Waffen verwandt werden könne, welche man zur Vertheidi¬
gung gegen die heranrückenden Rebellen vertheilen will, wird von einer
Schaar Bauern halb todt geschlagen, ohne daß die Behörden einzuschreiten
wagen. — Einige Tage später wird ein Manu vor das saratower Stadtgericht
geführt, der schädliche Nachrichten verbreitet haben soll. Er nennt sich den
„Wanderer Nifont" und ist ein ehemaliger Kaufmann Korjakin. — Die
„Wanderer" bilden bekanntlich die gefährlichste und phantastischste aller alt¬
gläubigen Secten und gehören dem priesterlosen Typus derselben an. Ihrer
Anschauung nach ist die gesammte sittliche Weltordnung durch die russische
Kirchenreformation des 16. Jahrhunderts aufgelöst, der Teufel zeitweise in die
Herrschaft über die Welt eingesetzt worden und jede Betheiligung am Staats¬
oder Kirchenwesen reiner Teufelsdienst, dem die Frommen sich durch Flucht
und ruhelose Wanderung entziehen müssen. Selbst die Annahme eines Passes
ist schwere Sünde, denn sie wird als Anerkennung des Reichs dieser Welt
angesehen. Die Gerechten dürfen nirgend eine Heimath haben, die Flucht
vor der Welt ist ihr Beruf, das einzige Mittel zur Rettung der Seele.
Denen, die noch nicht die Kraft haben, mit dem Reich des Bösen vollständig
zu brechen, wird „um ihrer Schwachheit" willen gestattet, zeitweise einen
bürgerlichen Beruf zu treiben und festen Wohnsitz zu nehmen; aber sie müssen
heimliche Kammern Herrichten, in denen die Wanderer jeder Zeit Unter.
kunst und Asyl finden. Beim Herannahen der Todesstunde ist dagegen jeder
Gerechte verpflichtet, sich auf das freie Feld oder in den Wald tragen zu
lassen, damit er als „auf der Flucht" gestorben angesehen werden könne. —
Diese Secte existirt noch heute und steht bei dem niederen Volk in hohem
Ansehen; die unheimliche Gestalt des Wanderers, der sich dem Mönchsstande
zuzählt, die Ehe als Todsünde verwirft (weil ihre Einsegnung seit Auf¬
lösung des wahren Priesterthums unmöglich ist) und blos ein freies „Zu¬
sammenleben der Geschlechter gestattet", ist eine echt nationale Figur, die in
den Dörfern und Städten des weiten Reichs häufig genug auftaucht und
auf Jeden, der sie ein Mal gesehen, durch ihre Wildheit einen unauslösch¬
lichen Eindruck macht.
Ein solcher „Wanderer" ist Nifont. „Wie hast Du wagen können, den
Leuten zu erzählen, daß man den verstorbenen Kaiser habe durch Gist um¬
bringen wollen und daß er noch lebe", fragt der Richter.
„Das habe ich mir nicht ausgedacht. Der Kaiser lebt, ich habe ihn
gesehen und seine fürstliche Hand küssen dürfen."
„Du hast nicht den Kaiser, sondern den Staatsverbrecher Pugatschew
gesehen."
„Nein, es war nicht Pugatschew, sondern der Kaiser Peter der Dritte.
Wenn er es nicht selbst gewesen wäre, so hätte man seinen Namen nicht in
den Kirchen proclamirt."
Damit ist das Verhör beendet, aber auch die Sache in den Augen des
Volks entschieden. Der Wanderer ist eine heilige Person, sein Argument
unwiderleglich. Wenige Tage später hielt Pugatschew seinen feierlichen Einzug
in die Thore des halbverbrannten Saratow.
Scenen ähnlicher Art werden aus den verschiedensten Orten berichtet,
überall wird der Feind der Beamten und Edelleute als politischer Messias
begrüßt, der bekannte Dichter Dershawin. der den Versuch machte eine
Anzahl Truppen zu sammeln und Saratow vor den Rebellen zu schützen,
mußte dieses Unternehmen aufgeben, weil das gemeine Volk und die Sol¬
daten schaarenweise zu Pugatschew übergingen, noch bevor er sich gezeigt
hatte. Fumatow, der Befehlshaber der Festung Petrowsk, schrieb ihm, sein
eigener Secretär und der oberste Officier seien davongelaufen, nur zehn
Mann von der gesammten Besatzung übrig geblieben, und auch diese nicht
zuverlässig.
Ueber die Belagerung und Einnahme Saratow's enthält das Mordaw-
zew'sche Buch den eingehenden Bericht eines Augenzeugen Namens Kalmykow.
Im Gegensatz zu den bisherigen Schilderungen, deren Hauptquelle das be-
kannte Puschkin'sche Werk ist, erfahren wir. daß die Vertheidigung dieser
Stadt eine sehr ungenügende war. Nachdem Putgatschew die ihm entgegen-
gesandte Truppenabtheilung von der Stadt abgeschnitten hatte, flieht der
Anführer derselben und gehen seine Leute zu dem Sieger über, der die Stadt,
nachdem sie hart beschossen worden, mühelos einnimmt. Kalmykow, der sich
bei den Truppen befunden, entwirft von dem, was sich folgenden Tags be¬
gab, nachstehende Schilderung.
„Wir verließen unsere Schanzen und flohen, zunächst ohne zu wissen
wohin.......Andern Morgens ging ich in die Stadt, in mein Haus.
Aus Furcht vor den Plünderern waren Fenster und Thüren verbarrikadirt.
meine Familie hatte sich im Keller versteckt. Nach Begrüßung derselben be¬
gab ich mich in das Stadthaus, wo bereits eine Menge Volks versammelt
war. Das Stadthaupt und die angesehensten Bürger vereinigten sich darüber,
vor das Thor zu ziehen und sich Pugatschew zu unterwerfen. An 3000
Mann stark begaben wir uns in sein Lager, das er auf dem Sokolberge
aufgeschlagen hatte. Als wir uns ihm näherten, fragte er seine Begleiter:
„Was wollen diese Leute?" Man erwiederte ihm, daß es die Bewohner
Saratow's seien, die sich sammt ihrem Gemeindevorsteher unterwerfen wollten.
„So führt sie zur Eidesleistung."
„Um das Zelt Pugatschew's standen eine Menge Geistlicher; dieselben
waren sämmtlich stark betrunken, nahmen indessen unaufhörlich Eidesleistun¬
gen des Volks entgegen. Nachdem wir geschworen hatten, führte man uns
in das Gemach Pugatschew's, der uns eine Rede hielt. Während er sprach,
konnte ich sein Gesicht, seinen schwarzen Bart und seine dunklen Augen genau
betrachten. Das Zeltgemach war weiß, mit goldenen Verzierungen geschmückt
und hübsch anzusehen. Auf einem mit purpurnem Sammt bekleideten er¬
höhten Sitz saß er da, mit einem Frack bekleidet, den kurzen Degen an der
Seite, auf dem Haupt eine Kosakenmütze, von welcher ein goldenes Kreuz
funkelte; sein Kleid war mit einem Stern und einem breiten Ordensbande
verziert, in den Händen hielt er ein Fernrohr, durch welches er von Zeit zu
Zeit auf die Stadt und deren Umgebung blickte. Die Leute seiner Umgebung
waren mit Kreuzen und Medaillen geschmückt und hatten das Aussehen von
Generalen. Er hielt uns folgende Rede: „Ich bin Euer echter und gesetz¬
licher Kaiser. Meine Frau ist zur Partei der Edelleute übergetreten und ich
habe geschworen, sie Alle bis auf den letzten Mann auszurotten. Sie hatten
meine Frau beredet, Euch zu Sclaven zu machen, ich widersetzte mich dem;
dann haben sie sich gegen mich verschworen und Mörder ausgesandt, vor
deren Händen Gott mich indessen errettete. Ich floh in die Wälder von
Woronesch, und habe dieselben jetzt verlassen, um das Vaterland von seinen
Feinden zu reinigen und die Freiheit zu vertheidigen, welche jedem russischen
Manne theuer sein muß. Geht jetzt, lebt und erfreut Euch der Freiheit,
vergeht aber nicht, daß ich Euer Kaiser bin, dem Ihr in Wahrheit den Eid
geleistet habt."
.Damit entließ er uns. Nachdem wir uns bis auf die Erde vor ihm
gebückt hatten, zerstreuten wir uns nach allen Seiten; da ich mich als Pugat-
schewscher Unterthan vollständig sicher fühlte, durchwanderte ich das ganze
Lager, welches auf dem Berge, wo die Kanonen standen, aufgeschlagen war.
-Ueberall waren reitende Kosakenpatrouillen sichtbar, die Infanterie, welche
aus allerhand Gesindel, namentlich aus herrschaftlichen Bauern bestand, hatte
sich um die Fleischkessel gesammelt, welche kochten. Fast alle Leute, welche
ich sah, waren betrunken und rauchten aus kurzen Pfeifen, überall waren
Lärm und Schimpfworte zu hören. Hie und da stand ein Bündel zusammen¬
gestellter Flinten. Ich ging weiter und kam an die Stelle, wo der Sokol-
berg an die Wolga stößt. Hier bot sich mir ein durchaus abweichendes
Bild dar: eine Anzahl Galgen war aufgerichtet, an welche man immerfort
Männer und Frauen aufhängte, ohne ihr Jammergeschrei, ihre Thränen und
Bitten zu beachten. Die Leichen der Erhängten wurden den Berg herab¬
geworfen und dann in die Wolga geschleudert. Als ich hinzutrat, war man
eben mit mehreren adeligen Familien beschäftigt, welche sich ihrer Rettung
wegen in Bauerkleider gehüllt und mit Ruß unkenntlich gemacht hatten.
Das half ihnen aber nichts, sie wurden an der Art ihrer Sprache erkannt
und unbarmherzig dem Tode übergeben. Dann wurden sechzig gemeine
Schiffsarbeiter von der Wolga-Seite her auf den Rtchtplatz geführt; sie waren
beschuldigt, den Kaiser Peter III. gelästert zu haben. Sie jammerten, schrien
und baten um Gnade. „Ihr lieben Väterchen, warum wollt Ihr uns um¬
bringen? Wir sind auf unserem Fahrzeuge von Astrachan her gekommen
und haben auf Euren Peter III. nicht gescholten, da wir ihn nicht kennen,
gar nicht wissen von wannen er ist, ihn auch nie gesehen haben."
„Sie haben selbst eingestanden, daß sie unsern Kaiser nicht anerkennen",
brüllten die Henker und das Morden nahm seinen Fortgang. Die Leichen
aber wurden vollständig ausgeplündert.
Ich konnte diese Greuel nicht länger ansehen und kehrte in die Stadt
zurück; hier bot sich mir ein Schauspiel dar, welches nicht besser war, als
das, welches mir soeben zu Theil geworden: Soldaten. Kosaken, städtischer
Pöbel und Gesindel aller Art taumelte betrunken durch die Straßen, sie lärmten
und plünderten alle ihnen begegnenden .Personen; wer sich zur Wehr setzte,
wurde ohne Weiteres niedergemacht, alle Straßen waren mit nackten Leichen
bedeckt. In der Mitte eines dieser Haufen sah ich einen betrunkenen Mann
von riesiger Gestalt, welcher mit einem reichen Priestergewande bekleidet war,
auf dem Haupt aber eine Weibermütze trug.....Alle Läden, Kirchen und
wohlhabenden Häuser wurden rein ausgeplündert."
Soweit die Erzählung Kalmykows. der Bürger von Saratow, der erst
im I. 1825 starb. Ein anderer Zeuge der Belagerung und Einnahme dieses
Orts berichtet Folgendes: „Als Pugatschew Saratow beschoß, trat einer seiner
Generale zu ihm und berichtete, daß es plötzlich an Kugeln und Kartät¬
schen fehle.
„Das ist kein Unglück, mindestens kein großes: Ihr hattet das Unglück,
keinen Herrscher zu haben, und jetzt habt Ihr einen. Ihr werdet bald
auch Kugeln und Kartätschen haben."
„Aber wir haben jetzt keine, Majestät."
„Nehmt die Stadt, dort werdet Ihr Munition genug finden. Der
Kaiser von Nußland hat viele Städte und viele Vorräthe, wie kannst Du
sagen, daß keine Kugeln vorhanden seien? Seht, dort die großen Säcke mit
kupferner Scheidemünze — gebraucht sie als Ladung und schießt damit für
meine Rechnung. Mögen meine Unterthanen erfahren, daß ich der Güter
viele habe."
Die Scheidemünze wurde wirklich in die Kanonen geladen und in die
Stadt geschossen. Als das Volk von Saratow gewahr wurde, daß die feind¬
lichen Geschütze Geld zu ihm brächten, hieß es von vielen Seiten: „Laßt uns
dem Vater Zaren entgegenziehen — er hat mit Geld nach uns geschossen,
er muß reiche Cassen mit sich führen. Nicht umsonst wird gesagt, daß er
ein gnädiger Zar sei. Andere machten geltend, daß das Geld ja ursprüng¬
lich der Kaiserin gehört habe, aber die Anhänger des Rebellen gewannen
bald die Oberhand und setzten durch, daß man sich ihm unterwarf. Ein be¬
trunkener Schreiber bestieg den Glockenthurm der Kathedrale und haranguirte
das Volk in unsinniger Rede, sich dem neuen Kaiser und dem wahren
Kreuz, das dieser auf seine Fahne führe, zu unterwerfen."
Was sonst von der Unbildung und Urteilslosigkeit des Volks erzählt
wird, klingt geradezu märchenhaft. Pugatschew, der, wie alle Welt wußte,
weder lesen noch schreiben konnte und darum beständig mehrere Schreiber bei
sich hatte, galt nicht nur für den Kaiser, es gelang ihm nicht nur, dem
Volk einzubilden, daß sein Genosse Tschita der Graf Tschernytschew. Owt-
schinikow Graf Parm, Schigajew Graf Woronzow sei — er brachte es eine
Zeitlang sogar dahin, daß seine Residenz Kargale für die Hauptstadt Peters¬
burg. Berta für das heilige Moskau galt!
Seine geschriebenen Proclamationen fanden fast überall mehr Glauben,
als die gedruckten kaiserlichen Manifeste, die, nachdem sie wiederholt Un¬
wahrheiten verbreitet, allen Credit verloren hatten und schließlich durch ge¬
schriebene Proclamationen ersetzt werden mußten. Daß die Schriftstücke,
welche Pugatschew in die Welt sandte, auf Befehl des Senats öffentlich durch
Henkershand verbrannt wurden, erhöhte lediglich ihre Bedeutung in den
Augen des Volks, welches der festen Meinung war, die Edelleute und Be¬
amten vernichteten die Urkunden, durch welche der Kaiser den gemeinen Leuten
Freiheiten und Privilegien verliehen habe.
Den Hauptnachdruck legt unser Verfasser aber nicht auf die Verkommen¬
heit, zu welcher die Regierung das Volk hatte herabsinken lassen, sondern auf
den entsetzlichen Zustand der öffentlichen Einrichtungen und auf die Unfähigkeit
fast aller Befehlshaber, welche gegen den nationalen Gegenkaiser ausgesandt
wurden, „Hier fehlte es vollständig an Truppen, dort an Geschützen, an
einem dritten Ort gingen die Flinten nicht los. Die auf Kriegsfuß gesetzte
Wolga-Armee besaß nicht eine einzige Ladung Pulver. Wo Kanonen waren,
fehlten gewiß die Lunten, wo Kanonen und Lunten aufgetrieben werden
konnten, mangelte es an Kugeln, — wo sich diese fanden, sah man sich ver¬
geblich nach Kanonieren um. Da die Gießereien fast alle in Pugatschew's
Hände gefallen waren und er sich mit Hilfe derselben eine treffliche Artillerie
zusammengestellt hatte, mußte das nöthige Material für die Regierungö-
truppen — aus Sibirien verschrieben werden." Von den Gouverneuren und
Generalen, denen die schwierige Aufgabe geworden war, in dieses Chaos
Ordnung zu bringen und die vorhandenen Kräfte zu sammeln, erwies sich
einer immer unfähiger, als der andere- General Karr, der das Commando
über die erste gegen die Aufständischen aufgestellte Armee führte, war so ohne
Kenntniß der Sachlage, daß er den überlegenen Feind mit einer Hand voll
Kosaken angriff, als habe er es nicht mit einer wohlorganisirten, durch ihre
Geschütze trefflich unterstützten Armee, sondern mit einer Räuberbande zu
thun. Bevor es zum Gefecht kam, ließ er sich darauf ein, vor seinen Truppen
mit einem von Pugatschew abgesandten Parlamentär darüber zu streiten,
auf welcher Seite das bessere Recht sei und Proclamation gegen Proclamation
verlesen zu lassen! Nach dem Gefecht ließ Pugatschew ihm mit bitterem Hohn
sagen, er möchte seine Herrscherin doch bitten, einen klügeren Heerführer zu
senden. — Karrs Nachfolger Reinsdorp, der Gouverneur von Orenburg, war
fo schwach und furchtsam, daß sein Schreck über das wachsende Ansehen des
Rebellen den unzuverlässigen Kirgisen-Chan Nuraly erst die Augen darüber
öffnete, daß man es mit einem Bürgerkriege zu thun habe, dessen Ausgang
zweifelhaft sei. Reinsdorp beging sodann nicht nur die Thorheit, eine Pro¬
clamation zu erlassen, in welcher behauptet wurde, Pugatschew habe als früher
bestrafter Verbrecher aufgeschlitzte Naslöcher, er ließ das betreffende Schrift¬
stück dem Rebellen durch einen gefangenen gefährlichen Räuber übersenden.
Lachend wies der Pseudo-Kaiser aus seine gesunde Nase, der Bote des Gene¬
rals wurde einer seiner vertrautesten Genossen und die falschen Angaben der
Proclamation bildeten fortan ein Hauptargument für den Volksglauben an
die Echtheit des Prätendenten. Reinsdorp, den ein von Pugatschew's
Schreibern abgefaßtes Manifest, als vom Teufel verblendete Bestie verhöhnte,
wurde in Orenburg belagert und war froh, daß die aufständischen Massen zu
Pugatschew zogen, statt ihn gefangen zu nehmen. — Noch unfähiger erwies sich
Brandt, der Gouverneur von Kasan, ein hinfälliger Greis, der die Begeiste¬
rung der gebildeten Classen seiner Hauptstadt für die kaiserliche Sache völlig
unbenutzt ließ und sich nach der Angabe eines Zeugen „vor Schrecken kaum
auf den Füßen hielt." Dershawin und Ladishenski, die das Gouvernement
Saratow vertheidigen sollten, verloren ihre Zeit damit, Angesichts des heran¬
rückenden Feindes darüber zu streiten, wem von ihnen, als dem ältesten
Obristen das Commando gebühre. Graf Parm, der Obercommandirende
und intime Vertrauensmann der Kaiserin, war so träge, daß er in Persa
blieb und feine gegen die Rebellen kämpfenden Truppen auf eine Entfernung
von hundert Werst anweisen wollte, wie sie zu siegen hätten. Nicht besser
sah es an der obersten Stelle aus: das Kriegscollegium (diesen Titel führte
bis zu Alexander I. das Kriegsministerium) lebte in so vollständiger Unkenntniß
des Terrains, daß es fortwährend die Namen der zu überschreitenden Flüsse
verwechselte, über die Lage im Gouvernement Orenburg beim Commandanten
von Zaryzin anfragte und die zur Vertheidigung der sibirischen Festungen
bestimmte Munition von Rostow am Don über Astrachan dirignte. Nicht
ein Mal für die Sicherheit der Verbindungen zwischen dem Hauptquartier
der Armee und den Residenzen hatte man Sorge getragen und die obersten
Verwaltungsstellen wußten oft Wochenlang nicht, wie die Sachen an der
Wolga standen. Als die Kaiserin nach dem Tode Bibikow's den Fürsten
Galyzin zum Oberbefehlshaber ernennen wollte, wurde der Courier, der diesen
Ukas überbringen sollte, wegen „Unsicherheit der Wege" aufgehalten und die
Ernennung dadurch rückgängig gemacht.
Im Gegensatz zu der officiellen Darstellung und den Erzählungen
Puschkins, welche dem Oberbefehlshaber Grafen Parm und Suworow das
Hauptverdienst an der allendlichen Niederwerfung des Aufstandes zuschreiben,
hebt Mordawzew (der sonst keine Gelegenheit unbenutzt läßt, um seinem
Deutschenhaß Ausdruck zu geben) mit aller Schärfe hervor, daß die Haupt¬
sachen fast ausschließlich vom General Michelsohn gethan worden seien.
Daß der Aufstand aus das östliche Rußland beschränkt blieb, war allerdings
Btbikow zuzuschreiben, der mit unglaublicher Energie auszugleichen wußte,
was seine Vorgänger und Untergebenen verschuldet hatten: als dieser am
9. April 1774 plötzlich starb und Numjänzow's Intriguen Suworow an der wirk¬
samen Entfaltung seiner Thätigkeit verhinderten,.war es allein Michelsohn, der den
Muth nicht sinken ließ und dem Rebellen mit der Geschwindigkeit des Ad-
lers in allen seinen Bewegungen folgte, ihn beständig in Athem hielt und
dadurch allmälig entkräftete. Es ist höchst charakteristisch, wie der russische
Autor sich über den deutschen General ausdrückt, dessen verkanntes und
unterschätztes Verdienst ans Licht zu setzen ihn der Forschungseifer und der
Haß gegen das elende Regiment der Hofaristokraten zwingt: „Er war ein
accurater (soll heißen echter) Deutscher, der mit der Energie und Hart-
näckigkeit, welcher dieser großen Race eigenthümlich sind, nie einen
Tag oder eine Nacht, ja keine Stunde unbenutzt ließ, jede Handbreit Erde
kämpfend eroberte und seine an Hunger, Kälte und Hitze gewöhnten Husaren
bis zur völligen Erschöpfung aller Kräfte vor sich her trieb. Bald erscheint
er mit ihnen in den Gebirgen des Ural, bald in Sibirien oder im Lande
der Baschkiren; im ersten Frühjahr setzt er über eisbedeckte Flüsse, seine Ka¬
nonen werden auf Brettern und Flößen herübergeschafft; seine Leute sind an
die Gluth der Sonne ebenso gewöhnt, wie an die Hitze brennender Häuser."
„Und diesem Mann/' heißt es zum Schluß des gesammten Buches, „der oft
tausend Werst weit geritten war, ohne sein Pferd zu verlassen und seinen
Husaren Ruhe zu gönnen, der die Hyder des Pugatschewschen Aufstandes ge¬
bändigt hatte — ihm dankte man mit der Beschuldigung. Räubereien verübt zu
haben. Das charakterisirt die ganze Epoche zur Genüge."
Wir können nicht schließen, ohne noch eines Umstandes Erwähnung zu
thun, auf welchen Mordawzew besonderes Gewicht legt: obgleich die Strenge
gegen die altgläubigen Sectirer ein Hauptgrund für den glücklichen Anfang
der gesammten Bewegung war und Hunderte von altgläubigen Kaufleuten
und Geistlichen überwiesen werden konnten, den Rebellen mit Rath und That,
namentlich aber mit ihren beträchtlichen Geldmitteln unterstützt zu haben,
wußten dieselben sich fast sämmtlich dem furchtbaren Strafgericht zu ent¬
ziehen, das nach der Niederwerfung des Aufstandes über die Theilnehmer
desselben hereinbrach. Das Manifest vom 19. December 1774, welches die
Beendigung des Kampfes und die Bestrafung der Schuldigen publicirt, igno-
rirt die Theilnahme der Sectirer an demselben vollständig und fünf schwer
compromittirte Führer derselben wurden als unschuldig freigesprochen. Mor¬
dawzew hofft das Geheimniß, welches diese Seite der Sache bedecke, werde
durch die vollständige Eröffnung der Staatsarchive entschleiert werden. Uns
scheint kein Geheimniß zu bestehen — die Macht des Goldes ist gerade im
Rußland des 18. Jahrhunderts die Großmacht über alle anderen Einflüsse
und Mächte gewesen.
Aus dem Leben des Generals Dr. Heinrich von Brandt. Erster Theil. Die Feld¬
züge in Spanien und Rußland 1808—1812. (Berlin, Mittler und Sohn.)
Neben dem reichen allgemeinen Interesse, welche dieses Buch durch Er¬
zählung des seltsam gewundenen Lebenslaufs und der vielen Kriegsabenteuer
des Verfassers gewährt, der nicht nur mit vielen polnischen, französischen und
spanischen Teilnehmern der großen Franzosenkriege, sondern auch mit Napoleon
selbst wiederholt in Berührung kam — erscheint das Brandt'sche Memoiren-
werk unter zwei speciellen Gesichtspunkten besonders wichtig: als eine neue
Quelle zur Beurtheilung des Feldzugs von 1812 und als Beitrag zu einem
wenig bekannten, mindestens wenig besprochenen Abschnitt der preußischen
Provinzialgeschichte. Heinrich v. Brandt entstammte nämlich dem Theile
Westpreußens, der im Jahre 1807 dem neugebildeten Herzogthum Warschau
einverleibt wurde und dadurch für längere Zeit unter polnisch-sächsisch-fran-
zöfische Herrschaft kam. Der Einfluß, den dieser Umstand auf den Lebensgang
des Verfassers übte, spiegelt getreulich das Geschick wieder, welches den ge-
sammten Landestheil traf und verdient schon aus diesem Grunde eine be¬
sondere Beachtung.
Heinrich v. Brandt, als Militärschriftsteller und Verfasser eines im Jahre
1823 veröffentlichten Buchs über Spanien schon früher vortheilhaft bekannt,
war im Jahre 1789, also erst siebzehn Jahre nach der ersten Theilung Polens
und der Besitzergreifung Westpreußens durch Friedrich den Großen, zu Lakie
geboren worden. Leider enthalten die vorliegenden Aufzeichnungen keine ge¬
naueren Berichte über die Zustände, unter denen der junge Gutsbesitzerssohn
in dem Lande aufwuchs, das das Schwert der deutschen Herren der Cultur
unseres Volkes zuerst unterworfen hatte und das nach dreihundertjähriger
Polenherrschaft dem Staate wieder gewonnen worden war, der von Norden
nach Süden und Westen vorschreitend, schon damals die Neugestaltung
Deutschlands vorbereitete. Gerade in dem letzten Viertel des 18. Jahr¬
hunderts spielte die westpreußische Landschaft in der Geschichte der Monarchie
Friedrichs des Großen eine wichtige Rolle. Um das Unkraut auszujäten,
das die unheilvolle Wirthschaft der königlichen Republik in den Boden des
alten Preußen gestreut hatte, waren tausende fleißiger Colonisten unter der
Führung einer Elite des preußischen Beamtenthums in die verkommenen öst¬
lichen Lande gesandt worden, wo sich bald die ersten Regungen eines neuen
Lebens zeigten. Ob Brandt's Vater diesen Einwanderern oder der verhält¬
nißmäßig kleinen Zahl deutscher Gutsbesitzer angehörte, die sich gegen die
Feindschaft polnischer Nachbaren erhalten hatten, wird uns leider nicht gesagt,
— daß in seinem Hause an deutscher Sitte und Bildung festgehalten wurde,
erräth sich aber aus den Andeutungen, welche der Sohn über die eigene
Jugendgeschichte macht. Nach dem ersten Unterricht im elterlichen Hause, be¬
ziehen die Söhne des Gutsbesitzers Brandt das Lyceum, später die altstädtische
Schule zu Königsberg „in der Neumark, wo zur Zeit viele junge Menschen
aus West« und Südpreußen ihre Erziehung erhielten", und der Director
Hamann, ein Sohn des „Magus", in wohlthätiger und anregender Weise
wirkt. Der Zuschnitt dieser Anstalten ist noch der des Franke'schen Waisen¬
hauses zu Halle, wo fast sämmtliche Lehrer Königsbergs ihren Unterricht
genossen haben, aber der Geist des philosophischen Jahrhunderts macht seine
Wirkungen schon auf den jungen Primaner der altstädtischen Schule geltend:
das merkwürdigste Ereigniß seiner Schulzeit ist die Beerdigung Kant's, dem
die Schüler der Prima das letzte Geleit mitgeben. „Wo der kleine, mit
rothem Sammet verzierte und mit Silber beschlagene Sarg vorüberkam, von
Marschällen und Chargen der akademischen Jugend umgeben, zogen die Leute
die Hüte ab, es herrschte eine Todtenstille und Alles behielt die feierliche
Haltung, bis er in das Gewölbe versenkt ward." „Ich habe später", fährt
Brandt's Bericht fort, „dem Begräbniß von Königen, Fürsten und berühmten
Gelehrten beigewohnt, aber eine Haltung dieser Art habe ich bei der Menge
nie wieder gefunden."
Daß die preußischen Traditionen trotz ihrer Neuzeit in das Fleisch und
Blut des jungen Westpreußen übergegangen waren, und daß derselbe die
Lehre vom kategorischen Imperativ, trotz des mangelhaften Collegienvesuchs.
dessen er sich anklagt, richtig verstanden hatte, bewies Heinrich v. Brandt,
schon bald nachdem er Student der königsberger Universität geworden war.
Als die Nachricht von der Katastrophe von Jena eintraf, das Unglück des
Vaterlandes auch in den Studentenkreisen mit leidenschaftlicher Erregung dis-
cutirt wurde, die meisten Studenten aus den neuen Ostprovinzen sich nicht
mehr als Neupreußen, sondern als Polen und Lithauer zu fühlen begannen,
schließt Brandt sich den patriotischen altpreußischen Studenten an; kaum ist
die Bekanntmachung darüber veröffentlicht worden, daß jungen Leuten von
Bildung der Eintritt in die provisorischen Bataillone gestattet sei, so tritt er
als Fähnrich in das zweite westpreußische Bataillon, das von einem polnischen
Premierlieutenant, trotz jämmerlicher Verpflegung, Schmutz und schlechten
Quartiers, binnen wenigen Wochen vollständig ausgebildet wurde.
Aber noch bevor die Kriegstüchtigkeit dieser jungen Truppen geprüft
werden konnte, folgten der unglücklichen Schlacht von Jena die schweren
Schläge von Friedland und Eylau, und jener tilsiter Friede, der das unglück¬
liche Preußen für ein halbes Decennium dem erbarmungslosen Sieger preisgab.
Eines Tages erfuhr der preußische Fähnrich (der trotz seiner Bewunderung
für Napoleons militärische Größe das über sein Vaterland hereingebrochene
Weh seiner ganzen Schwere nach empfand), daß seine Heimath dem neu-
gebildeten Herzogthum Warschau einverleibt, die Lage der deutschen Be¬
wohner derselben eine außerordentlich schwierige geworden sei und daß die¬
selben allerlei Verfolgungen erdulden mußten, welche bereits zu zahlreichen
Auswanderungen unabhängiger Leute geführt hätten. Gegen die in den
Preußisch gebliebenen Provinzen lebenden Landeskinder wurde sofort das M
eevaeuationitj angewendet und Brandt mußte auf den dringenden Wunsch seines
Vaters sofort die königliche Armee verlassen, um, wie es in seinem Abschieds¬
zeugniß hieß, „sich nicht dem Dienst seines neuen Landesherrn (des Königs
von Sachsen) zu entziehen."
Er kehrt nach kurzem Aufenthalt in Warschau zunächst in die Heimath
zurück. „Aber wie fand ich hier Alles verändert! Die alte Verwaltung auf¬
gehoben, die neue noch nicht organisirt. Der frühere Wohlstand war ver-
nichtet, die Lasten des Krieges hatten die Gegend ausgesogen; kurz es war
ein Zustand, wie er nur nach einem solchen politischen Umschwung eintreten
konnte!"
Der nächste Abschnitt unseres Buchs hat es nicht mit den Einzelheiten
dieses Umschwungs, sondern mit den merkwürdigen Schicksalen des Verfassers
zu thun, der nach vergeblichen Versuchen, von Blücher oder Schill verwendet
zu werden, in die I6gion polaeeo-italiennö (später Ivgion as 1a Vistulö) treten
und fast vier Jahre lang unter dem bekannten Chlopicki gegen die Spanier
fechten mußte. Mit dem Detail dieser höchst interessanten Kriegsgeschichte,
die mit der Belagerung von Saragossa beginnt und der Gefangennehmung
des Generalcapitän Blake schließt, wird der Leser sich am besten bekannt
machen, wenn er das Buch selbst zur Hand nimmt. Für den Gesichtspunkt,
unter welchem wir dasselbe zunächst betrachten, ist die Heimkehr des Com-
battanten der französisch.spanischen Guerillakriege in seine vaterländische Pro¬
vinz von besonderer Wichtigkeit. — „Du hast bessere Tage hier gekannt, mein
Sohn. Du kommst in das Haus eines Bettlers" — das sind die Worte, mit
denen der Vater den jungen Officier im Herbst 1812 aus dessen Durchmarsch
nach Nußland begrüßt. Und das Geschick des einzelnen Gutsbesitzers der ver¬
lorenen und polnisch-französisch'sächsischen Einflüssen preisgegebenen Provinz
ist das der gesammten Landschaft. Verbunden mit den Nachwehen des Krieges
hatten die fünf Jahre der Fremdherrschaft dazu geführt, den größten Theil
der Bevölkerung bankerott zu machen. „Aller Handel und Wandel lag dar¬
nieder, der Ackerbau war im kläglichsten Zustande, die Getreidepreise tief ge-
sunken und reichten seit Jahren kaum hin, die Productionskosten zu decken.
Der Ueberschuß, welchen man gewonnen, wanderte nicht auf die Märkte,
sondern in die Magazine; der Viehhandel, der sonst so bedeutend gewesen,
war kaum der Rede werth, überall herrschte Armuth, Noth, Unzufriedenheit
und Sehnsucht nach Besserung der Verhältnisse." Die 48 Stunden, die
Brandt im elterlichen Hause zubringt, sind ihm eine wahre Qual, denn er sieht
„überall Leiden und Elend, die aber stets in eine gesetzliche Form gegossen
und dadurch um so unerträglicher sind." Als der junge Lieutenant (der
Zeuge davon gewesen, wie die Scheunen eines der Vorwerke von den durch-
marschirenden Truppen so vollständig ausgeräumt worden, daß nicht ein
Mal das nöthigste Pferdefutter übrig geblieben) abreist, gibt sein Bruder
ihm eines der letzten Pferde mit. die aus dem sonst so reichen Pferdebestande
übrig geblieben. — Aber. — was das Schlimmste ist — trotz aller sehn¬
süchtigen Erinnerungen an die alten guten Zeiten des preußischen Regiments
wird dasselbe eigentlich von Niemand mehr zurückgewünscht. Der geistlose,
pedantische und despotische Mechanismus, zu welchem Friedrichs System unter
seinen Nachfolgern herabgesunken war, hatte auch auf den westpreußischen
Landschaften so bleiern gelastet, die Allmacht der Bureaukratie des Einzelnen
freie Bewegung so peinlich eingeengt, daß die meisten Leute nicht mehr daran
dachten, wem sie eigentlich zu danken gehabt, daß die wüste polnische Wirthschaft
gebrochen, das Land zu einem geordneten Organismus geworden war. Die
Erinnerung an Preußen war identisch mit der an eine unerträgliche Bevor¬
mundung. Die neuen Beamten waren dagegen von einer Freundlichkeit
und Leutseligkeit, die gegen die Hoffart der strammen Bureaukraten alter
Schule zu gründlich contrastirte, um nicht als Wohlthat empfunden zu wer¬
den, die „unglaublichen Schreibereien", mit denen man die Regierten sonst
heimgesucht, hatten einem musterhaft einfachen Verfahren Platz gemacht —
man war trotz der verzweifelten Lage des Landes mit den neuen Behörden
im Ganzen zufrieden und legte denselben keine Schuld an dem allgemeinen
Elend bei, während die Wohlthaten der alten Regierung über der unbe¬
quemen „Beglückungs- und Unterrichtswuth" ihrer Beamten und jener
„Borussomanie, die Alles aä inoäum des alten Landes modeln wollte", ver¬
gessen waren.
Obgleich das im Grunde Alles ist, was wir aus dem Brandt'schen Buche
über die polnisch-französische Episode der westpreußischen Provinzialgeschichte
erfahren, so verdient dasselbe doch schon um dieser Mittheilungen willen be¬
sondere Beachtung. Nicht nur, daß sich aus den angehängten Bemerkungen
des Verfassers über die Gründe der damals in Westpreußen herrschenden
Stimmung auch für die Gegenwart und die Behandlung der gegenwärtig
neupreußischen Provinzen Manches lernen läßt — die berichteten Thatsachen
sind an und für sich bedeutsam genug, um zu eingehenderer Forschung in
die westpreußische Geschichte j'ner Periode Anregung zu geben. Es wäre
der Mühe werth, die localen Quellen darauf anzusehen, in wie weit sie die
Eindrücke bestätigen, welche unser Berichterstatter aus dem Kreise seiner Er¬
fahrungen gesammelt hat. Dem verabschiedeten königl. General der Infanterie,
der diese Erinnerungen niedergeschrieben, nachdem ein Menschenalter seit der
polnisch-französischen Occupation vergangen, sind Sympathien für dasselbe
nicht gut zu imputiren; im Gegentheil muß angenommen werden, daß das
Gefühl von der Richtigkeit seiner damaligen Beobachtungen ein ungewöhn¬
lich starkes gewesen, da es ein halbes Jahrhundert lang vorgehalten hat und
durch den preußischen Patriotismus des Verfassers auch später nicht beein-
trächtigt worden. Der ganze Abschnitt, auf welchen diese Aufzeichnungen
sich beziehen, ist ziemlich gründlich vergessen worden und zwar bevor man Zeit
gehabt, von demselben ein deutliches und umfassendes Bild zu entwerfen. Der
Wunsch, daß diese Versäumnis; nachgeholt und eine Sichtung und Bearbeitung
des betreffenden Materials wenigstens nachträglich vorgenommen werde, ist
uns durch das Brandt'sche Buch besonders nahegelegt worden.
Indem wir nochmals darauf aufmerksam machen, daß der Hauptinhalt
der ersten Hälfte dieses Bandes nicht auf Westpreußen, sondern auf des Ver¬
fassers spanische Abenteuer und Kämpfe Bezug hat, gehen wir zu der zweiten
Hälfte über, welche sich ausschließlich mit dem Feldzuge von 1812 beschäftigt
und in dem engen Rahmen von kaum zweihundert Seiten eine Fülle der
lehrreichsten Details über denselben gibt. Der rothe Faden, der sich durch
die gesammte Darstellung zieht, ist des Verfassers aus eigener Beobachtung
gewonnene und durch die Zeugnisse zahlreicher militärisch gebildeter und er¬
fahrener polnischer Officiere unterstützte Meinung, daß Napoleon die russische
Niederlage wesentlich selbst verschuldet habe, und zwar durch die unglaubliche
Zügellosigkeit, welche von vornherein in der großen Armee herrschte. Brandt,
der unter dem Commando des Grafen Claparede im Davoust'schen Corps
diente, wurde schon in der Umgegend von Wilna gewahr, daß die französi¬
schen Truppen in einer Weise demoralisirt waren, die der ganzen Armee das
schlechteste Beispiel gab und die er nach seinen spanischen Erlebnissen für un¬
möglich gehalten hatte. Die Zahl der Unbewaffneten und der Marodeure
nahm schon damals täglich zu und machte jede ordentliche Verwendung der
reichen Proviantvorräthe unmöglich — Plünderungen und Excesse, die sonst
mit dem Tode bestraft worden waren, ließ man den Truppen dieses Mal
ungeahndet hingehen. Der Uebergang über den Niemen hatte das Bild
einer Unordnung geboten, wie sie schlimmer kaum gedacht werden konnte;
namentlich hatte es an jeder Controle darüber gefehlt, daß die Officiere
nicht überflüssiges Gepäck und unnütze Pferde mitnahmen. Von einem Re-
giment der Companschen Division waren, als man in Minsk Musterung
hielt, nur noch einige hundert Mann übrig, der Rest schwärmte umher und
marodirte; ein Obrist Chlusowicz. der Zeuge dieses Auftritts war. prophe¬
zeite schon damals, „daß der Kaiser in den Fehler Karl's XII- verfallen
werde" — Litthauen und Polen geplündert und unorganisirt hinter sich
lassen, heiße einen Zustand herbeiführen, wo der mindeste „Echee" die Armee
ins Verderben stürzen könne. — Bei der Überschreitung des Don war die
Zahl der Nachzügler so bedeutend, daß 400 derselben allein dem Regiment
zugezählt wurden, in welchem Brandt diente und daß die „lüderliche Zucht"
in der Armee und Verwaltung bereits das öffentliche Gespräch der Officiers-
kreise war. „Fürs Erste wird Alles gut gehen", sagten die älteren Officiere.
als man in Dubrowna Rast hielt, „aber der Russe führt nur Krieg, wenn
seine Flüsse und Moräste mit Eis belegt sind. Was soll dann aus der Armee
werden, in einem Lande, das die Marodeurs ausgeplündert und gegen uns
aufgebracht haben?"
Noch schlimmer wird der Zustand von dem Tage an, da Napoleon das
eroberte Moskau der Plünderung seiner Truppen preisgegeben und damit
der wankenden Subordination den letzten Stoß ertheilt hat. Nicht nur
daß die unermeßlichen Vorräthe der russischen Hauptstadt, welche eine aus¬
reichende Neuverproviantirung möglich gemacht hätten, nutzlos verschleudert
und vernichtet wurden, von dem Augenblick an, da die Soldaten ihre Taschen
mit Raub gefüllt hatten, dachte Niemand mehr daran, daß sein eignes Heil
von dem des Ganzen und von dem Gehorsam gegen die militärische Ordnung
bedingt sei, Jeder war nur auf die Rettung seiner Beute bedacht und ein
großer Theil der intact gebliebenen Regimenter löste sich gerade in Moskau,
wo man Ruhe finden und sich sammeln sollte, in Marodeur-Banden auf-
Während Alles noch im Genuß der geraubten Schätze schwelgte und von
einem Friedensschluß träumte, sagte Obrist Malszewski. ein Pole, der mit
der russischen Geschichte und Kriegsführung genau bekannt war. dem Ver¬
fasser, er sei überzeugt, daß die Armee so gut wie verloren sei. „Wir haben
die Spur der Russen vollständig verloren. Moskau mit seinen Hilfsmitteln
ist hin, die Armee demoralisirt, die Cavallerie ruinirt — überrascht uns
setzt der Winter, so ist bei allem Genie des Kaisers eine Katastrophe un¬
vermeidlich.....Als vor 200 Jahren die Polen den Kreml besetzten, lei-
teten die Russen von Tula und Kaluga her die Befreiung ihres Vater¬
landes ein."
Während die Hauptarmee noch in Moskau stand, wurde Brandt in einem
Vorpostengesecht am Fußgelenk so schwer verwundet, daß er den ganzen Ruck,
zug als Invalide mitmachen mußte. Mit einem Krankentransport wurde er
vorausgesandt, ehe die eigentliche Armee aufbrach. Noch bevor die strenge
Kälte eintrat und die Armee von den Verfolgungen der Kosaken heimgesucht
wurde, begann das Schicksal derselben sich bereits zu vollziehen. Trotzdem,
daß man noch immer reiche Vorräthe besaß, ertönten von allen Seiten Klagen
über Hunger und schlechte Verpflegung, — inmitten des allgemeinen Chaos
war an Ordnung und Regelmäßigkeit nicht zu denken. Wohin der Ver¬
wundeten-Transport auch kommt, überall findet er ein Heer von Marodeuren
und Taugenichtsen vor, welche ihre Regimenter im Stich gelassen haben und
vor diesen herlaufen, die Bewohner ihrer letzten Habe berauben und mi߬
handeln, über die mitgebrachten Vorräthe wie hungrige Wölfe herfallen, alle
Quartiere besetzt halten, und alle Versuche, der nachrückenden Armee eine er¬
trägliche Aufnahme zu verschaffen, im Voraus Paralysiren. Die an strenge
Zucht gewöhnten verwundeten polnischen Officiere. mit denen Brandt gemein¬
sam transportirt wurde, konnten anfangs gar nicht begreifen, was eigentlich
geschehen sei; wohin sie auch kamen, fanden sie eine zahlreiche Armee vor,
die aus Unbewaffneten aller Truppengattungen bestand — und doch
sollte das Heer ihnen erst folgen. „Es sind ja gesunde starke Kerle", sagte
Brandes Leidensgefährte Gorszynski diesem noch in Borifsow, „ich verstehe die
Geschichte nicht, das können nur Leute sein, die zu irgend einem Zweck abge¬
schickt sind, die Lager sind gewiß hier in der Nähe." Als die beiden Cameraden
den eigentlichen Zusammenhang der Dinge errathen, bleibt ihnen der einzige
Trost, daß wenigstens keine Leute ihrer wesentlich aus Nichtfranzosen bestehenden
Division dabei sind. — Natürlich sind all' die verspäteten Versuche, welche
jetzt gemacht werden, um die Disciplin wieder herzustellen, vergeblich — die
Insubordination hatte einen so hohen Grad erreicht, daß in der nächsten
Umgebung des Kaisers Excesse aller Art vorkamen und die in den Tages¬
befehlen enthaltenen strengen Strafandrohungen verlacht wurden und nicht
die geringste Wirkung übten. „Von einem Mangel an Lebensmitteln habe
ich nur ab und zu etwas bemerkt", heißt es bei Brandt, „und zwar bei den
Verwundeten und namentlich bei den Officieren. Wäre nur etwas Zucht
in der Armee gewesen, so wären die Elementarereignisse, von
denen man so viel geschwatzt, gewiß ohne Einfluß aus sie ge¬
blieben.
„Die Officiere aller Grade und die verständigen Unterofficiere, mit denen
ich gesprochen", heißt es an einer anderen Stelle, „waren einstimmig der
Meinung, daß die Unordnung und lüderliche Zucht in der Armee den eigent¬
lichen Grund zu ihrer Auflösung gelegt. Lange ehe die Kälte oder der eigent¬
liche Mangel an Lebensmitteln begann, gab es tausend Unbewaffnete, die
sich bei den Wagenburgen umhertrieben.......Sie waren einstimmig
der Ansicht, daß bis Smolensk auf dem Rückzüge eigentlich gar
kein genügendes Motiv zu den dort schon so kraß sich offen»
härmten Unordnungen vorhanden gewesen. Bei Pultusk, bei
Ostrolenka und bei Eylau sei es viel kälter gewesen, nur habe man damals
nie einen Unbewaffneten gesehen." Auf dem Rückzüge soll es deren schon
bei Kraßnoy 30—40,000 gegeben haben und Brandt versichert uns, daß
höchstens Veo^Vio derselben wirklich unfähig gewesen sei. die Waffen zu
führen — alle übrigen waren weggelaufene Vagabunden.
„Daß auch nur ein Franzose der großen Armee entkam, war die Schuld
der Russen —" in diesen Satz faßt unser Autor sein schließliches Urtheil
über jenen Feldzug zusammen, der Napoleons glänzender Laufbahn ein
rasches Ende bereitete. — Er selbst (das bemerken wir noch zum Schluß)
wurde nur durch ein Wunder gerettet: nachdem sie wochenlang bei der
strengsten Kälte an ihren Krücken nach Westen gehinkt waren, sanken Brandt
und sein Camerad unweit Kowno ohnmächtig in den Schnee, um ihre Rech¬
nung mit der Welt abzuschließen. Während sie sich auf den Tod vorbereiten,
kommt ein polnischer Soldat ihres Regiments zu Schlitten vorübergefahren
und rettet seine halberstarrten Officiere in den nächsten kleinen Ort, wo sie
Truppen ihres Regiments finden. „Wir können nur bei den Unsrigen näch¬
tigen," hatte der rettende Soldat sogleich den beiden Gefährten gesagt —
„unter den Franzosen und Italienern können wir nicht bleiben, die schlagen
uns todt und nehmen uns Pferd und Schlitten."
Der erste Band dieser Schrift ist seiner Zeit in den Grenzboten so ausführlich
besprochen und beurtheilt worden, daß wir uns bezüglich der Fortsetzung derselben auf
die Angabe des Inhalts beschränken können, durch welche der Verfasser seine früheren an¬
ziehenden Darstellungen bereichert hat. — An die Spitze des zweiten Bandes sind drei
lebensvoll geschriebenen Bilder aus der sicilianischen Culturgeschichte gestellt: „Ein Auto-
da-fe in Sicilien, im 18. Jahrhundert" (die im Jahre 1724 vollzogene Verbrennung
zweier durch ihre an Wahnsinn streifende Exaltation unzurechnungsfähiger Molinisten
des Fra Nomualoo genannten Augustinermönchs Ignatius Barben und der Nonne Phi¬
lipps Maria Corduana, gewöhnlich Suor Geltruda genannt). „Die Juden in Sicilien"
und „Zur Geschichte des Luxus in Sicilien". Den beiden ^ letztgenannten Aufsätzen
möchten wir ein besonderes Interesse vindiciren, weil sie ein interessantes Bild der ge-
sammten Entwickelungsgeschichte dieser Insel entwerfen und mit dankenswerther Aus¬
führlichkeit auf die Zeiten der normännischen und der deutschen Herrschaft in Sicilien
eingehen, namentlich die Beziehungen Kaiser Friedrichs II. zu den verschiedenen Ele¬
menten der sicilianischen Bevölkerung schildern. Im Mittelpunkt der Darstellung der
Geschichte der Juden steht die Schilderung ihrer Ausweisung im Jahre 1493, welche
auf Befehl Ferdinands des Katholischen mit so raffinirter Härte und Gründlichkeit be¬
trieben wurde, daß, wie es am Schlüsse heißt, nicht nur sämmtliche jüdische Bewohner
die Insel verließen, sondern niemals wieder Juden nach Sicilien zurückgekehrt sind, ob¬
gleich die Negierung schon im 17. Jahrhundert wiederholte Versuche machte, den tief
gesunkenen Handel Messina's durch Heranziehung des betriebsamsten Volks der Erde
wieder in Flor zu bringen. Die Geschichte dieser barbarischen Austreibung macht einen
um so widerwärtigeren Eindruck, als derselben eine systematische Aussaugung der wohl¬
habenden Judenfamilien vorausgegangen war und die Art und Weise der Austreibung
selbst von der römischen Curie mißbilligt wurde. In Sicilien selbst hatten die Nach¬
wirkungen der milden und toleranten Maurenherrschaft sich bis tief in die christlichen
Zeiten erstreckt, zumal Friedrich II. ein entschiedener Beschützer dieser verfolgten Nation
war und selbst den Beschlüssen des großen Lateranconcils von 1215 eine milde Aus¬
legung zu geben gewußt hatte. — Die Geschichte des Luzus geht bis in die griechi¬
schen und römischen Zeiten zurück und verweilt dann ausführlich bei dem großen und
nachhaltigen Einfluß, den das Saracenenthum auf die culturgeschichtliche und die künst¬
lerische Entwickelung unter den normännischen und deutschen Fürsten ausübte, und bei
den reichen Blüthen, welche es namentlich unter Wilhelm II. trieb, bis mit dem Tode
dieses Fürsten die Periode der Reaction und der Manrenverfolgung nach spanischem
Muster begann. — Die beiden Schlußartikel haben es mit dem unter Garibaldi's
Mitwirkung siegreich zu Ende geführten sicilianischen Aufstande von 1860 und mit
der palermitanischen Erneute im September 1866 zu thun, welche sich vor den Augen
des Verfassers vollzog. — Die freundliche Aufnahme, welche dem ersten Bande dieser
anziehenden und geschmackvollen Schrift zu Theil geworden, wird dem zweiten um so
weniger fehlen, als in demselben das historische und das ethnographische Interesse Hand
in Hand gehen.
Seit Talleyrand, der Diplomat der Revolution und des ersten Kaiserreichs, in den
Tagen des Wiener Congresses den Versuch machte, sich durch die feierliche Proclamation
des Legitimitätsprincips von den Sünden seiner wechselvollen Vergangenheit rein zu
waschen, ist dieses angebliche „Princip" das goldene Kalb der s. g. conservativen Partei
geblieben, bis ihm die übereifriger unter seinen Anhängern durch ein Bündniß mit
der radicalen Demokratie praktisch den Todesstoß gaben, den es von der Theorie schon
beträchtlich früher erhalten hatte. Der Verf. der vorliegenden Schrift hat sich die
Aufgabe gestellt, den einzelnen Phasen nachzugehen, welche die Lehre von der Unver¬
äußerlichkeit der Legitimität von 1815 bis heute durchgemacht hat, um die UnHaltbar¬
keit des theoretischen Gebäudes nachzuweisen, an dessen Ausbau Bonald, de Maistre,
Haller, Friedrich Julius Stahl u. A. in. ihre besten Kräfte gesetzt hatten. Dieser Nach,
weis ist dem Verf. ebenso gelungen, wie der von der Wandelbarkeit und Unsicherheit
der Theorien, mit denen die „conservativen" Staatrechtslehrer das Impromptu des
einzig auf seine augenblicklichen praktischen Zwecke gerichteten faunischem alten Bischofs
von Autun zu begründen und zu stützen suchten. Besonders gründlich geht der Verf.
auf Stahls Theorie ein, der zwei besondere Abschnitte gewidmet sind. In dem vor¬
hergehenden Capitel war mit vieler Schärfe nachgewiesen worden, wie das Legitimitäts¬
princip unter den Händen seiner ersten Gläubigen zum Princip des monarchischen Absolutis¬
mus und mit diesem identisch geworden war. Stahl machte den Versuch, dem Legiti-
mitätsprincip innerhalb des konstitutionellen Staats eine Stätte zu bereiten, freilich
des constitutionellen Staats, den er eigens zu diesem Zwecke construirte und gemäß
den Forderungen des Legitimitätsprincips appretirte, d. h. seiner wesentlichsten Eigen¬
schaften entkleidete. Nach einer eingehenden Widerlegung der Stahl'schen Schul¬
sätze faßt der Verfasser in dem Schlußartikel „die Legitimität und der Besitz der
Staatsgewalt" die Resultate seiner Forschung in nachstehende Sätze zusammen:
In rechtlicher Beziehung schadet die Illegitimität dem Inhaber der Staatsge¬
walt ebenso wenig, als die Legitimität dem machtlos gewordenen Prätendenten nützt.
Die Legitimität ist ein staatsrechtlich irrelevanter Begriff. „Sie tritt ganz aus dem
Juristischen heraus und stellt sich als ein Begriff dar, dem alle seine Verfechter keine
juridische Brauchbarkeit verleihen konnten, nämlich als das sittlich und politisch werth¬
volle, staatsrechtlich aber vollständig werthlose Merkmal des Ursprungs eines
Monarchen oder einer Dynastie .... Die Legitimität ist kein Rechtstitel, auf welchem
hin ein depossedirter Fürst seinen Thron wiedergewinnen kann, es giebt kein Forum,
vor welchem, kein Rechtsmittel, durch welches er seinen Anspruch geltend machen, kein
Rechtsverhältniß zum Volk, auf welches er sich stützen kann." Ein sittliches, kein
staatsrechtliches Verhältniß — damit ist in der That das Wesen der Sache getroffen,
und wir können dem Verfasser nur vollständig beipflichten, wenn er zum Schluß seiner
Schrift sagt, wo die Legitimität nicht die sittliche Wirkung gehabt habe, Volk und
Herrscher unauflöslich zu verbinden, lasse diese Wirkung sich auch nicht als Rechtspflicht
fordern. — Es sei schließlich bemerkt, daß der Verfasser, der im Uebrigen mit Zöpfl
zusammengeht, im Gegensatz zu diesem behauptet, der Besitz der Staatsgewalt sei die
einzige Bedingung der Herrschaft und auch die nachträgliche Volksabstimmung könne
einem Usurpator keinen weiteren Rechtstitel auf die Krone geben, beziehungsweise
nehmen.
Dieses liebenswürdige Büchlein wird auch in seiner gegenwärtigen, beträchtlich umfang¬
reicher gewordenen Gestalt sicher auf ein dankbares Publicum zu rechnen haben; die
rasche Verbreitung, welche die bisherigen Ausgaben erlebt haben, macht jede weitere
Empfehlung desselben überflüssig. Wir können uns der Versuchung nicht erwehren,
dem Hrn. Verfasser bei Gelegenheit dieser Notiz ein Paar kleine Vorschläge zur Er¬
weiterung für die nächste Auflage, die sicher nicht lange auf sich warten lassen wird,
vorzulegen.
In die Zahl der lateinischen Citate, welche deutsches Volkseigenthum geworden
sind, gehört ohne Frage das oft gebrauchte „Huoä 1i«et5ovi, von Uoot dovi". Aus
der jüngsten Tagesgeschichte dürften nachstehende Worte als in den Volksmund über¬
gegangen sein jenes: „Ach ich bin so müde, ach ich bin so matt", das nach dem Ab¬
schluß des Friedens von Villa-Franca viel gesungen und wiederholt wurde — die vom
„Journal de Se. Petersbourg" im Februar 1863 gelegentlich der gegen die polnischen
Revolutionen angewandten Maßregeln gebrauchte Phrase „I^a loz^Ins nous tue" —
Napoleons „schwarze Punkte", welche im Herbst vorigen Jahres, wenn wir nicht irren,
zu Rouen auftauchten und endlich die „affenartige Geschwindigkeit", welche die wiener
Presse den unaufhaltsam nach Böhmen vorrückenden Preußen vorwarf. Das viel¬
gebrauchte Wort „Vollendete Thatsache" Me acoomxli) ist unseres Wissens zuerst im
Jahre 1850 in Cours gebracht und einem französischen Zeitungsblatt entnommen
worden. —
Mit Ätr. t beginnt diese Zeitschrift ein neues -Quartal,
welches durch alle Buchhandlungen und Postämter zu be¬
ziehen ist.
Leipzig, im December 1868.Die Verlagshandlung.
Unter den mannigfaltigen Wahrnehmungen, welche sich dem nordischen
Reisenden aufdrängen, wenn er in den classischen Ländern mit empfänglichen
Sinn dem Studium der Antike nachgeht, steht neben der natürlichen Be¬
wunderung ihres unübersehbaren Reichthums oft ein billiges Erstaunen über
die naive Weise, wie man allenthalben mit dem mühelos erworbenen Besitz
antiker Kunstschätze zu schalten sich erlaubt. Ich rede nicht von der Theil-
nahmlosigkeit, welche oft das Beste verwahrlost, statt ihm ersprießliche Ver¬
wendung zu geben; von dem knabenhaften Zerstörungsdrang, dem aller-
wärts fast bei jedem neuen Funde beklagenswerthe Opfer fallen; von dem
Aberglauben, welcher selten bei der bloßen Scheu vor dem Unverstandenen
stehen bleibt und nicht immer so langsam zerstört wie in Orchomenos, wo
man eine schöne Grabstele stückweise zu Pulver stößt, um dasselbe als Arznei¬
mittel gegen das Fieber einzunehmen. Aehnliche Züge wiederholen sich überall,
wo im Volke die Unwissenheit die Oberhand hat. Mehr aber fällt uns,
die wir Kunstwerke kaum anders als Feiertags in Museen zu sehen gewohnt
sind, jene unmittelbare vertrauliche Stellung der Antike im täglichen Leben
auf, der man in den meisten Fällen mit einem Tadel unrecht thun würde.
Zwischen der Volkssitte, alte Münzen zu durchbohren und als Amulette am
Halse zu tragen, und der künstlerischen Verwendung der Antike zur Decoration
in Wohnhäusern und Gärten, wie sie uns am lehrreichsten und geschmack¬
vollsten in der Villa Albani entgegentritt, liegen zwar zahlreiche Fälle von
verschiedenem Werth; aber alle haben das eine Gute gemein, daß sie dem
gleichsam wieder erstandenen Kunstwerk ein zweites Leben sichern. Denn wir
besitzen ja nur was wir gebrauchen, und das Kunstwerk, auch das antike, ist
nicht da, um blos erhalten zu werden, sondern um zu wirken.
Bei keiner Classe antiker Denkmäler tritt uns ihre Verwendung zu stehen¬
dem Gebrauch mannigfaltiger entgegen als bei römischen Sarkophagen. Vor
allem hat sich ihrer die Kirche schon in frühen Zeiten mit einer nicht immer
verständlichen Unbefangenheit bemächtigt. Nicht nur daß sie in Capellen und
Krypten oftmals ihre Bestimmung wiedererfüllen, ohne mit dem neuen In¬
halt immer auch eine neue Inschrift erhalten zu haben. Wir begegnen ihnen
nicht selten am Eingang von Kirchen als Behältern für das heilige Wasser,
in der Absiis als Altären, und wundern uns wohl, wenn in der Cathedrale zu
Girgenti aus einem Sarkophage,, der mit der nichts wenig er als heiligen Liebes¬
geschichte des Hippolyt und der Phädra geschmückt ist, noch heutigen Tages
getauft wird; wenn selbst in Se. Peter ein Gleiches noch bis zum Jahre 1693
geschehen konnte. Noch häufiger, namentlich in Rom, sind Sarkophage aus¬
einandergesägt und ihre Reliefs als Friesschmuck an den Facaden von Villen
und Palästen angebracht worden. Zahlreich sind sie auch sonst benützt, in
Höfen und Gärten als Blumenbeete, in Wirthschaften als Laden und Kisten,
in Se. scholastica bei Subiaco im Sabinergebirge sogar als Trog für die Acker¬
thiere. Und auf wie vielen Stadtmärkten, in wie vielen Palasthallen und
Parkanlagen stehen sie da als schmuckreiche Behälter des in sie rauschenden
und aus ihnen strömenden Wassers!
Wenn man an den Gebrauch des Kunstwerks mit Recht mehr als die
Forderung des Praktischen oder des allgemeinen Würdigen stellt und nament¬
lich verlangt, daß er dem künstlerischen Gedanken, der sich in der tectonischen
Form ausdrückt, nicht widerspreche, so kann man unter diesem Gesichts¬
punkte nicht alle der eben angeführten Verwendungen als sinnwidrig bezeich¬
nen. Eine ansehnliche Reihe von Sarkophagreliefs hat wesentliche Verwandt¬
schaft mit sogenannten friesartigen Compositionen und kann daher ohne
große Beeinträchtigung der ursprünglich beabsichtigten Wirkung als Fries
verwandt werden. Wo Sarkophage als Brunnenbehältcr oder überhaupt als
Wasserreservoirs vorkommen, darf man sich des Umstandes erinnern, dessen sich
das Alterthum selbst wohl bewußt war, daß wenigstens bei einer Classe von
Sarkophagen die technische Form aus derjenigen der Badewanne oder des
Trogs hervorgegangen ist. Es sind dies jene Särge von beinahe elliptischer
Gestalt, welche mitunter nicht senkrechte, sondern nach Außen überneigende
Wände haben und-an den Wänden mit Löwenköpfen als Speiern versehen
sind/) Anders gestaltete Exemplare fordern freilich zu einer ganz ver¬
schiedenen Fvrmableitung auf. Zuweilen nämlich liegt oben auf dem Deckel,
der dann gewöhnlich als kunstreich verzierte Matratze charakterisirt ist, halb
aufgerichtet halb gelagert die Gestalt der Todten selbst; und dann ist natur-
licher Weise der Sargkasten als Bettgestell (Iclino) aufzufassen, das ja recht
eigentlich als Ruhebahre des Leichnams nicht blos bei der feierlichen Ausstellung
im Hause sondern im öffentlichen Leichenzuge selbst diente. Wir besitzen ferner
eine bedeutende Anzahl römischer Marmorsärge, welche mehr oder minder deutlich
in ihrer tectonischen Form an die Stätten und Geräthe des religiösen Cultus
erinnern. Wie die zahlreichen sepulcralen Cippi, welche entweder selbst die
Asche des Verstorbenen enthalten oder den Ort der Beisetzung bezeichnen,
der Gestalt der Altäre durchaus entsprechen, so daß inschriftlich für eippus
nicht selten geradezu in-a vorkommt: so kehrt z. B. der einzige aus alt¬
römischer Zeit uns erhaltene verzierte Steinsarg, der berühmte Scipionen-
sarkvphag im Vatican, mit unbedeutenden Veränderungen genau als Altar
im Vorhof eines kleinen Tempels in Pompei wieder. Und wenn die Deckel
von so vielen Sarkophagen auf das Treuste die Form eines Tempeldachs mit
seiner Ziegelbedeckung, seinen Akroterien und Giebclschmuck zeigen, wenn an
den vier Ecken des Sargkastens selbst Karyatiden oder Atlanten auftreten,
an seinem obern, umlaufenden Rande zuweilen ein dem dorischen Tempel¬
schmuck entlehntes Blätterornament, welches das Tragen einer ausruhenden
Last veranschaulicht, ringsum aber friesartige Compositionen angebracht sind,
so wird augenfällig, daß mit alle dem eine zwar nur äußerlich verständliche
aber eben doch verständliche Uebertragung von Tempelformen auf Grabmonu¬
mente ausgesprochen ist. Auch hat der zu Grund liegende Gedanke an sich
nichts befremdliches. Schon früh verehrte man in Griechenland ausgezeichnete
Todte als Heroen und erbaute ihnen Capellen. In der Kaiserzeit ist Nichts ge¬
wöhnlicher, als Grabmonumente mit dem äußern Schmuck von Tempeln zu
bekleiden. Als weitverbreitet tritt uns die Gewohnheit entgegen den Statuen
der Verstorbenen die Form von Götterbildern, den Typus des Dionysos oder
Hermes, der Demeter oder der mediceischen Venus zu geben. Sonach kann es
nur für folgerichtig gelten, wenn auch das unmittelbare Haus des Todten
selbst als eine Art Tempel auftritt. Wie die katholische Kirche die Gebeine
der Märtyrer in die Altäre überträgt, um diesen dadurch größere Heiligkeit
zu geben, so dient umgekehrt im Alterthum Altar und Tempel dem Todten
sinnbildlich als Schutz gegen Entweihung.
Wo dieser- Schutz bis in die jüngste Zeit fortwährte und ein günstiges
Geschick es gefügt hat, daß Sarkophage in ihren Grabmonumenten selbst
an der Stelle erhalten werden konnten, wo sie seit Jahrhunderten gestanden
haben, da stellt sich wie von selbst für viele einschlagende Fragen reichere Be¬
lehrung ein, als das eifrigste Studium der größten Museen zu bieten vermag.
Zunächst mag auffallen, wie dieselbe Auffassung, nach welcher noch heutzutag in
ganz Italien ein Begräbniß unmittelbar in die Erde für unwürdig gilt, so daß
selbst der Aermste es vorzieht, mit hundert andern in einer großen gemeinschaft-
lichen Gruft zu ruhen, als Regel schon im alten Italien bestanden zu haben scheint.
Wenigstens finden wir sogar Sclaven in Familienbegräbnisse aufgenommen,
und es muß schlechterdings als Ausnahme gelten, wenn auf der Höhe
zwischen Albano und Arricia im Albanergebirge die Peperinsarkophage der
von Lsxtimius Levörus gegründeten lössio seeunäg. MrtKieg, unmittelbar in
der Erde stehen. Geschehen konnte dies selbstverständlich nur mit schmucklosen
Särgen. Was wir im engern Sinn als römische Sarkophage bezeichnen,
entbehrt des Schmuckes nicht und findet sich daher auch nur in Räumen,
worin die Verzierung einigermaßen zur Geltung kommen kann. Häufig be¬
nutzte man Sarkophage von einiger Größe zu mehrern Bestallungen. Ein
solcher, welcher zwei Leichname enthielt, hieß bisomum; doch hat man öfters
vier und mehr Gerippe vereinigt vorgefunden. Auf diese Weise wurde
wieder eingebracht, was man bei so prächtiger Art der Beerdigung, gegenüber
der bescheidenen Beisetzung der Asche, an Bestattungsraum verschwendet
hatte. Selten steht ein Sarkophag allein in einer Grabkammer; meist ist
diese so gefüllt, daß eine freie Bewegung in ihr beschwerlich erscheint. Offen¬
bar mit Rücksicht hierauf und in der richtigen Schätzung des spärlichen
Oberlichtes, welches die Gruft nur halb zu erhellen pflegte, sind die Re¬
liefs der Sarkophage meist ohne genauere Ausführung der Einzelformen und
in einer Höhe behandelt, daß sich die Figuren mit scharfen Schatten über¬
sichtlich von einander abheben. Wenn die Särge, wie es als Regel erscheint,
mit ihrer hintern Seite dicht gegen die Wand gerückt sind, so ist der Haupt¬
schmuck auf ihrer vordern Seite vereinigt, und die Nebenseiten Pflegen nur
leicht, in einem viel flacheren Relief bearbeitet zu sein, welches dann eben
weil es vom Lichte nur gestreift wird, wie die Schriftzüge eines Papier¬
abklatsches bei seitlicher Beleuchtung seinen Umriß verständlich und deutlich
in die Augen fallen läßt. Durch diese Berechnung der Arbeit für den Ort
der Aufstellung, worin die alte Kunst zu allen Zeiten ihren meisterhaften
Tact bekundet, erklärt sich auch befriedigend die oft beklagte Thatsache, daß
die Reliefs von Sarkophagen, in das volle Licht großer Museen versetzt, das sie
nicht vertragen, fast durchweg ungünstige Eindrücke hervorrufen. Denn nur in
vereinzelten Beispielen bieten sie noch einen leisen wohlthuenden Anklang an
die strengere griechische Kunstweise, deren Adel über alle Beeinträchtigung des
Zufalls spottet; vielmehr haben sie für denjenigen, welcher augenblickliche Freude
an der Form und eine wohlthätige Wirkung des Ganzen sucht, in ihrer Mehr¬
zahl nur geringe Anziehungskraft. Mit einer gewissen Ueberwindung sucht der
Künstler in ihnen Anregung zu neuen Schöpfungen, der Archäolog bildliche
Erläuterung der Alterthümer und mythologischen Erzählungen, die große
Menge zieht an ihnen vorüber, zuweilen wohl mit einem gelinden Schauer
über die „mustergiltige" Antike. Sind sie doch eben nicht Werke von großen
Künstlern, sondern von bescheidenen Arbeitern, nicht aus dem goldenen Zeit¬
alter künstlerischer Leistungen wie die griechischen Vasen, in deren Bildern
wir einen Abglanz aus der Höhe der Kunst bewundern, sondern im Schooße
eines Volkes erwachsen, welches, wenn man von seiner großartigen Bau¬
geschichte absieht, der Kunst Anforderungen ohne Verständniß stellte, den
Künstlern Aufträge ohne Theilnahme entgegenbrachte und sich kaum anders für
Bildwerke zu interesstren verstand als durch den Namen des Urhebers und den
Preis. Recht eigentlich in Rom und vornehmlich an den Denkmälern, von
denen ich rede, hat sich eine Richtung der alten Kunst ausgebildet, die mit
derjenigen unserer Zopfzeit in wesentlichen Dingen verwandt ist. Was in
der jüngsten Geschichte der Aesthetik treffend von dieser ausgesagt wird
„ein Hinneigen zu dem Lärmen angeblicher Großartigkeit, zu der Friedlosig-
keit des Gewaltsamen, der Ueberladung gesuchter Reize" gilt mit den natür¬
lichen Einschränkungen, deren jeder geschichtliche Vergleich bedarf, auch von
jener. Hand in Hand mit einer ähnlich bewundernswürdigen technischen
Herrschaft und Schnellfertigkeit geht in dieser Periode der alten Kunst eine
ähnliche inmitten ihres Reichthums arme Freiheit der Erfindung, welche die
gegenseitigen Grenzen der bildenden Künste nicht mehr achtet und mitunter
nach einem Ausdrucke strebt, welcher billiger Weise außerhalb der Kunst ge>
sucht werden sollte.
Während sich die Archäologie in der Würdigung großer Kunstwerke,
wie sie uns vorzugsweise bei den Griechen als Offenbarungen des Schönen
überhaupt gelten, mit der Aesthetik berührt, so liefert sie mit der Behandlung
der Erzeugnisse des Kunsthandwerks ein unverächtliches Material für die
Geschichte. Was uns die in jedem Betracht große Classe griechischer Vasen¬
gemälde bedeutet, wenn wir aus ihnen in immer zunehmender Deutlichkeit
ein Bild von dem Fortschreiten der Kunst und eine Fülle von Anschauung
erhalten für Sitten und Gebräuche, für Handelsverkehr und Handwerk, für
Cultus und Religion, dies Alles bedeuten uns, wenn auch in viel beschränkterer
Weise, die Darstellungen der römischen Sarkophage. Und wenn die Aus¬
beutung ihres auteur- und kunstgeschichtlichen Werthes in der Regel nur für
den einzelnen Fall und in den verschiedenen denkbaren Beziehungen noch mit
ungleichem Erfolge geschehen ist, so wird der Versuch eines Ueberblicks über
die bereits gewonnenen und noch zu erreichenden Zielpunkte der Forschung in
eben diesem Umstände Berechtigung und Entschuldigung finden. —
Schon die bloße Existenz der Sarkophage ist von geschichtlicher Bedeutung.
Cicero war der Ansicht, daß in Italien die Sitte des Begrabens älter sei, als
die des Verbrennens. Jedenfalls reicht die letztere in hohes Alterthum zurück, wie
noch jüngst klar wurde, als man unter der Lava des schon in vorgeschicht¬
licher Zeit erstorbenen Vulkans im Albanergebirge allerlei irdene Aschen-
gefäße auffand. Das Zwölflafelgesetz kennt beide Arten der Bestattung.
Daß aber das Verbrennen immer mehr um sich gegriffen habe und schon in
den letzten Jahrhunderten der Republik das Ueberwiegende gewesen sei, wird
aus dem Umstände geschlossen werden dürfen, daß uns außer dem schon ge¬
nannten Scipionen-Sarkophag kein namhaster urkundlich beglaubigter Stein¬
sarg aus republikanischer Zeit erhalten ist. In der ersten Kaiserzeit ist das
Verbrennen -durchaus Regel, wie denn in der ganzen großen Gräberanlage
von Pompei kein einziger Sarkophag zu Tage gekommen ist. Erst im An¬
fang des zweiten Jahrhunderts kehrt man, und zwar wie mit einem Male,
zur Sitte des Begrabens zurück und die nun zur Mode gewordenen in
neuen Typen ausgebildeten römischen Sarkophage erfahren eine Verbreitung
über alle Theile des römischen Reichs bis an seine fernsten Grenzen, selbst
über Griechenland. In der That sind bei Ausgrabungen, die man neuer¬
dings in den Begräbnißstätten von Ostia, auf der Via Appia Labicana und
Latina anstellte, wobei es sich durchgängig um Denkmäler des zweiten und
dritten Jahrhunderts handelte, Cippen und Aschenurnen in verschwindend
kleiner Zahl zu Tage gekommen. Die spätere Zeit kennt, wie ein Schrift¬
steller des vierten Jahrhundert sagt, nicht einmal mehr Ausnahmen. So
haben wir es also mit der merkwürdigen Thatsache der plötzlichen Umwan-
delung einer tiefgreifenden Volkssitte zu thun. Und so gewiß sich der Wechsel
einer Sitte recht im Unterschied von dem Wechsel der Mode nicht aus äußern
Gründen, sondern nur durch Umgestaltung der innern Anschauungsweise er¬
klären läßt, — in diesem Falle also ein Hinweis auf die Neigung jenes Zeit¬
alters, zu alterthümlichen Formen zurückzukehren oder seine Prachtliebe, die
sich mit einer breitern Schaustellung künstlerischen Schmuckes auch in den
Denkmälern der Todten habe genügen wollen, den Kern der Sache berühren
würde: — so gewiß trifft Jacob Grimm in seiner schönen Abhandlung über
das Verbrennen der Leichname das Wahre, wenn er in jener Thatsache einen
Einfluß des Christenthums erkennt.
Von weiterem Belang ist die Herstellung der Sarkophage. Schon ihre
große Zahl weist auf eine Art der Anfertigung hin, welche auf die Menge,
nicht auf die Vollendung des einzelnen Stücks bedacht ist, also auf Fabrikation-
Häusig genug finden sie sich in Gräbern so wie sie unmittelbar aus dem
Magazin des Fabrikanten kamen, mit einem ausgeschriebenen v. N. (vis
Niwibus), welchem die eigentliche Grabschrift noch hätte folgen müssen, oder
mit einem nur ungefähr angelegten Brustbilde, dessen Ausführung erst
auf jedesmalige Bestellung geschah. Recht anschaulich führt uns die Relief¬
darstellung eines Sarkophags, welcher in den römischen Catakomben gefunden
wurde, in die Werkstatt eines solchen Fabrikanten ein. Ein Sarg steht
schon fertig da, an den Canelluren eines andern größern arbeiten zwei
Gesellen mit einem Marmorbohrer, wie er ähnlich auch von den heutigen
Bildhauern angewandt wird. Eutropos selbst, so heißt nach der Inschrift
der Todte, überwacht die Arbeit als Herr der Werkstatt, während eine
Taube mit einem Oelblatt aus ihn zufliegt, womit in diesem Fall schwerlich
blos ein allgemeines Sinnbild gegeben, sondern geschildert werden sollte, wie
ihn der Tod über der Arbeit gefunden und ihm den Frieden gebracht habe,
Beachtung verdient, daß der Fabrikant ein Grieche ist; denn daß es in
der Regel Griechen, nicht Römer waren, welche für den großen Bedarf römi¬
scher Grabstätten arbeiteten, erhellt aus den Gegenständen und der Art der
Darstellungen, womit man Sarkophage zu umkleiden liebte. Auch wird dies
so allgemein angenommen, daß man sogar die Meinung aufgestellt hat, die
Sarkophage seien sammt ihren Reliefs größtentheils in Griechenland gearbeitet
worden und als fertige Waare in den überseeischen Handel gekommen. Eine
scheinbare Stütze findet diese Ansicht zwar in dem Umstände, daß das Ma¬
terial großentheils griechischer Marmor ist — wie denn der Name Sarkophag
selbst von einer Steinart aus Achos in Troas herrührt, welcher man die Kraft
zuschrieb, in Kürze die verwesenden Theile des Leichnams aufzusaugen, — aber
unleugbar ist die Wahrnehmung, daß die in Griechenland selbst gefundenen
römischen Sarkophage Fabrikationsunterschiede zeigen, die sich bei jener Ansicht
schwer erklären würden. Unnöthig erscheinen auch die Gefahren und die Kosten
des Transports, da doch gerade die besten griechischen Künstler jener Zeit
fortwährend in Rom beschäftigt wurden und neben sich naturgemäß eine große
Anzahl Handarbeiter haben mußten. Geradezu entscheidend aber ist die
Thatsache, daß sich in Rom Sarkophage aus griechischem Marmor mit un¬
vollendeten Neliefschmuck gefunden haben. Ganz wahrscheinlich ist, daß
man in den Marmorbrüchen die für Sarkophage bestimmten Blöcke ausge¬
höhlt, ihnen wohl auch in einzelnen decorativer Theilen die fertige Form
gegeben, die Ausführung der Reliefs aber den am Orte des Gebrauches ar¬
beitenden Künstlern überlassen habe. Und so wäre es denn nicht zu ver¬
wundern, wenn auf dem Emporium Roms am Tiberufer neben den aus dem
Orient und aus Griechenland stammenden abbozzirten Säulen, die dort noch
heutigen Tages gefunden werden, auch einmal ähnlich abbozzirte Sarkophage
zum Vorschein kämen.
In weit höherem Grade noch als durch ihre Fabrikation sind die Sarko¬
phage durch ihre Darstellungen ein beredtes Zeugniß sür die Hellenisirung Roms.
Denn es ist eine eigenthümliche Erscheinung, daß sich in ihnen kaum ein eigent¬
lich nationaler Zug findet. Wo Gottheiten geschildert sind, begegnen wir nir¬
gends den Gestalten des römischen Glaubens: die capitolinischen Götter, welche
zuweilen als Zuschauer einer Handlung austreten, haben stets griechische Tracht
und Haltung. Wo Vorgänge der Heroengeschichte erzählt werden, forschen
wir vergeblich nach römischem Sagenstoff; selbst die Darstellung des Mars
bei Rhea Silvia, die als Ausnahme gelten kann, ist eine bis auf Kleinig¬
keiten genaue Wiederholung der griechischen Composition des Endymion mit
Selene. Wo das Gebiet des gewöhnlichen Lebens und der täglichen Arbeit die
Gegenstände liefert, sehen wir in der Regel eine Vortragsweise angewandt, die
ihrem innersten Wesen nach nur der ideal denkenden griechischen Phantasie ent¬
springen konnte. Das Genre ist in eine höhere Sphäre gespielt: anmuthige
Flügelknaben (in denen man mit Unrecht Genien gesehen hat) sind es,
welche auf den Wogen schiffen, in der Schmiede die Waffen hämmern, in der
Palästra ringen, auf dem Felde den Saamen streuen und die Früchte
des Jahres ernten. Freilich ist mit alledem nicht gesagt, daß Sitte und
Geschmack des römischen Volkes ohne Einfluß auf das geblieben wäre,
was es sich von griechischen Händen bieten ließ. Die Griechen em¬
pfanden das Bedürfniß nicht, sich bis in alle Zufälligkeiten treue Bilder
ihrer Verstorbenen zu bewahren. In den Familienscenen, die ihre Gräber
zieren, sind alle Altersstufen in den individuellsten Figuren vertreten; aber
es ist eine in Kleinem wie Großem ideale Individualität, es sind Menschen,
die so nicht gelebt haben und nicht leben werden, Bilder menschlicher Schön¬
heit und menschlicher Empfindung, welche der Wirklichkeit nur das äußere
Kleid entlehnen. Der Römer dagegen, der seine iiuaginss unmittelbar nach
der Natur abformen ließ, der mit ächtem Adelsstolz auf die Bilder seiner
Vorfahren im Atrium sah, die er dem Leichenzug des Vaters in feierlicher
Folge durch den Verkehr des Marktes zu seiner seclös aeterug. vorausziehen
ließ, verlangte auch aus Grabmonumenten treue und genaue Porträts, nicht an
einer Stelle allein, sondern möglichst oft wiederholt, und namentlich am
Sarge selbst zum Schutz gegen Verwechslung, welche seiner mit der Pedan¬
terie angeschwisterten Pietät ein Greuel gewesen sein würde. Diesem Be¬
dürfniß mußten die griechischen Künstler Rechnung tragen; nicht immer
in so verständiger Weise, daß die ganze Figur liegend dargestellt wurde;
oft ganz unvermittelt innerhalb der figurenreichen Darstellung ist in
der Mitte der Vorderseite (oder ausnahmsweise auf einer der Schmal¬
seiten) das Hoplon oder Clipeus (wir würden sagen das Medaillon) mit
dem in Hochrelief vorspringenden Brustbild angebracht. Und eine nur äußer¬
liche Vermittelung ist es, obschon mit Hilfe eines an sich feinen Gedankens,
wenn inmitten der andersartigen Darstellung Siegesgöttinnen dem Be¬
schauer das Porträt des Todten Hinhalten. So ist es auch nur poetisch an¬
sprechend, nicht künstlerisch erfreulich, wenn sich das Porträt in die ideale
Darstellung selbst einschleicht, wenn die überraschte Ariadne, der schlafende
Endymion und andere Figuren mitten in ihrer idealen Umgebung ein Por.
trätgesicht erhalten oder wenn gar, wie auf einem Sarkophage aus Ostia
im Nuseo VKiaramonti in der sonst ganz idealen Darstellung die Porträts
einer ganzen Familie vorkommen. Wie weit man in dieser Anbequemung
an die herrschende Liebhaberei ging, zeigt recht schlagend ein Sarkophag im
Lateran, auf dessen Vorderseite in drei einzelnen Scenen links der Abschied
des Adonis, rechts die Verwundung desselben auf der Jagd, in der Mitte
sein Tod in Aphroditens Armen dargestellt ist. Hier wurde vom Künstler
in der räumlichen Folge der Scenen die Zeitfolge nicht beobachtet, weil er
die Figuren von Adonis und Aphrodite, welche die Porträtzüge der Ver¬
storbenen, offenbar Mutter und Sohn, tragen, als das Hauptsächliche aus-
zeichnen und sie gerade, gewissermaßen an Stelle des üblichen Medaillons,
in die Mitte bringen wollte.
Ebenso interessant als eine Beachtung dessen, was auf Sarkophagen nicht
vorkommt, wäre eine Statistik der mythologischen Darstellungen, welche vor¬
kommen. Vergleicht man nämlich den noch jetzt sich immer erweiternden
Reichthum griechischer Mythenstoffe in Vasengemälden mit dem Umfang des
mythologischen Kreises auf Sarkophagen, so scheint sich ein ähnliches Ver¬
hältniß zu ergeben, wie es in der Geschichte der Ueberlieferung literarischer
Producte längst feststeht: daß nämlich die Zeit, je jünger sie ist, je mehr in
der Ueberlieferung ausscheidet, daß der Kern desjenigen, was wirklich be¬
nutzt und verstanden fortlebt, von Geschlecht zu Geschlecht mehr zusammen¬
schwindet. Auch hält es nicht schwer, das Gesetzmäßige dieser Erscheinung zu
begreifen. So wenig die volle Erfahrung des Vaters aus den Sohn sich
fortpflanzt, so wenig kann die Summe der geistigen Arbeit eines Zeitalters
ungeschmälert auf das folgende übergehen; und der Umfang und innere Werth
dessen was geistig ererbt wird, ist Grund und Gradmesser für das Steigen
und Sinken der Cultur. Wir begegnen auf den Grabstätten des zweiten
und dritten Jahrhunderts n. Chr. nur eben einer verhältnißmäßig kleinen
Auswahl aus der reichen Fülle von Mythen, die Jahrhunderte früher durch
die Hand der Künstler leibhaftiges Dasein erhalten hatten. Und auch diese
Auswahl, die sich nicht unpassend mit den mythologischen Gemeinplätzen spä¬
terer lateinischer Dichter vergleichen läßt, verringert sich offenbar im Lause
der Zeit und das Ueberlieferte selbst wird statt durch Verständniß neubelebt,
mit unschöpfenscher Wiederholung zu Tode gehetzt. Aehnlich wie wir aus¬
drucksvolle Dichterworte oft in einem neuen ihnen nicht eigenen Sinne an¬
wenden, so scheint das einzig Eigenthümliche in diesen allbekannten und alt¬
überlieferten Darstellungen in dem neuen Sinn zu liegen, der ihnen durch
die Verwendung auf Grabdenkmälern untergelegt wurde. Dieses Interesse
ist indeß von nicht geringer Bedeutung: dem Numismatiker sind unter den
antiken Münzen die ungeprägtem, welche den ältern und den jüngern Stempel
zugleich erkennen zu lassen, von besonderer Wichtigkeit. Und wenn in den
Sarkophagdarstellungen gerade der jüngere Stempel, (wenn ich im Bilde
bleibend die Symbolik, die sie enthalten, so bezeichnen darf) gerade der weniger
deutliche ist, so ist bisher mit den Schwierigkeiten, welche einer besonnenen
Erklärung daraus erwachsen, das Interesse und die Bemühung, ihm gerecht
zu werden, nur gestiegen.
Bei näherer Betrachtung ergeben sich gewisse Arten von Bedeutungen,
die sich, wie sehr sie auch ineinander übergehen, doch bis auf einen gewissen
Grad auseinanderhalten lassen. Einmal sind persönliche, zufällige Beziehungen
zu den Todten selbst anzunehmen. Wie oberflächlich und spielerisch dieselben
oft gehalten waren, zeigen Beispiele, die wir durch Inschriften controliren
können. So wird auf dem Grabe eines Jünglings Diadumenos die Athleten¬
statue Diadumenos von Polhklet wiederholt; auf einem andern spielt die
Figur eines Ebers auf den Namen des Todten 1. Ltatilius ^xer an. Ueber
einer Darstellung des Achilleus und der Penthesilea erklärt ein ehrlicher
Mann von seiner verstorbenen Frau inschriftlich: nach dem treulosen Rath¬
schluß des Schicksals hatte sie die Schönheit einer Amazone, sodaß ich sie
eigentlich erst zu lieben anfing als sie todt war. In anderem Sinn mag
sich auf den Todten beziehn, was an Schilderungen des täglichen Lebens, des
Handels und Verkehrs, des Handwerks und der Kunst vorkommt. Auf
Kindersärgen sind mit Vorliebe Kinderspiele angebracht. Die .Person des
Todten tritt dagegen zurück, wo es sich um eine Veranschaulichung gewisser
Eigenschaften des Lebens überhaupt in allegorischer Weise handelt; und
gerade diese Classe von, Darstellungen führt uns oft die ansprechendsten Ge¬
danken in anmuthiger leicht faßlicher Form vor. So rudern Eroten in
Nachen über das Meer nach dem Pharus, welcher den Eingang zum Hasen
bezeichnet; eine Reihe von Wettrennern sucht auf galloppirendem Gespann
im Circus sich zu überholen, um rechtzeitig und glücklich um die gefährliche
Meta (Wendestelle) herumzukommen; von dem Kornfelde, auf dem die
Schnitter noch ihre Garben binden, wird ein hoher schwerbeladener Wagen
von den Zugthieren dem nahen Stadtthore zugefahren; eine Schaar Ge¬
sellen zieht lustig zu Pferd oder zu Fuß durch den Wald hin. Auch findet
sich wohl eine Reise zu Wasser und zu Lande geschildert. Wahrscheinlich das
Erblühen und Verwelken des Lebens ist mit der so häufigen Darstellung der
vier Jahreszeiten gemeint. Eindrücke anderer Art, aber immer mit dem all¬
gemeinen Grundgedanken rufen die Arbeiten des Harakles hervor, oder die
Ringkampfe in der Palästra, denen die Bekränzung des Siegers nicht fehlt,
oder die liebliche/ Geschichte von Eros und Psyche, wie sie sich quälen und
im Kusse wiederfinden. Die allgemeinen Schicksale des Welttreibens werden
veranschaulicht an den großen Erfahrungen eines einzigen Hauses, in dem
leidvollen Leben des Oedipus oder dem wechselvollen Geschick der Familie
des Agamemnon, von der Tödtung des Aegisth und der Klytämnestra durch
Orest an bis zur Sühnung des Hauses durch die allein reine Iphigenie.
Ebenso ernsten Charakter, wiewohl immer in jener Sanftheit, an welche
sich der griechische Schönheitssinn gebunden fühlte, tragen dann die Dar¬
stellungen, die sich auf den Tod selbst beziehen. Hieher gehören die Er¬
zählungen von Liebesverhältnissen der Götter zu den Sterblichen. Wenn
Kora von Pluton hinweggeraubt wird und Demeter sie vergebens sucht,
wenn der schöne Hylas von den auftauchenden Nymphen hinab in die Quellen
gezogen, Ganymedes vom Adler in die Höhe gehoben wird, so tritt neben
dem poetischen Eindrucke dieser euphemistischen Umschreibungen des Sterbens
der religiöse Gedanke entgegen, daß es die Liebe der Götter ist, die den
Sterblichen aus der gegenwärtigen Welt hinwegnimmt, ein Gedanke, der in
mancherlei Formen durch das ganze Alterthum hindurchsptelt> von dem be¬
rühmten Chor im sophokleischen Oedipus auf Kolonos an: „Nie geboren zu
sein, o Mensch, ist das höchste, das größte Glück, aber dafern Du das Licht
erblickt, acht' als bestes, dahin zu gehn wieder, von wannen du kamst,
mit Eilschritt!"
Besonders häufig wird der Tod geschildert, der den Heroen widerfährt,
offenbar als Trost, daß er allgemeines Loos auch der Besten ist. So schaut
Narkissos todesmüde sein eignes Bild in der Quelle, worin er sein Ende
finden wird; Herakles ruht auf dem lodernden Scheiterhaufen, um nach der
Arbeit seines Lebens der Unsterblichkeit theilhaftig zu werden; Ntobe steht
geängstet und hilflos unter der Schaar ihrer Kinder, welche die Pfeile der
erzürnten Götter treffen; Hector wird von den Seinen todt vom Schlacht¬
felde hinweggetragen und Andromache stürzt mit ausgebreiteten Armen auf
ihn zu. hervor aus dem Thore von Ilion. — Unter den Darstellungen, die
sich mit größerer oder geringerer Bestimmtheit auf den Zustand nach dem
Tode beziehen, kommen selten Schilderungen vor, welche die Schrecken des
Tartaros vorführen oder daran erinnern, wie etwa die durch Frevel an der
Gottheit verschuldeten Leiden eines Marsyas oder Aktäon.
Wie die Verfasser prosaischer und metrischer Grabinschriften nach der
Weise der Dichter nicht müde werden, den Tod mit dem Schlafe, das Sterben
mit dem Einschlummern, die Todten mit Ermüdeten zu vergleichen, so lassen
die Sarkophagarbeiter sich kaum eine Gelegenheit entgehen, Schlafende dar¬
zustellen. Eros vor allem schläft, ausgestreckt auf seiner Löwenhaut, sitzend
aufs Knie geneigt, oder er lehnt stehend das müde Haupt auf die Schulter
Besonders häufig kehrt die Figur einer Nymphe wieder, die über dem Rieseln
der Quelle, die aus ihrer Urne strömt, in Schlummer gesunken ist. Und mit
augenscheinlicher Vorliebe sind solche Compositionen wiederholt, deren Haupt¬
figur schlafend gegeben werden konnte: Selene, die des Nachts Endymion
besucht, Dionysos, wie er Ariadne findet. Mars bei Rhea Silvia. Bei weitem
die reichste Classe von Sarkophagdarstellungen aber bewegt sich im Kreise
des Dionysos und schildert in bewundernswürdiger Mannigfaltigkeit der
Stimmung seine Schicksale und seinen Cultus, den stillen Ernst und die tolle
Ausgelassenheit seines ihn feiernden Gefolges. Unmittelbar verwandt schließt
sich die Classe der Darstellungen des an phantastischen Bildungen so über¬
reichen Meerthiasos an. Man hat diese als eine Anspielung auf die Inseln
der Seligen aufgefaßt, in jener einen Hinweis auf die Mysterien gesehen,
auf den Zustand der Eingeweihten, die nach der berühmten Stelle in Aristo-
phanes Fröschen im Reiche Plutons den Gott der Mysterien Jankndos feiern.
Beides ohne sichere Begründung. Und so haben sich denn auch Deutungen
anderer Art daneben Geltung verschafft, welche aber alle darin einig sind,
daß diese Darstellungen eine Beziehung auf das jenseitige Leben in vielen
Fällen nicht nur zulassen, sondern fordern. Wenn gerade hier die Vieldeutig¬
keit des Gegenstandes die Sicherheit der Erkenntniß in jedem einzelnen Fall
erschwert, sodaß die jüngste Forschung nicht ohne Grund gegenüber der
älteren von der Romantik beeinflußten Erklärungsweise sich mehr zuwartend
verhält, so wird nur einer zusammenfassenden Untersuchung die Lösung der
schwierigen und durch ihre Unbequemheit nichts beseitigten Aufgabe gelingen
können.
Zu ungleich bestimmteren Ergebnissen ist die kunsthistorische Ausbeutung
der Sarkophagdarstellungen gelangt. Auf dem Wege einer genauen Ver-
gleichung der Compositionen untereinander und einer strengen Analyse ihrer
Bestandtheile hat man bisher in vielen Fällen mit Glück verschiedene Zeiten
der Erfindung, verschiedene Classen von Originalen nachgewiesen; und je
Wetter dieser Proceß der Zersetzung des gesammten Vorraths fortschreitet,
desto reicheren und sicherern Gewinn scheint er zu versprechen. Da oft von
einer und derselben Composition zahlreiche mehr oder minder abweichende
Wiederholungen vorliegen, so galt es zunächst, sich eines Merkmals zu ver¬
sichern, um innerhalb einer solchen Familie das Aeltere von dem Spätern,
das Ursprüngliche von dem Abgeleiteten zu unterscheiden. Bedeutenden
Fingerzeig konnte dabei die Geschichte der griechischen Vasenmalerei bieten.
In dem gemalten Schmuck griechischer Vasen, welcher ursprünglich von dem
bloßen Ornament ausgeht, , dann zu einer streng symmetrischen Verbindung
von Figuren fortschreitet und erst spät allmälig Compositionen zeigt, denen
volle künstlerische Freiheit des Raumgefühls nachgerühmt werden kann, tritt
in den Zeiten des Verfalls die Bedeutung der Composition als solcher zurück
vor dem Bestreben, den gegebenen Raum auszufüllen. Wie die späten unter-
italischen Vasen zeigen, werden die Figuren immer decorativer angeordnet,
das Beiwerk macht sich immer breiter, auf raumausfüllende Nebendinge wird
immer größeres Gewicht gelegt, und es wird wieder zur Hauptangelegenheit,
Formen und Farben möglichst gleichmäßig über die gegebene Fläche zu ver¬
theilen. Eine ähnliche Erscheinung läßt sich in den römischen Sarkophag-
reliess nachweisen. Den Arbeitern derselben lag so gut wie den Verfertigern
der etruskischen Aschenkisten eine Reihe von Zeichnungen oder Modellen vor,
die sie selten einfach copirt zu haben scheinen. Wie die römischen drama¬
tischen Dichter in der Übertragung griechischer Dramen verfuhren, so conta-
minirten sie Verschiedenartiges, ließen je nach dem Raumbedürfniß weg und
bethätigten ihre Produktivität namentlich durch Hinzufügungen, die sich in
ihrem geringen Werthe als solche leicht verrathen. Mit einer immer zu¬
nehmenden Aengstlichkeit füllten sie jeden leeren Fleck aus, häuften Füllwerk
auf Füllwerk und kamen so schließlich zu Compositionen, die eine gewisse
Verwandtschaft mit Mustern haben. Durch diese Wahrnehmungen stellte es
sich denn als Regel heraus, daß man je überfüllter eine Darstellung ist,
einen desto spätern Ursprung voraussetzen muß; und mit dieser Regel ergab
sich wie von selbst die Anwendung der philologischen Methode bei der Be¬
nutzung alter Handschriften: man sonderte Interpolationen aus, schätzte den
Werth der verschiedenen Ueberlieferungen gegeneinander und suchte aus dieser
Verschiedenheit sich das Archetypon in möglichster Einfachheit wiederherzu¬
stellen. Dies Archetypon selbst war aber wieder ein Abgeleitetes und so er¬
gab sich die weitere Aufgabe, die ältern Originale oder doch die ältern
Motive nachzuweisen.
Untersuchungen der letzteren Art haben nun das für jene Zeit bedeut¬
same Ergebniß festgestellt, daß man mit einer ähnlichen Freiheit, wie sich
die Sprache aus allen Gebieten der geistigen Arbeit recroutirt, in den Nach¬
ahmungen und Verwerthungen älterer Produktionen sich keineswegs auf eine
Form der plastischen Kunst, ja nicht einmal auf die plastische Kunst selbst
beschränkte. Bei einigen Sarkophagreliefs hat man Tempelfriese voraus¬
gesetzt und in einzelnen Fällen recht einleuchtende Beweise beigebracht. Sicher
sind bei weitem häufiger Statuen nachgebildet worden, Die bronzene Nike
in Brescia, vermuthlich ein Originalwerk aus guter griechischer Zeit, eine
in mannigfaltigen Wiederholungen erhaltene Gruppe der nackten Grazien,
welche unter Andern auch von Canova modernisirt worden ist, eine schöne Figur
des geflügelten Schlafgottes von griechischer Erfindung — er eilt in sanftem
Laufe vorwärts, das müde Haupt niedergesenkt, und schüttet sein Füllhorn
über die Welt aus —, der alte Typus einer jugendlichen Marsfigur, der
medicetschen Venus und Anderes begegnet uns häufig vereinzelt oder in
größeren Darstellungen als Reliefs auf Sarkophagen. Die von Plinius in
der curia. Oewvmö erwähnte Gruppe eines Satyrn, <mi oratere alterius fielen
seäat, die von eben demselben Schriftsteller genannte Centaurin, die ihr
Junges säugt, kommen im Zuge des dionysischen Thiasos vor, wie überhaupt
viele Figuren desselben, so namentlich gewisse Typen des Herakles und rasen¬
der Mänaden sich entschieden älteren Motiven anschließen. Und erst jüngst ist
in der Nähe von Athen in einem Grabe, das vermuthlich dem Herodes Attikus
angehörte, ein Sarkophag zum Vorschein gekommen, dessen Reliefs die be¬
kannte venetianische Gruppe der Leda mit dem Schwan, Statuen der Dios¬
kuren und die berühmte Figur des bogenspannenden Eros auf das Genaueste
wiedergeben.
Aber auch die Malerei hat öfters den Vorwurf geliefert, und dabei
verdient es volle Beachtung, mit wie richtigem Takt meist dieses Uebergreifen
auf fremdes Gebiet bewerkstelligt worden ist. Züge aus der Alexanderschlacht
in Pompei, die offenbar selbst auf eine ältere Malerei zurückgeht, sind in
einem Relief aus Jsernia wiedergefunden. Mit Wahrscheinlichkeit hat man
gewisse Darstellungen der Tödtung des Aegisth und der Klytämnestra auf
ein berühmtes älteres Bild, Darstellungen des Wiedersehens von Jpht-
genie und Orestes auf ein Werk des Timomachos bezogen. Recht schlagend
ist die Nachahmung eines Bildes, welches Polygnot in der Lesche zu Delphi
gemalt hatte: Oknos ein Greis, welcher in der Unterwelt ein Seil flicht, das
ein Esel verzehrt, sodaß er nie mit der Arbeit zu Ende kommt. Dieses letztere
Beispiel dürfte so ziemlich das einzige sein für die Nachahmung eines so alten
Kunstwerks aus Sarkophagen. Gewisse Einzelheiten z. B. bestimmte Trachten,
wie das regelmäßige Kopftuch der Ammen und die offenbar durch die Tra¬
giker, namentlich durch Euripides beeinflußte Form der dargestellten Mythen
lassen auf Originale schließen, die nicht älter als das 4. I. vor Christus sein
können.
Die Bedeutung der Sarkophagdarstellungen für die Kunstgeschichte ist
aber nicht blos eine retrospective. Sie haben, wenn auch bescheiden, Antheil
gehabt an der Wirkung der Antike im Erstehen und Wachsen der neuen
Kunst. Aus den Sarkophagreliefs im Lamxo 8g.illo zu Pisa entnahm Niccola
Pisano die Anregungen für seine Schöpfungen, die eine völlige Umgestaltung
der mittelalterlichen Skulptur bezeichnen. Die Quattrocentisten, namentlich
die Mantuaner, haben wiederholt auf Fresken und Oelbildern Sarkophag-
reliess copirt als Schmuck in der so beliebten architektonischen Staffage. Be¬
kannte und verloren gegangene Reliefs finden wir in den Scizzenbüchern
eines Balthasar Peruzzi, in dem reichen Schatz von Handzeichnungen alter
Maler in den Ufsizien wieder. Selbst Raphael hat es nicht verschmäht,
von so unscheinlichen Denkmälern zu lernen. Die Figur des vom Thron
gestoßenen Aegisth auf einem Sarkophag ist in den Loggien wiederholt; und
nach einer anderen Raphael'schen Zeichnung hat ein jetzt nur zur Hälfte
erhaltenes Relief in Villa Imäoviei, welches das Urtheil des Paris darstellt,
ergänzt werden können. Um schließlich an recht Alltägliches zu erinnern: der
sogenannte Genius mit der umgekehrten Fackel und dem Kranze, der so oft
auf unsern Friedhöfen mitten unter der Schaar christlicher Kreuze steht,
stammt nirgend anders her, als von den römischen Sarkophagen.
Wer in diesem Winter aus Neapel berichtet, muß wohl zuerst des alten
Zerstörers gedenken, der vor Kurzem wieder sich gewaltig gezeigt hat.
Heute am 1. December ging es zur Lava hinauf, die uns schon einige
Tage durch Rauch und Schein gelockt hatte. Wir fuhren nach Portici (das
sich ohne Brücke an Neapel anschließt) und schlugen uns von da seitwärts
unter Leitung eines Führers in die Weinberge, aus denen uns schon ein
Brandgeruch entgegenwehte. Der Anblick, der sich alsbald darbot, war
ebenso überraschend und fremdartig, wie abscheulich. Wir hatten uns die
Sache anders gedacht, erkannten aber sehr bald, warum sich das Phänomen
hier, wo der Lavastrom zum Stehen gekommen war, so und nicht anders
gestaltete. Vor uns nämlich erhob sich in einer Höhe von vielleicht 20 Fuß
in schräger zerrissener und zerklüfteter Böschung eine schwarze formlose brockigte
Masse, die sich am Besten mit einer Aufschüttung gefrorner und leicht
beschneiter Erdschollen vergleichen läßt und die diesen Vergleich fast voll¬
ständig aushalten würde, wenn nicht hie und da Rauch daraus emporstiege.
Näher betrachtet läßt sie sich als zerrissene poröse Schlacke und Asche er¬
kennen. Die Sache erklärt sich einfach. Oben an der Kratermündung sucht
sich der glühende Strom die erste Rinne, die sich ihm darbietet. In diese
stürzt er hinab, fängt aber allmälig an seiner Oberfläche zu erstarren und
zu oxydiren an. Allein die sich bildende dicke Kruste bleibt nicht in Ruhe;
theils bleibt die Lava im Innern flüssig und arbeitet weiter, theils drängen
immer neue Massen von oben nach. So wird die Kruste, während sie sich
bildet, fortwährend zerstört, und dies gibt die zerrissenen formlosen Schollen,
die nun immer weiter nach unten geschoben werden, wo sie sich endlich hoch
über dem Boden emporstauen müssen. Der weiße Reif, der darüber liegt,
wird aus ammoniak- und salpeterhaltiger Salzen gebildet, die an der Ober¬
fläche crystallisiren.
Wir stiegen durch einen Laerymä-Christi-Weinberg, der halb zugedeckt
war, an der Seite der Lava hinauf; bis auf zwei Schritt war sie dem
Weinbergshause nahe gekommen und thürmte sich neben ihm in gleicher Höhe
auf. Auf den Balken des Häuschens war in der Eile irgend ein hölzerner
Heiliger gestellt worden, der seine Hand gegen den Strom emporhielt. Ein
heiliger Januarius und eine Mutter Gottes waren an die Pfosten gebunden.
Nun, dies Haus war denn auch verschont geblieben, der Strom hatte auch
nicht mehr die Gluth ausgehaucht, die es von Außen hätte beschädigen
können; aber rechts unter der unheimlichen Masse lag doch eine große An¬
zahl von Häusern, natürlich für immer, begraben. Die Menschen hatten
zum Glück Zeit gehabt zu flüchten.
Nicht weit über dem Hause forderte uns der Führer auf, die Lava
selbst zu besteigen und es konnte dies ohne alle Gefahr geschehen, obgleich
man die Wärme der Schlacke durch die Sohlen spürte. Mit großer Mühe
kletterten wir unter Begleitung der Damen etwa 60 Schritt hinaus und
übersahen nun die ganze Breite des verwüstenden Stroms. Er war eben
aus einer neuen Oeffnung herausgekommen, war dann neben der Eremitage
(auf der mittleren Höhe) vorbeigestürzt und hatte sich, in einer Breite von
180 Metern, auf Portici zugewandt und auf diesem Wege einen Theil der
Gemeinde Novelle verschüttet. Indem uns der Führer mit italienischer
Lebendigkeit den Vorgang beschrieb, ahmte er für das Herabstürzen der glühen¬
den Fluth die Galoppbewegungen eines Pferdes nach, und für den Ton
eine brummende Orgelpfeife. Den Geruch prüften wir selbst als eine Mischung
von Apotheke und Brandstätte. Wir gingen an einen der natürlichen schiste
heran, aus denen es noch rauchte und die sich mit schwefligen und salzigem
Niederschlage gekränzt hatten. Der Führer legte einige Reben hinein und
sofort schlug die Lohe heraus. Er versicherte uns, daß man nach Is Monaten
noch an diesen Stellen Maccaroni kochen könne. — Unter großen Beschwerden
krochen wir über die scharfe Schlacke wieder herab, gingen durch die Wein¬
berge, die auf einer alten Lava kostbaren Wein erzeugen, zurück und suchten
unseren Wagen, um nach Hereulanum zu fahren.
Pompeji mit seinen Häusern, Theatern und Gräbern, die Antiken, die
Kirchen, in den Kirchen die Langeweile oder die Lüsternheit, und dann und
wann Theater — das gibt eine bunte Mosaik im Tagebuche. Aber die
allerbuntesten Farben fehlen noch, und der Fremde, der mit dem besondern
Zwecke hierherkommt, zu sehen und zu genießen, lebt kaum anders und ver¬
wirrter als der Einheimische — nur daß dieser lediglich nach dem hascht,
was gar keine Gedanken macht.
Der heutige Abend gehört dem Theater San Carlo. Man bekommt
des Genusses vollauf: vier Acte Martha, nach dem zweiten eine Fantasie des
greisen Mercatante „OmmaMio ü. ?aeim°°, ein melodiöses, aber etwas breites
und überzart instrumentirtes phrasenreiches Wer?, das dem anwesenden blinden
Maestro die lebhaftesten Huldigungen der Zuhörer eintrug. Nach der
Martha aber kam nun gar noch ein Ballet „Shakespeare" genannt, höchst
komisch durch unglaubliche Naivetät. Vor einer Schenke allerlei Maskenscherz;
alsdann erschien Shakespeare auf der Bühne, ein gelblich gedunsener Mann mit
schwarzem strähnigen Haar und einer Glatze, vollständig und imposant wie
eine Hemisphäre. Sein Zustand ging über das polizeilich Zulässige weit
hinaus: er war ungeheuer betrunken und stellte demnächst seine Flasche auf
den Boden, um nach den Leuten zu stechen. In diesem Stadium gerieth er
auf einen Sessel, es kam ihm eine Exposition zu schlafen an und so wurde
er in den königlichen Garten transportirt. Hier hatte er einen raren Traum.
„Aber der Mensch ist nur ein Esel, der sagen kann, was ihm war, als hätt'
er, oder was ihm war, als wär' er." Eine Dame mit einer Harfe, die sich
in seine Nähe postirt hatte, harfte ihn auf und nöthigte ihn, die Sprünge
eines Genius nicht nur anzusehen, sondern gelegentlich auch regelrecht zu
unterstützen. So oft er von diesem Geschäfte die Hände frei hatte, fuhr er
sich damit in die Reste seiner Haare. Der Genius trug eine lange Trompete
mit sich, die zugleich ein Katalog war; denn er zog gelegentlich aus der
Seite derselben einige Papierstreifen, auf denen man, ehe sie wieder zurück¬
schnappten, die Worte „Richard", „Hamlet" lesen konnte. Shakespeare las
sie gleichfalls, wühlte aber nach wie vor in den Haaren; eine hinten er¬
scheinende Scene aus Romeo machte ihn noch confuser. Der Genius, der
kaum noch auf die Sohlen kam, wurde ängstlich — als Shakespeare endlich,
offenbar nur um ihn zufrieden zu stellen, und wenig überzeugt eine Schreib¬
bewegung machte. Damit war's gut. Im nächsten Acte wurde der Dichter¬
aspirant zur Königin beschieden und, weil er ihren Garten durch einen so
bevorzugten Rausch geweiht hatte, mit einem Lorbeerkranze geschmückt. Die
große Frage nach dem persönlichen Ansehen, das Shakespeare zu seiner Zeit
genossen, wurde dann einfach dahin gelöst, daß er sich zu der Königin auf
eine Gartenbank setzte, um ein Ballet anzusehn. Damit war die große Fer¬
mate für eine endlose Cadenee von Solo's und Ballbiles gewonnen, und
der geniale Erfinder der Handlung konnte ausruhen. Shakespeare schien es
aber bei all den wirbelnden Bewegungen wieder drehend zu werden; er zog
sich deshalb mit der Königin bald in die Gemächer zurück. — Alles sehr
spaßhaft, wenn man bedenkt, daß Shakespeare so ziemlich dem ganzen Publicum
nur dem Namen nach bekannt ist; noch spaßhafter durch die Pointe des
ganzen Abends: es galt nämlich die Officiere einer frisch angekommenen
englischen Fregatte zu ehren. Werden wir hier einigermaßen bekannt, hoffe
ich Schiller und Goethe noch ein ?as as äsux tanzen zu sehen.
Die Beobachtungen zusammenzutragen und zu fixiren, die ich bisher an den
Bewohnern dieser seltsamen Stadt gemacht, habe ich gewartet, um erst mit
einiger Sicherheit die stehenden und wiederkehrenden Erscheinungen von den
zufälligen und momentanen zu unterscheiden, auch um etwa so zu sagen das
Mittel des Volkscharakters festzustellen und ein etwaiges Mehr oder Minder,
das durch vorübergehende politische oder sociale Verhältnisse zu erklären wäre,
an seinem Orte und mit seinen Ursachen 'zu betrachten. Gerechtigkeit gegen
ein fremdes Volk ist ohnehin eine schwere Sache. Mit der fremden Natur
ist es kaum anders, und es gehört immer eine gewisse Beweglichkeit des
Geistes und Bildung des ästhetischen Sinnes dazu, um die Schönheit einer
fremdartigen Landschaft zu erkennen und wirklich zu genießen. Aber die
Natur dringt nicht so auf uns ein wie das Volk, das gehört, mit dem ver¬
handelt sein will, und das uns an seinen Gewohnheiten betheiligt zu sehen
wünscht.
Und diese Gewohnheiten — wie sind sie durchaus von dem Charakter
der umgebenden Natur abhängig! Das ist das Erste und Wichtigste, was
berücksichtigt werden muß. Was das hiesige Klima am stärksten von dem
unsrigen unterscheidet, ist dieß, daß die natürlichen Epochen des Jahres, die
bei uns so stark einschneiden, hier fast ganz verwischt sind. Der Winter
ist hier nur ein verminderter Sommer, er fordert keine Veränderung der
Lebensweise. Wir sahen vor einigen Tagen junge Erbsen, im Freien ge¬
wachsen , auf dem Markte; an demselben Tage blühende Erbsenbeete in den
Weingärten, und die große Bohne schießt schon längst überall kräftig empor.
Für einen halben Frank kauft man an den Straßenecken die mächtigsten
Rosenbouquets, die schönsten Camelliensträuße; rothe Geranien, die blauen
Blüthen eines Rankengewächses sieht man noch häusig in den Gärten, von
denen auch die meisten nur immergrüne Bäume haben, und die Orange wird
hier Ende Januar geerntet. Um die köstlich duftenden honigreicher Blüthen
der Terebinthe summen die Bienen, die hier, wie es scheint, zu arbeiten nicht
aufhören; die Beete, die noch unbestellt geblieben sind, glänzen von gelb¬
blühendem Unkraut; die Magnolie, an der noch die Samenkolben mit ihren
rothen Kernen hängen, treibt schon wieder, die Citrone, ihrer Sommerfrucht
noch nicht entlastet, zeigt bereits Blüthenknospen und rasch, ehe deren alles
betäubende Duft ausbricht, nimmt das Veilchen die Zeit für seine bescheidene
Blüthe wahr: so reichen sich Sommer und Frühjahr über den Winter hin¬
weg die Hand. Nach wie vor verkauft der Limonadenhändler seine Eislimo-
made an der Straße, nach wie vor spielen kleine Hemdenmätze im sonnendurch¬
wärmten Sande, springen größere Schlingel für einen Soldo ins Meer,
tauchen andere zu ihrem Erwerb nach Knochen und sonstigen versunkenen
Kostbarkeiten, und die Farbe ihrer Haut bleibt dabei so golden wie im
Sommer. Auch' die vornehme Welt findet keine Veranlassung zu andrer
Tageszeit, als im Sommer, vor die Oeffentlichkeit zu treten; sie fährt ihren
Corso nach wie vor um 4 Uhr. Das Leben bleibt durchaus öffentlich, das
Haus nur ein Unterkommen, die Straße der eigentliche gemeinschaftliche
Saal, Spiel- und Tummelplatz für Alle.
Es giebt hier also keine Zeit, welche dem Menschen die lustige Bunt¬
heit und Bewegtheit des Lebens raubte und ihn mit Gewalt von Außen
nach Innen drängte. Wir Nordländer leben im Sommer, von der Natur
gelockt, mehr genießend nach Außen, im Winter mehr reflectirend und pro-
ducirend nach Innen. Und was erwarten wir nicht Alles vom Wechsel der
Jahreszeiten! Neue Aufgaben, neue Beschäftigungen, neuen Verkehr, die
Wiederanknüpfung zerrissener Verhältnisse, die Auflösung solcher, die uns un¬
bequem geworden sind, ganz neue Wendungen für unser inneres und äußeres
Leben. —
Nun muß sich Alles, Alles wenden — so erwarten wir's vom Früh¬
jahr, so vom Winter. Alle diese starken Abschnitte, die den Menschen zum
Stillestehen und zur Betrachtung seiner selbst nöthigen, die ihm Gelegenheit
geben, sich seinen eigenen geistigen Gehalt erst bewußt und gegenwärtig zu
machen, sie existiren für den Südländer nicht. Er bleibt stets nach Außen
gewandt, stets darauf gerichtet, den Augenblick rasch zu ergreifen, stets außer
sich, weder vor noch rückwärts denkend. Er lebt nicht im Gedanken, sondern
nur im Handeln und Genießen; er ist daher in jedem Momente ganz er
selbst und nie beirrt durch Unterscheidungen und Theorieen, die aus der Re¬
flexion und aus dem Ernste des Gewissens stammen. Ueber nichts macht er
sich Gedanken: er mengt Arbeit und Genuß, Ernst und Scherz, Heiliges und
Ueppiges ganz naiv durcheinander. Der Neapolitaner arbeitet auf der Straße,
um jeden Augenblick dabei seinen Spaß und seine Unterhaltung zu haben,
er sieht am Abend „die Geburt des menschgewordenen Wortes" und ein
schönes neues dreiaktiges Ballet auf einer und derselben Scene, und wieder
die Kirche macht er sich zum Schauspielhause. Da muß er zur Feier des
Auserstehungsfestes unter dem Schleier der Madonna Vögel ausfliegen sehen;
da muß sich das Blut des armen Januarius, unbekümmert um alle Kalen¬
derstile, von je am 19. September und am 3. Mai jedes Jahres vor der
Menge noch einmal in Fluß setzen.
Gut, daß Januarius und einige Andere ein für alle Mal das Schwerste
geleistet haben, was vom Menschen zu fordern ist, mögen diejenigen die reli-
giösen Dinge ausmachen, die dazu von Natur prädisponirt sind! Jeder
Mensch sein eigener Priester, ist ein Gedanke, der hier nicht aufkommt; die
Religion ist eine Provinz der Geistlichen; mögen sie dieselbe ohne Aufsehen
zu machen und ohne unbequem zu werden verwalten. Nur bet dieser Aus¬
wendigkeit der Religion, die dem Menschen ganz gegenständlich und bloß
anschaulich wird, konnte es kommen, daß Kirchen und Priester sich so un¬
zählig vermehrten; denn der Leichtsinn, der die Regel macht, wird doch auch
durch Angst und Schmerzen unterbrochen, und da fühlt sich das kindische
Gemüth unsicher, stürzt sich dem Aberglauben in die Arme, schreit nach Zei¬
chen und Wundern, glaubt die erste beste Fabel und stiftet in Angst oder
Dankbarkeit Messen über Messen, Kirchen über Kirchen.
Man muß nun dies kindliche und kindische Wesen, diese absolute Natür¬
lichkeit im Einzelnen betrachten. Es ist eine unerschöpfliche Quelle von Unter¬
haltung. Da ist auch — obschon Neapel eine halbe Million Einwohner hat,
— nichts von der Gemessenheit und Uniformität großer Städte; nur die
vornehme Welt macht sich auch hier das Leben so monoton wie sie es überall
thut, sie allein unterwirft sich jener internationalen Gottheit, die man mit
gähnendem Munde, falschem Haar und geschminkten Wangen darstellen sollte,
der Mode. Der gemeine Mann thut geradezu Alles, was ihm beliebt, und
nirgends in der Welt fühlt man so wenig die Polizei durch, wie hier. Er
setzt seinen Kochofen auf die Straße und legt sich mit seiner ganzen Familie
dazu — es ist ihm erlaubt; er treibt dazu sein Handwerk und läßt alle Ab¬
fälle davon liegen — es ist ihm erlaubt; er röstet sich an einem kleinen
Feuer, das er auf dem Pflaster anmacht, Pinienapfel, seine halbnackten
Buben verschleppen die brennenden Späne über die Straße und zünden
damit Schwärmer an, die sie sür die zusammengebettelten Soldi gekauft haben
— Niemand wehrt ihnen. Die Wäsche flattert über die Straße, der Unrath
saust aus dem Fenster, ganze Ziegenheerden drängen sich auf dem Trottoir
der vornehmsten Straßen, um ihre Milch persönlichst in die Palazzi zu tragen
— lauter primitive behaglich kleinstädtische Zustände. So 'will auch dies
Drängen und Treiben auf dem Toledo, auf dem sich in jedem Augenblicke
Tausende von Fußgängern und Hunderte von Fuhrwerken aller Art durch¬
einanderdrängen, selbst den Kleinresidenzlern nicht recht imponiren: man sieht,
wie Alles um kleine und kleinste Zwecke haftet und drängt, wie das Leben
hier überall en 66eg.it auftritt und der wogende Lärm der berühmten Straße
nur die unendliche Vervielfachung kleinstädtischen Treibens ist. Das Sorgen
von der Frühe bis aus den lieben Mittag, vom Mittag auf die Schüssel
und die Unterhaltung des Abends, am meisten aber ein Leben im Moment:
das ist der Inhalt der colossalen Bewegung.
Aber lassen wir den Toledo; treten wir von Portict her in die am
Hafen entlang führende Straße ein. Wrei Dinge sind es, die da d em Frem¬
den in der Oeffentlichkeit dieses Lebens sofort höchlichst überraschen. Zunächst
erstaunt er zu entdecken, daß die in der Ferne so hellschimmernde Parthenope
bis über die Knöchel im ungeheuersten Schmutze watet. Das ist auch eine
Folge der Sorglosigkeit des Neapolitaners, der nicht so weit in die nächste
Stunde hineindenkt, daß er die Abfälle der gegenwärtigen beseitigt. Er
denkt nie an Reinigung seines Hauses oder seiner Person, wenn er nicht zu
den oben erwähnten Wasserspringern gehört; — ich spreche hier natürlich
nur von Denen, deren Leben vorzugsweise auf der Straße ist, aber ihre
Zahl ist Legion. Mit dem Schmutze verbinden sich die unsäglichsten Gerüche,
in deren Composition der Neapolitaner geradezu Virtuose ist. Von ihm
selbst sagt man, daß ihm der fünfte Sinn fehle; wir Andern genießen seiner
Werke desto mehr. Das Zweite, was uns auffällt, ist das unablässige Ge¬
schrei auf den Straßen. Was irgend ausgeboten wird, Eiswasser, Orangen,
Aepfel, Pinienzapfen, Feigen, Fische. Schwefelhölzer, Cigarrenstummel— es
wird Alles schreiend ausgeboten. Und der Neapolitaner schreit ganz eigen¬
thümlich. Er reißt den Mund auf, daß man beide Zahnreihen vollständig
sieht, setzt den Ton mit durchdringendster Energie ein, zieht ihn durch zwei,
drei kleine Intervalle hindurch und verbraucht endlich den Rest von Athem
in irgend einer ganz unerwarteten Tonart. Es ist als käme der Ton gerade
eben in die Freiheit und wüßte vor Entzücken nicht wohin. Dabei sieht
man dem Schreier den Genuß seines Geschreis auf dem Gesichte spielen, wie
dem Hahn bei seinem Kikeriki. Gesungen wird auch viel, und nicht blos
von Leuten, die dasür Geld sammeln: der Eseltreiber, der Kutscher, der kleine
faullenzende Lazzarone, sie singen oder summen sich ihre Weisen. Das Dritte,
was den Fremden überrascht, aber angenehm berührt, wenn er irgend ein
Auge dafür hat, ist die ausdrucksvolle Lebendigkeit und Schönheit aller Be¬
wegungen. Das ist eine Folge der Wärme, welche die Menschen jahraus,
jahrein genießen. Wärme los't die Glieder. Kälte fesselt sie. In diesem
warmen Klima folgt das Glied entweder ganz seiner eigenen Schwerkraft —
und dies gibt die völlig gelassenen Stellungen, die wir so oft auf italienischen
Bildern und an Antiken bewundern — oder es folgt ganz und unbehindert
der Intention, die es in Bewegung setzt. Bei uns erscheint es in der Ruhe
wie in der Spannung immer ein wenig verklemmt und contract, der Körper
überhaupt fester und gedrungener. Es ist wahrlich keine Einbildung mit der
classischen Schönheit der Bewegungen des Neapolitaners-. Nur wissen sie Viele
vor Schmutz und Lumpen nicht zu sehen. Aber Schönheit des Angesichts
findet man hier gerade nicht häufig, besonders nicht unter den Frauen, die
ungemein rasch altern.
Kommt man von Portici her in die Stadt — beide Orte schließen un-
mittelbar an einander — so treten jene Eigenheiten des neapolitanischen
Lebens den Sinnen sofort in ihrem höchsten Grade entgegen. Familie neben
Familie lungert, arbeitet, spielt vor ihrer Höhle. Diese Höhle ist das Erd¬
geschoß eines unendlich schmalen hohen Hauses, das nur Balkonthüren, keine
Fenster zeigt. Ein Gemach birgt den ganzen einfachen Hausrath, der bis
auf das sehr umfangreiche Bett Tags über auf die Straße wandert; in die¬
sem Zimmer schläft Alles mit Einschluß der Katzen und des Federviehs.
Früh setzt sich der Papa mit seinem Arbeitskasten vor die Thüre, flickt
unter Beihilfe der primitivsten Instrumente einen alten Stiefel mit einem
anderen gefundenen und unterhält sich dazu mit Jedem, der ihm nahe kommt.
Großmutter steht in der Thüre und spinnt an der Spindel, dem poetischen,
aber höchst mangelhaften Geräth, das hier nur beibehalten ist, damit Gro߬
mutter jeden Augenblick auch herumlaufen und jedes Ereigniß, das auf der
Straße vor sich geht, spinnend in der Nähe betrachten kann. Wenn Mama
nicht etwa einen Fisch oder Pinienapfel röstet oder Maiskerne quelle oder
irgend eine unsagbare Mischung für die Familie zubereitet — die keine be¬
stimmte Eßstunde hat — so wird sie der Tochter oder der Nachbarin das
Haar kämmen oder auf den Häuptern der Ihrigen die niedere Jagd aus¬
üben — Alles auf der Straße. Das Kämmen gehört unter die Passionen
der Straßenbevölkerung; man sieht es überall und zu jeder Stunde und ein
Weib mag sich wohl, wenn sie die Liebe der Ihrigen genießt, ein halb
Dutzend Mal des Tags kämmen lassen. Einen Zweck hat es weiter nicht;
es ist nur angenehme Variation des äolcs tar vierte. Die Ausübung der
erwähnten Jagd beruht auf dem großen Princip der Gegenseitigkeit; es ist
ein Bild nicht ohne Würde, wenn man drei Matronen, durch dieses
sittliche Band vereinigt, in stiller Gelassenheit auf einander warten und
einander bedienen sieht. Sie sitzen still und ernst wie die Parzen, ganzen
Generationen Untergang sinnend. Niemand nimmt daran ein Aergerniß;
auch der Obstverkäufer nicht, der unmittelbar neben ihnen seine Orangen
und Cactusfeigen schält; auch der Lazzarone nicht, der diese Früchte für
einen erbettelten Soldo verspeist. Das naturf-in exxellerö wird hier von
keiner Seite versucht. — Nun kommt etwa eine kleine Maecaronifabrik, ein
sehr einfaches Krek- und Preßwerk, von einem einzigen Manne mittelst eines
Rades in Bewegung gesetzt. Mit Maschinen würde man das Zehnfache
leisten, aber wer wird sich hier in die Sclaverei einer Maschine begeben, die
das anspruchsvollste Ding von der Welt ist und, einmal im Gange, nicht
wieder aufhören will. Der Neapolitaner muß jeden Moment zu arbeiten
aufhören können, um sich jeden Moment zu amüsiren. Dafür kann man
ihn auch noch Abends um 11 Uhr an seinem Rade drehen, auf seinen Ambos
hämmern, an seiner Bank hobeln sehen. Im Ganzen kommt freilich nicht
viel dabei heraus; die Arbeit der Handwerker ist durchweg naiv und mangel¬
haft. Auf den Nudelfabrikanten folgt eine der zahllosen Trattorien, die es
hier in allen erdenklichen Abstufungen giebt. Wieder nur ein einziger Raum,
und die Vorräthe weit in die Straße hineingebaut. Die Thür und das
Büffet — wenn man diesen stolzen Namen anwenden will — sind garnirt
mit Büscheln von rothen Früchten, meist Paradiesäpfeln, mit Maiskolben,
Endivienstauden, Fettblasen, Würsten; die Tische sind mit Käse, Brod und
classisch geformten Weinflaschen besetzt; in der Pfanne schmoren Maccaroni,
Würstchen oder Fische. An Zuspruch fehlt es nicht; nur bleibt hier Nie¬
mand lange sitzen. Daß sich schmutzige Kinder zwischen den Körben und
Tischen herumwälzen, daß eine Bande Pifferari sich zu ihm setzt und ihm
die Ohren volldudelt, wird hier den Gast nicht belästigen; ein reinliches und
ruhiges Plätzchen ist in diesem ganzen Stadttheile ohnehin nicht zu finden.
Aber so ein Stück Straße, von den Häusern aus so mannigfach belebt,
empfängt doch erst aus dem allgemeinen Verkehr seinen rechten Tumult. Hun¬
derte von lasttragenden Eseln und Maulthieren, von Fuhrwerken aller Art
bewegen sich fortwährend mit und gegen einander. Das unglückselige Last¬
thier hat nicht nur rechts und links zwei hochgepackte Gemüsekörbe, sondern
oben drauf auch noch den Lümmel von Producenten zu tragen, der es an¬
schreit, schlägt und stößt; und auf einem einzigen der vom Lande herein¬
kommenden Carreten, die nur von einem elenden Pferde gezogen werden,
sieht man oft zwölf, ja mehr Personen kauern, sitzen und stehen, den Geist¬
lichen mitten darunter. Dann noch Trab den Berg hinauf und herab: —
nirgends werden die Thiere so schlecht behandelt wie hier; alle Augenblicke
fühlt man sich durch irgend eine capitale Schinderei erbittert. Victor Hehn
in seinen Ansichten von Italien weiß auch dies zu entschuldigen. Diese
Thierquälerei soll ein Rest der antiken Objectivität sein, welche kein senti¬
mentales Verhältniß zur Thierwelt kannte. Nun ja, absolut aus der Luft
gegriffen ist die Bemerkung nicht; aber zwischen sentimentaler und einfach
guter Behandlung ist auch noch ein Unterschied. Und wie liebenswürdig
war nicht doch das Verhältniß des alten Poliphem zu seinem Hauptbock!
So durchaus fremd war doch also der antiken Anschauung die Liebe zu den
Thieren nicht. Wie wenig aber hier das Seelenleben der Thiere verstanden
wird, geht schon daraus hervor, daß der Hund, dieser mehr, treue und ge¬
müthvolle, als praktisch nützliche „jüngere Bruder" des Menschen hier eine
sehr seltene Erscheinung ist.
Ganz staunenswürdig ist es, daß bei dem Durcheinanderdrängen und
Schieben von Wagen, Lastthieren und Menschen sich nie der geringste Un¬
glücksfall ereignet. Da laufen Kinder am Rande des Fahrwegs umher,
spielen mit Kugeln, Orangen, Ziegelsteinen, oder was sie sonst zur Hand
haben, das beliebte Boggia, schlendern zwischen den Wagen durch, und nie
werden sie beschädigt. Da stellt der Nudelfabrikant seine Maccaroni, der
Ziegler seine Ziegel zum Trocknen recht in die Straße hinein — aber nie
wird auch nur ein Stück umgeworfen oder verletzt. Die Neapolitaner sind
ungemein gewandt und aufmerksam. Alles ist in beständiger gegenseitig
nachgebender Bewegung, Jeder sucht sich, wie er kann, seinen Weg. Selbst
die von Vermummter geleiteten schaurigen Leichenzuge müssen sich durch¬
winden, wie es eben gehen will; eine besondere Gasse wird ihnen nicht ge¬
macht, Geschrei und Musik hören vor ihnen nicht auf.
Und in solcher Weise wälzt sich der Strom des täglichen Lebens von
Portici her am Handelshafen, dann am Kriegshafen hin bis zum Quai
Santa Lucia, mit reichlichem Zu- und Abfluß durch die Gassen, die in das
Innere der Stadt nach dem Toledo hinaufführen. Santa Lucia hat seinen
eigenen Charakter; es ist die eine große Station der Fischer, die hier ans
Land und sogleich zu Verkauf bringen, was das Meer ihnen bescheert hat,
den.ganzen Inbegriff der trutti all all-s: Austern, Fische, Hummer, Muscheln
aller Art. In Sommernächten entwickelt sich hier an einer Schwefelquelle,
die sich hart am Ufer befindet, ein reger Verkehr.
Indem uns auf vielen Wanderungen im Innern der Stadt und am
Hafen die hiesige Art zu leben, zu genießen und zu arbeiten allmälig ver¬
trauter wurde, machten wir die Wahrnehmung von zwei wichtigen Verhält¬
nissen, die das Leben und Treiben Neapels charakterisiren. Zunächst fiel
uns auf, daß dasselbe in weit geringerem Grade durch die maritime Lage
der Stadt bestimmt wird, als man denken sollte.
Betritt man Handelsstädte wie Bremen, Hamburg, Marseille vom
Binnenlande aus, so merkt man schon an den ersten Häusern, daß man sich
in einer Seestadt befindet. Ausländische Gewächse und Muscheln, zierlich in
den Fenstern geordnet, fremdartige Matten und Schiffsmodelle in den Haus¬
fluren, der Oelfarbenglanz der wie die Schiffe stets frisch gemalten Häuschen,
Mastbäume mit Windfahnen in den Gärten, Papageicnkäfige in den Bäu¬
men hängend, das Ganze von leichtem Theerduft umflossen — Alles das ver¬
kündet deutlich, die Nähe der See und zieht den Sinn mächtig in die Ferne
hinaus. Hier ist das durchaus anders; hier trägt nur der Strand einen
maritimen Charakter, und auch der nur obenhin. Die See- beherrscht das
Leben nicht, sie verschönert es nur; sie ist kaum mehr als eine angenehme
Zugabe. Sie ist in diesem schönen Golfe zu ruhig, um sich dem Menschen
aufzudrängen; Ebbe und Fluth ist kaum bemerkbar und die einzige kräftige
Bewegung bringt der Scirocco hinein. Man hat sich nicht gewohnt, die See
zu betrachten, wie das der Bewohner nordischer Küstenstädte in jedem freien
Augenblicke thut. Am Nordseestrande wird der ausruhende Fischer immer
Angesichts des ewig wechselnden Meeres ausruhen; hier kehrt er ihm den
Rücken zu und, legt sich auf das Straßenpflaster. Auch die muntere Arbeit
der Schiffswerfte, die in andern Seestädten wieder Tausende von Menschen
an den Dienst des beweglichen Elementes bindet, fehlt hier ganz; die ganze
Schifffahrt scheint wie 'geliehen. Vergeblich sahen wir uns auch nach den
imposanten Ballen und Fässern um, vor denen man an anderen Häfen immer
den Hut ziehen möchte, wenn man nicht gar zu sehr den Provinzler zu ver¬
rathen fürchtete; vergebens spüren wir nach ihren wunderbaren ahnungs¬
vollen Gerüchen, die uns mit einem Male die ganze Geographie der süd¬
lichen Hemisphäre und eine Welt von Insulanern, Schlangen und Affen
in die Phantasie werfen. Der Neapolitaner hat eine unglückselige Geschick-
ten, Alles von Haus aus zu zerkleinern; wir belächeln in seinen Düten, was
uns in Ballen mit Ehrfurcht erfüllen würde.
Der Großhandel ist von geringem Belang; um so üppiger wuchert der
Kleinhandel, und das Mißverhältniß, in welchem er zur productiven Arbeit
steht, ist der zweite der ausfallenden Contraste, die den Verkehr Neapels
charakterisiren. Eine gewisse Rührigkeit, um sich die gewöhnlichen Bedürf¬
nisse zu sichern, die nächsten Genüsse zu verschaffen, beherrscht die ganze Be¬
völkerung; aber außer der Fabrikation von Handschuhen, Korallen-, Schild-
krot- und Lava-Artikeln nimmt man kein kräftig blühendes Gewerbe wahr,
und weder die Zeit noch die natürlichen Hilfsquellen des Landes werden ge¬
hörig ausgenutzt. Die Pflege der einheimischen Fruchtbäume ist sehr mangel¬
haft und für den Export wird wenig gezogen. Der Wein wird in einer
so nachlässigen Weise behandelt, daß schließlich aus der süßesten Traube ein
herber und unerfreulicher Wein producirt wird, der draußen keinen Markt
findet. Die moussirenden Weine sind mostartig und sauer, die übrigen ohne
Blume und meist mit herbem Nachgeschmack. Ohne die Poesie des Landes
zu zerstören, ohne gar zu viel Schornsteine darauf zu bauen — jetzt möchte
der Vesuv wohl der einzige sein — müßte man diesem Boden unendlich mehr
Ertrag abgewinnen können.
Der Detail-, Hausir- und Straßen-Handel wuchert, wie gesagt, ungemein.
Er ist wesentlich auf die Fremden berechnet, die hier seit den Römerzeiten jahr¬
aus jahrein in Schaaren landen und an denen der Neapolitaner eine Art Strand¬
recht üben zu dürfen glaubt. Unter dieser vagirenden Kaufmannschaft ist das
Ueberbieten die Regel, ebenso wie bei allen Fiakerkutschern. Man muß nicht
sauer dazu sehen; es ist zu unterhaltend, mit ihnen um den Preis zu ringen,
und ihre Beredtsamkeit zu entfesseln. Ihr Gesichtsausdruck auf das erste
Gegnergebot ist so überlegen vernichtend und maßlos erstaunt, daß ein Fremd-
ling von halbwegs schüchterner Gemüthsart sofort in die tiefste Be.
schämung hinüberschlägt, ein Herabbieten überhaupt nur versucht zu haben.
Aber hält er Stand, so wird er jetzt die herrlichsten Reden hören über die
vortreffliche Carrozza (in die kein deutscher Landpfarrer mehr steigen würde),
das unvergleichliche Cavallo (das er längst auf allen vier Extremitäten hat
brennen lassen), die glühende Hitze (die ihm persönlich um die Hälfte zu ge¬
ring ist) und die fünf Ragazzi zu Hause (die einstweilen nur Jdealschöpfun-
gen selner Phantasie sind). Die lebhaften Geberden, mit denen er diese Er¬
güsse begleitet, kann man ohne inneres Vergnügen nicht sehen. Und wie er
sogleich gegen stillschweigendes Halbpart unter seinen Gesellen, die Gott weiß
woher plötzlich erschienen sind, Unterstützung findet! Gegen die Fremden
hält diese Menschenart in anerkennenswerthester Weise zusammen. Hat er
seinen Kutscher etwa gar zu sehr herabgeboten, so wird er erleben, daß dieser
ihm bald nach der Bezahlung plötzlich ein falsches Frankstück präsentirt, das
er von ihm erhalten haben will; besaß er es nicht selbst, so hat ihn ein guter
Freund schnell damit versehen. Verspeist der Fremde Austern am Meeres¬
strande, so kann er, wenn er in seinem Genuß nicht gar zu schwer vertieft
ist, wahrnehmen, wie ein unberufener Dritter die Anzahl der Schalen, die
er geleert hat und nach welcher die Bezahlung berechnet wird, mit großer
Virtuosität unter der Hand zu vermehren weiß. Natürlich wird ihm
dieser Dienst von dem Verkäufer, der ihn nicht selbst verrichten kann, weil
er die Austern öffnen muß. angemessen vergolten. Aber nach wenigen Wo¬
chen schon wird man dem Volke bekannt und genießt halbes Heimathsrecht,
die Anforderungen mäßigen sich, und alle jene liebenswürdigen kleinen
Gaunereien treten wenigstens respectsvoller aus. Der Fremdling kann nun
auch mit Muße dies und das betrachten, ohne sofort von zwanzig Seiten
alle erdenklichen Waaren und Dienstleistungen angeboten zu bekommen oder
einfach angebettelt zu werden. Zu Anfang ist das ganz unmöglich. Was
man ansieht, wird angeboten, und der Lazzarone würde es durchaus begreif¬
lich und in der Ordnung finden, wenn man in die linke Rocktasche seine
klebrigen Pinienapfel, in die rechte einige Seepolypen und Aale steckte und
in den Händen seine seinstachlichten Cactusfeigen nach Hause trüge. Aber
wie gesagt, nach einigen Wochen begrüßt man sich wie Landsleute thun
und weiß, was man von einander erwarten darf.
Man müßte der Philister seiner eigenen Nationalität sein, wenn man
diesem munteren und leichtlebigen Volke nicht gut sein wollte. Und mit
diesem einfachen Gefühle der Zuneigung könnte man füglich alle weiteren
politischen und socialen Fragen auf sich beruhen lassen, mit dem Volke leben
und genießen und das Morgen dem Herrgott befehlen. Aber nun kommt
denn doch deutsche Gewissenhaftigkeit und Pedanterie und stellt ihre Fragen.
Ist dies Volk was es sein könnte? Ist es so, wie ein Staat es braucht,
der in die Reihe der Machtstaaten eintreten will? Und da muß man, wenn
man sich auf den Standpunkt des Nächstbetheiligten, etwa einer patriotischen
Regierung stellt, entschieden mit Nein antworten.
Denn die Hauptsachen, deren ein Staat, wenn er irgend etwas bedeuten
will, nun einmal nicht entbehren kann, um Macht zu erzeugen, fehlen in
diesen neapolitanischen Landen in bedenklichem Grade: nämlich eine tüchtige
Production, eine tüchtige Disciplin und, wodurch die eine hervorgerufen und
befördert, die andere «erinnerlich! und befestigt wird, eine tüchtige, allgemeine
und durchgreifende Bildung. Dazu ist es keine leichte Sache, einem so sorg¬
losen Volke auch nur die Erkenntniß dieser Mängel beizubringen, und so
wird es der Regierung doppelt schwer, ihren Hebel anzusetzen und den ni»
cuius vitiosus, durch welchen Unbildung, wirthschaftliche Trägheit und po¬
litische Zerfahrenheit unter einander zusammenhängen, gründlich zu zerreißen.
Aus allen ihren Maßregeln erkennt man, wie sehr sie sich hütet, dies Volk
fest anzufassen. Wo anfangen? Mit dem Volksunterrichte? Die Regierung
weiß die Wichtigkeit desselben wohl zu würdigen, hat selbst Schulen gegründet
und die Municipien genöthigt, das Volksschulwesen in die Hand zu nehmen;
aber einem Volke, das unter der früheren schulfeindlichen Regierung garnicht
unterrichtet wurde, wagte sie nicht mit dem Schulzwange zu kommen, und
so ist es nur ein verhältnißmäßig geringer Bruchtheil der Bevölkerung, der
sich die dargebotene Wohlthat zu Nutze macht. Mit der Disciplinirung der
Massen, mit Bildung der Gesellschaft zu einem staatsbewußten Volke ist
es etwa ebenso bestellt. Zwar den schlimmsten Ausgeburten der socialen
Anarchie, dem Brigantaggto und der Camorra, dieser consolidirten
Gaunerschast der Städte, ist die Regierung mit Energie entgegengetreten,
und von der neuesten Praxis, nach welcher man die Briganten lieber „in
coiMtto" sterben, als in die Gefängnisse wandern läßt (mit der Hoffnung
ausbrechen zu können), läßt sich die endliche Ausrottung des Räuberwesens
erwarten. Aber wie steht es mit der positiven politischen Zucht? Was gilt
der Dienst am Staate, die Leistung sür den Staat? Alles in Allem wird
er wie etwas Fremdartiges, wie eine Last empfunden, und man muß nicht
meinen, daß das blos auf Rechnung des Wechsels der Dynastie zu setzen
sei. Nicht das Haus Savoyen ist mißliebig, sondern der Staat mit seiner
Disciplin und seinen Pflichten, und was keine Lust hat, diesen gerecht zu
werden, nennt sich bourbonistisch und faullenzt. Die bourbonische Regierungs-
weise war allerdings den Neigungen dieses Volkes conformer, aber gewiß
nicht seinen besseren; Volk und Regierung waren stillschweigend in dem
Compromiß übereingekommen, sich die Pflichten, welche das Leben adeln,
gegenseitig zu erlassen. Der bourbonische Staat war das Mi-ig.reg.ti moan-6
'
xg>r ig. bonds. Das lustige Prinzeßchen, das gegen Goethe über die ernsten
Reformpläne Filcmgieris scherzte, bezeichnete den Charakter dieses Regiments
ganz gut, wenn sie sagte: „Sehen Sie nur einmal, wie schön Neapel
ist; die Menschen leben hier seit so vielen Jahren sorglos und ver¬
gnügt und wenn von Zeit zu Zeit einmal einer gehängt wird, so geht
alles Uebrige seinen herrlichen Gang." Heute nun sieht Alles ernst-
hafter aus. Der Staat verlangt, wie in Preußen, zunächst viele Sol¬
daten und viele Steuern, und der Neapolitaner ist ein schlechter Soldat und
ein noch schlechterer Steuerzahler. Ein schlechter Soldat im Frieden nämlich,
was denn auch sür den Krieg seine bedenklichen Folgen haben mag. Das
Einerlei des Dienstes ist ihm fürchterlich; auch der Officier quittirt gern
nach dem Kriege, daher die Armee an tüchtigen Officieren so großen Mangel
hat. Der Adel kommt hier der Regierung in keiner Weise entgegen, ent¬
zieht sich vielmehr dem Dienste am Staate, wie er kann, und des Königs
Officiere gelten in seinen Gesellschaften nicht. Das ist ein übles Beispiel.
Dann die mißlichen Angelegenheiten des Steuerzahlers. Die Kraft seines
eigenen hohen Rechtes zu fordern darf hier der Staat nur in sehr beschränk¬
tem Maße wagen, er muß auf Schleichwegen an die Beutel der Unterthanen
heranzukommen suchen. Und doch wäre die directe Steuer eine wahre Wohlthat
für die Masse des Volkes, das allerhöchstens bis zur Deckung seines Macca-
ronibedürfnisses arbeitet; sie würde dadurch gelehrt werden, für den Staat zu
arbeiten, wenn sie es für sich nicht thun will. Aber wie gesagt, die Negie¬
rung muß dies Volk sehr subtil anfassen, um die Revolte zu vermeiden; es
will nun einmal lieber täglich frottirt, als quartaliter gestriegelt werden.
Es will vom Staate nichts wissen, nimmt aber die zahllosen Douaniers
wie eine in unvordenklichen Zeiten vom Himmel gefallene Landplage hin.
Muß ihm doch neben den Douanen auch das scheußliche Lotto gelassen wer¬
den, dessen Banken man hier auf jeder Straße sieht, umlungert von traurig
bettelhafter greisen Männern und Jünglingen, abgeschabten Dandy's, Kell¬
nern außer Dienst, lüderlicher Colporteurs. Es würde wahrscheinlich nicht
ohne Gefahr sein, dem Volke diesen tausendarmigen Polypen vom Fleische
zu nehmen.
Die Negierung experimentirr jetzt eben wieder mit drei indirecten Steuern:
dem Stempel, der wenig Opposition findet, der Theatersteuer (10 Procent
der Bruttoeinnahme) die auch nicht sehr angegriffen wird, und der Mahl¬
steuer. Mit dieser ging die Regierung sehr ängstlich vor. Wie arbeitete
der Telegraph, um das Ministerium von der Stimmung in den Provinzen
in Betreff dieser Steuern zu unterrichten! Oppositionelle Blätter eilen, von
Mord und Todtschlag zu erzählen, von wüthenden Müllern begangen, die
ihrerseits das eonsumirende Volk fürchten. Die Regierung ist in einer
schlimmenILage. Das Bedürfniß ist da, so dringend wie irgendwo, und die
Mittel müssen erschlichen werden. Und was aus der Einziehung der Kirchen¬
güter auskommt (die ein Capital von 1200 Millionen Franken repräsentiren
und sich recht gut verkaufen), deckt natürlich nur die Vergangenheit und
kommt der Zukunft nicht zu Gute.
Man darf nun aber aus allen diesen Bemerkungen nicht schließen, daß
es hier an allem politischen Pathos fehle. Wenn Gregorovius das behauptet,
so kann er dabei nur an die oben charakterisirte allerdings massenhafte
Straßenbevölkerung gedacht haben, die allerdings Kriow-notKins in dem
Sinne ist, daß sie von Staat und Krieg nichts wissen will. Die mittlere
Classe der Bevölkerung hat wohl politische Leidenschaft, aber etwa in der
Weise der Franzosen. Das politische Programm wird diesen Leuten zu einer
berauschenden völlig exclusiver Idee, welche alle anderen Berechtigungen er¬
drückt und in ihrer Alleinherrschaft sogar die öffentliche Moral bedroht. Sie
sind vielleicht bereit, jede That dafür zu verrichten, verstehen aber nicht, wie
man von ihnen auch das stets wiederkehrende Opfer und die ruhige Arbeit
dafür fordern mag, und so behelfen sie sich in der Zwischenzeit mit drama¬
tischen Demonstrationen und klangvollen Phrasen. Daß der Gedanke der
Einheit und Macht Italiens, den sie ganz abstract wie ein Idol verehren,
nicht allein durch Krieg, geschweige denn durch Mord, sondern nur in der
gründlichen Verwandlung ihrer selbst sich realisiren läßt, begreifen sie nicht.
Die politische Moral ist hier noch nicht einmal in ihren Elementen begründet.
Man traut seinen Sinnen nicht, wenn man die Schwärmerei der Patrioten
sür Monti und Tognetti wahrnimmt, heimtückische Mörder, die um kein
Haar besser waren, als die Banditen, welche ihr Bourbonismus in die
Abruzzen treibt. Aber gegen den politischen Feind ist geradezu Alles erlaubt.
Die Haltung des Adels kann dem Uneingeweihten vielleicht mehr im-
poniren; denn nachdem nun acht Jahre nach der Revolution verflossen sind,
haben sich doch nur einige wenige Familien bereit finden lassen, sich der
neuen Dynastie zuzuwenden. Aber wie kam es, wird man fragen, daß
König Franz so schmählichem Verrath zum Opfer fiel; wenn er überdieß das
niedere Volk nicht zu fürchten brauchte, das in ihm den Sohn Marie Chri-
stinens verehrte, die es zu seinen Heiligen zählt? Das erklärt sich aus der
Apathie des Adels, der damals so wenig Lust zu dienen hatte wie heute,
und der in der Stunde der Gefahr aus Furcht vor einer Plünderung des
Pöbels, den er stets hatte gewähren und zum Pöbel werden lassen, von hier
auswanderte, um in seinem geliebten Paris den König zu beklagen. So
paralysirten sich gegenseitig die beiden Classen der Bevölkerung, auf welche
der König sich möglicherweise hätte stützen können. Nachmals ist der Adel
zurückgekehrt, um hier eine höchst inhaltsleere und bedeutungslose Existenz zu
führen. Er leistet dem Staat nichts und sich selber nichts; denn keinem
dieser hohen Herren fällt es ein, sich etwa um seine Güter persönlich zu be¬
kümmern. Diese kommen darum wirthschaftlich immer mehr herunter und
bilden, von ihren Herren verlassen, eine Lockung für die Briganten, — wenn
es auch ebenso wahr ist, daß so mancher Administrator den Brigantaggio
als ein Schreckbild benutzt, um den Besitzer vom Besuche seiner Güter ab¬
zuhalten.
Vielleicht ist es der nächsten Regierung vorbehalten, dieß Volk auf der
einen Seite der politischen Apathie, auf der andern der schwärmenden Phrase
zu entwöhnen und zur Mannesreife hinüber zu führen. Der Kronprinz, den
wir kennen zu lernen Gelegenheit hatten, ist ein ruhiger stiller Mann von
festen Ueberzeugungen. Der Liberalismus will nicht viel von ihm wissen,
aber wenn man weiß, wie sehr der italienische Liberalismus in Selbstgenuß
versunken ist, so hat dieß nicht viel auf sich; der Kronprinz" scheint ein Cha-
racter, der vor dem Genusse die Arbeit verlangt, und wohl geeignet, das
neue Italien fest zu unterbauen', das sein Vater gegründet hat. —
„Blätter aus der preußischen Geschichte" von K. A. Varnhagen von Ense. Dritter
Band. (Leipzig 1868.)
Der Werth von Tagebüchern ist in der Regel durch den Stoff bedingt,
der ihnen durch die äußeren Verhältnisse des Tagebuchschreibers zugeführt
worden. Bei Aufzeichnungen wie den vorliegenden, wo der Verfasser sich
lediglich auf die Registrirung von Tagesneuigkeiten beschränkt und von seinen
Gedanken und Meinungen über dieselben, in der Regel Nichts hinzugethan
hat, ist das in erhöhtem Maße der Fall und reicht eigentlich schon die Mit¬
theilung der Jahreszahlen dazu hin, die Wichtigkeit oder UnWichtigkeit des
Ausgeschriebenen zu bezeichnen.
Schon dieser äußere Umstand stellt dem vorliegenden dritten Bande der
„Blätter aus der preußischen Geschichte" ein ziemlich ungünstiges Horoskop.
Nachdem uns in Varnhagen's Mittheilungen aus den Jahren 1819—1823
eine Physionimik der preußischen und deutschen Zustände des Restaurations-
zeitalters vorgelegt worden, versteht sich von selbst, daß aus den beiden nächsten
Jahren nicht viel Neues hinzugethan werden kann; erst das Jahr 1830
rüttelte den Welttheil aus der Ermattung auf. in welche er nach den furcht¬
baren Anstrengungen der Franzosenzeit gerathen war Nichtsdestoweniger
steht der vorliegende Band noch beträchtlich hinter den bescheidenen Anforde¬
rungen zurück, mit denen die Mehrzahl der erfahreneren Leser nach Bekannt¬
schaft mit den ersten beiden Bänden an ihn gegangen sein wird. Der Varn-
hagen von 1819 kehrte von längerem Aufenthalt in Süddeutschland nach
Berlin zurück, er hatte für die Menschen und Verhältnisse, mit denen wieder
er in Beziehung trat, einen relativ frischen Blick, er wußte die Wand¬
lungen, welche sich in ihnen vollzogen, nach ihren charakteristischen Merkmalen
aufzufassen und hatte die Hoffnung und den Wunsch mit ihnen zu leben und
zu wirken. Die Jahre zwischen 1819 und 1824 haben ihn verändert und
zwar nicht zum Vortheil verändert. Die Welt, in der er lebt, ist ihm ge¬
wohnt geworden, er sieht sie mit müden und gelangweilten Augen an; der
jahrelange Müßiggang, zu dem er verurtheilt ist, hat ihn verdrossen, mi߬
günstig und kleinlich gemacht, die getäuschte Hoffnung auf Wiederverwendung
im Staarsdienst trägt das ihre dazu bei, die Laune des ehrgeizigen Mannes
zu verderben. Varnhagen wird mit jeden neuem Jahr, das er in der preußischen
Hauptstadt zubringt, mehr und mehr zum richtigen Berliner, der über Alles von
einem „höheren Standpunkt" zu raisonniren weiß, bis er schließlich dennoch
in der Theilnahme für kleine Tagesneuigkeiten, städtische und höfische Scandal-
geschichten ganz aufgeht. Zwar verleugnet sich der hochgebildete, mit einem
richtigen Verständniß für die Bedürfnisse seiner Zeit und seines Staats be¬
gabte Mann nirgend ganz, aber er wird ausgehungert und auf die knappe
Kost eines beobachtenden und raisonnirendcn Flaneurs in den vornehmen und
gelehrten Salons gesetzt. Der preußische Staat von 1824 und 1825 hat keine
großen Interessen und Ziele, er treibt eine kleinliche, unsichere, unselbständige
Politik, welche sich wesentlich um Personenfragen und Hofintriguen dreht
und durch Zufälle bedingt wird, die mit den wahren Bedürfnissen des Volks
ebenso wenig zu thun haben, wie mit der natürlichen Aufgabe der Monarchie
Friedrichs des Großen. Während sich in den mittleren Schichten der Gesell¬
schaft und der Bureaukratie häufig noch Tüchtigkeit und Strebsamkeit er¬
halten haben, denen es nur an dem gehörigen Spielraum zur Entfaltung
fehlt, bieten die höheren Regionen das Bild trostloser Oede und Gedanken¬
losigkeit.
Gerade diese Regionen sind es aber, in denen Varnhagen sich mit Vor¬
liebe bewegt, aus denen er seine Beobachtungen schöpft, seine Neuigkeiten
und Urtheile holt. So bitter und souverain er über dieselben auch urtheilt,
die Einflüsse welche sie auf ihn üben werden stärker, je länger er ihnen aus¬
gesetzt ist. Drei Viertheile der Notizen, welche er in dem vorliegenden Bande
niedergelegt hat, betreffen Hofhistörchen, die nur für Leute Interesse haben
konnten, welche direct oder indirect der Hofgesellschaft angehörten. Charak¬
teristisch ist schon, daß Varnhagen sich nicht nur um eine Menge Dinge be¬
kümmert, die eigentlich unter seiner Würde sind, sondern daß seine Theil¬
nahme sich auch darauf ausdehnt, was die einzelnen Männer und Frauen
zu denselben gesagt haben. Dadurch erhalten zahlreiche der verzeichneten
Vorgänge, welche sich allenfalls unter den Gesichtspunkt der historischen
Anekdote stellen ließen, einen widrigen Beigeschmack von Klatsch und „00m-
MrgAs". Vollends ekelhaft wird die Sache, wenn es sich dabei um Dinge
handelt, welche mit der Politik, ja mit der bloßen Tagesgeschichte nichts mehr
zu thun haben, sondern sich lediglich um Privatangelegenheiten von Fürsten
und Ministern drehen. Unter diese Rubrik gehören vor Allem die zahlreichen
zudringlichen Details über Friedrich Wilhelms III. morganatische Heirath
mit der Fürstin Liegnitz. Mit wahrhaft cynischer Neugier wird allen Einzel¬
heiten des Verhältnisses zwischen den beiden Gatten nachgegangen und ein
Geklätsch über dieselben verführt, wie es unwürdiger und kleinlicher kein
Hofschrdnze anheben könnte. Die Inhaltslosigkeit des Lebens der höheren
Kreise jener Zeit, die Abwesenheit aller idealer Bestrebungen auf dem staat¬
lichen Gebiet, die gedankenlose Neugier, die immer nur Huiä novi fragt und
mit jeder Antwort zufrieden ist, wenn dieselbe nur Conversationsstoff für die
nächsten Stunden bietet, — deutlicher können sie sich kaum irgendwo ab¬
spiegeln, als in diesen Tagebuchblättern, in denen ein geistreicher und be¬
deutender Mensch das wiedergibt, was er für das Wichtigste und Wissens¬
würdigste des Tages hält. Varnhagen selbst scheint sich wenigstens zu Zeiten
keine Illusionen darüber gemacht zu haben. „Ueberhaupt", heißt es S. 294,
„ist Hof und Stadt jetzt von keinerlei durchgreifenden Interessen bewegt, eine
völlige Leere, ein gänzlicher Stillstand; alles lähmt sich untereinander, zum
Bewegen ist keine Kraft groß genug, zum Hemmen reicht jede hin." .Und
dennoch wird er nicht müde, von früh bis spät auf die Jagd nach Neuig¬
keiten aus dieser reiz- und würdelosen Welt zu gehen. Nicht nur, daß über die
Kleinlichkeiten und Scandalosa, von denen die Gesellschaft sich nährte, Buch
geführt wird, in eines Besseren Ermangelung verschmäht der Tagebuchschreiber
nicht, von Geschichtchen Act zu nehmen, die den Stempel der absichtlichen
Lüge an der Stirn tragen und von ihm selbst keinen Augenblick geglaubt
worden sind.
Aber das ist noch nicht das Schlimmste. An mehr wie einer Stelle
offenbaren sich die ungünstigen Wirkungen, welche das Aufgehen in diese
Nichtigkeiten auch auf Varnhagens Charakter und sein politisches Urtheil
ausüben. Verzehrt von dem Drange, aus der Verborgenheit seiner Privat¬
existenz auf die Schaubühne des öffentlichen Lebens zurückzukehren, ist er in
seinem Urtheil über die einzelnen maßgebenden Personen wenigstens zu Zeiten
und für Zeiten davon abhängig, wie dieselben sich zu ihm stellen und was
er von ihnen zu erwarten hat. In der Regel geht er zwar nicht so weit,
unfähige Vertreter des überlebten Systems der alten Staatsweisheit gelten
zu lassen, weil sie ihm wohlwollen — aber es kommt nicht selten vor, daß
Männer, welche in dem damaligen Preußen entschieden die Sache des Fort¬
schritts vertraten, bemäkelt werden, weil sie sich um den frondirenden Geheimen
Legationsrath auf Wartegeld nicht kümmern oder ihm abgeneigt sind. Be¬
sonders deutlich tritt das in Bezug auf Wilhelm von Humboldt hervor;
keine Gelegenheit, ihm und den Personen seiner nächsten Umgebung am Zeuge
zu pflücken, wird unbenutzt gelassen. Selbst über Stein erfahren wir mehr
Ungünstiges als Günstiges, die Oberpräsidenten v. Schön und v. Vincke
werden nicht besonders gut behandelt und was Varnhagen von Nagler be¬
richtet, bezieht sich nicht sowohl auf den verdienstvollen Begründer des preu¬
ßischen Postwesens, als auf den haltungslosen Bundestagsgesandter. Von
Altenstein's hohen Verdiensten um die Sache der Bildung und Wissenschaft
in Preußen ist mit keinem Wort die Rede, er wird nur gescholten und ge¬
lästert. Die Art und Weise, in der das geschieht, muß doppelt unangenehm
berühren, denn sie läßt darauf schließen, daß Varnhagen seine Notizen mit
entschiedener Rücksicht auf die künftigen Leser niederschrieb und sich gegen
diese zu decken suchte. Gewöhnlich sagt er in solchen, wie in vielen andern
Fällen nämlich nicht, was er selbst von den betreffenden Personen oder deren
Handlungen hält, sondern er registrirt mit kaum verhohlener, hämischer
Schadenfreude die ungünstigen Urtheile Dritter. Irgend ein X oder U. über
dessen Nichtigkeit und Hohlheit der Verfasser uns eben noch alle Zweifel be¬
nommen, hat das und das gesagt; nun folgt der betreffende Ausspruch so
ausführlich und breit, als habe ein Orakel gesprochen. Unwillkürlich hat
man den Eindruck, es sei dem Memoirenschreiber daran gelegen gewesen,
wenn auch nur beiläufig auf das Urtheil des Lesers zu wirken und mit
der Brauchbarkeit des „-zizwpör aliguici Kg-fret" eine Probe anzustellen.
„Blätter aus der preußischen Geschichte" sind die 433 S. des dritten
Bandes nicht zu nennen, drei Viertheil von ihnen hat es nicht mit Geschichte,
sondern mit Geschichten und Geschichtchen zu thun. Mittheilungen über das
Verhältniß des Königs und der Prinzen zu den einzelnen Herren und Damen
ihrer Umgebung, Beiträge zur Geschichte der demagogischen Umtriebe und
ihrer Untersuchung, Notizen über Bücher, Zeitungsartikel und Theaterstücke,
welche Sensation machten oder zu Machen schienen, im günstigsten Fall In¬
diskretionen über das G/triebe der diplomatischen Welt, das ist im Grunde
Alles was wir erfahren. Die großen Themata sind die Personalverände¬
rungen zu Neujahr und zu Königs Geburtstag und die einzelnen Phasen
des Verhältnisses, in welchem der König und der Kronprinz zu ihren Frauen
stehen. Die Schuld daran trägt allerdings nicht Varnhagen allein. In den
Jahren, während welcher er die beiden ersten Bände schrieb, war die Ver¬
fassungsfrage noch nicht entschieden, schwankte der König noch zwischen dem
Kampf der Parteien, ließ sich noch etwas hoffen und fürchten, gewann die
einzelne Anekdote als Symptom der herrschenden Stimmung oder als eines
der Gewichte, die in die Wagschale der königlichen Entscheidung geworfen
werden konnten, typische Bedeutung. Dieser Stoff lag für die späteren „Blätter"
nicht mehr vor.
1824 und 1823 ist es so gut wie ausgemacht, daß so lange Friedrich
Wilhelm III. König von Preußen ist. Alles beim Alten bleibt, in Fragen
der großen Politik Metternich und Kaiser Alexander die Orakel sind, nach
dem man sich zu richten hat, die innere Entwickelung stille steht und mit der
Tradition des patriarchalischen Regiments auszukommen sucht. Dieses Thema
wird denn auch zum Ueberdruß variirt: der Reihe nach werden die Rath¬
geber des Königs vorgenommen und verurtheilt — nicht selten in ziemlich
schablonenmäßiger Weise. Varnhagens politisches Urtheil ist auch, wo es sich
nicht um Personen, sondern um Sachen handelt, nichts weniger als sicher
und von den Tagesmeinungen unabhängig, für Entwickelungen und Fort¬
schritte, die nicht im liberalen Parteikatechtsmus stehen, hat er nicht mehr
und nicht weniger Verständniß als andere Leute. Bezeichnend ist schon, daß
er sich um eigentlich technische Fragen viel weniger kümmert, als um Wechsel¬
fälle in der Diplomatie oder höheren Bureaukratie. Die Verhandlungen
über die Begründung der Nationalbank interessiren ihn nicht entfernt so lebhaft
als die einzelnen Belohnungen, welche Kamptz zu Theil werden, die Dumm¬
heiten des Gesandten v. Küster in München oder die unbedeutensten Vorgänge
in der französischen oder einer süddeutschen Kammer. Er selbst hat gar keine
Meinung über das Bankproject, fondern begnügt sich mit Berichten darüber
was gelegentlich Herr v. Rothschild, der Kronprinz oder Fürst Wittgenstein für
und wider dieselbe gesagt haben. Vom Zollverein ist mit keinem Wort die
Rede, der wichtige Handels- und Zollvertrag mit Rußland wird auch nur
im Vorübergehen erwähnt, die Personen, welche mit der Leitung der einzelnen
Zweige des Finanz- und Handelswesens betraut sind, kommen nicht nach
ihrer Brauchbarkeit, sondern einzig darnach in Betracht, ob und wie sie zum
konstitutionellen System stehen.
Es versteht sich von selbst, daß neben der großen Masse von Gleich-
giltigem. Unwürdigem und blos Zufälligen, was zwischen die Blätter dieses
Buchs gelegt worden, manche interessante und lehrreiche Einzelzüge mitunter
laufen. Schon daß man erfährt, wie die laufenden Ereignisse und Erschei¬
nungen ihrer Zeit in der preußischen Hauptstadt aufgefaßt und angesehen
worden, ist nicht gleichgiltig — wenn ihr Werth auch durch stete Wiederholungen
und gänzlich unkritische Zusammenstellungen des Charakteristischen mit dem
blos Zufälligen empfindlich beeinträchtigt wird und Herr v. Varnhagen nur
sehr ausnahmsweise beweist, daß seine Witterung eine richtigere und energi¬
schere gewesen, als die der Zeitgenossen. Was von der Volksauffassung der
Union, der allgemeinen und auf die höchsten Kreise verbreiteten Pöbelfurcht
vor dem Katholicismus und dem Einfluß der Kronprinzessin (jetzigen Königin-
Wittwe) erzählt wird, ist ebenso instructiv, als was wir über den Kunst-
und Literaturgeschmack des großen Publicums von 1824 und 1823, die
Händel zwischen den Anhängern Webers und Spontinis, die große Rolle des
Holtei'schen „Alten Feldherrn" ze. hören. Ist von wirklich neuen Thatsachen
auch in dieser Beziehung nicht die Rede, so werden doch eine Menge Einzelzüge
einem in Detail ausgeführt, das man sich gefallen lassen kann. — Vielleicht
am Interessantesten ist der Schluß des Buchs, der den Eindruck schildert,
welchen das plötzliche Ableben Kaiser Alexanders I. in Berlin machte. So
langsam und unvollständig man auch über die Sachlage in Petersburg und
die Thronsolgefrage unterrichtet wurde (die Nachrichten über den Aufstand vom
14. (26.) Dec. war am 30. Dec. 1825, mit dem der vorliegende dritte Band
der „Blätter aus der preußischen Geschichte" abschließt, in Berlin noch nicht
bekannt), so hatte man doch eine Empfindung davon, daß in der russischen
Luft ein Gewitter lag. Dominirend war übrigens die Furcht davor, daß
dasselbe sich über Preußen entladen könne, dem der präsumptive Thron¬
folger Großfürst Constantin entschieden abgeneigt war. — Der Nekrolog,
den der Staatsanzeiger über Alexander brachte war (wie wir schließlich be¬
merken wollen) aus der Feder Varnhagens (der seine eigene Meinung über
den verstorbenen Fürsten mit gewohntem Geschick zu verschleiern wußte) ge¬
flossen und von Friedrich Wilhelm III. in Person corrigirt worden. Die
Worte „in seiner Bundesgenossenschaft" hatte der König mit „in seiner mäch¬
tigen und kräftigen Bundesgenossenschaft" vertauschte
Wie es den Anschein hat, stehen noch Fortsetzungen dieses Werks zu er¬
warten. Zum Ruhm des Autors werden sie schwerlich beitragen.
Von allen Gebäuden, in denen sich größere Menschenmengen regelmäßig
versammeln, sind die Schulen unter dem Gesichtspunkt der Gesundheitspflege
die wichtigsten und zugleich die am Meisten vernachlässigten. Von den Les-
rem abgesehen, haben ihre Besucher weder die Fähigkeit noch die Mittel sich
selbst zu helfen. Die verhältnißmäßig hohe durchschnittliche Bildung der
Lehrer aber hat von praktischer Hygiene noch nichts in sich aufgenommen.
So kommt es, daß wenn die Wissenschaft einmal die Luft, oder das Licht,
oder die Tische und Bänke einer Schule ihrer Prüfung unterwirft, die nach¬
theiligen Einflüsse in stärkerer Thätigkeit begriffen vorgefunden werden, als
in Krankenhäusern, Gefängnissen. Kasernen u. s. f., die meistens alle schon
sowohl beim Bau, wie während ihrer Benutzung einer gewissen eindringenden
hygienischen Controle unterworfen werden..
Die Verderbtheit der atmosphärischen Lust für menschliche Athmungs-
zwecke mißt sich bekanntlich an ihrem Kohlensäuregehalt. Kohlensäure ist das
Excrement des Athmungsprocesses, wie Sauerstoff sein Unterhalter. Man
nimmt an, daß die Beimengung der Kohlensäure, wenn die Luft eines Rau¬
mes athembar-gesund bleiben soll, das Verhältniß von eins auf Tausend
nicht übersteigen dürfe. Nun fand aber der englische Arzt Roscoe in Schul¬
zimmern 2,z bis ?,z auf 1000,—Professor Pettenkofer zu München in einer
Mädchenschule 7,2 auf 1000, — Dr. Baring zu Celle in einem Gymna¬
sium 2 bis 6, in Volksschulen 9 bis 12 auf 1000 u. f. f. Dagegen consta-
tirte Roscoe in Militärhospitälern nur O.g bis 1,z und in unventilirten Ka¬
sernen nur l.i bis l.g Theile Kohlensäure auf 1000 Theile Luft. In Eng-
land ist man bekanntlich sehr viel feinfühliger für frische ^ab gesunde Luft;
daher die geringere dort beobachtete Luftverderbniß überhaupt. Aber der
Nachtheil zu Ungunsten der Schulen zeigt sich dort sogut als in Deutschland.
Auf das erste Vernehmen wundert man sich vielleicht, daß kleine Knaben
und Mädchen ein so verhängnißvolles Vermögen besitzen sollen sich selbst die
Lust zu verderben. Sie bringen doch immer nur einen kleinen Theil der
täglichen vierundzwanzig Stunden in ihren Classen zu; und halbwüchsige
Menschen werden doch nicht so viel ihres Sauerstoffs beraubt, wie er¬
wachsene? Das ist aber eben nur ein wenn auch noch so plausibler und
landläufiger Irrthum. Was Erwachsene an Körperumfang voraushaben,
das gleichen Kinder durch ihren stärkern Stoffumsatz so ziemlich aus. Im
Verhältniß zum Körpergewicht athmen wachsende Menschen nach Pettenkofer,
die doppelte Menge Kohlensäure aus wie ausgewachsene. Was aber die
Leerheit der Schulzimmer, während dreier Viertel des Tages betrifft, so
kommt natürlich alles darauf an, welchen Gebrauch man von derselben macht.
Sie gewährt die Möglichkeit gründlicher Erneuerung der Luft, aber sie ist
keineswegs mit dieser an sich schon gleichbedeutend. Von wie vielen Schulen
unter Tausend im deutschen Vaterlande läßt sich sagen, daß sie diese Mög¬
lichkeit gehörig ausbeuten, anstatt bei geschlossenen Fenstern und Thüren die
Luft selber zusehen zu lassen, wie sie sich durch zufällige Spalte, Ritzen und
Poren der eingesogenen schädlichen Bestandtheile wieder, entledigt?
Eine aufmerksame Fürsorge, die sich in einer präeisen sanitarischen In-
struction für den Custos (oder wer sonst die äußere Wartung eines Schul¬
gebäudes übernimmt) und in dessen unausgesetzten strengsten Ueberwachung
ausprägte, könnte schon aus dem nächstliegenden Mittel regelmäßiger Lüf¬
tung viel machen. Nur muß ihr nicht jene verwerfliche Art von Sparsamkeit
entgegentreten, die mit dem möglichst geringsten Maße von Feuerung aus¬
kommen will. Die stumpfen Sinne des gemeinen Mannes pflegen zwischen
Wärme und Dunst nicht zu unterscheiden; der Unternehmer und Beaufsich¬
tiger von Schulen aber ist es unwürdig, sich auf diesen veralteten Stand¬
punkt zu stellen. So viel Feuerung, als nothwendig ist, um die vollkom¬
menste Lüftung der Schulräume von der einen Benutzungsfrist zur andern
zu erlauben, gehört zu den ersten und unbedingtesten Bedürfnissen jeder
Schule ohne Ausnahme. Die Volksschule erheischt die Bewilligung der hieraus
fließenden höheren Ausgaben noch viel mehr als es die übrigen Unterrichts¬
anstalten thun, weil in ihr unvermeidlicher Weise stets eine größere Zahl von
Schülern zusammengepfercht sein wird und dieselben für die schlechte Luft des
Schulzimmers daheim kein Gegengewicht zu finden Aussicht haben.
Bisher hat auf Verminderung der von einem Lehrer gleichzeitig zu
unterrichtenden Schülerzahl wesentlich nur das pädagogische Interesse hin¬
gewirkt. Es gibt eine Zahl von Köpfen, über welche hinaus selbst der ein¬
fachste Unterricht aufhört wahrhaft ergiebig zu sein; und diese Zahl wird in
der großen Mehrzahl unsrer Volksschulen immer noch überschritten. Fortan
wird, wie man hoffen darf, ein nicht minder mächtiges hygienisches Motiv
diese Tendenz verstärken. Wichtiger am Ende noch als positive Erreichung
des Zweckes, zu welchem ein Kind die Schule besucht, ist, daß es in derselben
seine Gesundheit nicht einbüße. Die Gesundheit kann aber nicht unbeschädigt
erhalten bleiben, wenn in einem mäßig großen Zimmer fünfzig und mehr
kleine Leute mehrere Stunden hinter einander zubringen. Dieser Satz bleibt
bestehen, auch wenn durch die pünktlichste Oeffnung von Thüren und Fenstern
während der Unterrichtspausen dafür gesorgt wird, daß sie bei ihrer jedes¬
maligen Versammlung eine vollkommen athembare frische Luft vorfinden; ja
selbst dann, wenn künstliche Ventilation alle ihre Mittel an dem betreffenden
Raume erschöpft. In einem Zimmer, dessen Größe die Grenzen bequemer
pädagogischer Beherrschbarkeit nicht übersteigt, das also etwa 26 Fuß lang,
22 Fuß breit und 16 Fuß hoch wäre, sollten der Regel nach nicht mehr als
dreißig Schüler aufgenommen werden. Dieselbe Höchstzahl wird ungefähr
auch unter dem specifischen Gesichtspunkt des Lehrers richtig befunden wer¬
den; in manchen höhern Unterrichtsanstalten gilt sie als solche bereits, und
zwar augenscheinlich nicht weil sie aus hygienischen, sondern weil sie aus
pädagogischen Motiven sich empfiehlt. Aber nicht die Verhältnisse der obern
Classen müssen dabei vorzugsweise zu Grunde gelegt werden, sondern aller¬
mindestens die der mittleren, denn wie Jeder weiß und in der Natur der
Sache liegt, nimmt die Schülerzahl mit den Classen nach obenhin ab, während,
wie wir oben gesehen haben, dreißig Sextaner die Luft doch ebenso rasch und
stark mit Kohlensäure vergiften, wie dreißig Primaner.
Die beispielsweise angegebenen Größenverhältnisse würden auf je einen
Schüler von dreißig und dem Lehrer als Einunddreißigsten fast 284 Kubik-
fuß Luftraum geben, wenn man von Tischen, Bänken, Ofen:c. absähe. Bei
der Anlage von Krankenhäusern rechnet man heutzutage auf den Kopf min¬
destens 1200 Kubikfuß; in englischen und französischen Kasernen 600; in
neueren französischen Lyceen 650. Jene 284 Kubikfuß können daher nur
dann allenfalls als ausreichend betrachtet werden, wenn auch für den Fall, daß
die Höchstzahl der Classenbesetzung erreicht würde, die Hilfsmittel künstlicher
Ventilation die Luft während einer Stunde mindestens zweimal vollständig
zu erneuern gestatten. In ihrem ganzen wissenschaftlich-praktischen Umfang
lassen sich dieselben freilich nur anwenden, wenn ein Haus von Grund auf
neu gebaut wird. Desto kostbarer aber ist jede Gelegenheit zu solchem Neu¬
bau und desto sorgfältiger zu verwerthen.
Die Übeln Wirkungen verdorbener Luft 'auf Schulkinder treten nicht in
bestimmten einzelnen Krankheiten oder Schwächen hervor. Allein sie haben
sicher ihren Theil daran, wenn unter Knaben wie Mädchen so häufig eine
krankhafte Blässe, ein gestörter und verkümmerter Appetit, mangelhafte Muskel¬
entwickelung, geringe geistige Schwungkraft beobachtet wird. Sie hindert die
Blutbereitung, weil der dieselbe bedingende Athmungs-Proceß durch sie be¬
einträchtigt wird. Blutarmuth, Scropheln, chronische und acute Lungenkrank¬
heiten sind ihre nur zu natürlichen Folgen. Die Mittheilung von Ansteckungs¬
stoffen wird durch sie erleichtert, weil die Circulation in dem Luftraum des
Zimmers stockt und schwebende giftige Organismen mikroskopischer Art nicht
rasch genug ausgetrieben werden. Kurz, um das Mindeste zu sagen, muß-
man Pettenkofer darin beipflichten, daß der längere Aufenthalt in einer
Schulluft, wie sie gewöhnlich leider ist, die Widerstandsfähigkeit des Körpers
gegen krankmachende Einflüsse aller Art herabsetzt.
Unmittelbarer nachweisen lassen sich die Schäden, welche aus nicht ge¬
nügender Helle der Schulzimmer und ungeeigneter Construction von Tischen
und Sitzen hervorgehen. Da haben wir auf der einen Seite die Kurzsichtig¬
keit, auf der anderen die Rückgratsverkrümmungen. Die Ueberzahl kurz-
sichtiger Knaben, die Zunahme dieses Fehlers mit der Zahl der in der Schule
verbrachten Jahre ist Lehrern, Aerzten und sonstigen Beobachtern schon lange
aufgefallen. Aber erst den letzten Jahren gehören exacte und hinreichend um¬
fängliche statistische Untersuchungen darüber an, in welchem Grade das Eine
wie das Andere der Fall sei. Das Hauptverdienst hat sich um diese Fragen
Dr. Cohn in Breslau erworben. Er hat über zehntausend Paar Augen von
Schulkindern gemessen, und ermittelt, daß die Kurzsichtigkeit mit dem Auf¬
steigen in den Classen bei Elementarschulen von 2 bis zu 9 von 100 wächst,
in Realschulen fast der 5te, in Gymnasien mehr als der 4te Theil sämmtlicher
Schüler kurzsichtig ist, in der Prima beider Arten von höheren Unterrichts¬
anstalten aber so ziemlich die Hälfte. Man kann danach unmöglich anders
als einen Zusammenhang zwischen der Ausbreitung der Kurzsichtigkeit und
der Dauer des Verweilens in der Schule annehmen, als innerhalb der Schul¬
einrichtungen vor allem nach den Ursachen einer so erschreckenden Abnahme
in der Vollkräftigkeit des edelsten aller Sinne forschen. Solche Ursachen an¬
zugeben ist die Wissenschaft denn auch durchaus nicht verlegen. Sie liegen
einestheils in der ungenügenden Lichtversorgung, anderntheils in der zu ge¬
bückten Haltung, und folglich der zu gewohnheitsmäßiger Abkürzung der Seh¬
weite verteilenden Beschaffenheit von Tisch und Sitz. Was den ersten Um¬
stand betrifft, so fordert I)r. Cohn — und Virchow ist ihm darin beigetreten
— auf den Kopf 300 Quadratzoll Fensterglas. Weder Bäume noch Ge¬
bäude dürfen dem hereinfallenden Tageslicht den Zugang wehren. Die
Nothwendigkeit künstlicher Erleuchtung sollte durch Einschränkung der Unter¬
richtszeit auf die Tagesstunden möglichst eng gehalten werden, dann aber so
ausgiebig sein wie Gas oder Petroleum, die bevorzugten Leuchtstoffe der
Zeit, es nur immer gestattet.'
Der Zuschnitt der Subsellien ist unter allen Gesundheitsfragen die der
Schule eigenthümlichste, und wird gegenwärtig auch am eifrigsten mit Theoremen,
Projecten und Experimenten ventilirt. Zu einem eigentlichen Abschluß sind
die Erörterungen und Versuche noch nicht gediehen. Soviel aber weiß man
doch bereits, daß in keiner Classe mit einerlei Größe von Tisch und Sitz
auszureichen ist, sondern daß es mindestens zweier Größen bedarf, nebst außer¬
ordentlichen oder stellbaren Vorrichtungen für Niesen und Zwerge (im
Verhältniß zu der normalen Classen-Statur); daß die Entfernung zwischen
Sitz und Tisch jetzt durchweg zu beträchtlich ist, da sie vielmehr Null ziemlich
nahe kommen sollte, und eine Rückenlehne schlechterdings nicht zu entbehren
ist. Das zarte kindliche Knochengerüst vermag noch weniger als das des aus¬
gewachsenen Menschen ein halb Dutzend Stunden Tag für Tag ohne Stütze
für die Wirbelsäule sich grade zu erhalten. Der Körper sinkt also nach
vorn, Brust und Unterleib werden eingeengt, die Rippen verwachsen auf der
schwächeren Seite, das Auge gewöhnt sich an die Sehweite der Kurzsichtig¬
keit, während es noch vollkommen gesund ist. So entstehen Augenschwäche,
Schiefheit, die Keime von Hämorrhoiden, Tuberculose u. s. f. '
Die Gesundheitspflege innerhalb der Schulen wird, so kann man im
Allgemeinen behaupten, bis jetzt mehr oder weniger dem Zufall überlassen.
Je nachdem eine Anstalt in ein zweckmäßig oder unzweckmäßig eingerichtetes
älteres Haus geräth, oder falls für sie neugebaut wird, der Baumeister etwas-.
Hygiene in sich aufgenommen hat, — die leitenden Persönlichkeiten etwa in
England den Segen guter Ventilation kennen gelernt und den Sinn für
ihre stete Erzwingung mit zurückgebracht haben,— oder unter den bethetligten
Eltern sich ein Arzt befindet, der nicht blos Kranke heilen, sondern auch
Gesunde gesund erhalten wissen will, zumal wenn es sich um die eigenen
Kinder handelt — je nachdem dringt ein Stück praktischer Gesundsheitspflege
ein oder nicht. Hierbei darf es indessen nicht bleiben. Die öffentliche Meinung,
in gewissen Grenzen selbst der Staat, muß eine regelmäßige und erschöpfende
Beachtung der in Betracht kommenden, über jeden Zweifel erhabenen Vor¬
schriften der Gesundheitspflege erzwingen. Schulkinder sind Unmündige, die
sich nicht selbst helfen können; die öffentliche Vormundschaft muß für sie ein¬
treten. Zumal wo und soweit der Schulbesuch wie in Deutschland zwangs¬
weise auferlegt wird, ist es offenbar die gegenüberstehende Verpflichtung des
Staates, das Seinige dafür zu thun, daß nicht der Besuch schlecht gelüsteter
und mangelhaft beleuchteter Classenzimmer der heranwachsenden Generation
einen Theil der Gesundheit, Kraft und Frische kosten, auf denen die Zu¬
kunft der Nation nicht zum wenigsten beruht.
Musicalische Charakterbilder von Otto Gumprecht. Leipzig, Adolph
Gumprecht. 1869. V u. 341 S.
Seit Jahren verfolgt der Herr Verf. als Musikkritiker der Nationalzeitung das
musicalische Leben Berlins mit künstlerischem Sinne und feinem Verständniß und
Referent kennt keinen Kritiker, außer etwa Hanslik in Wien, der mit gleichem Er¬
folge dieser schwierigen Aufgabe gerecht zu werden verstanden hätte. Selten leider begeg¬
net man in der deutschen Musikkritik den edlen Eigenschaften, welche Otto Gumprecht
auszeichnen: gediegener musicalischer Bildung, dem Vermögen, verschiedene künstlerische
Individualitäten zu erfassen und zu schildern, seien es productive oder ausübende
Künstler, und einer unbestechlichen Wahrheitsliebe, die von unbilligen Rücksichten für
eine Partei oder für einzelne Persönlichkeiten Nichts weiß. Es sind dies alles Vorzüge die
unstreitig auch zu größeren musikwissenschaftlichen Arbeiten befähigen, und so empfin¬
gen wir mit Vergnügen das oben genannte Werk des Hrn. Verfassers, in der an¬
genehmen Hoffnung, Belehrung und Unterhaltung daraus schöpfen zu können. In
dieser Erwartung wird sich beim Lesen des Buches Niemand getäuscht finden. Eine
gewisse behagliche Breite im Stil wird man dem Autor gern zu Gute halten. Im
Uebrigen ist die Schilderung so anschaulich und lebendig, die Betrachtungsweise des
Schriftstellers so feinsinnig, liebevoll und gerecht gegenüber den verschiedenartigen
künstlerischen Persönlichkeiten, daß die musicalischen Charakterbilder besonders in dem
Kreise der deutschen Familie, in welcher die Musik eine Heimath gefunden hat, sich
bald das Bürgerrecht gewinnen werden. Werke dieser Art werden am meisten dazu
beitragen, unsre musicalischen Dilettanten an bessere und gesündere Nahrung zu ge¬
wöhnen, als z. B. die leider immer noch sehr verbreiteten, süßlichen und geistlosen,
im schlimmsten Sinne dilettantischen Schriften von Elise Polko und Consorten zu
bieten vermögen.
Otto Gumprecht schildert in dem genannten Buche die Persönlichkeiten von
Schubert, Mendelssohn, Weber, Rossini, Ander und Meyerbeer nach ihrer mensch¬
lichen wie künstlerischen Seite hin. Da- er zugleich mit richtigem Verständniß be¬
müht ist, sie im Zusammenhange mit ihrer Zeit und der Entwickelung der Musik
zu betrachten, so darf er mit Recht im Vorwort die Hoffnung aussprechen, daß
diese Schilderungen sich zu einem geistigen Ganzen, zu einem wenn auch nur in
den allgemeinsten Umrissen gehaltenen Bilde der nachclassischen Production sich ge¬
staltet haben möchten. Möge bei einer bald zu hoffenden zweiten Auflage der Vf.
sich geneigt finden, diese werthvolle Arbeit durch Hinzuziehung von R. Schumann,
Chopin und Nich. Wagner abzurunden.
Die Herren Duncker und Eberty, ein berliner Buchhändler und ein
berliner Stadtrichter, haben sich gemeinsam im preußischen Abgeordneten¬
hause der Mühe unterzogen, die Angelegenheiten der preußischen Presse gegen¬
über der Gesetzgebung in erneute Anregung zu bringen. Daß ihre Be¬
strebungen innerhalb des geschlossenen Kreises der legislativen Factoren
Preußens zunächst völlig erfolglos verlaufen werden, ist ohne Weiteres gewiß.
Die Regierung verhält sich ablehnend, erhebt den dilatorischen Einwand der für
die Reichsgesetzgebung vorbehaltenen Materien, und, wenn man selbst dieses
Hinderniß überwinden zu können hoffte, so würde das Herrenhaus auf diesem
Gebiet sicherlich unüberwindlich bleiben. Noch gewichtiger machen sich innere
Bedenken geltend, ob denn überhaupt auf dem von jenen Herren einge¬
schlagenen Wege der Speciallegislation das Ziel einer von allen ihrem Wesen
feindlichen Beschränkungen befreiten Presse zu erreichen ist.
Unzweifelhaft ist das preußische Gesetz über die Presse v. 12. Mai 1857
ein recht schlechtes Erzeugniß moderner Gesetzgebung. Es ist nicht allein
ein höchst beschränkter, kleinlicher, ängstlicher Standpunkt, der das Gesetz
gegenüber den vermeintlichen Gefahren der plötzlich entfesselten geistigen Ele¬
mente einnimmt — die Zeit, in der es entstand, kannte keinen höheren —
es ist vor allem Anderen auch in seiner juristischen Technik, seiner redaetio-
nellen und sprachlichen Form durch und durch mangelhaft und verkehrt. Ueberall
merkt man es den Verfassern an, daß ihnen selbst jede Erfahrung abging,
und sie sich dafür abmühten, die roheste politische Empirik der Franzosen
nachzuahmen. Die krankhafte Sucht, welcher die Jurisprudenz des Ober¬
tribunals einige ihrer schönsten Blüthen verdankt, nur ja für jedes Pre߬
erzeugniß eine möglichst verantwortliche Person „greifen" zu können, die zum
Theil darauf beruhenden Abstufungen der Schuld, vom Drucker an durch die
Personen des Verlegers, Vertreibers, Herausgebers, Redacteurs hindurch
bis zum Verfasser, die unklare Terminologie, in der besonders mit dem „Her¬
ausgeber" umgesprungen wird, machen das Gesetz für jeden, der es anzu-
wenden oder zu befolgen hat, für jeden ehrlichen Mann, der es liest, zu
einer häßlichen, unbehaglichen, verwirrenden Erscheinung. Manche Bestim¬
mungen sind theils mit absoluter Unfruchtbarkeit für den praktischen Gebrauch
behaftet, theils so unbedingt unverständlich und fragwürdig, daß man selbst
mit Zuhilfenahme der s. g. Materialien, vielleicht des französischen Grund¬
iertes, dessen deutsche Uebertragung wir vor uns sahen, verzweifelt vor der
Aufgabe still steht, in den Worten den beabsichtigten Sinn wiederzufinden.
Hier könnte freilich viel geändert, gebessert, beseitigt werden. Aber machen
wir uns darüber keine Illusionen: jedes „Preßgesetz" ruht auf der Voraus¬
setzung , das Preßgewerbe und seine Erzeugnisse bedürften besonderer Control-
vorschriften, wie etwa der Handel mit Gift; es hat das Mißtrauen gegen
die Presse zur innersten Seele, und die Beschränkung zu seinem grundsätz¬
lichen Zweck. Schließlich bleibt es immer ein zweifelhafter Gewinn, eine
ungeschickte Reglementirerei mit einer geschickteren zu vertauschen. Das Ziel,
das vernünftiger Weise allein des Strebens werth ist, ist die Presse dem ge¬
meinen Rechte des Landes zu unterwerfen, das gedruckte Wort nicht anders
zu behandeln, wie das geschriebene, und das gemeine Recht selbst von allen
die Willkür begünstigenden Bestimmungen und Einrichtungen zu reinigen.
Dies Ziel droht auf jenem Wege aber eher verloren zu gehen, als gewon¬
nen zu werden.
So, meine ich, sind die eingeschnürte Lage und die peinlichen Tracasse-
rien, über welche die preußische Presse mit Recht Klage führt, viel weniger
dem Preßgesetz zuzuschreiben, als den organischen Fehlern unserer Ge¬
richts- und Polizeiverfassung. Die Cautionspflicht der Zeitungen, welche der
Duncker-Eberty'sche Antrag aufgehoben wissen will, hat schwerlich in erheb¬
licher Weise eine üppige Entfaltung der periodischen Presse gehindert, oder
die bestehenden »Gazellen genirt". Unbequem mag die Caution sein, und
vernünftig zu rechtfertigen, ist sie schwerlich. Aber weder die buchhändlerische
Speculation, noch das politische Parteibedürfniß wird heutzutage leicht wegen
Beschaffung eines baaren Capitals von 1000—4000 Thlr. in Verlegenheit
gerathen, wenn sonst der zur Gründung einer neuen Zeitschrift erforderliche
Unternehmungsfond da ist. Es ist möglich, daß wir in dieser literarischen,
wie in manchen anderen nicht literarischen Dingen noch hinter den nord¬
amerikanischen Zuständen etwas zurück sind. Im Ganzen dürfen wir in-
' dessen annehmen, daß auch bei uns die Tagesschriftstelleret allen Schichten
des Publicums reichlicher politische Nahrung zuführt, als dieses irgend,
ich will nicht sagen, zu verdauen, doch aufzunehmen Lust hat. Die Cautions¬
pflicht könnte in Gottes Namen morgen verschwinden: unbedingt würde dann
ein sehr respectables Capital, das in den Staatseassen zu dürftigem Zins fest¬
gehalten wird, einer anständigen Rentabilität zueilen — ob aber die Presse
auch nur um einen Athemzug freier, auch nur ein existenzberechtigter Blüthen¬
keim mehr sich zu einem frischen grünen Blatte entfalten würde, darf be¬
zweifelt werden. Kaum weniger ironisch kann man sich der Forderung gegen¬
über verhalten, die Hinterlegung des Pflichtexemplars auszumerzen. Auch
diese Vorsichtsmaßregel ist recht überflüssig, ihre Beseitigung würde einige
langweilige Molesten aus der Welt schaffen, und sicherlich von den Lauf¬
burschen der Zeitungsexpeditionen wie von den Lectoren des berliner Pre߬
bureaus mit Enthusiasmus begrüßt werden. Wie absolut Nichts würden diese
Reformen aber neben all' den sonst die Presse umlauernden Gefahren verschlagen!
Ein gutes Theil radicaler klingt allerdings ein ferneres Postulat jenes
Antrags, das sich direct gegen die principielle Zulässigkeit der s. g. vorläufi¬
gen Beschlagnahme einer Druckschrift wendet, und statt dessen lieber gleich
die positive Unzulässigkeit ausgesprochen wissen will. Das nenne ich in
Wirklichkeit das Kind mit dem Bade ausschütten. Blos um die Preßver¬
folgungen unwirksamer und unschädlicher zu machen, will man mit einem
Schlage das gedruckte Werk in einer Weise privilegiren, die weder mit dem
gesunden Menschenverstande, noch mit dem gemeinen Landesrechte vereinbar
ist. Sitz der Materie ist der § 29 unseres Preßgesetzes, welcher besagt, daß
wenn eine Druckschrift gegen die äußere Form, die vorgeschriebene Bezeich¬
nung des Druckers, Verlegers, Redacteurs verstößt, sie sogleich, — wenn ihr
Inhalt den Thatbestand einer strafbaren Handlung darstellt, sie nach ihrer
Veröffentlichung durch die Staatsanwaltschaft „und ihre Organe" vorläufig
mit Beschlag belegt werden kann, daß die Organe innerhalb 24 Stunden
der Staatsanwaltschaft die Verhandlangen vorlegen, diese innerhalb gleicher
Frist, falls sie die Beschlagnahme aufrecht erhalten will, dem Gerichte ihre
Anträge zustellen, das Gericht innerhalb acht Tagen Beschluß fassen muß.
Wollte man diesen Paragraphen aus dem Preßgesetz einfach streichen, so
würde sich das absonderliche Resultat ergeben, daß das polizeiliche und staats-
anwaltliche Recht der Beschlagnahme von Druckschriften statt aufgehoben zu
sein, von den wesentlichsten Beschränkungen plötzlich befreit wäre. Wenn es
Herr Duncker nicht wußte, hätte es Herr Eberty wissen sollen, daß der § 29
den Strafbehörden nicht ein neues Recht gibt, sondern eine ihnen ohnehin
zustehende Befugniß mit wohlthätigen Schranken umgibt, daß die Befugniß,
verdächtige Druckschriften zu saisiren, ein nothwendiger, natürlicher, unver¬
meidlicher Ausfluß der Strafgewalt nach allgemeinen positiven Gesetzes¬
bestimmungen zustehenden Obliegenheit ist, corpora äelieti und Ueberführungs¬
stücke mit Beschlag zu belegen. Oder soll das gedruckte Werk schlechterdings
durch die Druckerschwärze gefeit und sacrosanct sein? Und wenn das ge¬
druckte Werk, warum nicht auch das geschriebene? Warum soll die Litho¬
graphie, Metallographie, Photographie weniger geschützt sein? Was dem
Pasquill und der obscönen Druckschrift recht ist, muß jeder Art von Carri-
catur und obscönem Bildwerk billig sein. Da lobe ich mir. doch gleich die
consequente Methode eines holländisch-französischen Juristen neuster Schule,
eines Herrn Buyn, der in einer 1867 in Amsterdam erschienenen Schrift „ig,
Iibert6 as 1a parole" so hoch stellt, daß er das menschliche Wort in jeder
Form, jeder Aeußerung und jeder Beziehung dem Bereich des auf das Gebiet
der „Handlungen" reducirten Strafrechts grundsätzlich entzieht. Ist dies
nun noch ein zartbesaiteter Idealismus oder ein grobschlächtiger Materialis¬
mus? Wird der Empfindungsnerv und der geistige Contact im Kulturleben
der Zukunft die größere Rolle spielen, oder der Bewegungsmuskel und der
rein sinnliche Eindruck? Davon, glaube ich, wird es abhängen, welche
Stellung ein ideales Strafrecht dem Worte zuweisen, wieviel oder wie
wenig criminellen Werth es den lediglich durch die Sprache vermittelten Ein¬
griffen in die geistige, die moralische, die seelische Individualität beilegen wird.
Um bei unserem Gegenstande zu bleiben, so würde der § 29 des Pre߬
gesetzes seiner wohlwollenden Absicht, seinem unverfänglichen Wortlaute, sei¬
nen kurzen Fristen >nach der Presse kaum einen Grund ernsthaftester Be¬
schwerde haben abgeben können, wenn nicht trotz dieses Paragraphen in der
tollen Reaetionswirthschaft der Hinckeldey'schen Aera Mißbräuche der ärgsten
Art von einer allmächtigen Polizei legalisirt worden wären. Grade hierin
zeigt es sich aber, wie keine noch so unzweideutige Sprache des Gesetzes vor
der Willkür schützen kann, sobald die Institutionen des Landes das Gesetz
nicht schützen. Das Preßgesetz war eben ein halbes Jahr in Geltung, als
es dem Justizmintster Simons beliebte, durch ein Rescript vom 25. Novem¬
ber 1851 die §§ 29 und 31 auf den Kopf zu stellen und mit dürren Worten
zu erklären, daß die Staatsanwaltschaft, von deren gewissenhaftem Ermessen
die Beschlagnahme zunächst abhängig gemacht war, nicht etwa, wie dies der
§ 31 verordne, die Polizeibehörden als ihre „Organe" anzusehen, sondern
sich als „Organ" der Polizeibehörden zu geriren habe. Das Rescript, das
auch heute noch in ganz Preußen in unangefochtener Geltung
besteht, ist für die Kenntniß der Zeitgeschichte denkwürdig genug, um seinen
wesentlichen Wortlaut hier in die Erinnerung zurückzurufen. Nach einer den
Inhalt der §§ 29 und 31 recapitulirenden Einleitung erklärt der Chef der
preußischen Justiz-.
„Bei Ausführung dieser Bestimmungen kommen für die Beamten der
Staatsanwaltschaft folgende Gesichtspunkte in Betracht. Wenn ein vorläufig
angelegter Beschlag wieder aufgehoben und die Druckschrift dadurch der Cir¬
kulation übergeben wird, so tritt der Schaden, den die Schrift anrichten
kann, sofort ein (siel); er bleibt, wenn der Kreis der Leser sich erweitert,
ein fortwirkender (siel); das Uebel welches durch sie hervorgebracht wird, er-
scheint somit als ein unersetzliches (!!). welches durch eine nachherige Ver-
urtheilung des Schuldigen in keiner Weise wieder aufgehoben wird (!!!).
„Ueber die Frage, ob eine Druckschrift strafbaren Inhalts sei. kann nun
aber und wird nicht selten zwischen den Polizeibehörden, den Beamten der
Staatsanwaltschaft und den Gerichten eine Meinungsverschiedenheit (!) ein¬
treten, welche nur (?) durch die Entscheidung des Gerichts letzter In¬
stanz (!) ihre schließliche Erledigung finden kann. In Fällen, wo eine solche
Verschiedenheit der Ansicht zwischen den Beamten der Staatsanwaltschaft
und den Polizeibehörden wirklich obwaltet, wird in der Regel ein nicht ganz
grundloser (sie) Zweifel über die Strafbarkeit der Schrift als vorhanden an¬
zuerkennen sein; und es erscheint alsdann eben wegen der Jrreparabilität
des durch die ungerechtfertigte (sie) Aufhebung der Beschlagnahme entstehen¬
den Schadens am geeignetsten (sie), daß zur Erledigung jeden Zweifels (!-!?)
eine nicht weiter anfechtbare gerichtliche Entscheidung herbeigeführt werde.
Die Beamten der Staatsanwaltschaft haben daher: 1) von der
ihnen zustehenden Befugniß, die von der Polizeibehörde ver¬
hängte vorläufige Beschlagnahme einer Druckschrift wieder
aufzuheben, in der Regel keinen Gebrauch zu machen, 2) in
Fällen, wo die Aufhebung der Beschlagnahme von der Raths¬
kammer angeordnet ist, gegen diesen Beschluß die zulässigen
Rechtsmittel einzulegen, insofern ihnen ein hierauf gerichteter
Wunsch der Polizeibehörde mitgetheilt worden ist.
Auf diese peremptorische Ordnung folgen dann eine Bemerkung, daß die
Polizeibehörden nach einer Anweisung des Ministers des Innern ihren
„Wunsch" nur in Fällen von Bedeutung „und wenn zugleich Aussicht vor¬
handen ist, durch Einlegung des Rechtsmittels ein entsprechendes Re¬
sultat (!) zu erzielen", kund thun sollen, und eine weitere die gegenseitige
Communication unter den Beamten der Staatsanwaltschaft regelnde An¬
ordnung ohne Interesse. Damit schließlich nicht dennoch eigenwillige Staats¬
anwälte ausnahmsweise einmal sich zur Aufhebung einer polizeilichen Be¬
schlagnahme für befugt halten, und Unheil anrichten, hat sich durch eine
Reihe weiterer Rescripte der Minister des Inneren und der Justiz ein förm¬
liches Beschwerderecht der Polizeibehörden über die Staatsanwälte entwickelt,
natürlich mit dem Effect, die Beschlagnahme auch gegen den Willen der
Staatsanwälte aufrecht zu erhalten.
viküeilö est, satiiÄM non «eridsi-s! Ist es möglich, in einer schlechteren
Sprache und einer confuseren gedanklichen Motivirung klare und unzwei¬
deutige gesetzliche Garantien in das Gegentheil willkürlichsten polizeilichen
Beliebens umzukehren, als es jenes Rescript vom 25. November 1851 zu
Stande bringt? Was sollen all' die absurden Paradoxien von dem irre-
parablen Schaden, der — nicht durch eine frivole Beschlagnahme — sondern
durch die zuständige Wiederaufhebung derselben angerichtet wird, von dem
„nicht ganz grundlosen Zweifel" über die Strafbarkeit einer Druckschrift,
den jeder polizeiliche Einfall veranlassen, und der durch alle gerichtlichen
Instanzen hindurch von der Staatsanwaltschaft für die Polizei durch¬
getrieben werden soll? Warum erklärte man denn nicht lieber frank und
frei ohne Umschweife und ohne Gründe: die Staatsanwälte sind in Pre߬
sachen nur die Agenten der Polizeibehörden, die letzteren verstehen sich allein
auf die wahrhaften Interessen des Staats und haben allein ein competentes
Urtheil darüber, was auf dem Gebiet der Presse erlaubt, was als verboten
gelten soll! Denn darauf läuft ja unverhüllt der langen Rede kurzer Sinn
hinaus und dies ist in Wirklichkeit das thatsächliche Verhältniß zwischen
Polizei und Staatsanwaltschaft. In den engen Kreisen kleinerer Orte, wo
die Preßpolizei nicht v'on Bedeutung ist, vermögen die Staatsanwälte noch
einigen selbständigen Einfluß auf ihre „Organe" sich zu bewahren. Ueberall
aber, wo die Polizeiverwaltung eine Macht ist, in allen grüßen Städten mit
königlichen Polizeidirectionen und Polizeipräsidien sind diese Behörden es
allein, in deren Händen das Beschlagnahmerecht ruht, die Staatsanwalt¬
schaft muß ausführen, aufrechterhalten, anklagen, was die Polizei befiehlt,
und sämmtliche Fristen und Formen des § 29 des Preßgesetzes sind Nichts
wie reglementarische Vorschriften für den inneren Geschäftsverkehr zwischen
Polizei, Staatsanwalt und Rathskammer. Was polizeilich einmal saisirt
ist, ist definitiv mindestens für einige Wochen saisirt. In der Rathskammer
hat der vom Justizminister ernannte Untersuchungsrichter die maßgebende
Stimme, und versagt einmal auch diese Caneel, so wird durch die gegen den
Rathskammerbeschluß eingelegte Beschwerde die Beschlagnahme auf weitere
unbestimmte Zeit in Kraft erhalten. Berlin steht natürlich in diesen Dingen
obenan.
So lange in Preußen noch solche Zustände möglich sind, so lange ein¬
fache Verfügungen der Minister hinreichen, die ganze Organisation der Ge¬
richtsbehörden über den Haufen zu werfen, und Gesetzesvorschriften zu inter-
pretiren oder zu suspendiren, wie es das gerade herrschende politische Bedürfniß
wünschenswerth macht, so lange scheint es mir eine Sisyphusarbeit zu sein,
die individuelle Freiheit im Wege abstracter Gesetzgebung zu sichern. Mit
unendlicher Mühe schleppt man die todten Beine mächtiger Paragraphen
der Legislation in die Höhe, um sie auf der anderen Seite schnell den
schlüpfrigen Abhang der Willkür wieder herunterrollen und unten zerbröckeln
zu sehen. Man glaubt der Unfreiheit den Zugang verstopft zu haben,
wenn man hier und da ein Paar anscheinend schadhafte Stellen des ma¬
teriellen Rechts zugeschüttet hat, und durch die Tausend Poren des lockeren
Organismus dringt sie ohne Unterlaß von allen Seiten hinein. Wären
Staatsanwaltschaft und Gerichte in Preußen das, was sie sein sollen, was
sie ihrer gesetzlichen organischen Bestimmung nach zu gelten berufen sind,
als was sie das Preßgesetz v. 12. Mai 1831 thatsächlich gedacht hat: die
preußische Presse würde sich immerhin einer ziemlich auskömmlichen Freiheit
der Bewegung erfreuen. Das Preßgesetz bliebe freilich als ein recht dürftiges
legislatives Machwerk mit manchen dadurch bedingten Molesten bestehen,
aber ernsthafte Gefahren könnte es der Presse nicht bereiten. Gefahren würden
aber selbst bei unveränderter Annahme des Duncker - Eberty'schen Antrags
fast ungeschwächt bestehen bleiben, solange Polizei und Staatsanwaltschaft in
ihrer jetzigen organischen Stellung erhalten werden. Das Strafgesetzbuch und
und die geltenden Strafprozeß-Ordnungen würden nach wie vor zahllose
Handhaben darbieten, die Presse durch eine ihr feindselige Regierungspartei
fortgesetzt zu chicaniren, zu schädigen, zu ersticken.
Als jüngst der kaiserliche Procurator von Toulouse es müde geworden
war, unter polizeilicher Aufsicht seinen Amtspflichten obzuliegen und unter
Protest das entwürdigte Amt aufgab, zeigte die liberale Presse jenseit wie
diesseit des Rheins eine tiefe sittliche Entrüstung über solche Polizeiwirth¬
schaft in der Justiz. Das Journal des Debats meinte damals mit Recht,
man sollte sich doch nicht über Dinge ereifern, die einer ruhigen Erwägung
der verfassungsmäßigen Zustände des Landes vollkommen selbstverständlich
erschienen, das Parquet gehöre verfassungsmäßig nicht zur Magistratur, es
bestehe aus Agenten der Justiz, welche den Befehlen ihres administrativen
Chefs gerade so discretionär unterworfen seien, wie Polizeiagenten denen des
Polizeichefs, und wenn es der Administration so gut schiene, könne man jene
durch diese ebenso gut überwachen lassen. wie umgekehrt. Es ist heute in
Preußen unter dem Liberalismus fast zur Mode geworden, über die poli¬
tische Verfolgungssucht und den freiheitsfeindlicher Charakter der Staats¬
anwälte sich bei jeder Gelegenheit mit Emphase zu ergehen. Jeder neue Preß-
proc'eß gibt dazu neuen Anlaß. Gedankenlos raisonnirt man darüber hinweg,
daß i. I. 1849 durch Landesgesetz die Staatsanwaltschaft den Befehlen des
Justizministers ohne alle Einschränkung unterworfen worden .ist, und der
preußische Justizminister einen Theil seiner befehlenden Gewalt generell dem
Minister des Inneren und den Polizeibehörden delegirt hat. Noch sind auch
in der preußischen Staatsanwaltschaft die Traditionen unabhängiger Justiz
mächtig genug, um sich den zudringlichen Umschlingungen ministerieller und
polizeilicher Bureaukratie einigermaßen zu erwehren, und noch fehlt es in
der Körperschaft nicht ganz an Männern von unabhängiger Gesinnung, die
trotz der Ungunst der Zeiten und der Menschen einen stillen und dauern¬
den Kampf fortführen um die Herstellung oder Verkümmerung unparteiischer
Rechtspflege gegen die herrschenden Tendenzen der Willkür. Entschließen die
liberalen Parteien sich aber nicht bald, ihnen zu Hilfe zu kommen, die all¬
mählichen Einflüsse, welche die Polizei und der ihrem Wesen verwandte Mt-
nisterialismus in der Strafjustiz heutzutage ausüben, von Grund aus nieder¬
zutreten, so wird unfehlbar auch für Preußen die Zeit nicht fern sein, in
der das Auftreten eines Seguier — so hieß ja wol der Procureur von Tou¬
louse — zu den großen politischen Ereignissen zählen wird.
Lwi-la äooumMtalÄ al (üarlo V. in oorrslWions all' Italie ack?rotossorö Kiu-
ssxpo of I-vos.. 2 Las. Völlig, 1863. 1864.
Das Zettalter Karl's V. stellt dem Geschichtschreiber eine Aufgabe, die
den Italiener nicht minder reizen muß als den Deutschen. Auf lange Zeit
entscheidend waren jene inhaltreichen Decennien für das eine Land wie für
das andere, und wenn der Deutsche gewöhnt ist. die Reformation in den
Mittelpunkt dieser Epoche zu rücken, so weiß Jedermann, wie sehr ihr Ver¬
lauf beeinflußt wurde und bald Hemmung, bald Förderung erhielt durch die
Ereignisse jenseits der Alpen, wie umgekehrt die deutsche Kirchentrennung
wesentlich eingriff in die Geschicke Italiens. Ja die Reformation erscheint
selbst nur als eins der geschichtlichen Momente, freilich als das folgen¬
reichste in jener Wende der Zeiten, da noch einmal der alte mittelalterliche
Kaisertraum Verwirklichung forderte, mit furchtbareren Mitteln als jemals
alle Mächte Europas von den Vorgebirgen Spaniens bis zum Bosporus in
einen Kampf hineinreißend, dessen Ausgang kein anderer war als das defini¬
tive Scheitern jener mittelalterlichen Idee. Denn jetzt handelte es sich nicht
mehr um den Streit des Staats mit der Kirche, des Kaisers mit dem Papst;
vielmehr zwei ebenbürtige weltliche Staaten, Spanien und Frankreich traten
als die Erben der kaiserlichen Macht auf, und indem keine stark genug war
die andere zu unterwerfen, ging statt der allgemeinen Weltmonarchie die
neue Idee des Gleichgewichts der Staaten aus dem Kampfe hervor. In
diesem 30jährigen Ringen aber bleibt Italien der Preis des Streits um die
Herrschaft. Fast ununterbrochen ist es der Schauplatz verheerender Kriege.
Spanische, französische, deutsche Heere treten in die Wette diesen Boden, der
eben eine wunderbare Cultur gezeitigt hatte. Wie im Wirbel werden Italiens
Fürsten und Völker herumgetrieben in einem Kampf, der niemals ihre ver¬
einigte Macht auf einer und derselben Seite sieht und mit der Erschöpfung
Aller endigt. Damals fiel das Loos der Halbinsel für 3 Jahrhunderte: um¬
hergeworfen zwischen den Armen der beiden Rivalen blieb es schließlich die
Beute des einen. Die Vielheit der Herrschaften verhinderte eine gemeinsame
Action der Gesammtkraft des Volks und führte endlich dahin, daß dieselbe
Knechtschaft sie alle umfing. Am Ende hält noch ein einziger Staat sich
aufrecht und rettet wenigstens die eigene Existenz; jedoch auch der Löwe von
San Marco siecht von da an mit gebrochenen Flügeln hin. In der Mitte
aber bleibt die Abnormität des Priesterstaats, der eben in jenen Stürmen
sich vollends befestigte und im Bund mit dem Spanier die Knechtschaft der
Halbinsel vollendete.
Die nationale Geschichtschreibung hat in Zeiten, da das Wort in erster
Linie den politischen Leidenschaften gehört, mit einer Versuchung zu kämpfen,
der nur die bevorzugten Geister gewachsen sind. Leicht dringt auch in sie
jenes lebhaftere Temperament ein, welches das Interesse der Gegenwart ver¬
räth, absichtliches Suchen nach glorreichen oder schmerzlichen Erinnerungen,
in welchen sich Furcht und Hoffnung des lebenden Geschlechts wiederspiegelt.
Man darf sagen, daß das genannte Werk des Verfassers Giuseppe de Leva
über die Geschichte Karls V. diese Klippe glücklich vermeidet, die vielleicht den
Italienern doppelt gefährlich ist. Mit großem geschichtlichen Sinn versenkt
sich der Verfasser in den Zusammenhang der vergangenen Dinge, er durch¬
sucht die Fülle des historischen Materials und was er aus den Quellen er¬
hoben, will er vor Allem erzählen. Der Beruf des Geschichtschreibers ist
ihm nicht. Fragen aufzuwerfen und zu erörtern, sondern Thatsachen festzu¬
stellen, und diese Thatsachen sollen für sich selber reden. Niemand, der hier
von den Thaten des berühmten Spaniers Antonio de Leva liest, käme auf
die Vermuthung, daß der Geschichtschreiber aus der Familie dieses kaiserlichen
Feldherrn stammt. Kein Zug verräth ihn, und dies ist bezeichnend für seine
ganze Geschichtserzählung. „Italienische Geschichte im Zeitalter der Refor¬
mation", unter diesem Titel möchten wir das Buch einführen, um es an
die Seite des berühmten deutschen Werks zu rücken, mit dem es nicht blos
den Stoff großentheils gemein hat, an das vielmehr auch die kritische Ver¬
arbeitung dieses Stoffs und die Kunst der Darstellung erinnert.
Unter den Quellen de Leva's nehmen die venetianischen Gesandtschafts¬
berichte eine hervorragende Stelle ein. Ferner standen ihm die in den letzten
Jahren erst veröffentlichten nachgelassenen Werke Guicciardinis, dann der
gleichfalls erst kürzlich ans Tageslicht gezogene Briefwechsel des Mailänder
Staatsmanns Girolamo Morone zu Gebot, die beide werthvolle Ausbeute
lieferten. Endlich hat er selbst in den Archiven von Venedig, von Madrid,
von Simancas handschriftliche Schätze gehoben, die er für seine Darstellung
verwerthet. Damit gewinnt er lebendige Züge für die Schilderung von
Persönlichkeiten oder von Zuständen, jedoch ohne daß er sich in eigentliche
Detailmalerei einließe. Vielmehr ist die Erzählung knapp, einfach, und wäh¬
rend sie in strenger Ordnung fortschreitend beständig von einem Schauplatz
zum anderen überspringt, erfreut zugleich die Kunst, mit welcher sie die großen
Strömungen der Politik hervortreten läßt.
Und dabei ist denn doch überall der warme Antheil des Verfassers an
den Schicksalen seines Vaterlandes sichtbar. Ein freisinniger und patriotischer
Mann ist es, der die Feder führt, das ist so deutlich, daß man sich zuweilen
fragt, wie er an eine östreichische Universität kam und warum sein Buch zu
Venedig, der östreichischen Stadt, gedruckt wurde. — Gleich im Eingang fesselt
die Betrachtung über die Ursachen, aus welchen zu derselben Zeit, da ander¬
wärts die nationalen Einheiten sich bildeten, Italien gleichsam ermüdet von
der Culturarbeit in seinem unruhigen aber glorreichen Laufe innehielt, sich
unter den entnervenden Schatten der vielen kleinen Höfe zurückzog und so in
einen Zustand bloser particularer Selbsterhaltung gerieth, der schließlich zur
Unterjochung Aller führte. Die Tendenz, eine Hegemoniemacht zu begrün¬
den und mit ihr die nationalen Kräfte Italiens gegen das Ausland zu¬
sammenzufassen, taucht zwar von Zeit zu Zeit immer wieder auf, bald von
Neapel, bald von Venedig, von Mailand, von Florenz, von Rom aus. Aber
jeder solche Versuch fordert nur die Gegnerschaft aller anderen heraus und
das System einer auf das Gleichgewicht der Staaten basirten Föderation,
wie es zu den Zeiten der Medici thatsächlich bestand, erhielt sich nur aufrecht,
so lange Friede war. Es beruhte nicht auf einer moralischen Idee, nicht
aus dem Grundsatz der Nationalität, sondern es war blos negativ, ein System
der Eifersucht, das bei dem Einfall der Fremden sofort auseinanderfallen
mußte. Man glaubt zu hören, wie der Ton der Rede bei unserm Geschicht¬
schreiber sich hebt, wenn er an jene entscheidenden Momente kommt, wo eine
nationale italienische Politik sich regt, wo die Befreiung von der Fremdherr¬
schaft als Zweck aufgestellt wird oder schon gar als erreichbares Ziel winkt.
Es ist später besonders die Politik der Venetianer und zuweilen auch die
des päpstlichen Hoff, welche sich zu wirklich nationalen Gesichtspunkten zu
erheben scheint. Mehr als einmal sprachen die Päpste es als ihre Politik
aus, Italien dadurch von den Fremden zu befreien, daß der eine durch den
anderen hinausgeworfen wurde, während die Venetianer, bald darauf ver¬
zichtend, daß es den italienischen Fürsten gelingen könnte, die Fremden zu
vertreiben, wenigstens ihr Augenmerk auf die Bändigung der beiden machte-
gen Rivalen richteten. Allein bei den Venetianern und mehr noch beim
Papst sind zugleich stets die eigennützigen Motive, die Particularinteressen
nicht zu verkennen, die eine solche Politik eingeben, und schließlich sind die
Italiener doch immer, wenn das Ziel der Befreiung noch so deutlich vor
ihnen steht, genöthigt, zur Vertreibung des einen sich in die Arme des
anderen zu werfen, sodaß der Erfolg nur ein steter Wechsel der Herrschaft
ist, die von beiden gleich drückend immer von Seite desjenigen am meisten
empfunden wird, der sie gerade ausübt.
Freimüthig ist das Buch auch der Kirche gegenüber. Zu dem Satze
Macchiavelli's, daß der weltliche Besitz der Päpste der letzte Grund von
Italiens Zersplitterung sei, bildet diese Geschtchtserzählung einen fortlaufen¬
den Commentar. Die kirchlichen Schäden wie die weltliche Politik der Päpste
erfahren eine Beurtheilung, die kein Interesse verräth, außer dem der Wahr¬
heit. Sichtlich ist der Verfasser zugleich bemüht, dem Ursprung und Verlauf
der deutschen Reformation gerecht zu werden. Auch hier schöpft er aus den
Originalquellen, und Luthers und Huttens Schriften sind ihm so vertraut
wie die Berichte der Contarini und Giustinian. Es ist ihm denn auch die
verdiente Anerkennung nicht entgangen, daß der heil. Stuhl sein Werk auf
den Inder der Verbotenen Bücher gesetzt hat. Immerhin aber bleibt er
in der Beurtheilung der kirchlichen Verhältnisse in Deutschland hinter der
Unbefangenheit zurück, die wie es scheint dem Italiener doppelt schwer wird.
Die Person Luther's, des „Häresiarchen", ist ihm offenbar wenig sympathisch,
und über den politischen Folgen, welche für Italien „das Verbrechen der
Kirchentrennung" gehabt hat, übersieht er doch den Gewinn, den die Civili¬
sation aus der Thatsache des Schisma gezogen und der nur auf einem Um¬
weg auch wieder den katholisch gebliebenen Völkern zu Gute kommt.
Durch die ganze Geschichte der Zeit, welche die bisher erschienenen beiden
Bände De Leva's schildern, vielfach verwickelt in dieselbe, zieht sich das Leben
eines Mannes, der für die Bestrebungen und den schließlichen Verfall Italiens
besonders characteristisch ist, ja fast typisch erscheint. Er ist erfüllt von der
humanistischen Bildung seiner Zeit, patriotisch, edeldenkend, doch auch darin
ein Sohn der Zeit, daß seine Bildung nicht getragen ist von einer starken
sittlichen Ueberzeugung; ein geschickter Staatsmann, der für die Unabhängig¬
keit des Herzogthums Mailand wie für die Italiens seine Kräfte einsetzte,
bald auf Frankreich sich stützend bald auf den Kaiser, schließlich aber an der
letzteren Partei, der siegreichen, hängen bleibt und selber mit Hand anlegt
an die Knechtung seines Vaterlandes: wir meinen Girolamo Morone,
geboren 1470 aus einem alten edlen Mailänder Geschlecht. Sein Vater war
Rechtsgelehrter und herzoglicher Secretär. und auch Girolamo, nachdem er
sich in der Jugend der Poesie ergeben, widmete sich der Rechtswissenschaft.
Doch blieb er auch später, soweit die Geschäfte es erlaubten, ein Freund der
Musen. Man hat Gedichte von ihm, die er aus seinem Gesandtschaftsposten
in der Schweiz verfaßte, wie er selbst in einem Brief an einen Freund
schreibt: „um nicht ganz zu verwildern unter diesem Schweizervolk, das so
hart und rauh ist wie seine Berge." Verhängnißvoll genug war der erste
Schritt, den er ins öffentliche Leben that. Als nämlich Ludwig XII.. damals
im Bund mit den Venetianern, im Jahre 1499 Mailand eroberte, setzte er
zu seinem Statthalter Man Gtaeomo Trivulzio und den jungen Morone
zum Fisealadvoeaten ein. Mit den besten Vorsätzen tritt er dieses Amt an,
wacht streng über den Bedingungen, unter welchen sich Mailand den Fran¬
zosen ergeben hatte, und bald genug hatte er diesen mit der Unzufriedenheit
der Mailänder, ja mit einem Aufstand zu drohen, obwol er schon im Januar
1600 es aussprach, daß es vergeblich wäre, auf die Erhebung eines Volkes
zu hoffen, das längst gewöhnt sei, nur an seine Privatinteressen nicht an das
öffentliche Wohl zu denken. Schon ließ sich die Rückkehr des Sforza voraus¬
sehen. Dennoch weigerte sich Morone, den Bitten seiner Verwandten und
Freunde nachzugeben, bei Zeiten sich mit den Sforza auszusöhnen; es schien
ihm dies mit der Ehre unvereinbar. „Welch schrecklicher Schandfleck", rief er
in seiner eiceronianischen Sprache aus, „will mir da angeheftet werden und
welcher Sieg der Sforza könnte mir aus dem Grund des Herzens die Ge¬
wissensbisse reißen, welche die Frucht des Verbrechens sind!" Auch als im
Februar 1500 Ludwig der Mohr mit Hilfe der Schweizer wirklich zurück¬
kehrte, weigerte sich Morone, in dessen Dienste zu treten. Er erklärt dem
Fürsten, es sei ihm unmöglich, irgend etwas zum Nachtheil dessen zu thun,
dem er Treue geschworen. Er mochte freilich zugleich voraussehen, daß Lud¬
wigs Herrschaft nur eine kurze Weile dauern werde. Die Franzosen kehrten
nach Mailand zurück und Morone blieb ihnen dienstbar. Im Jahr 1507
ist er Gesandter des Königs in der Schweiz, um die Schweizer von der
Allianz mit dem Kaiser Maximilian abzubringen. Gegen das Versprechen,
vom Reichskammergericht ausgenommen zu sein, hatten sie dem Kaiser ihre
Hilfe zugesagt. Morone schrieb damals an König Ludwig folgendes Urtheil
über die Schweizer: „Leichter als die Luft, beweglicher als das Wasser ist
ihr Sinn, er wechselt mit jeder Stunde, so daß ich zu immer neuen Argu¬
menten Zuflucht nehmen muß. Unter diesen Argumenten das vornehmste
ist das Geld, da es Jedermann bekannt ist. daß sie nicht die Partei wechseln
außer aus Begierde nach Gewinn." Dieses Mittel schlug auch diesmal vor¬
trefflich an. Nachdem sie noch eben dem Kaiser beträchtliche Hilfskräfte ver¬
sprochen, konnte Morone im August 1507 melden, daß sie beschlossen hätten,
dem Kaiser blos 1000 Mann Fußvolk zum Römerzug zu stellen, dem König
von Frankreich dagegen soviel er zur Vertheidigung Mailands begehre.
Anstatt daß es zum Kriege zwischen Maximilian und Ludwig kam,
schlossen beide das Bündniß mit dem Papst und Ferdinand dem Katholischen
zum Verderb Venedigs, jene Verschwörung, deren Fäden sich seit dem Tage
zusammengezogen, da Venedig durch die Erwerbung einiger Städte in Apu»
lien, im Mailändischen, in der Romagna und durch die Beschützung Pisas
seinen Entschluß gezeigt, nicht zu dulden, daß eine andere Macht ihre Herr¬
schaft über ganz Italien aufrichte. Mit dem Ruf „Italien und Freiheit"
nahm die Marcusrepublik diesen ungleichen Krieg, auf. der vernichtend für
sie hätte ausfallen müssen, wenn nicht gleich durch die ersten Erfolge der
Franzosen die Liga gesprengt worden wäre. Von da an betrieb der Papst
eine neue Liga, die gegen Frankreich gerichtet, sich besonders auf die Schweiz
und auf England stützen sollte. Doch nahm erst im Jahre 1312 der Krieg
eine solche Wendung, daß die Franzosen, von den Heeren der Venetianer
und Schweizer gedrängt, Italien verlassen mußten. In Mailand ergriffen
die Behörden und Senatoren der französischen Partei die Flucht, die Schweizer
riefen Maximilian Sforza, den Sohn Ludwig Moros, zum Herzog aus.
Morone sah den fluchtähnlichen Abzug der Franzosen sehr ungern und
tadelte die Senatoren welche unrühmlich die Waffen zu früh weggeworfen.
Indessen blieb er in der Stadt, nahm einen hervorragenden Antheil an der
Bildung der Zwischenregierung und vollzog nunmehr seinen Rücktritt von
der französischen Partei. „Wenn ich dem König von Frankreich viel ver¬
danke", schrieb er an Olivieri, den Kanzler des Senats „so verdanke ich doch
ebenso viel und noch mehr meinem Vaterlande." Doch glaubte er sich seiner
Pflichten gegen die Franzosen nicht eher enthoben bis er von ihnen förmliche
Dispensation erhalten. Der Cardinal Schimmer, Bischof von Sitten, der an
der Spitze der Schweizer in Mailand eingezogen war, bot ihm sofort neue
Würden an. Er zeigte sich aber zunächst spröde. — Jetzt war der Congreß
zu Mantua eröffnet worden, auf welchem über das eroberte Mailand ent¬
schieden werden sollte. Natürlich geriethen die Theilnehmer der heiligen Liga
sofort in heftigen Streit unter einander. Die Schweizer, der Papst, die
Venetianer begehrten einzelne Stücke, während der Kaiser und Spanien die
Lombardei ganz für sich in Anspruch nahmen. Das erste Wort aber führten
die Schweizer, welche im Besitz Mailands waren und die Wiedereinsetzung
des Sforza verlangten, weil sie wußten, daß Maximilian Sforza ohne ihre
Hilfe sich nicht behaupten könne. Auch machten sie sich sofort von den Mai¬
ländern bezahlt, weil, wie Morone schreibt, die Alliirten über die Bezahlung
derselben ebenso uneins waren wie über die Vertheilung der Beute. Gerade
die Zwietracht der Verbündeten aber gab Morone Hoffnung, ihnen die Beute
gänzlich zu entreißen. Er ließ sich vom Mailänder Rath der 900 zu einem
der 12 Abgeordneten wählen, welche Maximilian Sforza in Pavia den Treu-
eit schwören sollten, und war der Meinung, daß dies nur unter der Be¬
dingung der Integrität des Staatsgebiets geschehen dürfe. Auch setzte er
durch, daß die Civilregierung während des Interregnums nicht der mit Papst
und Kaiser zu eng verbundene Kardinal Schimmer, sondern der Bischof Octa-
vian Sforza von Lodi, ein Vetter Maximilian's führen sollte. Unter ihm
hatte Morone für die Finanzen zu sorgen, das heißt, er mußte der Be¬
völkerung immer neue Lasten auferlegen für die Erhaltung der Heere, für
welche die anderen Verbündeten gleichfalls Beiträge zu leisten nicht bewogen
werden konnten. Unermüdlich ist er zugleich in seinen Rathschlägen, eine
Herrschaft des Kaisers in Oberitalien ebenso abzuwenden wie die der Franzosen.
Im September 1512 trat in Rom ein neuer Congreß der Verbündeten
zusammen. Morone suchte die Unabhängigkeit der Sforza besonders durch
ein Bündniß mit den Schweizern zu befestigen. Er schrieb sogar seinem Ge¬
sandten in Rom, Casttglione, Erzbischof von Bari, er möchte um sich ihren
Sitten anzubequemen, viel essen und trinken, wie die Schweizer es lieben.
Allein diese machten enorme Forderungen, sie verlangten nicht nur Domo-
dossola, Lugano und Locarno, sondern auch einen jährlichen Tribut von
40,000 Ducaten, die unter die 13 Cantone vertheilt werden sollten, und
20,000 weitere zur Gratification an die Anführer und Volkshäupter. Sie hatten
damit die Schlüssel der Stadt Mailand in der Hand und sie disponirten
über das Vermögen des Staats, ja über das der Privaten, sofern sie sich
noch besondere Handelsvortheile zu sichern wußten. Nur in der äußersten
Noth wurden in dem Vertrag vom 28. September diese Forderungen, be¬
willigt, hauptsächlich um dadurch die Umtriebe Galeazzo Viscontis und Octa-
vian Sforzas selbst zu vereiteln, welche für sich mit den Schweizern unter¬
handelten und sich des Staats bemächtigen wollten, „auch unter der Be¬
dingung, Statthalter der helvetischen Republik zu sein." Selbst der Kaiser
mußte endlich nachgeben, und am 29. December hielt Maximilian Sforza
als Herzog von Mailand seinen feierlichen Einzug.
Morone täuschte sich darüber nicht, daß die neue Herrschaft keine dauern¬
den Grundlagen habe. Maximilian hatte von seinem 9. bis zum 21. Jahr
als Verbannter am Hof des Kaisers gelebt, war aber fast ohne alle Er¬
ziehung aufgewachsen. Er konnte kaum lesen und schrieb höchst incorrect.
Von jener Zeit an behielt er gegen den Kaiser eine blinde kindliche Ehrfurcht.
Morone führte laute Klage, daß der neue Fürst seinem Vater so ganz und
gar unähnlich sei, und als die Zügel der Regierung mehr und mehr in die
Hände der beiden kaiserlichen Commissäre, Andreas von Burgos und Johann
Colla geriethen, sagte er es diesen wiederholt ins Gesicht, daß sie es darauf
abgesehen hätten, den Staat zu verderben. Schon im December schrieb
Morone die Besorgniß nieder: „Nachdem wir eine kurze Weile nicht das
Fürstentum, sondern dessen Namen und Schein gehabt, werden wir schlie߬
lich den Hals unter das Joch der Barbaren beugen müssen."
Im nächsten Frühjahr begann Frankreich abermals den Krieg in der
Lombardei. Vergebens suchten sich die Schweizer dem französischen Heer ent¬
gegenzuwerfen. Gleichzeitig rückten die Venetianer, Frankreichs Verbündete,
bis zur Adda vor und ging in kurzem das ganze Land bis auf Novara
und Como für Sforza verloren. Dieser befand sich mit den Schweizern ein¬
geschlossen in Novara und war bereits auf dem Punkt, die drückende Krone
niederzulegen und abermals in die Verbannung zu gehen, als plötzlich ein
frisches Corps Schweizer anrückte, den Franzosen eine Niederlage beibrachte
und so aufs Neue den Staat für den Herzog rettete.
„Dem Vortheil seines Herrn seine Neigungen unterordnend" war Mo-
rone inzwischen als Gesandter nach Rom gegangen. Die Combinationen
der Mächte über die Zukunft Italiens wechselten fast jeden Augenblick. Die
Feinde von gestern konnten heute ein Bündniß gegen einen dritten Gegner
abschließen. Doch standen diese Combinationen von nun an vorwiegend
unter dem Eindruck der Eventualität, daß im Hause Habsburg die unge¬
heuren Erbschaften Oestreichs und Spaniens mit der Kaiserkrone vereinigt
würden. Der Kaiser Maximilian sah mit dieser Aussicht den höchsten
Traum seines Lebens sich verwirklichen, und die Spaltung der italienischen
Fürsten und Staaten kam ihm dabei trefflich zu statten. Leo X. war wohl
für die Unabhängigkeit Mailands und Neapels, aber vor Allem deshalb, weil
. er sie für Bruder und Neffen zu erwerben gedachte. Er vereinigte gleichsam
den nationalen Gedanken Julius II. mit dem Familienehrgeiz der Borgia,
auf den Maechiavellt und Guiectardini ihre Pläne für die Zukunft Italiens
bauten, — eine Politik, die in Wirklichkeit doch nur dazu führte, zwischen der
französischen und der kaiserlichen Partei beständig hin - und herzuschwanken,
nicht um diese gegenseitig aufzubrauchen, sondern um aus beiden für sich
Nutzen zu ziehen, wie denn Leo die Gewohnheit hatte, nie ein Bündniß mit
Jemand abzuschließen, ohne gleichzeitig mit dessen Gegner zu unterhandeln.
Morone suchte ihn jetzt zu einem Bündniß mit den Schweizern zu bewegen,
das die Unabhängigkeit des Kirchenstaats, Florenz. Mailands und Genua
zum Zweck hatte. Als aber Maximilian Sforza hörte, daß sein Gesandter
den Papst von dem Bündniß mit dem Kaiser abzubringen versuchte, rief er
ihn ab; das war in seinen Augen das schwerste Verbrechen, während Morone
von seinem italienischen Gesichtspunkt dem Kaiser selbst gegenüber gar kein
Hehl machte und ihm (1. Aug. 1514) schrieb: „In der That, Serenissimus,
habe ich es auf die Freiheit Italiens abgesehen und gerne möchte ich mich
zu dessen Retter machen, auch wenn mir nach gethanen Werk Verbannung
oder Tod beschieden wäre; denn ich weiß, daß wir von Natur berufen sind,
die Rettung des Vaterlands über alles Andere zu stellen."
Von Franz I. wurden die französischen Pläne mit neuer Kraft wieder
aufgenommen. Der glänzende Feldzug des Jahres ISIS brachte die ganze
Lombardei in die Hand der Franzosen. Die Schweizer zogen nach der Schlacht
von Marignano nach ihren Bergen zurück, nur 1S00 Mann Fußvolk als
Besatzung des Castells von Mailand zurücklassend, wo Sforza sich mit ihnen
einschloß. Die Stadt jubelte über seinen Sturz. Unsägliche Lasten hatten
der Bevölkerung auferlegt werden müssen, um die Fremden zu befriedigen,
die sich freuten, damit die nationale Regierung verhaßt zu machen. Der
Herzog Maximilian war wie eine Geisel von den Schweizern gehalten, und
unumschränkt hatte der grausame Cardinal Schimmer regiert, dem kein Mittel
das Volk auszupressen zu schlecht war. Im Juni hatte Maximilian eine
Steuer von 300,000 Goldthalern auferlegt und 3 Tage nachher ein Edict
erlassen, welches „im Einvernehmen mit den Herren Schweizern" Tod und
Gütereinziehung mittelst geheimer Inquisition jedem androhte, der sich an
heimlichen Versammlungen wider diese Steuer betheiligte. So war es kein
Wunder, daß die Franzosen- wie Befreier begrüßt wurden.
Das Castell, Maximilians einzige Zuflucht, wurde jetzt von den Fran¬
zosen belagert und unterminirt. Die Schweizer wurden mit jedem Tage
unzuverlässiger, Italiener waren nur in geringer Zahl unter der Besatzung,
die Uebergabe eine Nothwendigkeit. Aber sie geschah (am 4. Oct.) in der
schimpflichsten Weise. Anstatt für die furchtbar mitgenommene Stadt eine
Erleichterung auszubedingen, sicherte sich der Herzog eine Pension und die
Anwartschaft auf den Cardinalshut und ließ sich nach Frankreich führen,
wo er dann seine letzten Jahre in verdienter Vergessenheit verlebte. Mo-
rone fiel in die Hand des Feindes, aber entschlossen sich ihm nicht zu unter¬
werfen, und taub gegen ihre Anerbietungen finden wir ihn bald darauf im
Exil bei dem jetzigen Nominalherzog Francesco Maria, dem zweiten Sohne
Ludwig Moros, der in Trient auf günstigen Fahrwind für sein Schifflein
harrte.
Mit der Schlacht von Marignano waren die Fvanzosen die Herren
Italiens. Offen schien der Weg nach Neapel vor ihnen zu liegen, von neuem
drohte die Gefahr eines Alles verschlingenden Weltreichs. Dies war die
Lage, welche mit Nothwendigkeit eine erneute Koalition der italienischen
Staaten nach sich zog. Und wieder war es Morone, der mit aller Zähig¬
keit ein Bündniß gegen die Franzosen zu Stande zu bringen suchte. Schon
im December ISIS hatte ihn sein neuer Herzog beauftragt, für Geldmittel
zur Wiedererlangung der Herrschaft zu sorgen. Er sah sich dabei genöthigt,
sich an den Kaiser zu wenden. Aber er that es in der bewußten Absicht,
nicht die Fremdherrschaft mit einer neuen zu vertauschen, sondern den einen
Fremden gegen den anderen zu benutzen zum Zweck der nationalen Unab¬
hängigkeit. Allein durch Galeazzo Visconti, dem sich Morone jetzt eröffnete,
und der ein wankelmüthiger Intriguant war, scheinen die Franzosen zuerst
Nachricht von seinen Umtrieben erhallen zu haben. Sie versuchten ihn erst
mit Schmeicheleien nach Mailand zu locken, boten ihm die Gesandtschaft bei
den Schweizern, eine französische Senatorenstelle an; als sie ihm aber auch
nach dem Leben stellten, floh er nach Modena. Nicht ohne Selbstgefällig¬
keit schreibt er: „die Franzosen wußten wohl, wie beliebt ich bin, von großem
Anhang und Einfluß bei den Bürgern jedes Standes, und wie auf einen
einzigen Wink von mir unser Volk sich gewöhnt hatte, entweder wüthend auf¬
zustehen oder sich zu beruhigen."
Seitdem Ferdinand der Katholische gestorben, trat mehr und mehr Eng¬
land in dessen bisherige Rolle, die Staaten im Gleichgewicht zu halten.
Dazu war es schon durch seine insulare Lage besonders befähigt und so fin¬
den wir bei ihm zuerst die Ansätze zu der späteren Doctrin der Nichtinter-
ventionspolitik. Zu dem venetianischen Gesandten Seb. Giustiniant sagte
Heinrich VIII., (der freilich selbst diesem Grundsatz keineswegs immer treu
blieb): „Wir möchten, daß ein Jeder sich mit seinem Staate begnüge. Wir
begnügen uns mit diesem unserem Eiland/' Mit noch größerem Nachdruck
arbeitete Heinrich VIII. für einen allgemeinen Frieden, als Karl, der Enkel
Maximilians, nun wirklich zum Kaiser erwählt war, und in Folge dieses
gewaltigen Machtzuwachses durch Europa ein Jahr lang die bange Er¬
wartung ging, daß es zwischen den beiden ebenbürtigen Mächten, die sich um
die Hegemonie stritten, zum Kriege komme, ein Bruch, den Alle voraushaben
und auf den sich Alle vorbereiteten, während England es vergebens mit
Congressen, Conferenzen und Schiedsgerichten versuchte und vergebens er¬
klärte, daß es dör Feind dessen sein werde, welcher zuerst den Frieden bräche,
— eine Lage, die bis in ihre Einzelheiten mannigfache Aehnlichkeit bietet
mit viel späteren Zeiten und Situationen. —
Als die Nebenbuhlerschaft Karls V. und Franz I. sich deutlicher zu zeichnen
begann, schöpfte Morone neue Hoffnungen für seinen Herzog. Von Modena
aus verfolgte er aufmerksam das diplomatische Spiel. Er erkannte wohl,
daß wenn Karl und Franz wirklich aufrichtige Freundschaft schließen und
die Treue halten würden, die sie sich so ohr gelobten, es dann mit den Aus¬
sichten Italiens vorbei wäre. Hatten doch die Beiden bereits die Theilung
Italiens in ein K<zMv ä'Ita,Ils, für Karl und ein Koßno 6i 1.0mdg.räia für
Franz verabredet. Allein Morone konnte sich nicht darüber täuschen , daß ein
wirklicher Friede zwischen den Rivalen unmöglich sei, und daraus rechnete er
bei seiner Zuversicht auf die Vertreibung der Franzosen. „Und wenn ich auch
das eine oder andere Mal oder mehrmals in meinen Plänen getäuscht werde —
schreibt er an Niccolo Crucia, April 1317 — so werde ich darum doch nicht
feig und muthlos mich dem Unglück beugen; vielmehr will ich dann mit
neuen Hoffnungen, mit neuer Anstrengung, mit neuen Thaten versuchen das
Glück aufzuwecken, und keine Kraft der Seele und des Leibes sparen, um
neue Dinge und bessere Wandlungen herbeizuführen. Soviel der sturm¬
bringenden Winde sind, will ich erblasen, damit durch die Wucht eines einzigen
oder durch den Zusammenstoß mehrerer die Dinge derart untereinander
gerathen, daß gleichsam als Rückströmung aus der Zwingherrschaft des leicht¬
sinnigen Volkes unser Vaterland frei hervorgehe, und endlich, wenn ich die
Götter des Himmels nicht bewegen kann, will ich die Hölle anrufen, und
selbst die Hartnäckigkeit des Glücks in Vergünstigung der Feinde soll nicht
größer sein als meine Festigkeit, denn eher das Ende des Lebens will ich im
Exil erblicken, als das Ende der Hoffnung. Wenn diejenigen, welche die
veränderliche Göttin erhoben hat, ihre Herrschaft nicht mit Maß und der
Tugend gemäß führen, so ist es unvermeidlich, daß sie in Trümmer geht."
— In der That hatten die ungeheuren Lasten, Contributionen, die Schaffote,
Confiscationen, Prosenprionen den Marschall Lautrec immer verhaßter in
Mailand gemacht. Die Privilegien des Senats waren mit Füßen getreten,
und an die Stelle des vom Volk gewählten Raths (1612 aus 900, 1516
aus ISO Mitgliedern bestehend) eine Versammlung von 60 durch den Gou¬
verneur gewählten Nobili eingesetzt. Die Franzosen schälkelen wie in Feindes¬
land. Schaarenweise vertrieb Lautrec die Reichen, um deren Güter einzu¬
ziehen. Man schätzte die Zahl der Ausgewanderten ebenso hoch als die der
Zurückgebliebenen. Haupt der Ausgewanderten war Morone; nachdem er in
Moden« mehr als 2 Jahre gewesen, begab er sich, Auslieferung an Frank¬
reich durch die Medici befürchtend zu Gian Francesco Pico von Mirandola,
und von da im Jahr 1318 wieder nach Trient an die Seite des jungen
Franz Maria Sforza.
Von hier aus war er unermüdlich bemüht, die Unzufriedenheit der Mai¬
länder zu nähren und zugleich die Schweizer für die Sache des Herzogs zu
gewinnen. Während Karl und Franz sich um die Hilfe der Schweizer stritten,
schrieb Morone an den Cardinal von Sitten, sie möchten doch vielmehr die
Restauration des Sforza begünstigen. „Vielleicht zürnst du mir, daß ich all¬
zu unruhig und zudringlich dir keine Ruhe lasse. Aber ich will lieber Einem
gleichen, der, um das Beispiel des Meisters zu befolgen, gelernt hat tausend¬
mal die Netze vergebens auszuwerfen, als Einem, der es aus Trägheit ein
einzigesmal unterläßt, und sich damit das Glück, das ihm lächelt, entschlüpfen -
läßt." Als der Krieg endlich ausbrach, ging Morone als Gesandter nach
Rom, befestigte den zögernden Papst im Bündniß mit Karl, zu dessen
Simulationen auch die Wiedereinsetzung der Sforza gehörte, und berieth mit
den Ausgewanderten den Feldzugsplan gegen die Franzosen in Oberitalien.
Das Glück war auf Seite der Kaiserlichen. Von Prospero Colonna
geführt, nahmen sie im November 1621 Mailand ein, und sofort wurde von
den Siegern Franz Sforza proclamirt, in dessen Namen Morone die Ver¬
waltung mit weitesten Vollmachten übernahm. Mit Ausnahme des Kastells
von Mailand und einiger anderer Städten ging die ganze Lombardei für
die Franzosen verloren. Lautree erschien zwar im folgenden Jahr wieder,
allein er konnte nicht verhindern, daß im April der Herzog selbst nach Mai¬
land gelangte, wo er mit unbeschreiblichem Jubel von der Bevölkerung em¬
pfangen wurde. Nach der Niederlage von Bicocca (29. April 1322) waren
die Franzosen zur Rückkehr über die Alpen genöthigt, und Sforza besaß nun
das ganze Herzogthum, freilich jetzt die Domäne der siegreichen Spanier und
Deutschen, die sich mit solcher Gier nach Beute über Mailand stürzten, daß
man sie mit 100,000 Ducaten beschwichtigen mußte. Morone sorgte für die
Befestigung des Staats im Inneren und rieth dem Herzog, den Senat zu
rehabilitiren, dem in der Handhabung der Gesetze und der Rechtspflege die
oberste und unbeschränkte Gewalt eingeräumt wurde. Er selbst erhielt die
Würde eines Großkanzlers. Die Venetianer hatten bisher zu Franz ge.
halten. Als sie aber sahen, daß Karl das Herzogthum Mailand in den
Händen Sforza's ließ und ihm später auch das von den Franzosen ge¬
räumte Kastell von Mailand übergab, war zwar ihr Mißtrauen gegen Karl
nicht beseitigt, aber es schien ihnen doch besser, daß ein nationaler Fürst in
Mailand herrsche, als der französische König; auch sie schlössen ein Bündniß
mit Karl (Juli 1S23) dem fast alle italienischen Fürsten beitraten. Bereits
gaben sich die Italiener der Freude hin, daß die ersehnte Zeit der Ruhe für
ihr Land gekommen sei (und Girolamo Negro schrieb aus Rom an einen
Landsmann: „Jetzt können wir mit Horaz ausrufen: Nuuo est dibenäum,
nunc peäe libero pulsanäs. tsllus, denn nunmehr darf man hoffen, endlich
die schon so lang ersehnte Ruhe Italiens zu erleben.").
Auch das Heer, das im Herbst 1S23 der Admiral Bonnivet über die
Alpen führte, konnte nichts ausrichten. Aber das Land war jetzt furchtbar,
verheert und ausgesogen. Morone that sein möglichstes, nicht blos um den
immer steigenden Anforderungen der Heere zu genügen, sondern auch um
den moralischen Muth der Mailänder zu heben. Auf jede Weise suchte er
den Geist der Bevölkerung gegen die Franzosen anzufachen. Dazu diente
ihm namentlich die Beredtsamkeit eines Augustinermönchs, der unter un¬
geheurem Zulauf predigte und die Opferwilligkeit der Mailänder aufrecht
hielt. Gegen die furchtbaren Wirkungen der Pest gab es freilich kein Mittel,
sie raffte 50,000, nach anderer Angabe 100,000 Menschen hinweg, und als
im October 1624 Franz selbst mit einem Heere anrückte, hielt unter diesen
Umständen auch Morone jeden Widerstand für vergeblich. Am 26. October
zogen die Franzosen zur Plünderung in Mailand ein. Dagegen hielt Pavia
den Siegeslauf des Königs auf, das von Antonio de Leva — dem Borfahr
unseres Autors — aufs tapferste vertheidigt wurde, bis die Schlacht vom
24. Februar 1525, dem Krieg und der ganzen politischen Lage eine ent¬
scheidende Wendung gab. —'
Wir verweilen hier nur bei den Versuchen, welche von nationaler Seite
gemacht wurden, die Unabhängigkeit Italiens gegen den Kaiser sowohl als
gegen Frankreich zu erlangen, und deren Wiederaufnahme in diesem Augen¬
blick eine der interessantesten Episoden in dem unaufhörlichen Krieg Aller
gegen Alle bildet. So oft waren die nationalen Hoffnungen getäuscht wor¬
den, aber eben jetzt nach der Schlacht von Pavia schienen sie weniger chi¬
märisch als je. So entscheidend auch der Sieg Karl's war, so war es ihm
doch nicht möglich, ihn auszunützen. Daran hinderten ihn die Wirren in
Deutschland und Flandern, wie der Mangel an Geld, der Zustand des
Heeres, die Uneinigkeit der Generale. Im ersten Augenblick machte der Sieg
des Kaisers in ganz Italien den größten Eindruck. Abermals stand man
vor der drohenden Gefahr eines Weltreichs. Noch vor Kurzem hatte ganz
Italien sich um den Kaiser geschaart, um Frankreich aus dem Mailänder
Besitz zu vertreiben, jetzt drohte die Uebermacht wieder von der anderen Seite.
Anstalt daß, wie die italienischen Fürsten gehofft hatten, die beiden Rivalen
in dem langen Krieg einander gegenseitig aufrieben, sah man jetzt die Halb¬
insel dem Wüthen einer siegreichen Soldatesca ausgesetzt. Die Venetianer
waren die ersten, die sich zu neuem Widerstand rüsteten, und nach einigem
Schwanken schien es auch dem Papst räthlich, nicht auf Seite dessen zu stehen,
der es auf die Unterdrückung ganz Italiens abgesehen hatte, sondern auf
Seite derer, die gemeinsame Sache mit ihm hatten. Gleichzeitig trat Eng¬
land, getreu seinem Balancirsystem auf dem Festland aus denselben Gründen
jetzt auf die Seite Franz I., aus welchen es bisher zu Karl gehalten hatte,
und endlich sah sich auf dieselbe Seite auch der Herzog von Mailand ge¬
drängt, der aus verschiedenen Anzeichen Verdacht schöpfte, daß der Kaiser das
Herzogthum für sich behalten wolle. Die kaiserlichen Generale betrugen sich
ohnedies wie in eroberten Feindesland.
Schon wenige Tage nach der Schlacht von Pavia besprach Morone mit
Domenico Vendramin, dem Secretär des venetianischen Gesandten Venier,
den Gedanken einer nationalen Union. Im Juli kam es zu förmlichen Ver¬
handlungen wegen eines Bündnisses zwischen Mailand, Venedig und dem
Papst. Freilich wurde auch sofort über den Beitritt Frankreichs zu der Liga
verhandelt. Nur sollte Frankreich von vornherein auf alle Ansprüche in
Italien verzichten. Es sollte ein Heer zur Befreiung Italiens stellen, wofür
Italien nach erfolgter Befreiung seinerseits ein Heer zur Befreiung des ge¬
fangenen Königs Franz stellen würde. Italien — der Name stand wirklich
in dem Bündnißvertrag der Fürsten, und unter dem Ruf: Italia! Italia!
erhob sich in denselben Tagen die Stadt Turin gegen die verhaßten Spanier.
Ueberall machte sich eine fröhliche Zuversicht geltend, daß es jetzt gelingen
werde, die Spanier zu vertreiben, die Franzosen fern zu halten und die
glücklichen Zeiten vor 1494 über Italien zurückzuführen. Selbst die Kunst
und die Literatur zeigen die Spuren dieses wieder erwachten National¬
gefühls.
Und noch eine Hoffnung leuchtete plötzlich auf, gewagt und verhängniß-
voll, aber bezeichnend für eine Zeit, da die Rechnung auf heimliche Ränke,
auf Ehrgeiz und Treulosigkeit immer noch sicherer zu sein schien, als aus
moralische Kräfte und Empfindungen. Die Verbündeten glaubten Ursache
zu haben, auf den Uebertritt des kaiserlichen Feldherrn Marquis von Pes-
cara rechnen zu dürfen. Morone setzte sich mit ihm in Verbindung, sortirte
ihn und machte ihm, dessen ausweichende Antworten günstig deutend, Mit¬
theilung von der ganzen Unternehmung. Es entspann sich jetzt jene Intrigue,
deren Mittelpunkt der Gemahl der Vittoria Colonna war, und deren Ver¬
lauf schon bei Ranke eine so meisterhafte Darstellung gesunden hat, daß de
Leva wenig Neues hinzuzufügen fand. Das Mittel, das den Verbündeten
vollends mühelos den Erfolg sichern sollte, schlug zum Verderb ihrer Sache
aus. Pescara benutzte den Morone ganz als Werkzeug. Die Verschworenen
mit leeren Worten hinhaltend, theilte er ihre Geheimnisse sofort Karl von
Bourbon und Antonio de Leva mit und stand in ununterbrochenem Verkehr
mit dem Kaiser, der nach de Leva's Darstellung durchaus als Mitverschworener
Pescara's zu betrachten ist, und überdies auch noch aus Rom und Frankreich
Nachrichten über die Plane der Italiener erhalten hatte. Selbst die Investitur,
welche Karl dem Herzog Franz wirklich ertheilte, war vielleicht nur dazu be¬
stimmt, die Verbündeten sicher zu machen. So zog Pescara um diese das
Netz immer dichter und wartete nur auf den rechten Moment, um den ent¬
scheidenden Schlag gegen sie zu führen.
Die eifrigsten im Bunde waren die Venetianer. Als man sranzösischer-
seits mit der Unterzeichnung der verabredeten Artikel zögerte, schlugen sie
vor, daß wenigstens unter den italienischen Staaten auch ohne die Franzosen
ein Defensivbündniß abgeschlossen werden solle. Der Papst war zwar etwas
ängstlich und vorsichtig, er wollte zuvor eine ausdrückliche Erklärung des
Pescara haben, schickte aber doch einen Vertrauten an ihn ab, der ihm —
als Preis des vermeintlichen Verraths — die Zusage des Königreichs Ne¬
apel und des Oberbefehls der consöderirten Armee verbriefte. Dem Bündniß
traten ferner bei die Florentiner, der Herzog von Ferrara, der Doge Adorno
von Genua, endlich Lucca. Siena, Alle von Eifer und Ungeduld brennend.
Pescara sollte das Königreich Neapel zu dieser Föderation Italiens hinzu¬
bringen, dessen nationale Unabhängigkeit damit gegen jeden Feind gesichert
schien. „Ich sehe," rief frohlockend der Kanzler des Papstes. Man Matteo
Giberto aus, „ich sehe die Welt sich erneuern und aus äußerstem Jammer
Italiens Geschick in höchste Glückseligkeit sich wandeln."
Die Enttäuschung blieb nicht lange aus. Schon im September 1S25
bemerkte derselbe Giberto, daß die Franzosen sich des italienischen Bundes
einzig dazu bedienen wollten, um von Karl V. bessere Bedingungen für die
Freilassung des gefangenen Königs herauszuschlagen. Die Venetianer wur¬
den mit Befremden gewahr, daß neues Fußvolk aus Deutschland ins mat-
ländische herabkam. Als Morone darüber Beschwerde führte, läugnete
Pescara. Er werde vielmehr, fügte er bei, dem geheimen Vertrag gemäß
auch die schon dastehenden Truppen aufheben, wofern er Geld zu ihrer Löh¬
nung erhalte. Morone beeilte sich 16.000 Ducaten zu schaffen, aber das
kaiserliche Heer, anstatt zu gehen, vermehrte sich fortwährend. Gleichzeitig
kamen vom madrider Hof Andeutungen, welche verriethen, daß man dort
von dem Plane wußte. Der Kaiser war wüthend über den Verräther Gi¬
berto. und die Venetianer fragten sich staunend, woher dieser ganz unge¬
wohnte Zornesausbruch komme. Niemand konnte sich erklären, warum man
die beste Zeit zur Ueberrumpelung des Feindes verstreichen ließ. Alles war
längst zur Ausführung bereit, aber Pescara zog unter diesen und jenen Vor¬
wänden die Sache immer wieder hinaus, so lange, bis alle Verbündeten
derart compromittirt waren, daß sie nicht mehr läugnen konnten. Im Ok¬
tober kam endlich die erwartete Erklärung Frankreichs, die freilich,
weit nicht den früheren Abmachungen entsprach. Der Papst verlangte jetzt
den förmlichen Abschluß des Vertrags, und Venedig gab seinem Gesandten
Vollmacht, den italienischen Bund abzuschließen „zur Vertheidigung der ge¬
meinsamen Staaten gegen jeglichen Fürsten der Christenheit". Jetzt schien
es Pescara Zeit, die Maske zu lüften.
Schon am 11. August hatte er durch Giambattita Castalda vom Kaiser
' unbedingte Vollmacht für Mailand und Genua erhalten, eine Vollmacht, die
Karl V. später durch eigenhändige Unterschrift vom 15. September bestätigte,
wobei er nur die Bedingung beifügte, daß Pescara im Einverständnis) mit
den beiden anderen kaiserlichen Feldherren Karl von Bourbon und Antonio
de Leva handeln solle. Pescara war dem Mißtrauen Karl's bereits zuvor¬
gekommen, am 9. September hatte er mit Karl von Bourbon und Antonio
de Leva das Schriftstück unterzeichnet des Inhalts, daß sie über die Noth¬
wendigkeit übereingekommen seien, den Herzog Franz und das Kastell von
Mailand in ihre Gewalt zu bringen. Gleichwol wartete Pescara noch aus¬
drücklichen Befehl des Kaisers ab, um das in's Werk zu setzen, Karl schien
das zu vermeiden. Er wollte nicht mehr geben als jenen Generalbefehl, um
nachher, je nachdem die Sache ausging, die Schuld auf die ausführende Hand
zu werfen. Pescara beschloß jetzt, so rasch als möglich Morone, das Haupt
und vornehmste Werkzeug der Verschwörung, in seine Gewalt zu bekommen,
überzeugt, daß er mit dessen Prozeß dem Kaiser die untrüglichen Beweise in
die Hand liefern werde, welche die Bedingungen der kaiserlichen Belehnung
vernichten mußten. Pescara lag damals krank im Kastell zu Novara.
Hieher berief er, nachdem er zuvor Truppen aus Piemont heimlich an sich
gezogen , Morone zu einer neuen Unterredung. Dieser konnte sich bereits
dem Gedanken nicht mehr verschließen, daß die Unterhandlungen mit dem
Marquis bloßer Schein seien, die Freunde warnten ihn vor Nachstellungen.
Antonio de Leva hatte laut geäußert, daß er ihn zurückhalten werde, er
selbst zögerte. Dennoch entschloß er sich endlich, mit demselben de Leva zu
gehen, nachdem er sich zuvor durch einen neuen Geleitsbrief gesichert, —
„was mich um so mehr wundert", bemerkt Guicciardini, „weil ich wol im
Gedächtniß habe, wie oft Morone mir in Genua zur Zeit Leo's gesagt hat,
es gebe keinen Menschen in Italien von größerer Bosheit und größerer
Treulosigkeit als den Marchese von Pescara". Morone kam am 13. Octbr.
in Novara an. Freundlich ausgenommen, verbreitete er sich über den Stand
der Dinge. Von Frankreich und England seien Subsidien zugesagt, die
Truppen des Papstes, der Venetianer, des Herzogs von Mailand seien
marschbereit, die Schweizer warten nur auf den Ruf, ebenso die Ausgewan¬
derten, in längstens 14 Tagen könne Alles im Feld stehen. Offenbar über,
trieb Morone die Aussichten der Verschworenen in Pescara, um desto leich¬
ter zu einer endlichen Erklärung zu drängen. Dieser sollte sich überzeugen
und zögerte nun noch einen ganzen Tag. Am Morgen des Is. October
wurde der Großkanzler durch Antonio de Leva verhaftet und in das Kastell
von Pavia abgeführt. Am 24. begab sich Pescara in Begleitung de Leva's
und des Abts von Nagers zu dem Gefangenen, um ihn auszufragen über
Alles, was sie zusammen verhandelt, und Morone legte vor diesen Zeugen
ein umfassendes Geständniß über die ganze Verschwörung ab, den Herzog
von Mailand, seinen Herrn, als Mitverschworenen und Haupturheber an¬
klagend. Damit erkaufte er sich ohne Zweifel eine milde Behandlung. Zwei
Tage nach dem Verhör empfahl ihn Pescara der Gnade des Kaisers und
am folgenden Morgen sorgte er, daß ihm sein Vermögen sichergestellt würde.
Unverzüglich bemächtigte sich Pescara aller wichtigen Plätze im Mailändi¬
schen; dem Herzog blieben nur die Kastelle von Mailand und Cremona.
Karl heuchelte anfangs Mäßigung, ließ sich aber gern von seinen Ge°
neralen weiter drängen. „Wenn Ihr für Euch^diesen Staat haben wollt",
schrieb ihm Pescara, „wie Gott, die Welt und die Vernunft es verlangen,
so schreibt dem Herzog, daß er auch die Kastelle von Mailand und Cremona
übergebe, und daß er vor Euch erscheine; anders geht es nicht!" —
Nach Kurzem verlangte Karl wirklich auch die Kastelle von Mailand
und Cremona, und als der Herzog sich weigerte, ließ er das letztere mit
Sturm nehmen, während er das erstere belagerte und gleichzeitig ein Hoch-
verrathsprozeß gegen den Herzog eingeleitet wurde. Pescara erschien selbst
in Mailand, wo aber der Senat standhaft die Unterwerfung unter den Kaiser
verweigerte, und es erst nach Drohungen aller Art durchgesetzt werden konnte,
daß zwei vom Volk gewählte Beamte im Namen Aller Karl und seinen
Nachfolgern Treue schwuren. (12. Decbr.) Der kühnste Wunsch der Kaiser¬
lichen schien jetzt erfüllt. Antonio de Leva schrieb frohlockend an Karl:
„Das starke Alessaridria setzt uns in Verbindung mit Genua und folglich
mit Spanien; Lodi, Como und Lecco mit den deutschen Ländern; folglich
darf man sagen, dieser Staat ist der Schlüssel Italiens, und mit ihm ist es
leicht, seiner Herr zu werden; wer aber Herr von Italien ist, ist Herr der
Welt. Die Römer brauchten 500 Jahre, bis sie es in ihre Gewalt gebracht,
aber nachdem sie es hatten, erstreckten sie in Kurzem ihr Scepter über die
ganze Welt. Kommet also, die Krone auf das Haupt zu setzen, und von
hier sollet Ihr ausbrechen, die von Jerusalem zu nehmen". Pescara sollte
die Frucht seines Handelns nicht mehr erleben. Er war am 3. Dezbr. 1526,
im Alter von 36 Jahren, gestorben.
Die Liga war gesprengt. Auch jetzt waren es die Venetianer, welche
sich zuerst wieder aufrichteten. Gerade durch den Tod Pescara's ermuthigt,
betrieben sie sofort ein neues Bündniß mit dem Papst und den Florentinern,
weiterhin mit Frankreich, dessen König den Frieden von Madrid nur ge¬
schlossen hatte, um ihn zu brechen. Im Mai 1526 kam der Vertrag zu
Cognac zu Stande, zu dessen Bedingungen die Erhaltung Sforza's in Mai¬
land und überhaupt die Restauration aller italienischen Fürsten in den Stand
vor dem Krieg gehörte. Franz wollte sich mit der Herrschaft Asti und der
Oberherrlichkeit über Genua begnügen. Ob sich Frankreich freilich auch nach
gewonnenem Sieg damit begnügt hätte, ist eine andere Frage, und es ist
doch etwas sanguinisch, wenn de Leva meint: Frankreich scheine damit wirk¬
lich endlich seine natürliche Rolle Italien gegenüber annehmen zu wollen,
die des Verbündeten, nicht des Eroberers; es habe sich in diesem Augenblick
nicht mehr um einen Streit um die Hegemonie in Europa, sondern für die
Unabhängigkeit Italiens gehandelt.
Zum nomineller Haupt der Liga war der König von England ernannt,
der großes Interesse für das Zustandekommen gezeigt hatte, ohne jedoch selbst
einzutreten. Auf allen Punkten sollte die verhaßte spanische Macht gleich¬
zeitig angegriffen werden. Es fehlte nicht an guten Condottieri, Giovanni
de' Medici der beste, während der oberste Befehl dem Herzog von Urbino,
Francesco Maria della Rovere, übertragen wurde. Alles war guten Muths.
Man Matteo Giberto schrieb an den Bischof von Veruli (Juni 1526):
„Nicht um einen Ehrenpunkt wird dieser Krieg geführt, oder aus Rache, oder
für die Erhaltung einer Stadt, sondern in ihm handelt es sich um die Ret¬
tung oder um die ewige Sclaverei von ganz Italien!"
Aber es ging, wie es immer in diesen Bundeskriegen gegangen; das
Heer war nicht von patriotischem Gefühl zusammengehalten. Zum größten
Theil bestand es aus beutelustigen Abenteurern, von Mannszucht keine Spur,
dazu die Unsicherheit der Oberleitung, das gegenseitige Mißtrauen der Ver¬
bündeten. Jeder behielt sich die volle Freiheit der Action vor, der Papst
hatte seinen Statthalter, die Venetianer den Proveditore, jedes Stäätchen
seinen Anführer. In der Zahl von 20—22 nahmen sie an den Kriegsräthen
Alle Theil unter dem bezeichnenden Titel: die Herren Hauptleute des Bundes.
Dem Herzog von Urbino fehlte es nicht an militärischem Muth., noch an
Kenntnissen, aber um so mehr an Selbstvertrauen. Er hielt, wie dies frei¬
lich auch Giovanni's de' Medici und Guicciardini's Ansicht war, wenig auf
das päpstliche Fußvolk und wartete auf die Schweizer, die ausblieben, weil
man ihre exorbitanten Forderungen nicht bewilligen wollte. So ging die
beste Zeit, das Kastell von Mailand zu entsetzen, verloren. Am 27. Juli
mußte es, aller Lebensmittel baar, den Kaiserlichen übergeben werden, welche
in Stadt und Land in furchtbarer Weise hausten. Sforza, dem man von
allen Bedingungen der Kapitulation nur die eine hielt, daß er nämlich un¬
versehrt das Kastell verlassen dürfe, zog sich gänzlich mittellos nach Crema
auf venetianischen Boden zurück.
Die Briefe Guicciardini's, der damals Statthalter von Parma war und
als päpstlicher Kommissair das Heer begleitete, gewähren einen lebendigen
Einblick in die unglückliche Art und Weise der Kriegführung. Er erkannte
die Schäden genau, war aber fast ohne Einfluß; denn als bürgerliche, in
militärischen Dingen unerfahrene Persönlichkeit, war er allen Heerführern,
nach seinem eigenen Ausdruck, gründlich verhaßt. Um so bitterer äußerte
er brieflich seinen Unmuth über diese Generale, die nur aus-Habsucht oder
Eitelkeit sich in die ersten Stellen drängten, die kein Interesse sür die gemein¬
same Sache hatten, ein unwürdiges Proteetionssystem unterhielten, und unter
sich in beständigem Hader waren. Daß der Herzog von Urbino nicht die an¬
scheinend leichte Aufgabe, das Kastell zu entsetzen, ausführte, konnte er nur
dessen ganz übertriebener Furcht vor der Kriegstüchtigkeit der Spanier zu¬
schreiben und seinem Zögerungssystem, worin er in unglücklicher Weise Pros-
pero Colonna zum Vorbild nahm. Ganz besonders aber klagte Guicciardini
über die fortdauernde Getheiltheit des Oberbefehls und drang vergebens
darauf, daß ein Generalkcipitain über die Armeen gesetzt würde. „Mir liegt
nichts daran, daß ich es bin", schreibt er an Giberto, „aber im entgegen¬
gesetzten Falle bin ich entschlossen, mich nicht länger für den Kirchenstaat ab¬
zumühen".
Auch die Unternehmung der Verbündeten auf Siena und auf Genua
mißlang. Als der Sommer hinging, äußerte der Mißerfolg die üblichen
Wirkungen auf die Liga. Es fehlte den italienischen Staaten zum Unab¬
hängigkeitskrieg die Einigkeit und die Ausdauer. Den Völkern war, da ihre
eigenen Landsleute nicht besser hausten als die Spanier, ihre Freude bald
in Haß und Verzweiflung verwandelt. Papst und Venetianer beklagten sich,
schon viel zu viel Geld zugeschossen zu haben, und mehr als sie seufzten die
Florentiner, auf welche der Papst fast die ganzen Kosten des lombardischen
Kriegs gewälzt hatte. Ueberdies kamen weder England noch Frankreich ihren
Verbindlichkeiten nach. Vergeblich waren die Ermahnungen Giucciardini's
und Giberto's. Der König Heinrich und Kardinal Woolsey, ein Jahr zuvor noch
so eifrig, pflegten zu sagen : „Uns gehen die italienischen Dinge nichts an, wir
wollen das nächste Jahr sehen, ob dieMacht des Kaisers uns bedrohlich sein kann."
Franz I. aber hatte gar kein Interesse an einer energischen Kriegführung, er wollte
die Auslieferung seiner Söhne und den gesicherten Besitz Burgunds viel lieber
durch Unterhandlungen erlangen. Ueberdies schienen seine eigennützigen Ab¬
sichten auf Mailand immer deutlicher sich zu enthüllen. Es war bereits so
weit, daß der Kanzler Giberto bereit war. dem König Mailand zu überlassen.
„Wir find," schrieb er, „mit Bedacht auf die platonische Republik losge-
gangen und wollten Italien befreien; statt dessen werden wir Sclaven mit
ihm, und ich sehe keine Rettung, als wir bezahlen dem König den begehrten
Preis." Wirklich ließ ihm der Papst — und deutlicher konnte der Verfall
der Liga nicht bezeichnet werden — außer Neapel auch noch Mailand an¬
bieten, freilich ohne Wissen der Venetianer. die immer noch die besten Ita¬
liener waren; ein Angebot, das Franz aus guten Gründen, aber mit der
heuchlerischen Ausrede ablehnte: er glaube, Gott habe ihm das Unglück der
Schlacht von Pavia gesandt, weil er zur Beunruhigung Italiens gekommen,
um welches beständig würde Krieg geführt werden, bis es einmal den Ita¬
lienern selbst gehöre.
Erst am 4. Sept. wurde die Liga officiell zur Kenntniß des Kaisers ge¬
bracht, zu einer Zeit, da sie längst aufgehört, ihm gefährlich zu sein und
ihm im Grunde nur noch übrig war, den Sieg zu verfolgen. Am empfind¬
lichsten war Karl über die Hartnäckigkeit des Papstes, dessen Minister Giberto
in der That die Seele des Unternehmens gewesen war. In Deutschland
kam der Streit zwischen Papst und Kaiser den Protestanten zu Gut, denen
der Reichstag von Speyer eine legale Existenz gab, und noch unmittelbarer
sollte der Papst die Folgen in Italien selbst verspüren. Der Zug Georgs
von Frundsberg, und im folgenden Jahr die Einnahme Roms durch seine
und Karl von Bourbon's Schaaren gaben Zeugniß von den Zorne Karls,
der damals ernstlich mit dem Gedanken umging, den Papst ganz seiner welt¬
lichen Herrschaft zu entkleiden, ein Gedanke, den der Mcekönig Launoy mit
denselben Gründen empfahl, die heute noch gegen die Vermischung geistlicher
und weltlicher Gewalt nicht veraltet sind.
Wie ein Verhängnis) sahen die italienischen Patrioten die erdrückende
Uebermacht des Kaisers auf ihr Vaterland hereinbrechen. Guicciardini ver¬
weilte betrachtend bei dem Gegensatz, den er zwischen Maximilian und dessen
Enkel Karl fand: wenn jener, oft unter den glücklichsten Umständen wohl
versehen mit Geld und Mannschaften, doch regelmäßig mitten in jeder Unter¬
nehmung gescheitert sei, so habe dagegen dieser, von Jedermann bekämpft,
aber von trefflichen Ministern unterstützt, aus der verzweifeltsten Lage immer
wieder sich herausgerissen, glorreicher als zuvor, sodaß es schien, als ob das
Glück, von ihm muthwillig fortgestoßen, sich trotz ihm fest an sein Haus
hafte. Seit dem Tod Giovannis de' Medici (30. Nov. 1326), den Guicciardini
für den einzig fähigen Feldherrn gehalten, hoffte dieser vom Krieg nichts
mehr: dem Willen Gottes gegenüber, rief er aus, ist kein Widerstand mög¬
lich. Freilich klagt er noch die eigenen Heerführer an, denn das größte
Glück Karls besteht darin, daß er es immer mit Feinden zu thun habe, die
ihre Streitkräfte nicht zu benutzen verstanden oder vermochten.
Es läßt einen Blick in die ganze Kläglichkeit jener Zeiten thun, daß
Morone, gegen ein starkes Lösegeld von den Kaiserlichen freigelassen, nach
einigem Schwanken zwischen Papst und Kaiser, in die Dienste Karl's von
Bourbon als Secretair überging und er, einst die Seele des Unabhängigkeits¬
kampfes, jetzt als Rathgeber dem mächtigsten General der Feinde zur Seite
stand. Später begleitete er von Rom aus den Prinzen von Oranien auf
dessen Feldzug im Neapolitanischen und schrieb die Berichte über den Gang
des Kriegs an den Kaiser: „nachdem ich meine beständige Unterwürfigkeit
Ew. Maj. gewidmet, habe ich diesen Auftrag angenommen, in welchem ich es
nicht an Fleiß und Treue fehlen lassen werde". „Der allmächtige Gott sei
gelobt! Sieg! Sieg!" rief er aus, als die Franzosen die Belagerung Neapels
aufgeben mußten und Lautrec's Nachfolger, der Marchese von Saluzzo, zur
Capitulation von Aversa genöthigt war. Zuletzt finden wir Morone, den
wir durch so manche Wandlungen begleitet haben, als Generalkommissair auf
dem Wege zum kaiserlichen Heere vor Florenz. Doch sollte ihm wenigstens
nicht mehr beschieden sein, zum Fall der Republik selbst beitragen zu müssen.
Er starb 7 Meilen vor Florenz zu San Sassiano am Is. Dez. 1529.
In Neapel wie in Mailand, wo Antonio de Leva sich tapfer aufrecht
erhielt, waren die Waffen des Kaisers siegreich. Clemens VII.. froh, daß er
diesmal neutral geblieben, sah jetzt die Sache Italiens verloren, und war
einzig bemüht, seinen weltlichen Besitz zu retten. Deshalb näherte er sich
nun dem Kaiser, wie andererseits dieser seine Freude hatte, den Frieden mit
der Kirche zu suchen. Vergebens machten die Venetianer einen letzten Ver¬
such, den Papst zurückzuhalten, was ihnen um so weniger gelang, als zwischen
ihnen und dem Papst noch ein Gebietshandel schwebte. Es ist uns der Be¬
richt der denkwürdigen Audienz des Gesandten Gaspare Contarini bei Cle¬
mens erhalten, in welcher der Venezianer von der Leber weg als Italiener
sprach und dem Papst seine Gesinnung ganz enthüllte. „Eure Heiligkeit selbst
hat es gesagt, daß die Kaiserlichen nur den Zweck verfolgen, die Liga aus¬
zulösen, um so leichter die einzelnen Fürsten einen nach dem anderen ver¬
nichten zu können und sich dann zum Herrn des Ganzen zu machen, und doch
weiß ich, daß sie jetzt Eure Heiligkeit bestürmen, den Weg einzuschlagen, um
das eigene Privatinteresse zu verfolgen; und sich damit zum Instrument sür
den Untergang der anderen zu machen. Wofern Ihr das eigene Interesse
verfolgt, so machet Ihr Euch zur Partei und verliert die Prärogative des
einzigen und heiligen Friedensvermittlers unter diesen Fürsten. Um sie zu
vereinigen, muß man sie dafür gewinnen, daß sie bis auf einen gewissen Grad
ihren eigenen Vortheil dem der Gesammtheit unterordnen. Und dazu gibt
es kein wirksameres Mittel als Euer Beispiel. In der christlichen Republik
sind die anderen Fürsten die Privatpersonen; Euch allein ist von Christus
die Sorge für das allgemeine Wohl übertragen. Und was die Angelegen¬
heiten der Kirche betrifft, so will ich frei reden. Möge Eure Heiligkeit nicht
denken, daß das Wohl der Kirche Christi dieser kleine weltliche Staat ist, den
sie erworben; auch bevor dieser Staat existirte. war die Kirche und beste
Kirche; die Kirche ist die Gesammtheit aller Christen, dieser Staat aber ist
wie der jedes anderen italienischen Fürsten, und so muß Eure Heiligkeit
vornehmlich für das Wohl der wahren Kirche sorgen, das im Frieden und
der Ruhe der Christenheit besteht". Der Papst: „Ich erkenne und weiß
daß Ihr die Wahrheit saget, aber ich sehe, daß die Welt auf einen Punkt
gekommen ist, wo derjenige, der am schlauesten ist und mit dem besten Ge¬
schick das Seinige besorgt, für den mächtigsten Mann geachtet und geehrt
ist, und wer das Gegentheil thut, von dem sagt man, daß er eine gute Per¬
son sei und nichts tauge, und ihm bleibt nichts als dieses Prädicat. Die
Kaiserlichen werden ins Königreich Neapel dringen, dann kommen sie in die
Lombardei und Toscana, verständigen sich mit dem Herzog von Ferrara und
auch mit Euch, und ich werde dann die gerupfte gute Person sein, ohne
etwas von dem Meinigen zurück zu erlangen. Ich wiederhole Euch, ich sehe
wol, daß das, was ihr mir rathet, der wahre Weg wäre, und ich sehe auf
dem anderen Wege den Ruin Italiens, aber ich sage Euch, daß man auf
dieser Welt keinen Lohn findet, und wer ehrlich geht, wie eine Bestie behan¬
delt wird." Dies waren die Gründe, aus welchen der Statthalter Christi
die Partei ergriff, auf welcher er den Ruin Italiens sah.
Nach den Friedensschlüssen von Barcelona (Juni 1629) und Cambrai
(August 1S29) mußte auch Venedig nachgeben. Lange der Vorkämpfer der
italienischen Sache, rettete es nun wenigstens sich selbst. Aber es mußte
Cervia und Ravenna an Clemens geben, der auf die dringenden Vorstellun¬
gen Contanni's nichts zu sagen wußte als: „Was Ihr mir saget, ist wahr,
aber ich will doch nicht der einzige sein, der sich zu beklagen hat." Der Con-
greß zu Bologna entschied vollends die Angelegenheiten Italiens. Franz
Sforza erschien selbst am 22. November gichtkrank, abgemagert, seine Unschuld
an der Verschwörung Morones betheuernd, im Uebrigen durchaus unter¬
würfig. Mailand wurde ihm zurückgegeben, weil man sein baldiges Ende
voraussah, aber unter sehr harten Bedingungen, um schwere Summen gegen
die Investitur, und zum Wächter des Herzogtums wurde Antonio de Leva
bestellt, der als oberster Feldhauptmann der kaiserlichen Truppen und Statt¬
halter des Bundes zum Herrn von Pavia gemacht wurde. Nach dem Tod
Sforzas, 1L35, wurde Mailand vollends Habsburgische Provinz. Dem Plane
Karls, einen Bund mit den italienischen Fürsten zu gegenseitiger Verthei¬
digung zu schließen, widersetzten sich die Venetianer lebhaft, doch wurde er
zuletzt wenigstens für Mailand und Neapel abgeschlossen. Seitdem blieb
diese Conföderation ein traditionelles Element der Habsburgischen Politik in
Italien. Im Jahre 1592 betrieb Philipp II. das Zustandekommen einer
solchen Conföderation. und noch in unserem Jahrhundert war es einer der
am hartnäckigsten verfolgten Plane Oestreichs, das durch diesen Bund ebenso
ganz Italien beherrschen wollte, wie es durch den deutschen Bund Deutschland
beherrschte.
Der Zustand Italiens am Ende dieses Zeitraums ist nur demjenigen
Deutschlands nach dem 30jährigen Kriege vergleichbar. Die Städte ver¬
wüstet und entvölkert, die Felder verödet, ganze Gegenden wie ausgestorben.
Und empfindlicher noch waren die Wirkungen auf den politischen und mora¬
lischen Geist der Bevölkerung. Die Spuren einer nationalen Gesinnung ver¬
schwinden vollends gänzlich. Die kleinen Fürstentümer suchen ihre Stütze
einzig an dem Kaiser. Es war ein Wettlaufen der Ergebenheit, während sie
unter sich in kleinlichen Hader und Rangstreitigkeiten lebten, wie das schon bei
der Krönung Karls zu Bologna sich zeigte, wo der Streit um den Vorrang
zwischen den Gesandten von Siena und Genua, und zwischen diesen und dem
Gesandten des Herzogs von Ferrara zu den ärgerlichsten Scenen führte. Das
Volk sucht seine einzige Entschädigung für den dumpfen Druck, unter dem es
lebt, in den glanzvollen Festen, welche von den Fürsten veranstaltet werden,
und zu denen die Künste wetteifernd mitwirken. Auch diese, wie die Litera¬
tur, gehen einem raschen Verfall entgegen. schmeichlerische Geschichten, Re¬
den, Gedichte feiern den Unterdrücker Italiens. Es war die Zeit, da Pierro
von Arezzo sein Talent zu den unverschämtesten Brandschatzungen mißbrauchte,
da Benvenuto Cellini sagte: ich diene dem, der mich zahlt, da Paul Jovius,
U?le er sich ausdrückt, eine silberne und eine goldene Feder führte, um sein
Lob nach den Geschenken, die er erhielt, zu bemessen, und selbst ein Tizian
darauf stolz war, sich in der kaiserlichen Gnade zu sonnen. Zwei Jahrhun¬
derte lag von nun an der Fluch der spanischen Herrschaft auf Italien, ein
Vermächtniß zurücklassend, das heute noch der gefährlichste Feind des National-
staats ist.
In Frankreich kann sich das Genossenschaftswesen vorzugsweise historischer
Würde und mittelalterlichen Ursprungs rühmen. Die älteren Genossenschaften
dieses Landes hielten sich aber durchaus in den Grenzen des ländlichen
Arbeitsgebiets, wohin die Bewegung der neuesten Zeit seitdem weder in
England noch Frankreich vorgedrungen ist.
Es waren nämlich im 15. Jahrhundert im mittleren Frankreich viele
Tausende von bäuerlichen Genossenschaften und Meliorationsgesellschasten vor¬
handen. Ja es gab eine Zeit, wo sie geradezu die Regel, die überwiegende
Form bildeten. Sie bestanden aus Vereinen von je zwanzig bis hundert
Hausvätern, welche den Landbau gemeinsam betrieben und den Ertrag desselben
dann nach Bedürfniß, zum Unterhalt der Genossen verwendeten. Doch diese
Wirthschaften geriethen allmälig in Verfall und kamen in fremde Hände.
In irgend bemerkenswerther Anzahl, doch nur weit zerstreut erhielten sich
einzelne Genossenschaften noch bis gegen die Mitte des vorigen Jahrhunderts,
zuletzt nur noch als alterthümliche Merkwürdigkeiten, mit denen die Revo¬
lution gründlich aufräumte.
Bei dem revolutionären Ausbruch von 1848, war das franz. Volk
mit Keimen aller Art, und zum Theil mit solchen, welche zu lebens-
fähigen Gestaltungen führen konnten, noch mehr aber mit krankhaften Bildungs-
trieben angefüllt, welche nun alle plötzlich zu Tage brachen und nach Gestalt
und Wesen strebten. Nachdem die Junikämpfe den Sieg der „blauen" Re¬
publik über den Socialismus-entschieden hatten, brach die Vegetation mit
Macht hervor. Zu ihrer anfänglich raschen und krankhaften Entwickelung,
trug sehr wesentlich die vorübergehende Begünstigung jener wesentlich sociali¬
stischer Unternehmungen bei, mit denen die siegreiche Bourgoisie den auf den
Straßen besiegten, aber in der National-Versammlung selbst noch immer mäch¬
tigen Socialismus abzufinden und die Massen zu versöhnen hoffte. In
diesem Sinne erfolgte im Juli 1848 die Bewilligung einer Staats-
Unterstützun g von Drei Millionen Francs, um die productiven Genossen¬
schaften zu fördern. Was waren die Folgen dieser Unterstützungen durch
den Staat? Die große Mehrzahl der Genossenschaften, welche einen Antheil
an dem Staatskredit erlangten, sind rasch wieder untergegangen. Sehr
viele von denen, welche gleichfalls zu jener Zeit entstanden und keine Unter¬
stützung vom Staate erhielten, entwickelten sich dagegen fort und in schönster
Blüthe. Von etwa 300 Genossenschaften, welche bis Mitte 1849 in Paris
ins Leben traten, hielt sich schon 1851 kaum noch ein Drittel über dem
Wasser, und auch von diesen konnten gar Viele es als ein Glück ansehen,
daß ihnen der Staatsstreich vom December 1852 durch polizeiliche Maßregeln
die Schande des Bankerotts ersparte. Im Sommer 1864 konnte man im
Ganzen nur noch 27 wirklich arbeitende Genossenschaften in Paris entdecken,
in den Provinzen nur noch drei.
Wer hätte glauben wollen, daß sich nach zwanzig Jahren ähnliche Er¬
fahrungen wiederholen könnten, daß im preußischen Staate einer Genossen¬
schaft bedeutende Staats-Unterstützung verliehen werden könne, die dennoch
und trotz aller staatlichen Ober-Aufsicht gänzlich fehlschlagen würde. Wir
lesen nämlich in der Norddeutschen landwirtschaftlichen Zeitung Ur. 50. die
nachfolgende denkwürdige Geschichte einer verunglückten Wiesenanlage:
Im Jahre 1850 erblickte vermittelst königlicher Verordnung das Statut
der „Bockerhaide Meliorations-Genossenschaft in der Gesetzsammlung das Licht
der Welt; die Corporation ward ausgerüstet mit all den stattlichen Privi¬
legien der Expropriation und der Heranziehung und Loslassung der anliegen¬
den Interessenten mittelst Schiedsgerichts ohne eigentliche Rekursinstanz, so
wie mit staatlichem Gelde, denn der Meliorationsfonds des landwirth¬
schaftlichen Ministeriums gab 108,000 Thaler und zwar auf 5 Jahre zins¬
frei, dann mit 3"/g an die Staatskasse zinspflichtig, während mit den
andern 2°/» die Schuld amortisirt und so nach 34 Jahren die Genossenschaft
schuldenfrei werden sollte. Trotz alledem waren statt der beabsichtigten Aus¬
dehnung der Corporation auf 12000 Morgen nur 5200 in den Verband zu
bringen und die Anlegung der Berieselung begann. Wir können hier den
Verlauf nicht verfolgen und wollen uur den gegenwärtigen Stand der Sache
illustriren. Höchstens 20Vi Sgr. jährlichen Beitrag pro Morgen hatte Herr
W.....calculirt, während man dafür 18 Centr. jährlichen Mehrgewinn an
Heu verhieß. Der Jahresbeitrag beläuft sich heute auf 2 Thaler und muß
sich wieder steigern, denn es ist noch endloses Deficit vorhanden. Berieselt
werden höchstens 1500 Morgen. Die Eigenthümer der letzteren 4300 Morgen
klagen bereits seit Jahren gegen die Genossenschaft und der Wirrwarr ist
haarsträubend; sie verlangen bis Dato nicht weniger als 150,000 Thaler
Schadenersatz. In Folge der künstlichen Hochleitung des Wassers leiden nun
die angrenzenden Aecker wieder durch Thau und Nässe. Die Enclave Lippe¬
rode und Cappel versumpft jährlich; die armen Gemeinden ringen umsonst
die Hände und beklagen sich bei der Regierung, die neuerdings wieder 5000
Thaler Entschädigung verlangt hat.
Der finanzielle Stand des Unternehmens trägt alle Zeichen eines schlech¬
ten Geschäftes an der Stirne und bildet ein Beispiel verfehlter Aufwendung
von Staatsgeldern, wie es seines Gleichen sucht. Einmal sind jene 108,000
Thlr. Staatsfonds längst verbraucht, aber nicht genug, daß bisher, also 19
Jahre darnach, nicht ein Pfennig Zins oder Amortisation hat gezahlt
werden können, der Staat hat noch ferner 121,288 Thlr. ebenfalls zinslos
aus dem Meliorationsfonds zugeschossen. — und da dies noch nicht zu
der Unglücksanlage gereicht, so hat die Genossenschaft selbst noch 110,000
Thlr. andere Schulden aufgenommen. Von diesen letzteren sind die Hälfte
aus der Provinzialhilfskasse zu Münster mit4«/<> Zinsen geflossen, die andere
Hälfte hat man der Sparkasse zu Lippstadt abgeborgt."
Genossenschaften mit corporativen Rechten und gleichzeitiger Staats¬
unterstützung auszustatten, ist immer ein gefahrvolles Unternehmen; diese
versuchte Haidemelioration sollte uns in der Richtung der Staatshilfe eine
weise Lehre sein. Alljährlich werden dem landwirthschaftlichen, Ministerium
121,000 Thlr. Meliorationsfonds bewilligt, warum fragt Niemand in der
Kammer, ob sie auch rentable Verwendung finden? Wie kann es passiren,
daß 230,000 Thlr. Staatsgelder auf einen Fetzen Haideland von einer
Viertelquadratmeile, die dem Staat nicht einmal gehört 1) verwandt, und
2) neunzehn,Jahre lang zinslos hingegeben worden sind, während gesetz¬
lich seit fünfzehn Jahren Zinsen gezahlt und Amortisation aufgebracht wer¬
den sollen? Nun ist bereits mit Zins auf Zins eine halbe Million in diesen
Schlund geworfen worden, — und was ist der Erfolg? 6000 Morgen
Haidenland haben die 600,000 Thlr. Berieselungskosten verschlungen das
macht pro Morgen 100 Thlr.; davon hat der Staat 90 Thlr. bezahlt, ohne
auch nur Segen und Dank zu ernten.
Der gegenwärtige Minister der Landwirthschaft hat diese Haidemeliora-
tionen als Erbtheil von drei oder vier Vorgängern übernommen; was hin¬
dert ihn also reinen Tisch zu machen? Dazu wäre erforderlich:
1) Die einmal verausgabten Summen für verloren zu erklären und
Halt zu gebieten in weiterer Unterstützung, da diese doch nutzlos ist;
2) Den Verein aufzulösen, den halben mittleren und den ganzen unteren
Theil der Genossenschaft aus dem Verbände zu entlassen, darnach die Canäle
zum Zwecke früherer Wiedereinmündung in die Lippe zu regeln und die
Müller damit zu befriedigen;
3) Den oberen Theil von etwa 2S00 bis 3000 Morgen, der wirklich
Nutzen hat und keinen Schaden stiftet, der freien Genossenschaft auf
Selbsthilfe zu überlassen.
Zum ersten Male ist diese Angelegenheit von dem Abgeordneten von
Lippstadt, Herrn Ohm in der Kammer zur Sprache gebracht, und wir sagen
voraus: die Sache wird nun nicht eher ruhen, als bis sie zu einem leid¬
lichen Austrage gelangt sein wird. Hier liegt in unserem preußischen Vater¬
lande das erste Beispiel einer Verwirklichung der Lassalle'schen Forderung
von Staatshilfe vor. und zwar einer Staatshilfe von 230,000 Thlr. auf
ein Stück Haideland von einer Viertelquadratmeile, um, wie der Regierungs-
commissär Greiff in der Sitzung vom 26. Nov. v. I, sagte: um der dor¬
tigen Gegend gute Wiesen zu verschaffen, da es daselbst an Heu
mangele". Wie viele andere Gegenden aber gibt es nicht, wo das Hin
noch empfindlicher mangelt als hier, wo mit 100 Thlr. pro Morgen Melio¬
rationskosten weit bessere Wiesen geschaffen werden konnten, wenn der Staat
90 Thlr. zu diesem Behufe schenken wollte.
Wenn aber der Staat der ersten Genossenschaft seine Unterstützung an-
gedeihen läßt, so ist kein Grund vorhanden, warum er sie der zweiten und
dritten Genossenschaft, der es etwa an Heu mangelt, nicht gewähren sollte.
Mit welchem Rechte wollte er der Einen verweigern, was er der Anderen
gestattet? Der Staat, der sich ein Mal die Aufgabe gestellt hat. Ungleich¬
heiten abzuhelfen, kann seine Thätigkeit nicht damit beginnen, neue Ungleich¬
heiten zu schaffen. Die zehnte Genossenschaft, die sich zum Zwecke der Heu-
Production meldete, müßte also ebensogut, wie die erste auf die Staats-
Unterstützung rechnen können!!
Wir denken, der preußische Staat wird an der einen theuer bezahlten
Erfahrung genug haben und sich in Zukunft hüten, seine Mittel in den
Dienst von genossenschaftlichen Unternehmungen dieser Art zu stellen. Das
Geschick der pariser atoliers xublies von 1848 und jener erwähnten Genossen¬
schaften, welche binnen weniger Jahre in Frankreich trotz aller Staatshilfe
zu Grunde gingen, belehrt uns darüber, daß der unglückliche Ausgang der
hvnter Haide-Meliorations-Genossenschaft kein vereinzelter Fall ist, sondern
unter einem allgemeinen Gesichtspunkt betrachtet werden muß. Zu dieser
Betrachtung werden übrigens nicht nur die Lassalleaner eingeladen, sondern
auch jene Publicisten der Nordd. Allgemeinen Zeitung, welche das Spiel
mit socialistischen Ideen nicht lassen können, und immer noch in alten, aus¬
getretenen Schuhen des Ministeriums knarren, — nicht zu Ehre und Ruhm
des Grafen Bismarck. Die Volksvertretung aber wird die Pflicht haben, vor
Allem der Fortführung des hvnter Unternehmens jede Art von Beihilfe zu
versagen und auf sofortige Abwickelung desselben zu dringen.
Die Corporation der Börsenagenten von Paris ist auf sechs zig Mit¬
glieder bestimmt. Sie allein haben das Recht, die Geschäfte mit französi¬
schen und ausländischen Staatspapieren und den Actien von Handels- oder
Finanzgesellschaften, die am Parket notirt sind, sowie mit Wechseln und
Privateffecten zu vermitteln. Sie machen gemeinschaftlich mit den Waaren¬
mäklern die Geschäfte in Gold- und Silbermünzen, haben aber ausschließlich
das Recht, deren Cours, sowie den Cours der Staatspapiere und der Wechsel
zu constatiren. Der Börsenagent in Paris muß eine Caution leisten, die
125,000 Fras. beträgt; er ist für die Ueberlieferung und Bezahlung dessen
verantwortlich, was er verkauft oder gekauft Hut; er garantirt auf 5 Jahr
die Giltigkeit der Uebertragungsurkunden von Renten und Bankaetien, inso¬
fern es sich um die Identität des Eigenthümers, die Richtigkeit seiner Unter¬
schrift und der Urkunden ze. handelt; er muß endlich denjenigen seiner Kun¬
den, die nicht gekannt sein wollen, unverbrüchliches Geheimniß bewahren;
seine Caution verfällt den Gläubigern, gegen die er sich innerhalb seiner Ver¬
antwortlichkeit vergangen hat.
Der Börsenagent darf in keinem Falle und unter keinem Vorwande für
seine eigene Rechnung Handels- oder Banknotenoperationen machen und sich
weder direct noch indirect an einem Handelsunternehmen betheiligen. Han¬
delt er dagegen, so wird er abgesetzt und hat 3000 Fra- Geldbuße zu erlegen;
im Falle eines Fallissements tritt die Strafe der Zwangsarbeit ein. Auch
ist es verboten, Geschäfte zu besorgen, wenn der Auftraggeber nicht die ent¬
sprechende Summe dem Agenten zum Voraus eingehändigt hat. Schon die
Börsenordnung von 1724 bestimmte, daß diejenigen, welche öffentliche Effec¬
ten kaufen wollten, das Geld oder die Effecten dem Börsenagenten vor der
Börsenstunde einhändigen mußten. Der Gesetzgeber glaubte damit das
Spiel beschränken zu können.
Die Börsenpolizei gehört in Paris dem Polizeipräfecten; kein Militär
darf im Innern der Börse Functionen ausüben. Sie ist allen Bürgern und
Fremden geöffnet, den Frauen aber bereits durch ein Edict vom I. 1724
verboten, und kein Gesetz hat bis jetzt dieses Verbot aufgehoben. Die Zahl
der Börsenagenten in Frankreich ist durch eine Ordonanz bestimmt; sie haben
das Recht, wie die Notare und Anwälte, ihre Nachfolger der Regierung vor¬
zuschlagen; diese Präsentation geschieht zu einem vereinbarten Preise und
zum Vortheil des Abgebers.
In den letzten Jahren der Restauration wurden die Stellen der Börsen¬
agenten zu Paris schon mit 400,000 Fras. bezahlt. Am Ende der Regierung
Louis Philipps erreichten sie den Preis von 950,000 Fra.; seit dem zweiten
Kaiserreich ist derselbe auf 1,800,000 Fra. gestiegen. In der Regel hat eine
Stelle mehrere Theilhaber, die je nach Verhältniß mit dem Namen: Viertel-,
Achtel- und Sechzehntelagenten bezeichnet werden. Der Hauptagent ist häufig
von fünf oder sechs Associe's — Commcmditaires — umgeben, deren manche
ihren Antheil kauften, um mit größerer Sicherheit speculiren zu können. —
Das Syndicat der Börsenagenten besteht aus sieben Personen, die jährlich
mit Stimmenmehrheit gewählt werden und die Interessen der Körperschaft
vertreten. Trotz der riesigen Zunahme des Verkehrs ist die Zahl der Börsen¬
agenten immer dieselbe geblieben, es sind heute wie im Jahre 1724 nur
Sechszig.
Während der letzten neun Monate des Jahres 1862 war das Zuströ¬
men der Speculanten so stark, daß diese Zahl nicht ausreichte, um nur die
gegen baare Zahlung eingegangenen Aufträge ausführen zu können. Es war
der Anfang des zweiten Kaiserreiches. Fould war in jenen Tagen Finanz¬
minister der Republik, zugleich Bankier und Hauptfinancier des Prinz-Präsiden¬
ten. Achilles Fould, Benedict Fould. Emil und Jsaac Pereire. Morny.
Hausmann und Persigny, all' die wichtigen Anhänger des napoleonischen
Staatsstreiches standen am Spieltische. Die Kunst, über Nacht reich zu
werden war in jenen Tagen die Hälfte aller Staatsweisheit. Am 18. No¬
vember 18S2 wurde der Cre'dit Mobilier durch ein Decret des Prinz-Präsi¬
denten errichtet. Benedict Fould, seit 1856 verstorben, wurde neben Jsaac
Pereire Präsident der Anstalt, welche Hand in Hand mit dem Finanzminister,
mit Morny-und Genossen, arbeiteten. Der Anstalt mit einem Actiencapital
von 60 Mill, Fr. wurde eine Papierausgabe von 600 Mill. Fr. gestattet.
Die Zprocentige Rente, schon auf 70 Proc. getrieben, wurde auf 86 hinauf¬
geschwindelt, sowie die Actien der Südbahn von 400 auf 800, Bankactien
von 2000 auf mehr als 4000. Die Besitzer und Genossen dieser ungeheuren
Macht, welche nach Belieben die Hauffe und Baisse machten und die Rou¬
lette mit vollkommener Sicherheit leiteten, erwarben ungeheure Privatreich¬
thümer. Eine ungewisse Nachricht von dem Place Vendome trieb die Actien
des Credit Mobilier binnen zwei Tagen von 1200 auf 1800, und eine Be¬
richtigung von derselben Stelle führte sie sofort wieder unter 1100 zurück.
So wurde Jahre hindurch gespielt — heute gilt die Gesellschaft für bankerott.
Das Minimum der Gebühren der Börsenagenten beträgt seit dem 21. Ja¬
nuar 1866 theils ein Viertel, theils ein Achtel Procent. Es ist begreiflich,
wenn die Gebühren den Minimalsatz gewöhnlich überschreiten, denn der höchste
Satz ist nicht bestimmt. Die Masse der Börsengeschäfte ist überhaupt der¬
maßen angewachsen, daß die Gesammtsumme der Gebühren durch die Agentur
selbst auf jährlich Achtzig Millionen angegeben wird. Vertheilt man diese
Summe auf sechszig Beamte, so kommt auf Jeden blos an Gebühren
iVz Million. In Wirklichkeit steigt der Gewinn aber auf das Fünffache.
Bei so bedeutenden Mitteln ist es schwer den Versuchungen zu widerstehen,
welche sich täglich zum unerlaubten Verdienst darbieten. Gesetzt, es hat ein
Agent den Auftrag, gewisse Actien für den Einen zu kaufen und für den
Anderen zu verkaufen, und der Cours schwankt an diesem Tage zwischen
4000 und 4020; da es alter Brauch ist, daß der Verkäuser den geringsten
Tagespreis erhält, der Käufer aber den höchsten entrichten muß, so steht
außer Frage, wem die Differenz zufällt, Wie maßlos verderblich das Börsen¬
spiel selbst für diese Eingeweihten wird, kann man aus folgender Notiz
entnehmen, den Coiffiniöres im Jahr 182S schrieb:
„Von 121 Börsenagenten haben binnen 22 Jahren Vier sich selbst um¬
gebracht, 61 sattere, indem sie ihren Gläubigern einen beträchtlichen Verlust
zufügten, oder ihr Amt aufgegeben, indem sie theils ganz zu Grunde gerichtet,
theils im Vermögen herabgekommen waren."
Die 80 Millionen Frameen, welche die Börsenagenten jährlich einnehmen,
ergeben bei einem Maximalsatz von V» Procent einen Börsenumsatz von
32 Milliarden, mithin dreimal so viel als die jährliche Produktion von
ganz Frankreich beträgt. Außer den amtlichen Agenten gibt es aber noch
eine Menge Comissions- und Winkelmakler, die bei den Börsenoperationen als
Vermittler dienen, so daß man die jährlichen Käufe und Verkäufe, deren Markt
der Börsentempel in Paris ist, mindestens auf 60 bis 80 Milliarden schätzt.
Rechnet man die Civillisten von Frankreich, England, Oestreich und
Preußen zusammen, so ergeben sich erst 68 Millionen Francs, mithin
12 Millionen weniger, als die Diener des Bösenspiels in der französischen
Hauptstadt allein an legalen Gebühren beziehen. Nimmt man den sonstigen
Gewinn der Börsenagenten, der auf das Vierfache der angegebenen Summe
geschätzt wird, so haben die Spieler blos an Sensal- und sonstigen officiellen
und nicht officiellen Gebühren jährlich gegen 360 Millionen Francs zu bezahlen,
— mehr als fast die ganze französische Armee kostet. — Dann erst kommt
der Gewinn der Speculanten und Spieler an die Reihe! — Das traurige
Ende vieler Börsenagenten wird von zahlreichen Börsenspielern getheilt. Wer
wüßte nicht, daß ein Glied der Familie Mires seinem Leben mit einer Kugel
ein Ende machte, der Bankier Thureeyssen beladen mit dem Rest seiner
Schätze über den Ocean flüchtete, Baron B . . . . mit der Anklage der Fäl¬
schung in der Hand von dem nördlichen Thurm as Rotre Dame auf das
Pflaster herabsprang, nachdem er seine letzten 20 Centimes dem Wächter
gegeben hatte, Das Börsenspiel forderte diese Opfer, aber nur die Opfer, die
in gewisser Beziehung Eclat machen, gelangen in die Oeffentlichkeit.
Von diesem wilden Strudel einer leidenschaftlichen Speculation und Ge¬
winnsucht haben selbst französische Geistliche sich nicht fern zu halten gewußt.
.....Ein Geistlicher in Paris trug kein Bedenken, zu Anfang des Jah¬
res 1867 eine Aktiengesellschaft gründen zu wollen, welche sich die Kirche
Saint Eugenie nutzbar machen und ihren Ertrag ausbeuten sollte. Man
denke sich solche Actien unter den Auspicien eines Bankiers, dem Spiele an
der Börse hingegeben! Das Einschreiten des Erzbischofs machte dem Scan-
dal ein Ende, aber der ingenieuse Abbe fand bald Nachfolger. Unter Mit'
theilung sämmtlicher zur Sache gehöriger Aktenstücke brachte die „Jnde-
Pendcmce belge" folgende Notiz: Die Jesuiten bauen in Paris eine Kirche,
und da sie kein Geld haben, hat ein Pater, Lefevre, den geistreichen Einfall
gehabt:--sich selbst als Gewinn in die Lotterie zu setzen. Diese
Lotterie ist nur für Damen, ein Billet kostet 100 Francs. Wer das Loos
gewinnt, erhält den Pater Lefevre während drei Tagen zum Predigen, Messe¬
lesen u. s. w. 'Die Lotteriebillets fanden raschen Absatz!
An vergeblichen Versuchen, das Börsenspiel einzuschränken, ist die Ge¬
schichte Frankreichs reich. Eines wirklichen Erfolgs hatte sich eigentlich nur
der Nationalconvent zu rühmen; er ließ nämlich die Börse ganz schließen.
Erst am 6. Florial des Jahres III. (1796) geschah die Wiedereröffnung;
am 30. August 1796 erließ der Convent aber schon folgende Bestimmung:
In Anbetracht dessen, daß die Börsengeschäfte nur noch ein Prämienspiel
sind, wo jeder verkauft, was er nicht hat, und kauft, was er nicht nehmen.
will, und daß man überall Handelsleute findet, nirgends aber Handel, ist es bei
strengen Strafen verboten, Waaren oder Effecten zu verkaufen, deren Eigenthümer
man im Augenblick des Umsatzes nicht war. — Die Strafe war in der That
streng; sie bestand in zweijährigem Zuchthaus, öffentlicher Ausstellung am
Schandpfahl und mit der Inschrift: „Agtoteur" und der Vermögensconfis¬
cation. Ein anderer Beschluß vom 2. Februar 1796 befahl, daß jeder von einem
Börsenagenten oder einem Makler abgeschlossene Kauf laut aufgerufen und
von dem Ausrufer unter Beifügung des Namens und des Wohnortes des
Verkäufers, so wie des Depositärs der Effecten registrirt werden solle, damit
die Polizeibehörde von der Existenz der verkauften Gegenstände sich über¬
zeugen könne. Dieselbe Verordnung erlaubte den Zutritt der Börse nur den
gesetzlich ernannten Börsenagenten und Waarenmäklern, sowie den Bankiers
und Geschäftsleuten, die durch ein Zeugniß ihrer vorgesetzten Behörde be¬
scheinigen konnten, daß sie ein Bankierhaus in Frankreich besäßen oder
Handel trieben.
Die Gesetzgebung unterlag, nachdem die Strenge des Terrorismus aufge¬
hört hatte, indessen schon bald in ihrem Kampfe wider das Börsenspiel, und
des Haders müde, hob sie im Jahr 1802 die Verpflichtung auf Verkäufer
und Käufer zu bezeichnen. Dadurch wurde die Börse allen Bürgern und
ebenso den Fremden geöffnet und zugleich auf die Einhaltung der Bestimmung
verzichtet, nach welcher das Eigenthumsrecht der verkauften oder ausgetauschten
Gegenstände bewiesen werden sollte. Die einzige Bestimmung , daß kein Ge¬
schäft in Effecten außerhalb des dazu bestimmten Locals und der dazu angesetzten
Stunden geschehen dürfe, hat sich von 1724 bis auf unsere Zeit erhalten.
Seit dem ersten Januar 1857 erhebt die Gemeindebehörde von Paris an der
Börse eine Eintrittsabgabe, die einen Franken für jede Person und 50 Cents
täglich im Abonnement beträgt. Das Börsenspiel ist seitdem und nament¬
lich durch den Vorschub, den das zweite Kaiserreich ihm leistete, zu einer
Nationalbeschäftigung der höheren Stände geworden, leider aber nicht auf
diese beschränkt geblieben.
Zur Beseitigung mir bezüglich meines Vorschlags, den neuen Hypo¬
thekenbriefen wenigstens facultativ Zinsabschnitte nach Art der Effecten¬
coupons beizugeben geäußerten Bedenken und zur entsprechenden Ergänzung
meines in Ur. S dieser Zeitschrift abgedruckten Aufsatzes bemerke ich kurz
folgendes:
Ich betrachte es als selbstverständlich, daß die Zinszahlung domicilirt
werden kann, also den Hypothekencoupons z. B. die Bemerkung beigefügt wird:
„Zur Einlösung zu präsentiren bei der Hauptcasse der preußischen
Boden-Credit-Acttenbank zu Berlin."
Es ist für solche Fälle Sache des Empfängers des Hypothekendarlehns
sich deshalb vorher mit Domiciliaten zu verständigen, und kann dabei Vor¬
sorge getroffen werden, die rechtzeitige Einlösung des Coupons Seitens des
Domiciliaten auf alle Fälle und ohne Rücksicht auf die im einzel¬
nen Fall rechtzeitig erfolgte Deckung zu sichern. Es ist dabei auch zu
beobachten, daß die Vorlagsweise Auszahlung der Hypothekzinsen resp. Ein¬
lösung des Coupons auf Seiten des Domiciliaten keine Zins-, sondern eine
Hauptgeldforderung ist, also auch das Verbot der Zinszinsen einer
Berechnung etwaiger Zwischenzinsen bis zur erfolgten Deckung nicht ent¬
gegensteht.
Vielleicht wäre es sogar zweckmäßig für derartige Fälle, den die Zins¬
coupons einlösenden Domiciliaten auch bezüglich solcher Zwischenzinsen eine
dingliche Sicherheit zu gewähren, sowie überhaupt den Zinsansprüchen das
Vorrecht vor der betreffenden Kapitalforderung einzuräumen,
um hierdurch die Einlösung der Coupons Seitens der Domiciliaten auch für
solche Fälle zu sichern, in denen die durch die Hypothek dargebotene Sicher¬
heit zweifelhaft geworden ist.
Sammlung gemeinverständlicher wissenschaftlicher Vorträge, heraus¬
gegeben von R. Virchow und Fr. v. Holtzendorff (Berlin, Lüderitz'sche Buch¬
handlung.)
Von diesem verdienstvollen Sammelwerke, dessen die Grenzboten bereits früher
gedacht haben, liegen uns gegenwärtig bereits drei Serien vor, welche nicht weniger
als 72 Hefte umfassen und fast auf alle Gebiete der Kunst und Wissentchaft Be-
ziehung haben. Im Vordergrunde stehen die Naturwissenschaften, welche nach wie
vor am ausgiebigsten vertreten sind: „Neueste Entdeckungen in Afrika" (von
Koner); „Ueber Spektralanalyse" (Hoppe-Seyler); „Ueber den Einfluß
des Klimas auf den Menschen" (Oppenheimer); >„Die Anwendung
schmerzstillender Mittel" (Weber); „Die Riesen des Pflanzenreichs"
(Göppert); „Ueber Sinneswahrnehmungen" (Lehden); „Die Ursachen
der Pflanzenepidemien" (Kühn); „Stammbaum des Menschenge¬
schlechtes" (Hcickel) :c. In den neueren Serien nimmt die Zahl der den histori¬
schen Wissenschaften entnommenen Gegenstände in erfreulicher Weise zu; wir nennen
aus der Zahl derselben: Machiavell (von C. Tochter); Die Gründung der
Nordamerikanischen Union von 1787 (von Bluntschli); Volkstänze im
deutschen Mittelalter (Angerstein); Die Amazone in Sage und Ge¬
schichte (W. Stricker); Die deutsche Kunst und die Reformation (Alfred
Woltmann); Die Kaiserpaläste in Rom (H.Jordan); Bildung und Ent¬
wickelung der Schrift (G. Brugsch); Wilhelm v. Oranien (Tr. v. Belle).
Mehr auf das Tagesleben und die politischen und socialen Interessen der Gegen¬
wart bezüglich sind die Aufsätze: Stadtverwaltung der City von London
(von R. Gneist); Algier (Wattenbach); Mexico (Bastiat); Die Börse und
die Speculation (Cohn); Wanderungen durch irländische Gefäng¬
nisse (v. Groß); Bedeutung des Maschinenwesens für die Land wirth¬
schaft (Perels); die Todesstrafe (John); Die Verbesserung in der ge¬
sellschaftlichen und wirthschaftlichen Stellung der Frauen (v. Holtzen-
dorf); Die Weltstädte in der Baukun se (Adler); Dante und das heutige
Italien (K. Frenzel); Englands Presse (v. Holtzendorff). — Die Mannig¬
faltigkeit der behandelten Gegenstände und die große Anzahl der an dem verdienst¬
vollen Unternehmen betheiligten Männer schließen eine einheitliche Tendenz in der
Behandlung des Stoffes und einen gemeinsamen Standpunkt der Beurtheilung ebenso
aus, wie ein zusammenfassendes Urtheil über den Werth der hergehörigen Abhand¬
lungen. Daß dieselben in ihrer Weise tüchtig und dem bildenden Zweck des gesamm-
ten Unternehmens entsprechend gehalten sind, wird ebenso durch die Namen der Mit¬
arbeiter, wie die der Herausgeber verbürgt. Den deutlichsten Beleg dafür liefert der
rüstige Fortgang und die rasche Verbreitung, welche diese Sammlung von Vorträgen
sich zu sichern gewußt hat.
Obgleich die politischen Jahreszeiten mit denen des Kalenders schon seit
längerer Zeit nicht mehr zusammenfallen, hat der diesjährige Februar-Monat
ausgesprochener denn die meisten seiner Vorgänger den Frühjahrscharakter
getragen. Was es mit diesem auf sich hat, weiß Europa seit nunmehr drei
Jahren mit peinlicher Genauigkeit; Frühlingswetter und Kriegsbesorgnisse
sind für die Börsen, die diplomatischen und die journalistischen Schreibstuben
beinahe gleichbedeutend geworden. In diesem Jahre erscheinen diese verfrüh¬
ten Anzeichen französischer Unruhe besonders befremdlich, Der türkisch¬
griechische Conflict ist eben beigelegt und alle europäischen Großstaaten haben
gleichen Eifer gezeigt, die Gefahren, welche derselbe im Gefolge hatte, zu be¬
schwören; in Frankreich selbst ist es ruhiger oder doch stiller als sonst nach
mehrwochentlichen Beisammensein des gesetzgebenden Körpers, diesseit des
Rheins ist endlich Nichts geschehen, was die Eifersucht unserer französischen
Nachbarn entfernt verletzt, mit anderen Worten, jene Jsolirung der Süd¬
staaten beeinträchtigt hätte, welche für eine Stipulation des prager Friedens
ausgegeben wird. Und doch redet und declamirt die pariser Presse schon seit
längerer Zeit gerade so, als sei der erste April bereits erschienen und der
Plan für den Sommer gemacht. Zuerst war es die Sequestration der hessi¬
schen und hannöverschen Kriegs- und Agitationskassen, die die Pariser Offi¬
ziösen in Harnisch jagte; neuerdings hat die einfache Thatsache, daß Belgien
von seinem Hausrechte Gebrauch machte, zu dem Trommelwirbel Veranlassung
gegeben, der das einzige Stück zu sein scheint, das die inspirirte Presse der
französischen Hauptstadt xropria, »wen spielen darf.
Darüber, daß an eine wirkliche Kriegsgefahr nicht zu denken ist. scheint
alle Welt einig. Welcher Sinn ist dann aber den Fanfaren an der Seine
zuzuschreiben? Liegt einer jener vollkommenen Widersprüche vor. die für
Weise wie für Thoren gleich geheimnißvoll sein sollen, oder hat man es in
Paris nur darauf abgesehen, die Leute so oft irre zu machen, daß man sie
schließlich doch überrascht? Wenn wir nicht in einer Zeit lebten, in der die
Frage nach Deutschlands Beziehung zu seinen Nachbarn alle anderen Fra¬
gen vollständig beherrscht und die ungegebene Antwort darauf wahrhaft das
Geheimniß der Situation ist, verlohnte es sich kaum der Mühe, zu consta-
tiren, daß die Leichtfertigkeit der Girardin und Cassagnac sich wieder einmal
in gedankenlosem Säbelklirren Luft gemacht hat. Ader die Dinge liegen in
Wirklichkeit so, daß Alles möglich ist. und daß das Vernünftige die Prci-
sumtion gegen sich hat. Genau zwölf Monate ist es her, daß die Kölnische
Zeitung, ohne daß man sie Lügen strafte, die Nachricht von gegen Preußen
gerichteten östreichisch-französisch-italienischen Verhandlungen brachte; als die¬
selben resultatlos blieben, wurde von zwanzig Seiten der Beweis geführt,
daß ein derartiges Unternehmen zu thöricht sei, um je ernsthaft werden
zu können. Im Februar 1869 hat eine derartige Intrigue wieder in der
Luft gelegen. Wenn das auch weiter Nichts sagen will, als daß die franzö¬
sische Regierung die Kriegsmöglichkeit noch immer im Auge behält, so ist
damit doch sehr viel gesagt. Vor dem Zusammentritt des ersten deutschen
Zollparlaments wurden die Befürchtungen vor Ueberschreitung des Main für
den Hauptgrund der französischen Kriegslust und Kriegsbereitschaft ausge¬
geben; die Spanne Zeit, die seitdem verflossen, hat die süddeutsche Frage so
vollständig zu den Akten gelegt, daß von derselben bei Niemand, am wenig¬
sten bei der preußischen Regierung im Ernst die Rede ist, und daß die con-
sequente Weiterführung des 1866 begonnenen Werks eigentlich allenthalben
für einen legalen easus bölli, nicht mehr für ein Jnternum gilt, das zu kei¬
nerlei fremden Einmischungen berechtigt. Auf unsere Unkosten hat die Fri¬
volität der französischen Compensations- und Kriegsgelüste binnen Jahresfrist
so erhebliche Fortschritte gemacht, daß ein Krieg ohne Scheinveranlassung, ja
ohne Scheinvorwand bereits zu den Möglichkeiten gehört, die in Frankreich
erwogen werden, und daß die pariser Hosblätter keck von französischer Gro߬
muth reden, wenn man der belgischen Regierung die Gelrendmachung ihr zu¬
stehender Hoheitsrechte ungestraft hingehen läßt. Wenn das im Februar ge¬
schehen konnte, — was ist da nicht Alles vom April zu erwarten?
Das Hauptinteresse der letzten vier Wochen hat aber nicht diesen occi-
dentalen, sondern den orientalischen Dingen angehört. Jene zustimmende
Antwort des griechischen Cabinets zu den Conferenzvorschlägen, welche für
die ersten Februartage zugesagt war, ist in der letzten Woche endlich ein¬
getroffen, nachdem König Georgios von den interessirten Cabinetten, nament¬
lich dem russischen, wiederholt und dringend zum Gehorsam gegen die
Wünsche des europäischen Areopags eingeladen worden war. Die innere
Geschichte der griechischen Entschließungen ist noch nicht geschrieben; Alles
was wir von derselben wissen, stammt aus zweiter und dritter Hand, und die
Zeitungen sind uns zu einem großen Theil den Telegrammen, welche aus
Athen nach London, Paris und Wien gelangten, die nöthigen Commentare
schuldig geblieben. Den besten Commentar zu dieser jüngsten Phase der
orientalischen Frage liefert vielleicht des Fürsten von Montenegro Reise nach
Petersburg und Moskau, welche — wie neuerdings berichtet wird — von
den Türken mit Armirung der böhmischen Festungen beantwortet worden ist. —
Das? man trotz leerer Kassen und Vorrathskammern, trotz zuchtloser Soldaten
und ungeladener Flinten in Athen drei ganze Wochen gebraucht hat, um
sich der Nothwendigkeit zu fügen, beweist, wie groß die Aufregung am Pyräus
gewesen; auch der russischen Presse ist es sauer angekommen, ihre Rauflust
zu elfter Stunde in Friedensliebe zu verwandeln, und den Griechen noch ein¬
mal das alte Trostwort „Aufgeschoben ist nicht aufgehoben" zuzurufen. Die
Most. Zeitung mußte zu Berufungen auf Rußlands Nachgiebigkeit von
1856 und Preußens Verhalten in Olmütz die Zuflucht nehmen, um den
Glaubensgenossen auf der Balkaninsel Vernunft predigen zu können, und der
Golos klammerte sich bis zuletzt an den Strohhalm der türkisch' persischen
Differenzen, um nur nicht an die Annahme der verhaßten pariser Beschlüsse
glauben zu müssen; selbst die konservative Westj konnte von der fortgesetzten
Anwendung „westeuropäischer Palliative" kein Heil für den Osten des Welt¬
theils erwarten. Wie gründlich contrastirt diese Haltung der maßgebenden
russischen Journale zu den optimistischen Darstellungen gewisser Petersburger
Correspondenten und der Versicherung des Brüsseler Nord, daß in Rußland
„tous les KouvötöL Usus" Nichts so sehnlich wünschten, wie die friedliche
Beilegung des türkisch-griechischen Streits! Daß die gewonnenen Resultate
im besten Fall doch nur einige Monate lang vorhalten können, und daß die
Beendigung des Aufstandes auf Candia für die Ruhe auf anderen türkisch¬
griechischen Inseln schlechterdings keine Bürgschaft bietet, sagt sich freilich
alle Welt, und wenn man dennoch das Mögliche thut, um diese Gedanken
mundtodt zu machen, so geschieht das wesentlich, weil man sich die spärlichen
Augenblicke der Ruhe nicht vollends vergiften will. Die Beschaffenheit un¬
seres Welttheils und seines politischen Systems ist in dieser Beziehung der
eines gut construirten Maschinenwerks zu vergleichen, nur im umgekehrten
Sinn; wie dieses ein Reservesicherheitsventil besitzt, das zur Anwendung kommt,
wenn die gewöhnlichen Sicherheiten versagen, so haben wir an der orienta¬
lischen Frage ein Reservemittel nicht gegen, sondern für die Störung des
europäischen Friedens, das seine Dienste nicht schuldig bleibt, wenn das
Gleichgewicht im Herzen des Welt-Heils auch nur nothdürftig hergestellt ist.
— Dem neuen griechischen Cabinet wird aus der Zeit seiner bisherigen
Thätigkeit natürlich das Beste nachgesagt: es richtet seine Blicke auf die
inneren Zustände, sucht Ordnung in die Finanzen zu bringen, dem Räuber-
Wesen in Akarnanien zu steuern und wie die übrigen für neue griechische
Regierungen üblichen Ziele ehrenhafter Thätigkeit heißen, die gerade'so
lange befolgt werden, bis die Aufmerksamkeit der europäischen Diplomatie,
eingeschläfert oder anderweitig in Anspruch genommen ist. So gründlich die
Enttäuschung auch gewesen ist, welche das griechische Volk dieses Mal in
Bezug auf seine weltstürmenden Absichten durchzumachen gehabt, sie wird
schwerlich dazu ausreichen, jenes Volk auch nur für eine Weile darüber zu
belehren, daß es den elementarsten Forderungen einer civilisirten Existenz zu
genügen habe, ehe von seinem orientalischen Beruf die Rede sein kann.
Während Aller Augen auf Athen gerichtet waren, und die Diplomatie
sich ausschließlich mit den Nachrichten unterhielt, welche über die Mission
des Grafen Walewski einliefen, ist Rumänien, der bisherige Schauplatz
der Kriegsbefürchtungen des Ostens, auss Neue von leidenschaftlichen Partei¬
kämpfen zerrissen worden. Jean Bratiano, den man durch die Entlassung vom
Amt des Ministerpräsidenten ungefährlich gemacht glaubte, hat seine Herrschaft
über die moldau-wallachische Agitationspartei zu wiederholten Angriffen auf
das neue Cavinet ausgebeutet, und zunächst die Auflösung der in Bucharest
versammelten Kammern bewirkt. Daß die Einführung preußischer Exercier¬
reglements und die Reactivirung des General Macedonski bloße Vorwände
gewesen, steht außer Zweifel. Da die rumänische Armee einmal nach frem¬
dem Muster organisirt werden muß, hat der Streit darüber, ob man sich
preußischen oder französischen Vorbildern anschließen soll, ein blos technisches
Interesse, von welchem Bratiano's turbulente Freunde weit entfernt sind.
Der wahre Grund liegt in den Wünschen für Wiederaufnahme der gro߬
rumänischen Agitationspolitik, welche nicht nur des früheren Ministers Stärke
war, sondern für die der Zeitpunkt besonders geeignet erscheint, zumal seit
dem Ableben Fuad Paschas, des fähigsten und gebildetesten aller neueren
türkischen Staatsmänner. — Die Nachricht von der Auflösung der Kammer
ist von einem großen Theil der Bevölkerung, namentlich einzelnen größeren
Städte mit Befriedigung aufgenommen worden, weil die wohlhabenden und
handeltreibenden Klassen der beständigen Aufregung müde sind, welche
Bratiano und dessen „demokratischer" Anhang hervorzurufen wußten. Bei der
bescheidenen Stellung aber, welche die gebildeten und arbeitenden Schichten in
diesem Staat einnehmen, der durch verfrühte Nachahmung constitutioneller
Formen um die Fähigkeit ruhiger und vernünftiger Entwickelung gebracht
worden ist, hat diese „Befriedigung" ebensowenig Aussicht auf dauernde
Herrschaft über die Gemüther, wie das gute Verhältniß, in welches die Re¬
gierung zur Pforte getreten ist. So lange Bratiano auch nur den geringsten
Einfluß auf den Gang der Dinge in Rumänien übt, wird das Kriegsgeschrei
gegen Türken und Magyaren fort und fort alle Bemühungen zur Begründung
friedlicher und consolidirter Zustände kreuzen, höchstens darin ein Wechsel
eintreten, ob die öffentliche Meinung- vorzugsweise gegen die ersteren, oder
gegen die letzteren aufgewiegelt wird. Bratiano selbst hat in einer seinen
Wählern im Lauf dieses Winters gehaltenen Rede, die Nothwendigkeit
des Kampfs gegen die Türken und Magyaren, „diese beiden Abkömmlinge
eine und derselben barbarischen Race, welche, weil sie selbst keine Religion
hatten, hier den Deckmantel des Islam, dort den des Katholicismus zu
Hilfe nahm", als eine wesentliche Bedingung jeder nationalen rumänischen
Politik bezeichnet, und die Solidarität ihrer Interessen mit denen der „übrigen
christlichen Völker des Orients" ebenso unzweideutig hervorgehoben, wie den
Anspruch des rumänischen Staats auf Oberhoheit über die in Ungarn und
Siebenbürgen lebenden Stammesgenossen — und das mit einer brutalen
Naivetät, die für den Bildungsstandpunkt des Redners und seiner Zuhörer
höchst bezeichnend ist: „Wenn ich sehe, daß ein Rumäne bedroht wird, daß
ein Fremder kommt, ihn niederzuschlagen, brauche ich da erst eine Alliance,
ein Tractat, um mich zu seinem Schutz zu erheben?"*)
Die Pesther Staatsmänner haben die Gefahr, welche ihnen von dieser
Seite her droht, schon seit lange ins Auge gefaßt und es ist bekannt, daß
ihre Stellung zur Sache an dem Sturz des Ministeriums Bratiano bedeu¬
tenden Antheil gehabt hat, — wenn auch nur indirecten. Selbst inmitten
des wild bewegten Wahlkampfes, den die Deakpartei gegenwärtig auszufech-
ten hat, um ihre bisherige Machtstellung und mit dieser den Ausgleich von
1867 aufrecht zu erhalten, ist Graf Andrassy mit der orientalischen Frage
beschäftigt geblieben und haben die von ihm inspirirter Journale mit der
wiener Presse über das Programm gestritten, das am geeignetsten sei. dem
Panslavismus einen Damm zu ziehen. Die Ungarn haben die Stichhaltig¬
keit der alten Wiener Doctrin von der nothwendigen Erhaltung der türki¬
schen Integrität in Zweifel gezogen und die Meinung ausgesprochen, Ungarn
dürfe der verlorenen türkischen Sache nicht nur keine Opfer mehr bringen,
sondern thue am besten, sich schon gegenwärtig mit den Erben der Pforte,
und Trägern der Zukunft, den Serben, Bulgaren u. s. w., auf möglichst
guten Fuß zu setzen. Daß man in Oestreich von diesem Gesichtspunkte
für Beurtheilung der orientalischen Frage nicht viel wissen will, hat seinen
guten Grund. Im Hintergrunde des neuen Pesther Programms steht der Ge¬
danke daran, daß Ungarn sich für den nicht unmöglichen Fall eines Zusam¬
menbruchs der Habsburgischen Monarchie und Lösung der Beziehungen zu
„Cisleithanien" nach neuen Staatsgenossen umzusehen, und den Gedanken an
eine unter der Stephanskrone versammelte Donauconföderation nicht außer
Augen zu setzen habe. Auch von einem anderen als dem specifisch östreichi¬
schen Standpunkte aus betrachtet, erscheint diese Lösung wenig verlockend und
noch weniger wahrscheinlich. Daß die maygarischen Staatsmänner ihre ge¬
gründeten Zweifel daran haben, ob dem gefürchteten russischen Einfluß wirk¬
lich durch Unterstützung der türkischen Herrschaft entgegengewirkt werde, freilich
ist begreiflich — auch in Frankreich und England sind verwandte Bedenken
schon vor Jahr und Tag aufgetaucht und bald nach dem Ausbruch des Can-
diotenaufstandes (Herbst 1866) wiederholt erörtert worden; auch daß Graf
Andrassy dem Reichskanzler wiederholt und deutlich zu verstehen gegeben,
Ungarn habe kein Interesse daran, der Pforte neues Blut in die Adern zu
gießen und dadurch den Haß aller Donauslaven zu reizen, finden wir in der
Ordnung. Mehr wie fraglich ist nur, ob die Magyaren jemals daran den¬
ken können, ihre Machtsphäre über die gegenwärtigen Grenzen ihres Staats
hinaus zu erweitern und die südslavische Welt um sich zu gruppiren. Da
Rußland aufs Eifrigste darüber wacht, daß keine europäische Macht auf dem
Boden Einfluß gewinne, den es sich vorbehalten glaubt, so ist nicht abzusehen,
wie es Ungarn gelingen sollte, dieses Hinderniß zu umgehen und das Ver¬
trauen einer Völkerfamilie zu gewinnen, zu deren ältesten Traditionen der
Haß gegen die stolzen „Beherrscher" und „Zwingherrn" der slovenischen und
slovakischen :c. Brüder gehört. — Das sollte man in Ofen und Pesth noch
genauer wissen, als man es in Wien, Petersburg oder Berlin weiß. Die
Neigung zu Plänen großer auswärtiger Zukunftspolitik, welche seit den
letzten anderthalben Jahren bei den ungarischen Politikern der verschiedensten
Parteien habituell zu werden scheint (besonders üppig übrigens in der von
dem radicalen Grafen Bethlen herausgegebenen „Ungarischen Monatsschrift"
florirt) — trägt überhaupt einen ungesunden, schwindsüchtiger Charakter, und
macht dem an nüchterne Rechnung mit Realitäten gewöhnten westeuropäischen
Zuschauer den Eindruck des Kindlichen. Da werden in sechs Wochen ebensoviel
große, die Karte Europas umgestaltende Pläne ausgeheckt, wie anderswo in
einem halben Jahrhundert, und die verschiedenen Parteiorgane fechten die er¬
bittertsten Fehden darüber aus, was mit Rumänien, Galizien, Bosnien und
anderen Ländern ungarischer Seits angefangen werden soll, und das in einem
Ton, der lebhaft an die Sprache erinnert, in welcher sich weiland Sir John
Falstaff die Verfügung über die Gesetze Englands zuschrieb.
Seit den letzten Monaten und namentlich seit der Zusammentritt der
Pariser Conferenz des Grafen Beust orientalischer Politik eine veränderte
Richtung gegeben, ist man in Ungarn freilich nicht mit diesen Zukunftsträu¬
men, sondern ausschließlich mit den Wahlen beschäftigt gewesen. Das Haupt¬
interesse an dem Ausfall derselben und an dem Geschick der Deakpartei hat
übrigens nicht diese selbst, sondern das cisleithanische Cabinet und dessen Schöpfer
der Staatskanzler. Nicht nur, daß die Dauerbarkeit des im Sommer 1867
begründeten Verhältnisses eine der Bedingungen seiner Stellung und des an
diese geknüpften deutsch-östreichischen Constitutionalismus ist — die Dinge lie¬
gen so, daß das ungarische Ministerium und sein Verhältniß zur Nation
die starke Seite der staatsmännischen Stellung des Grafen Beust ist. und daß
er desselben bedarf, um sich in der deutsch-slavischen Reichshälfte zu behaupten.
All' den liberalen Gesetzen zum Trotz, die im Reichsrath discutirt und
amendirt. von dem Bürgerministerium bestätigt und" der Ausführung über¬
geben werden, will sich das rechie Vertrauen in die Dauerbarkeit des neu¬
geschaffenen Staatsgebäudes weder in, noch außer dem Hause finden.
In demselben Monat, der den neuen Pairsschub gesehen und die Annahme
der neuen Schwurgerichts- und Preßgesetze durch das östreichische Herrenhaus
erlebt hat, können die Polen es wagen, auf Grund der lemberger Landtags¬
beschlüsse vom vorigen Sommer, eingreifende Verfassungsveränderungen in
Vorschlag zu bringen, und hält die Regierung es sür gerathen mit ihnen
ebenso behutsam umzugehen, wie mit den Czechen. denen trotz aller Renitenz
und unverhohlen schlechten Gesinnung immer wieder Ausgleichsvorschläge ge¬
macht werden. Die oberen Stockwerke des staatlichen Neubaues werden un¬
aufhaltsam auseinander gethürmt, ihre innere Einrichtung ist zum Theil schon
fertig — an dem Fundament wird aber immer wieder gerüttelt und gebes¬
sert und nicht nur von den widerstrebenden Parteien, sondern von der Regie¬
rung selbst. Während die Ersteren es noch immer nicht aufgegeben haben,
den Provinziallandtagen von Galizien, Tyrol und Böhmen gewisse staatliche
Gebiete zu erobern, die nach den neuen Grundgesetzen des Reichs blos durch
die Reichsvertretung geordnet werden sollen, trägt die Letztere sich mit ein¬
greifenden Plänen für Erweiterung des Reichsrathes und Umgestaltung des
Wahlgesetzes. Bald ist davon die Rede, die Zahl der Abgeordneten im In¬
teresse rascherer Bewältigung des legislatorischen Materials zu verdoppeln,
bald will man sich mit der Erhöhung um ein Drittel begnügen; wichtiger
noch sind die Vorschläge zur Einführung directer Wahlen für die neuen,
nach Anderen sür alle Mitglieder der Reichsvertretung. Wie man diesen
neuen Schritt zur Verminderung des Einflusses und der Machtsphäre
der Provinziallandtage durchführen will, nachdem ein großer Theil
derselben sich gegen jede Erhöhung der Centralisation ausgesprochen, ist frei,,
lich nicht abzusehen — noch weniger, wie das gegenwärtige Ministerium mit
dieser Maßregel fertig werden will, so lange Graf Taase Minister-Präsident
bleibt. In Oestreich selbst scheint man eine lebhafte Empfindung davon zu
haben, daß die mangelnde Solidität des parlamentarischen Unterbaus der
Hauptgrund für die Verzagtheit und Unsicherheit der Freunde, den Trotz und
die Widerhaarigkeit der Gegner ist. Selbst die Journale, welche ihre In¬
spirationen aus dem Cabinet holen und die moralischen Hauptstützen des
gegenwärtigen Systems bilden, machen kein Geheimniß daraus, daß die
Faxade desselben sehr viel glänzender als das Fundament aussieht, und das
beständige Drängen auf Ernennung eines definitiven Nachfolgers für den
feit nunmehr sechs Monaten ausgeschiedenen Fürsten Carlos Auersperg be¬
weist, daß der Mangel einer einheitlichen und energischen Leitung des cis-
leilhanischen Cabinets hon den ergebensten Freunden desselben am lebhaftesten
empfunden wird. — Diese Unsicherheit der cisleithanischen Verfassungszustande
ist zugleich die Ursache davon, daß die Ansprüche der ungarischen Reichshälfte
fortwährend zunehmen, und daß diese sich als der stärkere und wichtigere
Theil der Monarchie fühlt, obgleich die Staatskosten ihrer Hauptschwere nach
auf den Schultern der deutschen und slavischen Steuerzahler ruhen, reichlich
ein Drittheil der ungarischen Soldaten auf Kosten der cisleithanischen Provinzen
erhalten und equipirt wird. — Die Opposition der Bischöfe hat in letzter Zeit
von ihrer früheren Schneidigkeit verloren, macht der Regierung aber immer
noch zu schaffen; der Beginn der Fastenzeit hat dem Clerus neue Gelegen¬
heit geboten, die Kanzel zur Tribüne für staatsfeindliche Agitationen zu
machen. Rom verharrt in seiner früheren unversöhnlichen Haltung und be¬
zeichnet damit die Stellung, welche es von seinen Getreuen eingenommen
wissen will.
Seit der vorläufigen Abwickelung des türkisch-griechischen Conflicts ist
in der diplomatischen Thätigkeit des rührigen Staatskanzlers eine Unter¬
brechung eingetreten, von der wol angenommen werden kann, daß sie mit
Ungarn's Verstimmung über die specifisch-östreichische Auffassung und Be¬
handlung der orientalischen Frage in gewissem Zusammenhang steht. Auch
die Gerüchts von des Fürsten Richard Metternich französisch-italienischen
Alliancebestrebungen sind rasch, wie sie gekommen, wieder gegangen. Frank¬
reich kann sich auf wejt aussehende politische und militärische Schach - und
Feldzug« nicht einlassen, bevor die Regierung nicht über den Ausfall der
nächsten Wahlen beruhigt ist. Bis jetzt hat die Leichtfertigkeit und Zerfahren¬
heit der parlamentarischen Opposition freilich das Nöthige gethan, um Herrn
Rouher die Sache leicht zu machen. Der jämmerliche Ausgang der Jnter¬
pellation wegen der Kolonien hat wieder einmal deutlich gezeigt, daß der
Mangel sittlichen Ernstes und politischer Gewissenhaftigkeit, an dem die
liberale Minorität des Lorxs löZisIatik von je gekränkt, weder durch ora-
torisches Talent, noch durch künstlich erregte Leidenschaftlichkeit ersetzt wer¬
den kann. Die empfindliche Schlappe, welche Jules Simon nach seiner Rede
über die Vorgänge auf der Insel Reunion beigebracht worden, ist der par¬
lamentarische Vorgang, unter dessen Eindruck, Publikum, Kammer und Oppo¬
sition stehen, und diese letztere hat keine Aussicht, das verloren gegangene
Terrain so bald wieder zu erobern. Der Hauptschaden besteht freilich darin,
daß einzelne oratorische Erfolge oder Mißerfolge über die Stellung und den
Einfluß der einzigen französischen Partei entscheiden, welche die Ehre in An¬
spruch nimmt, für die faulen Früchte des gegenwärtigen Systems nicht mit¬
verantwortlich zu sein. Daran aber, daß dem so ist, tragen die Oppositions¬
männer einen beträchtlichen Schuldantheil; wo es den Führern eines Volkes
hauptsächlich an Tageserfolgen und Triumphen kleinlicher Eitelkeit gelegen
ist, kann man sich nicht wundern, wenn es den Massen an Verständniß
für Aufgabe und Wesen der Volksvertretung gebricht, und wenn die Tribüne
für einen Platz angesehen wird, den geschickte Leute dazu benutzen, bei Publi¬
kum oder Regierung Carriere zu machen. — Von den noch ausstehenden
Interpellationen ist keine besonders viel versprechend, und da diese Inter¬
pellationen eigentlich die einzigen Gelegenheiten sind, bet denen die Oppo¬
sition dem Volke ihr Dasein in Erinnerung bringt, so kann leicht geschehen,
daß die Legislaturperiode, welche von den Thiers, Favre, Simon, Glaize u. s. w.
so vielversprechend eröffnet wurde, trotz der ungünstigen Wendung, welche das
Geschick des Kaisertums während derselben nahm, mit einer Baisse der Sache
der Freiheit schließt. Denn daß die von der Minorität beabsichtigte Herab¬
setzung des Präsenzstandes der Armee durchgeführt werde, wird wol von
diesen selbst nicht mehr geglaubt.,
Angesichts der Verkommenheit und Windigkeit des französischen Libera¬
lismus muß es als besonders erfreuliches Zeichen einer veränderten Stim¬
mung in Frankreich angesehen werden, daß ein nicht unbeträchtlicher
Theil der pariser Presse bei mehr wie einer Gelegenheit wirkliche Unabhängig¬
keit von den Pöbelgelüsten und Nationalalbernheiten gezeigt hat, welche von
der officiösen und seul- officiösen Journalistik absichtlich gehegt und gepflegt
werden. Schon der Ernst und die Schärfe, mit welcher der Temps und die
Debats zu Werke gingen, um über die unverantwortliche Leichtfertigkeit der
Simonschen Jnterpellation zu Gericht zu sitzen, contrastirte in wohlthuender
Weise zu den landesüblichen Rotomandaten, und mit denen sonst die
Schwächen des französischen Parlamentarismus von der Nationaleitelkeit zu¬
gedeckt zu werden pflegt. Als dann die Regierungsblätter in Veranlassung
der Bismarck'schen Reden über die Sequestrationsangelegenheit ihr urtheils-
und gedankenloses Geschrei über Rechtsbruch und Säbelherrschaft anstimmten,
war es ein verhältnißmäßig kleiner Theil der unabhängigen Presse, welcher
mitmachte; unter diesem zählte dieses Mal freilich ein Journal, das sonst
für einen Vertreter der besseren französischen Traditionen gilt, die Ksvus ach
äeux nwnäös (Vgl. ILsvuö as la yuinWMö vom 15. Febr.), das Organ
des besten und verständigsten Theils der liberalen Bourgeoisie, aber gerade
darum in Thier'schen Anschauungen über den Werth der deutschen und euro¬
päischen Mittelstaaten befangen. Mit voller Energie trat die liberale Presse
aber erst unter die Waffen, als die journalistischen Gevattern der Rouher
und Lavalette an der belgischen Eisenbahnangelegenheit zu einem Wuthschrei
gegen das kleine Königthum Veranlassung nahmen, dessen konstitutionelle
Integrität dem zweiten Kaiserthum von je ein Greuel gewesen ist, und das
nach dem neuerdings erfolgten Tode des legitimen Thronerben, Herzogs von
Brabant die ministeriellen und chrouvinistischen Compensationsgelüste beson¬
ders gereizt haben mag. Die officiöse Journalistik (Herrn v. Girardin natür¬
lich mit einbegriffen) hat bei dieser Gelegenheit ein Fiasco von unbezahl¬
barem Werth für die unabhängigen Blätter gemacht, und für längere Zeit
jener Fiction auf den Mund geschlagen, welche die Welt glauben will, die
Kriegslust der Nation werde durch die ministerielle Zeitungsschreiberei in
Schranken gehalten. Handelte es sich nicht um eine Nation, in der die Stim-
mungen so wechselnd find, wie die Moden, so ließe sich von dem jämmer¬
lichen Ausgang der gegen Belgien gerichteten Campagne für die Sache der
Regierung nicht eben günstiger Einfluß auf die nächsten Wahlen erwarten.
Neben dem Lärm über die journalistischen Streifzüge nach Deutschland
und Belgien und den Sensationsnachrichten, welche während einiger Tage
der ersten Februarwoche über den schnell gebändigten algirischen Aufstand
einliefen, ist der charakteristischste Vorgang aus der .neueren Geschichte des
kaiserlich französischen Parlamentarismus, die Jnterpellation, welche der Baron
Berolft über den Mißbrauch des Versammlungsrechts einbrachte, ziemlich
rasch vergessen worden. Nur der Minister Forcade de la Rooquette hat
für diese Denunciatian gegen ein Volksrecht, das Frankreich früher be¬
sessen als irgend ein anderer continentaler Staat, Gedächtniß bewiesen.
Nachdem diese Versammlungen durch einzelne socialistische Spektakelmacher
compromittirt worden, und Herr v. Berolft daran zu der Klage über unver¬
antwortliche Liberalität der Regierung Veranlassung genommen, hat der Mi¬
nister des Inneren seinen Präfecten und Sousprcifecten so gemessene Vorschrif¬
ten wegen Überwachung aller öffentlichen Versammlungen ertheilt, daß man
glauben sollte, Frankreich, und namentlich das Frankreich der Departements,
sei der Heerd von Verschwörungen gegen die bestehende Ordnung in ganz
Europa, nicht das Land, in welchem die Arkadier zu Volksvertretern gewählt
worden. Dieser Appell an die Furcht der besitzenden Klassen vor dem rothen
Gespenst ist entschieden verfrüht, und kann schon darum die gewünschten
Früchte nicht tragen. Die Klasse der unter der Socialistenfurcht aufgewach¬
senen Franzosen ist überhaupt in der Abnahme begriffen und hat in der
unter dem gegenwärtigen Regime großgewordenen Generation keinen Nach¬
wuchs, — ein Umstand, der sich bei den bevorstehenden Neuwahlen bereits
geltend machen wird. — Für die nächste Woche steht dem gesetzgebenden
Körper die Berathung über den Gesetzentwurf bevor, der die Budgets von
Paris und Lyon unter die Controle der Volksvertretung stellen soll. Bei¬
spiellos ist nicht nur, daß die Selbstverwaltung großer Communen auf diese
Weise auch des letzten Scheins von Unabhängigkeit beraubt wird, sondern
daß diese Maßregel den Parisern und Lyonesern angesichts der Allmacht
ihrer Präfecten als Wohlthat erscheint, und daß offen eingestanden wird, die
Glieder der pariser Municipalität seien bloße Strohmänner, welche jedem Wink
des Präfecten gehorchen müßten. Wie ein Land, in welchem das Centrali-
sations- und Bevormundungssystem derartig auf die Spitze getrieben ist, je
wieder den Weg zu staatlicher und bürgerlicher Freiheit finden soll, ist für
nichtfranzösische Köpfe ein Räthsel. Einer Nation, der Fähigkeit und Neigung
zur Haushalterschaft im Kleinen völlig abhanden gekommen sind, kann auch
durch die ausgedehntesten Verbesserungen der constitutionellen Maschine nicht
geholfen werden, und die Phrasen von der dereinstigen „Krönung des Gebäu¬
des" verlieren allen Sinn, wenn es sich um ein Haus handelt, das keine
anderen als vergitterte Fenster besitzt.
Während die Rolle, welche die spanischen Ereignisse noch vor einigen
Wochen in Paris spielte, beträchtlich genug war, um für einen de^r Gründe
zu gelten, aus denen Frankreichs auswärtige Politik an freier Action gehin¬
dert sein sollte, ist von derselben in der französischen Hauptstadt neuerdings
nicht mehr Notiz genommen worden, als an anderen Orten. Die Zeiten, in
denen der Gaulis und Herr v. Girardin die Führerschaft der öffentlichen
Meinung auf der pyrenäischen Halbinsel beanspruchten, sind rasch vorüber¬
gegangen, Spanien ist sich selbst wieder überlassen, und gerade in dem
Augenblick, wo es guten Rathes am meisten zu bedürfen scheint. Obgleich
die Monarchisten bei der Constituirung der Cortes die Oberhand behalten
haben, die Männer, welche die Revolution herbeiführten, noch an der Spitze
der freiwillig übernommenen Geschäfte stehen, nimmt die Rathlosigkeit in
demselben Maße zu, in welchem die Stunde der Entscheidung heranrückt.
Trotz der Niederlagen, welche die Republikaner in Cadix und Malaga erlit¬
ten, und trotz des allgemeinen Abscheus, den die clericale Blutthat von Bur-
gos erregt hat, werden die beiden regierungsfeindlichen Parteien mit einer
Schonung behandelt, welche Schlüsse auf das mangelnde Sicherheitsgefühl
der Regierung nähe legt, mit deren Constituirung Serrano beauftragt wor-
den ist. Da kein einziger Throncandidat vorhanden ist, der auf allgemeine
Zustimmung rechnen könnte, ist dem Ehrgeiz der Parteiführer Thür und Thor
geöffnet. Prim und Espartero werden zwar nicht mehr genannt — aber
das ist auch Alles, was sich als Resultat viermonatlicher Ueberlegung erge¬
ben hat, und die alten Candidaten Anton von Montpensier, Ferdinand und
Louis von Portugal müssen wieder herhalten, ohne daß auch nur mit Sicher¬
heit gesagt werden könnte, ob bei den beiden Letztgenannten auf Zuvor¬
kommenheit für etwaige Vota der Cortes zu rechnen ist. Die Candidatur
des Herzogs von Aosta, welche man mit Cialdini's letzter spanischer Reise in
Zusammenhang brachte, ist wiederum von der Tagesordnung verschwunden.
So rückt, was sich schon vor Beginn der spanischen Bewegung voraussagen
ließ, — der Bürgerkrieg immer näher. Auf diesen haben auch die beiden
verbannten Dynastien ihre Rechnung gesetzt. Die Verhandlungen über Aus¬
söhnung der Jsabellinos und Karlisten sind nicht zum Abschluß gekommen,
Agenten beider Bourbonenfamilien zeigen sich an der Grenze und harren des
günstigen Augenblicks zur Bewaffnung ihrer Anhänger. Jene lange Liste
dem Volk ertheilter Freiheiten, mit denen Serrano die Cortesversammlung
vom 11. Februar eröffnete, hat Nichts daran zu ändern vermocht, daß die
ländliche Bevölkerung, namentlich der entfernteren Provinzen, gerade wie
vor fünfzig und sechzig Jahren, den Bestrebungen der gebildeten Klaffen für
Herstellung eines modern-constitutionellen Staatswesens fremd gegenüber
steht, und nur zum Leben erwacht, wenn die alten Schlagworte genannt oder
Erinnerungen an die mittelalterlichen Fuentes wach gerufen werden. — Nach
den Nachrichten aus Cuba ist es dem General Dulce nicht gelungen, die
von Lerfundi begangenen Fehler gut zu machen, und außerhalb der euba-
nischen Hauptstadt festen Fuß zu fassen. Immer neue Verstärkungen werden
verlangt, obgleich die erschöpfte Staatscasse kaum im Stande gewesen ist,
die Mittel für die letzte Erpedition aufzubringen.
Fünf Tage nach Eröffnung der spanischen Cortes trat das englische Par¬
lament zusammen, um die Gladstone'sche Thronrede zu vernehmen. Erst mit
dem 1. März beginnt die Debatte, welche die Lebensfähigkeit des Programms
feststellen soll, auf welches die Glieder der neuen Regierung sich geeinigt
haben, das und die Abschaffung der irischen Staatskirche an der Stirn trägt.
Das Detail der Gladstone'sche» Vorschläge über die Verwendung des herren¬
los werdenden Guts der bischöflichen Kirche ist außerhalb des Cabinets be¬
kannt, und doch kommt auf dieses Alles an. Wie noch neuerdings durch
die Russischen Briefe bestätigt worden, ist der Gedanke an die Abschaffung
der irischen Staatskirche — den Whigs kein neuer; die Schwierigkeit aber, der
reichen Ausstattung, von welcher die zweiundzwanzig gemeindelosen Kirchen-
lürsten der grünen Insel gezehrt, eine gerechte, und zugleich der verschiedenen
Parteiinteressen und Parteiwünschen entsprechende Verwendung zu schaffen,
ist so groß, daß sie die Reformwünsche liberaler Minister immer wieder
zum Schweigen brachte. — Die ungünstige Aufnahme, welche Russell's
erwähnte Briefe gefunden haben (obgleich sie einen Theil des kirchlichen
Einkommens weltlichen Zwecken zuwenden wollen), machen höchst wahr¬
scheinlich, daß das Cabinet auf dem im vorigen Jahre von Gladstone be¬
tretenen Wege völliger Säcularisirung verharren werde. Ob ihm gelingen
wird, seine Partei auch nach Präcisirung der Andeutungen vom vorigen
Jahre zusammenzuhalten, muß sich erst zeigen. — Bright's Zugehörigkeit zu
der gegenwärtigen Regierung hat ihren Einfluß bis jetzt nur in einer, und
dazu wohlthätigen Beziehung geltendgemacht; jene Ersparnisse in der Verwal¬
tung, welche schon längst verhießen waren, und sich namentlich auf die Ent¬
lassung einer größeren Anzahl unbeschäftigter Ministerialbeamten bezogen,
sind zur Wahrheit geworden. Ebenso sind die Werfte von Devenport und
Woolwich aufgehoben worden. Von Ersparnissen in größerem Maßstabe und
in Bezug auf Armee und Flotte, wie sie sicher in den Wünschen des
alten Manchestermannes liegen, ist in der Thronrede, die sich überhaupt so kurz
als möglich gefaßt hat, nicht die Rede. Ein Passus derselben, ist vielfach
als eine Anspielung auf das Ballot (die geheime Abstimmung) aufgefaßt
worden, das nicht nur von dem Chartistenprogramm gefordert wurde, son¬
dern längst in die Doctrinen Cobden's und Bright's übergegangen ist. Nach
dem, was bis jetzt vorliegt, erscheint diese Auffassung unbegründet; weder ist
es wahrscheinlich, daß ein specifisch whigistisches Cabinet des einen radicalen
Handelsministers wegen einer Reform des Wahlrechts zustimmen werde,
welche gegen alle ihre Doctrinen verstößt, noch wird Gladstone (mag er selbst
zu der Ballotfrage stehen, wie er wolle) den Leichtsinn haben, die mühsam
wiederhergestellte Einheit seiner Partei radicaler Velleitäten wegen auf die
Probe zu stellen. Das hieße Bright's Unterstützung der gegenwärtigen Re¬
gierung um einen allzuhohen Preis bezahlen. — Noch vor dem Zusammen¬
tritt des Parlaments hat England zwei politische Männer verloren, welche
ihrer Zeit viel genannt worden sind: Ernest Ions, den uneigennützigsten
und gebildetsten der Chartistenführer und William Ewart, der sich durch
Milderung der harten altenglischen Strafgesetze und Förderung des volks-
wirthschaftlichen Fortschritts schon vor Jahrzehnten reiche Verdienste er¬
worben hatte.
Von all den seit dem Beginn des neuen Jahres zusammengetretenen
Parlamenten hat keines auf eine so fleißige gesetzgeberische Arbeit zurückzusehen
als das preußische. Während aus Würtemberg nach Beschluß der Adreß-
debatte kaum eine einzige Nachricht über wichtige Landtagsarbeiten nach
Norden gedrungen ist, das Münchener Abgeordnetenhaus erst seit Ablehnung
des Antrags auf Einführung des allgemeinen und directen Stimmrechts und
seit dem Beginn der Schulgesetzverhandlungen in weiteren Kreisen Interesse
erregt hat, ist keine Februarwoche vergangen, die nicht mehrere wichtige Be¬
schlüsse der Versammlung am Döhnhofsplatz zu registriren gehabt hätte.
Kurz vor Beschluß des vorigen Monats wurde dem Abgeordnetenhause die
wichtige, langerwartete Vorlage wegen Sequestration der Güter der Depossidirten
übergeben. Das Geschick dieser Vorlage war entschieden, noch bevor das erste
Wort über dieselbe gesprochen worden; die bloße Erinnerung an die Behandlung,
welche das Abfindungsgesetz im Februar vorigen Jahres fand, genügte zu
der Ueberzeugung, daß die Volksvertretung keinen Anstand nehmen werde,
den Intriguanten von Hitzing und Prag die Mittel zur Fortführung ihrer
agitatorischen Thätigkeit zu entziehen. Fraglich konnte höchstens sein, ob
und in wieweit die Wünsche der Linken für Verwandlung des Sequesters in
eine förmliche Confiscation zur Geltung kommen würden. Was die
Herren von Windthorst-Meppen und von Malinkrodt zu Gunsten König
Georgs und des hessischen Kurfürsten war wenig geeignet, das öffentliche
Interesse für diese im Voraus abgethane Angelegenheit zu beleben. Ihre
Wichtigkeit gewann die Sache erst durch die Erörterungen, welche Graf
Bismarck an dieselbe knüpfte, um alle Zweifel darüber auszuschließen, daß
die preußische Regierung zu dem äußersten Mittel erst gegriffen habe, nach¬
dem alle übrigen den Dienst versagt. Der Macht seiner Gründe konnte selbst
das Herrenhaus nicht widerstehen, so schwer es demselben auch ankam, seine
Sympathien für die Sache zu verleugnen, welche der konservativen Partei
noch vor wenigen Jahren mit ihrer eigenen identisch war. Besonderes Ge-
' wicht ist auf das Versprechen des Ministers zu legen, daß die Renten der
den Exfürsten von Hessen und Hannover bewilligten Millionen weder auf¬
gespart, noch bloß zur Ueberwachung derselben verwendet werden, sondern
den Provinzen zu Gut kommen sollten, welche lange genug unter der Eng¬
herzigkeit und dem Egoismus der kleinstaatlichen Souveräne gelitten. Auf
diese Weise ist das Interesse der neubegründeten Ordnung mit dem jener Land¬
schaften verknüpft worden, welche ihr bisher widerstrebt hatten, und wenig¬
stens zum Theil, den Umtrieben der Expossedirten entgegen gekommen waren.
Wenn die Regierung sich auf ihren Vortheil versteht, so wird sie die Be¬
fürchtungen vor maßloser Verstärkung der geheimen Fonds Lügen zu strafen,
und den Provinzen Hessen und Hannover möglichst große Beträge aus den
sequestrirten Capitalien zuzuwenden wissen.
Unter den übrigen zu Gesetzen erhobenen Vorlagen ist die neue schleswig¬
holsteinische Städteordnung die wichtigste, vielleicht auch die interessanteste.
Bei ihrer Behandlung trat auss neue jener Gegensatz zwischen alt- und neu¬
preußischen Anschauungen hervor, auf dessen Wichtigkeit und weitgehende
Bedeutung wir im vorigen Jahre bei Gelegenheit des hannöve^schen Provin-
zialfonds, in diesem Jahr in Sachen der Selbstverwaltung für dieselbe Provinz
hinzuweisen Veranlassung hatten. Bald den Doctrinen des liberalen Partei-
catechismus zu liebe, bald im Sinne möglichster Annäherung an die alt-
Preußischen Muster, wurden Veränderungen und Verbesserungen eines Gesetzes
in Vorschlag gebracht, mit welchem sich die Vertreter der betreffenden Pro¬
vinzen im voraus einverstanden erklärt hatten. Es handelte sich wieder darum,
die feine Grenzlinie ausfindig zu machen, welche die Bestrebungen des Particu-
larismus von den berechtigten Wünschen nach eigenthümlicher Lebensgestaltung
scheidet. Wir sehen es als ein günstiges Omen für künftige Organisations¬
arbeiten von größerer Tragweite an. daß die Schleswig-Holsteiner Recht be¬
halten haben, und daß die Majorität es auch dieses Mal über sich gewon¬
nen hat, ihre Wünsche sür möglichste Uniformität hinter die auf praktische
Erfahrungen begründeten Sonderbedürfnisse der Provinzen, um welche es
sich handelte, zurücktreten zu lassen. Je größer der Spielraum ist, der den
Provinzialeigenthümlichkeiten der neuerworbenen Länder auf ungefährlichen
Lebensgebieten offen gelassen wird, desto leichter wird die große Arbeit, welche
Preußen in Deutschland noch zu thun hat, desto hinfälliger werden die Be¬
fürchtungen und Warnungen des Particularismus vor Erstickung alles indi¬
viduellen Lebens in der preußischen Staatsschablone.
Von den übrigen Verhandlungsgegenständen des preußischen Abgeord¬
netenhauses hat keiner so lebhaftes und allgemeines Interesse erweckt, wie der
Streit um die Schulgeldfrage. Der Minister von Muster scheint die Er¬
fahrungen, welcher im December vorigen Jahres bei der Debatte über den
Etat seines Ministeriums gemacht, völlig in den Wind geschlagen zu habe«'
es wäre ihm sonst schwerlich in den Sinn gekommen, seine Vorschläge
für Organisation des Schulwesens mit dem Antrage auf Abschaffung von
§. 112 der Verfassung einzuleiten und seine bezüglichen Wünsche mit der
Berufung auf die Rathschläge des Herrenhauses zu motiviren. Der Umstand,
daß die verfassungsmäßige Abschaffung des Schulgeldes nur in einem kleinen
Theil der preußischen Monarchie zur Wahrheit geworden ist, und daß die
Regierung bisher nie dazu gedrängt worden war, den entgegengesetzten status
Mo aufzuheben, sprach so deutlich gegen das ministerielle Verlangen, daß
Herr von Muster von dem größten Theil der Männer, welche noch im De¬
cember vorigen Jahres zu ihm gestanden, verlassen wurde, und selbst die un¬
bedingten unter seinen Anhängern einen nur mäßigen Eifer für die Sache
zeigten, zu deren Vertheidigung sie aufgerufen waren. Die Versammlung
stand beim Schluß der zweitägigen Discussion so vollständig unter dem Ein¬
druck, den die Reden Waldeck's, Laster's und vor Allem Wehrenpfennig's
gemacht hatten, daß selbst eifrige Katholiken, wie der Domherr Kürzer auf
Seiten der Majorität standen, die eine wahrhaft imposante Stärke entwickelte.
Damit war zugleich das Geschick der übrigen Vorlagen des Cultusministers
entschieden.
Wir müssen uns versagen auf all' die einzelnen Vorlagen näher einzu¬
gehen, welche während der letzten Wochen zur Discussion kamen; selbst die
Volkslehrer sind dieses Mal nicht leer ausgegangen. Von den noch aus¬
stehenden Beschlüssen wird — da die Gesetze über eine neue Kreis- und Ge¬
meindeorganisation in dieser Session nicht vor das Plenum kommen, die
Entscheidung über das finanzielle Abkommen mit der Stadt Frankfurt das
allgemeinste Interesse haben. Noch sind die Verhandlungen zwischen der
Commune und dem Staat nicht geschlossen; obgleich sich die Aussichten auf,
eine Verständigung in den letzten Tagen gebessert haben, fahren die antina¬
tionalen Parteien des Südens mit unermüdlichem Eifer fort, die Vertretung
der weiland freien Reichsstadt zu möglichster Widerhaarigkeit zu reizen. Die
Gelegenheit, wieder einmal über „militärische" Regelung einer Rechtsfrage
klagen und den Weheruf erheben zu können: in Preußen gehe Gewalt noch
immer vor Recht — sie ist zu verlockend, um unbenutzt zu bleiben. Man
will Frankfurt noch einmal bewegen, unter Verleugnung derjenigen seiner
Interessen, welche es wirklich zur Geltung bringen kann, für das Interesse
seiner falschen Freunde ins Feuer zu gehen. Die dreijährigen Erfahrungen, welche
man am Main mit der berliner Regierung gemacht hat, werden, wie zu hoffen
steht, nicht ganz verloren sein, und die Frankfurter vor dem Loose bewahren,
einer Sache zu dienen, die niemals die ihrige gewesen ist, und in deren Dienst
sie immer verloren, niemals gewonnen haben.
Mit dem Beginn des neuen Monats soll die Thätigkeit des preußischen
Landtages eine Unterbrechung erfahren; der Bundesrath ist bereits versam¬
melt, um die Vorlagen für den Reichstag zu prüfen und ihre fernere geschäft¬
liche Behandlung vorzubereiten, — von wichtigen Landtagsgegenständen
wird neben der Dotationsangelegenheit wol nur noch das vielbesprochene
neue Hypothekengesetz zur Verhandlung und Annahme kommen. — Ob¬
gleich das Herrenhaus sein traditionelles Geschick für Hemmung und Beein¬
trächtigung der vorschreitendem Gesetzgebungsarbeit auch Heuer bewährt hat,
kann die preußische Volksvertretung dieses Mal auf eine ersprießlichere,
reichere und dankbarere Thätigkeit zurücksehen, als seit vielen Jahren. Frei¬
lich ist von den großen organischen Gesetzen, nach denen das Land schon
lange verlangt, noch keines zur Verhandlung, geschweige denn zu vollständi¬
ger Regelung gekommen. Immerhin erscheint es als Gewinn, daß wenig¬
stens auf dem Gebiet der Rechtspflege den Bedürfnissen der Zeit Rechnung
getragen und einer Anzahl vielbeklagter Hemmungen des socialen und Ver¬
kehrslebens ein Ende gemacht worden ist.
Während man in und außerhalb Oestreichs die Größe und den Werth
der Kloster- und Kirchengüter vielfach überschätzt (wir glauben durch den
Aufsatz über die Klostergüter in Ur. 6 der Grenzboten Einiges zur Auf¬
klärung über diesen Punkt beigetragen zu haben), wird der Werth der
Staatsgüter Oestreichs vielfach unterschätzt. Auch herrscht über das
Wesen derselben in weiteren Kreisen nicht überall die wünschenswerthe Klar¬
heit. Zunächst wird nämlich sehr oft nicht beachtet, daß unter dem Aus¬
drucke: Staatsgüter, die ein Areal von 24 Quadratmeilen umfassenden Sa¬
linenforste von Goisern und Ebensee in Oberöstreich. Hallein in Salzburg
und Außee in Steiermark nicht subsummirt sind. Sie liefern Nutz- und
Brennholz für die dort befindlichen Salzberg- und Siedwerke. Auch die
123 Quadratmeilen großen Montanforste, welche über sämmtliche Kron¬
länder vertheilt liegen, werden gewöhnlich unter den Begriff der Staats¬
güter (Staatsforsten, Staatsdomänen) nicht subsummirt, sondern als Mon¬
tanforste besonders aufgeführt; auch diese Güter liefern Brennholz und
Holzkohle (durchschnittlich jährlich gegen 600,000 Klaftern Holz, und gegen
250.000 Maß Holzkohle) für die Werke. Die dazu gehörigen Domänen mit
einem Areale von 3 Quadratmeilen sind um 11,178 Gulden verpachtet.
Endlich sind von den Staatsgütern noch die sogenannten Fondsgüter
zu scheiden, welche mit einem Areale von 66 Quadratmeilen Wald und 24
Quadratmeilen Domänen, Erträgnisse liefern, welche zur Bestreitung von
Cultus- und Unterrichtsangelegenheiten (Religions-, Studienfond),
und für Stiftungen (Stiftungsfond) verwendet werden.
Von den eigentlichen Staatsgütern wurden schon am 18. Oct. 185S,
in Folge eines vom Kaiser sanctionirten Uebereinkommens, der privilegirten
Nationalbank behufs Deckung einer Schuld von 15S.000.000 Gulden Güter
mit einem Areale von 115 Quadratmeilen im Gesammtwerthe von 156,485,000
Gulden überantwortet; diese bilden eine wahre nach privatrechtlichen Normen
bestellte Hypothek. Der Nationalbank wurde nicht nur die Ermächtigung
gegeben, zur formellen Erwerbung des Hypothekarrechts das Ueberein¬
kommen in die öffentlichen Bücher eintragen zu lassen, sondern auch zugleich
das Recht ertheilt, diese Güter selbst zu verwalten, und die Erträge der¬
selben in ihre Kassen fließen zu lassen, ohne daß der Staat bis zur voll¬
ständigen Befriedigung der Bank irgend welche Ansprüche auf dieselben habe.
Die Nationalbank hatte ferner die Verwaltung so bald als möglich zu über¬
nehmen, bis dahin aber wurde die Verwaltung durch landesfürstliche Beamte
besorgt, und von diesen das Erträgniß an die Bank abgeführt. Auch wurde
die Bank nicht blos berechtigt, sondern auch verpflichtet, die Veräußerung der
Güter sobald als möglich zu beginnen, und den Erlös von der Schuld ab¬
zuschreiben.
Diese Veräußerung war auch sofort in Angriff genommen worden, und
nach dem Bankausweis vom 30. April 1861 hatten die Güter noch für eine
Capitalsumme von 92,061,212 Gulden zu haften.
Alle diese der Bank überantworteten Güter theilten sich noch 1862 in
3 Klassen; die erste begriff jene Güter in sich, die noch in Verwaltung des
Staates standen, deren Erträge aber an die Bank geliefert werden mußten.
Hierher gehörten S Objecte in Ungarn und Siebenbürgen mit einem Ge-
sammtüberschuß von 149,419 Gulden. — Die zweite Klasse umfaßte in
demselben Jahre jene Güter, welche zur Uebergabe bestimmt, aber noch nicht
übergeben waren. Zu ihnen gehören die Montanwerke in Böhmen mit
einem Gesammtüberschuß von 268,630 Gulden; die dritte Klasse endlich be¬
griff jene Güter, welche schon 1862 an die Bank übergeben worden waren.
Sie ergaben 1862 einen Ueberschuß von 2,187,780 Gulden.
Ein Jahr nach dem Vertrage, der mit dem 1. Nov. ins Leben trat, be¬
zifferten sich die Ueberschüsse aus den der Bank verpfändeten Gütern auf
2.371.345 Gulden, und zwar flössen 1,661,525 Gulden aus den Domänen.
710,017 Gulden aus den Forsten, während die im Besitze des Staates ge¬
bliebenen Güter einen Ueberschuß von 540,704 Gulden aus den Domänen,
und 791,617 Gulden aus den Forsten lieferten. Die Nationalbank hatte
also weitaus die werthvollsten Güter erhalten, deren Ertrag sich gleich dem
der im Besitze des Staates gebliebenen Objecte auch später ebenso steigerte,
wie er bis dahin gestiegen war. Noch 1850 hatten die Ueberschüsse aus
sämmtlichen Staatsgütern nur 2,300,076 Gulden (1.352,582 aus den
deutsch-slavischen Ländern; 851.901 Gulden aus den Ländern der ungarischen
Krone) betragen. Im Jahre 1856 waren sie bereits auf 3,703.866 Gulden
gestiegen, im Jahre 1858 betrugen sie 4,015,848 Gulden (1,358,616 bei den
Cameraldomänen und Forsten; 2,343,288 bei den im Besitze der Bank be¬
findlichen Gütern), und im Jahre 1862 hatten die Ueberschüsse die Höhe
von 4,448.414 Gulden erreicht. — 2.605,829 Gulden kamen davon an die Bank,
1.842,725 flössen in die Staatskassen, — 2,956,379 fielen davon auf die Länder
der ungarischen Krone, 1.492,175 auf die deutsch-slavischen Besitzungen.
Den größten Beitrag zu diesen Ueberschüssen lieferte von den deutsch¬
slavischen Ländern Böhmen, nämlich: 470,800 Gulden. Daran reihen sich
Oestreich unter der Enns mit 321,800 Gulden, und Galizien mit
207.200 Gulden. Dann folgen Tirol mit 136.000 Gulden, Oestreich ob
der Enns mit 131.500 Gulden, die Bukowina mit 47,500 Gulden, Dal-
matien mit 33,000 Gulden, Küstenland mit 23,600 Gulden, Salzburg
mit 11.800 Gulden. Krain mit 3,800 Gulden. Se eiermark mit 400 Gul¬
den. Die Güter Sachsenburg und Straßfried in Kärnthen deckten ihre Aus¬
gaben nicht. In Mähren und Schlesien sind keine Staatsgüter belegen.
Der Staat erhielt von den vorstehenden Beträgen aus Böhmen,
Oestreich ob der Enns und Krain Nichts, denn die sämmtlichen Staats¬
güter befanden sich im Besitze der Bank. Ausschließlich in die Staatskassen
flössen dagegen die oben verzeichneten Summen aus: Tirol, Salzburg,
Steiermark, Dalmatien, Bukowina und dem Küstenlande, denn
es befanden sich in diesen Ländern keine Staatsgüter, welche in den Besitz
der Bank übergegangen waren. — In Oestreich unter der Enns dagegen,
sowie in Galizien, flössen die Ueberschüsse theils in die Staatskassen, theils
in jene der Bank. Und zwar erhielt die Staatskasse aus Oestreich unter
der Enns 296.400 Gulden, aus Galizien 207.200 Gulden, die Bankcasse
dagegen aus Oestreich unter der Enns 23.400 Gulden, aus Galizien
105.500 Gulden. Im Ganzen also erhielten 1862 aus den Ueberschüssen in
den deutsch-slavischen Ländern der Staat 753.100. die Bank 737,000 Gulden.
Am besten rentirten sich die Forste, welche 1862 bei einer Gesammt-
einnahme von 2,424.396 Gulden einen Ueberschuß von 1.049,164 Gulden
ergaben, während die Domänen bei einer Gesammteinnahme von 2,168,153
Gulden nur 442,411 Gulden einbrachten. Auch zeigt sich, daß die Güter,
welche die Bank besitzt, mehr abwarfen, als jene, welche im Besitze des
Staates geblieben waren. Dle Bank erzielte bei einer Gesammteinnahme
von 4.886,840 Gulden einen Ueberschuß von 2,605,629 Gulden, der Staat
bei einer Einnahme von 6.514,439, bloße 1,842,724 Gulden.
Ferner ist zu beachten, daß diese Einnahmen der Bank aus einem Areale
von 115 Quadratmeilen resultirten. während die Ueberschüsse, die in Staats¬
kassen flössen, aus einem Areale von 455 Quadratmeilen stammen. Nach
Gruppen sind diese 455 Quadratmeilen eigentlicher Staatsgüter, und 123
Quadratmeilen dem Staate gehöriger Montangüter folgendermaßen vertheilt.
Von dieser Gesammtsumme von 8,786,270 Joch, welche (1 Joch
1600 Quadratklafter; 10,000 Joch — 1 Quadratmeile) gleich sind 578 Quad-
ratmeilen (davon 32 Quadratmeilen Domänen; 646 Quadratmeilen Forste),
liegen 227 Quadratmeilen in den ungarischen Ländern, 152 in der arvali-
schen Militärgrenze, 199 in den deutsch.slavischen Ländern, wovon 192 Quad.
ratmeilen Waldungen, 7 Quadratmeilen Domänen.
Der Umfang und der Ertrag der im Besitze des Staates gebliebenen
Staatsgüter ist aber seit dem Jahre 1862 dadurch bedeutend geschmälert
worden, daß der Staat zur Veräußerung seine Zuflucht nahm. Aller¬
dings hatten auch schon früher Verkäufe von Staatsgütern stattgefunden:
in den Jahren 1818 bis 1831 waren nach und nach in den deutsch-slavischen
Ländern Staatsgüter um den Kaufschilling von 14,189,296 Gulden ver-
äußert worden. In Ungarn wurden in demselben Zeitraum Veräußerungen
im Betrage von 11,937.780 Gulden vorgenommen. Aber die Summen
waren im Einzelnen gering, und nach 1851 trat ein dauernder Stillstand
im Verkaufe ein: 1852—1856 wurde in Ungarn nichts verkauft, in den
deutsch-slavischen Ländern aber nur im Betrage von 5712 Gulden. Nämlich:
1852 um: 1311 Gulden; — 1853 um: 1712 Gulden; — 1854 um: 1782
Gulden; — 1855 um: 468; — 1856 um: 439 Gulden. Größere Objecte
wurden wieder 1857 veräußert, und dadurch in den deutsch-slavischen Ländern
24.379 Gulden, in Ungarn aber 31,363 Gulden erzielt. Erst im I. 1862
nahmen die Veräußeruugen größere Dimensionen an, und es wurde, um nur
des letzten Verkaufes zu gedenken, der Finanzminister durch Gesetz vom 20.
Juni 1868 ermächtigt, außer Montangütern in Böhmen, und Montan¬
werken in Oestreich unter der Enns, in Salzburg, Kärnthen, Böhmen,
Galizien, außer Dicasterialgebäuden und Jndusterieunternehmungen auch
Krondomänen und Forste, zusammen im Umfang von ungefähr 135 Quad¬
ratmeilen zu veräußern. Das Areal, das zu den Montanwerken und Di¬
casterialgebäuden gehört, ist in diese Summe ebensowenig inbegriffen, als
wir bei den obigen Ansätzen über den Verkauf der Staatsgüter diese Posten
in Anschlag gebracht haben. Auch sind selbstverständlich die Summen nicht
berücksichtigt, welche aus dem im Verkaufe der Besitze der Bank befindlichen
Güter erzielt wurden. Dieser Erlös wurde, wie oben bemerkt, von der
Schuld abgeschrieben. Noch weniger durften natürlich jene ganz selbständigen
Summen eingerechnet werden, welche aus den von den Staatsgütern ganz
verschiedenen Fondsgütern erzielt wurden, von denen gleichfalls einige ver¬
kauft wurden. Der Erlös hieraus betrug in den Jahren 1816—1854 nicht
weniger als 18,530,290 Gulden.
Daß durch die letzten, so bedeutenden Veräußerungen die Summe der
Ueberschüsse, welche aus den Staatsgütern flössen, bedeutend verringert wurde.
versteht sich von selbst. Und darin liegt das Nachtheilige eines solchen Verkaufs-
systems überhaupt. Es bedingt einen Ausfall der regelmäßigen Staatsein¬
nahmen, der anderweitig gedeckt werden muß; der Verkauf hilft momentan,
schadet aber für die Zukunft selbst dann, wenn der Erlös nicht für laufende
Bedürfnisse, sondern zur Zahlung von Schulden verwendet wird. Denn die
Schulden und die Höhe ihrer Zinsen bleiben constant, der Werth der Güter
aber und ihre Erträge steigen. Eher ließe sich der Verkauf von Industrie-
Unternehmungen rechtfertigen, da abgesehen von Anderem, der Gewinn hier kein
sicherer ist. Aber lassen wir diese Fragen bei Seite und fragen wir nur, was hat
der Verkauf genützt? Hat er den Volkswohlstand gehoben, die Stadtschulden
vermindert? Keines von beiden, es war ein zu verschiedenen Zeiten angewen¬
detes Palliativ, weil man momentan nichts besseres wußte. Wenn man
auch sofort den letzten Rest der Staatsgüter verkaufen wollte, es würde
nichts nützen, wenn man nicht gleichzeitig bedacht wäre, da Ersparungen
eintreten zu lassen, wo sie möglich und angebracht sind, um die Productions-
kraft. oder wie man hier gewöhnlich sagt, die Steuerkraft zu heben. Seit
1811 haben die sämmtlichen directen Jahressteuern nur fünf Mal hinge¬
reicht, um das Militärbudget zu decken, nämlich 1819. 182S. 1826. 1827.
1830. Sonst mußte also stets zu den indirecten Steuern gegriffen
werden, wodurch trotz aller mitunter selbst die Sache schädigenden Be¬
schränkungen die Gesa mentem nahmen des Staates in diesem Jahr¬
hundert nur ein Mal (1817) hinreichten, um die Gesammtauslagen zu
decken. Sonst schloß man stets mit einem Deficit. Und mit welchem? 1809
^ 167 Millionen (ich führe nur die Millionen an); 1810 — 215 Millionen;
1849 - 153 Millionen; 1855 — 158 Millionen. Darauf die argen Jahre
mit den Rüstungskosten des orientalischen, italienischen, schleswigschen, end¬
lich des deutschen Krieges. Wenn trotzdem das Deficit jetzt unter 100 Mil¬
lionen gesunken ist, und in diesem Jahr 60 Millionen nicht erreichen soll,
so haben wir alle Ursache uns über die natürlichen Hilfsquellen des Staates
und die enorme Steigerung der Production zu freuen. Darin aber liegt auch eine
Mahnung für die Steigerung, den Schatz ihrer Domänen sorglich zu conserviren.
In den ersten Januartagen besuchten wir auf die Einladung des Grasen
Monte Se. Angelo seine über der Stadt gelegene Villa Floridiana. Wir
nahmen unseren Weg über den neu angelegten Corso Vittorio Emanuele, der
sich im Bogen an der mittleren Höhe der alten Lava hinzieht, welche Neapel
auf der Landseite einschließt. Er führt von Piedigrotta (vor der Grotte
des Postlipo, welche jene Lava durchschneidet) bis unter die Mauern von
Se. Elmo und wird nach und nach auf beiden Seiten mit neuen Palazzi's
besetzt. Die Regierung hat ihn angelegt, um für die unglücklich eingeengte
Stadt eine neue Terrasse und damit dem armen Volke mehr Raum zu ge¬
winnen. Er ist landschaftlich ungemein anziehend; von links ragt der mit
Cactus und Aloe bestandene Fels noch überall zwischen die Neubauten herein,
nach rechts übersieht man die Stadt und den Golf. Was ist das nun für
ein völlig anderer Anblick, als ihn eine nordische Stadt gewährt! Wenn bei
uns zwischen der Masse hochg'iMiger Häuser einmal ein einzelnes steht, das
im südlichen Stile gebaut ist, so kann das nicht deutlich und nicht voll¬
vollständig wirken; aber hier, wo eine ganz anders geartete Stadt innerhalb
einer fremden Landschaft vor uns liegt, wird man schnell gewahr, was es
mit dem Charakter der beiden Architeeturstile auf sich hat, und wie deut¬
lich auch die Baukunst zu reden vermag. Sucht man nach den Elementen,
welche dieselbe hier zur Anwendung bringt, so entdeckt man deren im Grunde
nur zwei, den rechten Winkel und den Bogen, diesen freilich häufig auch
schräg gedrückt, z. B. wenn er zum Unterbau von Treppen dient. Bei uns
kommt im Dache und in starken Ausladungen der schiefe Winkel in allen
Graden und der Spitzbogen, auch sonst mannigfache Schweifung vor. Beide
Stile sind in ihren wesentlichsten Stücken im Grunde durch das Klima und
den Charakter des zur Verfügung stehenden Materials bedingt: wir brauchen
des Schneefalls wegen hohe Dächer und können und müssen vielfach das
Holz zur Anwendung bringen, hier kann man der Dächer entbehren und ist,
was das Material betrifft, ausschließlich auf den Stein angewiesen. Aber
die hiesige Bauart hat sich durchaus näher an das Bedürfniß gehalten, das
sie befriedigen soll; die deutsche hat. weit darüber hinausgehend, zugleich ein
Inneres, eine geistige Stimmung auszudrücken sich bemüht. Das neapoli¬
tanische Haus, einzeln betrachtet, ist ein sehr einfacher und eigentlich recht
kahler Bau ohne Profilirung und ohne Schmuck; es ist ein Werk der Noth¬
wendigkeit und an sich nicht schön. Es ist ein Unterkommen für den Men¬
schen, nichts mehr; seine Linien halten sich dem Boden parallel, an dem der
Bewohner mit allen seinen Sinnen, mit seiner ganzen Existenz gefesselt ist.
Der deutsche Bau drückt Erhebung über den Boden aus, eine mystische Un¬
bestimmtheit, ein phantastisches Sehnen, eine gemüthliche und etwas schwer¬
fällige Ernsthaftigkeit. Indem er so aus dem Reiche der Nothwendigkeit in
das der Freiheit gelangte, war er viel eher, als der hiesige Naturbau, den
Veränderungen des individuellen Geschmacks und der Willkür, und nicht
weniger den Einwirkungen einer ganzen Zeitrichtung preisgegeben, sodaß wir
schließlich zu der größsten Mannigfaltigkeit von Stilarten gelangt sind.
Die hiesige Bauart ist dagegen viel constanter, und man würde heut¬
zutage wahrscheinlich gar nicht von der pompejanischen Art und Weise ab¬
gewichen sein, die man ja in allem Wesentlichen beibehalten hat, wenn nicht
die Uebervölkerung der Küsten durchaus in die Höhe zu gehen gedrängt
hätte. Auch läßt sich ein anderer wichtiger Unterschied zwischen damals und
jetzt nicht verkennen, aber er liegt nicht in den architektonischen Elementen.
Der Pompejaner schmückte seine Höfe, wie er konnte, aufs zierlichste mit Wand¬
gemälden und Statuen aus; heute läßt man die offenen Räume ungeschmückt,
und in den unbehaglichen Zimmern zeigt man mehr den Reichthum, als den
Geschmack, in vergoldeten Möbeln. Dieser Unterschied bezeichnet aber keine
neue geistige Richtung, sondern nur ein Sinken der Production innerhalb
der alten. Auch ehedem überließ man sich derselben ^unbefangenen Lust am
Leben, mit derselben Naivetät und ohne sich Mi Gedanken zu machen; aber
man wußte die freudige Auffassung des Daseins zugleich künstlerisch aus¬
zudrücken, man verstand den Genuß zu veredeln. Jetzt hat die Production
aufgehört und nur die Sorglosigkeit ist geblieben, das Leben in den Tag
hinein.
Nun gewährt Neapel aber doch ein unvergleichlich schönes Bild. Dies
liegt an verschiedenen anderen begleitenden Umständen. Zunächst sind die
Häuser im Grundriß immerhin noch mannigfaltiger als im Aufriß, sodaß die
Monotonie doch durch mancherlei Uebereckstellungen unterbrochen wird. Dann
die landschaftlichen Linien, welchen die Stadt, den Berg hinausgelehnt folgen
muß. und die sie mit ihren stachen Dächern so kräftig wiedergibt! Und
je höher sie hinaufsteigt, desto breiter und malerischer tritt der grau schim¬
mernde, phantastisch zerklüftete Boden mit seinen Agaven Aderer baumhoher
Blüthenstengel wie ein vielarmiger Kandelaber geformt ist), seinen Hangen¬
den Ranken, seinen Pinien zwischen die Gebäude hinein; und je steiler der
Fels wird, desto wuchtiger werden die durch hohe Bogen gestützten Futter¬
mauern, welche den schmalen Grund, auf dem die Villen hinausgebaut sind,
festzuhalten haben. Darüber der herrliche tiefblaue Himmel, von dem sich
jeder Gegenstand so deutlich abhebt, und gar Abends, wenn die Sonne hinter
dem Posilipo verschwindet, ein unbeschreiblicher golden violetter Ton über
dem ganzen Bilde, und alle Fenster wie in einer plötzlichen Illumination
einige Augenblicke erglänzend; davor das Meer, dessen durchsichtiges Grün
von den mannigfachsten Reflexen überschimmert ist — das ist freilich von dem
Schönsten, was die Erde unseren Augen bietet. Endlich muß auch der Zu¬
stand der Vernachlässigung und des permanenten Verfalles, in welchem sich
die meisten Gebäude befinden, indirect die Wirkung des Ganzen verstärken;
er fügt dem malerischen einen poetischen Reiz hinzu. Denn wenn schon die
Bedürfnißlosigkeit und Natürlichkeit, welche sich in der Architektur ausspricht,
an sich von poetischem Zauber ist und uns unwillkürlich an einfache para¬
diesische Zustände gemahnt, so kann uns die Harmlosigkeit, mit der man hier
sich und sein Haus den befreundeten Elementen überläßt, vollends um alle
schweren Gedanken bringen. Hier schließt das Leben jeden Abend und fängt
jeden Morgen neu an. Mag die kommende Generation sich Häuser bauen,
wie sie will und kann; Gott weiß, wer diejenigen gebaut hat, in denen wir
Glücklichen jetzt wohnen! Das fühlt sich wie ein Stück lebendiger Poesie; —
wenigstens bei Sonnenschein; bei grauem Himmel gibt es Leute, die sich
darüber ärgern wollen, weil sie unvorsichtiger Weise zu denken anfangen
und dabei auf manche Eigenthümlichkeit des neapolitanischen Lebens gerathen,
die zwar auch die liebe Natur zur Mutter hat, aber doch nicht schön ist.
Wir waren vom» Vittorio Emanuele über ein hohes Gradito zum
Vomero hinaufgestiegen, dem obersten Rande von Neapel. Hier liegt die
Villa Floridiana, mit einer Aussicht, wie wir sie ähnlich von San Martino
aus gehabt haben. Sie ist von einem der schönsten und bestgehaltenen Parks
umgeben. Nur dem Rasen fehlte das saftige Grün, sonst hatte man ein
sommerliches Bild vor sich, da eine große Zahl von Blumen noch blühte
und der Garten nur immergrüne Bäume enthält. Einen gewissen Ruf hat
er durch seinen Reichthum an hohen Camelienstämmen erlangt; dieser im
schönsten Weiß und in allen Schätzungen von Roth blühende Hain mit
seinen dunkelglänzenden Blättern gewährte denn auch einen überaus freund¬
lichen Anblick. —
Von der parthenopeischen Universität läßt sich nicht viel rühmen. Das
Gebäude, wenn auch von engen Gassen eingeschlossen, ist groß und stattlich, die
Sammlungen haben Raum und Licht, die Bibliothek ist für die augenblick¬
liche Benutzung gut eingerichtet; — aber in der Hauptsache fehlt es bedenk¬
lich. Der Lectionsplan ist sehr spärlich bedacht; namentlich fehlen die Spe¬
cialitäten, die wir am schwarzen Brette angekündigt zu sehen gewohnt sind.
Seminarien und freie Societäten — jene vortrefflichen Anstalten, die bei
uns dazu bestimmt sind, in das Innere der Wissenschaft einzuführen, —
scheinen hier nicht vorhanden zu sein. Die Professoren lesen mit wenigen
Ausnahmen nur ein einziges Colleg und dieses nur in drei wöchentlichen
Stunden, sodaß die Universität trotz der großen Zahl der Studenten, von
der man sprechen hört, doch immer ziemlich leer aussieht. Und für wen ist
nun die spärlich dargereichte Nahrung bestimmt? Ein Professor sagte uns,
die Universität zähle etwa 10,000 Studenten, ein Pedell gab die Ziffer auf
6-8000 an, in der Stadt sprach man von 6—6000. Man weiß es nicht.
Jener amüsante Ehrgeiz unserer guten deutschen Universitäten, welche sofort
nach Abschluß ihrer Verzeichnisse (in welche, was irgend mit Ehren angeht,
als „Philosoph" eingeschmuggelt wird) die erreichte Ziffer in den Blättern
bekannt machen, wenn sie nämlich einigermaßen günstig erscheint, er fehlt hier
ganz. Die Studenten oder „Ziovinotti" wie sie in den Affichen genannt
werden, stehen außerhalb der Corporation, sie sind gar nicht inscribirt; Jeder
ist Student und Keiner ist es; ein Nachweis wissenschaftlicher Befähigung
wird von den Besuchern der Vorlesungen nicht verlangt. Hier existirt also die
akademische Freiheit in Form absoluter Voraussetzungslosigkeit. Das möchte
manchem deutschen Akademiker erbaulich klingen, in der Nähe sieht sich's aber
nicht sonderlich an. Das akademische Publicum ist ein aus allen Lebens¬
sphären, aus allen Bildungsgraden zusammengelaufenes; es gibt unter diesen
tausend Einzelnen zu wenig Elemente der Gleichartigkeit und der Ueberein¬
stimmung, als daß sie sich als eine Gemeinschaft empfinden und einen ge¬
meinsamen Geist darstellen könnten. So geht ihnen der Segen der Charakter¬
bildung, des wissenschaftlichen Wetteifers und der Poesie verloren, den —
bei allen seinen komischen Sonderbarkeiten — das akademische Genossen¬
schafsleben in Deutschland gewährt. Es wird Einem beim Anblick dieser
italienischen giovinötti recht philisterhaft zu Muthe.
Wir besuchten eine juristische Vorlesung. Die Thür blieb offen, der
Lärm des Hofes und der Corridors drang hinein, es ging wie in einem
Taubenschlage ab und zu. Gegen hundert Zuhörer umlagerten das Kathe¬
der des Professors, Alle — mit Ausnahme des Professors — hatten die
Hüte auf, Einige rauchten, Andere bespuckten auf gute Matrosenmanier den
Boden. Einen Text hatten kaum Zwanzig mit sich und nur die Allerwenigsten
machten Notizen. Der sehr lebendige Vortrag schien hie und da an Floskeln
zu leiden und war zur wenig präcis; aber ich habe überhaupt keine Vor¬
stellung davon, wie man eine Versammlung unterrichten soll, deren Bildungs¬
stand nicht ungefähr gleichartig ist, und deren geistigen Durchschnittszustand
man nicht kennt.
Wie kann der Staat, dem die Universität schließlich Gelo genug kostet,
hoffen, mit so lockeren unzulänglichen Einrichtungen sich brauchbare Beamte
zu erziehen? Ohne positive Kenntnisse, wie die Meisten dieser zukünftigen
Staatsdiener bleiben, kommen sie demnächst in die Lage, die verwickelten
Fragen der Praxis mit allzu allgemeinen und dürftigen Theorien behandeln
zu müssen — eine der schwersten Hemmungen für einen Staat, der aus
einem kleinen ein großer werden will. Was hilft da die natürliche Intelli¬
genz der Italiener, die man so vielfach preisen hört? Das Volk hat keine
rechte Achtung vor den Beamten und wird unruhig an der Unsicherheit, die
es den administrativen Maßregeln anfühlt, und der Staat selbst bekennt,
daß ihm nicht genug geschehe, denn in einem der letzten Tentamina z. B.
ließ er nur 16 Procent der Examinanden bestehen. Aber dergleichen ein
einziges Mal erleben und dem Uebel nicht an die Wurzel greifen — wie ist
das möglich, da die Kur hierin wahrhaftig nicht so schwer ist? Denn wenn
man auch annehmen darf, daß die eine Hälfte der Durchgefallenen sich noch
emporarbeitet, so ist doch so gut wie gewiß, daß die andere die verderblichen
Elemente in der Gesellschaft auf bedenkliche Weise verstärkt. So erzieht sich
der Staat an eben der Stelle, wo er sich seine Kraft bereiten sollte, mit
eigenen kostbaren Mitteln seine Feinde.
Nicht weit von Capodimonte hinter der Kirche San Gennaro dei Po-
veri, die zu einem großen Mrmenhause gehört, öffnen sich die Katakomben
Neapels. Sie sind in den aus Travertin (Schlammlava) bestehenden Höhen¬
zug hineingearbeitet, an den sich die Stadt anlehnt. Ehemals waren sie von
sehr beträchtlicher Ausdehnung; jetzt sind sie, weil räuberisches Gesinde! darin
nistete, bis auf einen geringen Rest unzugänglich gemacht, nachdem das mit
Pestleichen angefüllte unterste Stockwerk bereits im 17. Jahrhundert ver¬
schüttet worden war. Ursprünglich gab es nämlich drei Etagen über einander.
Unmittelbar neben dem Eingange findet sich ein natürliches Gewölbe,
in welchem ein alter einfacher Altar und ein aus dem Felsen gearbeiteter
Bischofsstuhl stehen. Hier soll der heilige Januarius eine Zeit lang gelebt
und dann nach seiner Hinrichtung die Ruhestatt gefunden haben, bis seine
Gebeine in den Dom übertragen wurden. Die Katakomben selbst bestehen
aus ziemlich breiten Gängen, die wohl zehn bis zwölf Fuß hoch sind und sich
hie und da zu großen Gewölben ausweiden, in welche an einigen Stellen
das Tageslicht fällt. In die Wände dieser Gänge sind schrankartige horizon¬
tale Vertiefungen getrieben, groß genug, um einen menschlichen Körper zu
fassen, und wol drei, vier übereinander. Auch in den Boden sind Grüfte
gearbeitet. Familienbegräbnisse sondern sich gegen einander ab; sie werden
oft durch ein in die Wand gemeißeltes Gewölbe gebildet, das dann rechts
und links und in der Hinterwand wieder die Oeffnungen zur Aufnahme der
Leichen enthält. Ein solches Famtliengewölbe sieht einem altrömischen Kolum¬
barium ähnlich, nur daß seine Verhältnisse wett größer sind, weil seine loouli
nicht die kleinen Aschenreste, sondern die ganzen Körper aufzunehmen hatten.
Gegenwärtig sind die Vertiefungen bis auf vereinzelte Knochen alle leer, und
die Marmorplatten, mit denen sie geschlossen und auf denen die Namen der
dahinter Ruhenden zu lesen waren, sind nicht mehr vorhanden. Die meisten
sind wol entwendet worden; der Rest ist ins Museum gerettet. In einigen
von den Gewölben findet man Spuren von Freskobildern und Inschriften;
so erkennt man u. A. Bilder am Grabe des heiligen Januarius und daneben die
Worte: Santo ^annal-lo.....röymssoit in MC«. In einem anderen Grabe
finden sich die Apostel Paulus und Petrus in strengster Stilistrung dar¬
gestellt. Die Deckengewölbe in den größeren Gewölben sind leider bis auf
wenige Spuren vollständig zerstört. Sonst gewahrt man an Denkmälern
nur noch einen wenige Fuß hohen dünnen Säulenschaft, der die Inschrift:
?!-i»pu8 trägt, darunter das hebräische Wort Eloha (Gott) und ein unleser¬
liches, welches dazu gehört. Wie ein Bild oder ein Symbol des Gottes
der Fruchtbarkeit in die Katakomben kam, die auch in heidnischer Zeit schon
als Begräbnißstätte dienten, weiß ich nicht zu deuten; vielleicht aus Zufall,
doch scheint das ohne Zweifel von Christenhand herrührende hebräische Wort
eine Demonstration zu enthalten. An dieser Säule sollen in den großen Ver¬
folgungen die Christen hingerichtet sein; vielleicht wollte man sie hier zur
Anbetung des heidnischesten aller Heidengötter zwingen.
Ueber die Art des Begräbnisses steht so viel fest, daß die Körper ohne
Särge in ihre Felsenschränke gelegt wurden. Diejenigen der reicheren Stände
wird man balsamirt, die anderen der austrocknenden Kraft des Lavafelsens
überlassen, die große Masse der Armen in ein gemeinsames Gewölbe oder in
die Erde gesenkt haben. Und daß nicht erst in christlicher Zeit hier begraben
wurde, beweisen einige der im Museum aufbewahrten Marmorplatten.
Es ist auch ganz begreiflich, daß die Art und Weise der Todtenbestattung
sich stets mit nach den natürlichen Bedingungen richtet, die da in Be¬
tracht kommen können, und daß sie nicht einzig und allein durch die
jeweilige Borstellung „von den letzten Dingen" bestimmt wird. Nament¬
lich ließ der Glaube der Alten in dieser Beziehung eine größere Frei¬
heit als der christliche, wenn nur überhaupt der Leichnam nicht un-
bestattet blieb; für ihn war es indifferent, ob der Todte dem Feuer oder der
Erde übergeben wurde. Nicht so für das Christenthum, welches die Vor-
stellung von der Auferstehung des Fleisches ausbildete. Es mußte folgerecht
die Verbrennung der Todten aufgeben und mit Vorliebe nach einer Be¬
stattungsart greifen, welche die Körper einigermaßen zu conserviren schien;
die Erkenntniß, daß unsere abgelegte Hülle in jedem Falle einem Ver¬
brennungsprocesse verfällt, lag natürlich dem Glauben fern. Was nun
speciell das Katakombenbegräbniß betrifft, so hat es an sich mit dem Christen¬
thum nicht mehr zu thun, als jedes andere Erbbegräbniß; aber die Localität
begünstigte die Vorliebe für jene Gottesdienste, die man so gern über den
Gräbern der Entschlafenen hielt und gewährte überdies in bedenklichen Zeiten
verborgene, wiewol immerhin gefährliche Versammlungsplätze. Nur muß
man nicht denken, die Christen hätten erst jene unterirdischen Gänge in der
Absicht gemacht, um ihre Todten abgesondert bestatten und unbemerkt ihre
Gottesdienste halten zu können, oder gar, um bei Verfolgungen eine Zu¬
fluchtsstätte zu haben. Sie begruben ihre Todten da, wo es ihre heidnischen
Mitbürger schon lange thaten, und wenn sie vor der Wuth der Zeloten in
die Katakomben flüchteten, so thaten sie es, um auf den Gräbern der Ihrigen
zu sterben, oder wie man eben in der Noth jede Zuflucht erwählt; denn
natürlich waren sie in den Katakomben noch sicherer gefangen als anderswo.
Wir durchwanderten bei Fackellicht, was von den beiden oberen Etagen
noch zugänglich ist. Die Wände schimmerten in einem fahlen todten Grau;
unter uns klang der Boden, indem wir über Hunderte von Gräbern dahin-
schritten, die mit dick verstaubten Lavaplatten bedeckt sind. Kleine Leute
liegen darin, die man ruhen läßt, weil sie es im Leben nicht zum Prunke
einer Marmorplatte bringen konnten und die Ihrigen das „Wohlverdient
(belle msren»)", das man auf so vielen Nachbargräbern las, vielleicht lieber
in Thränen als in Buchstaben ausdrückten. An dem Eingange des verschüt¬
teten dritten Stockes, aus dem uns ein wirrer Haufen von Schädeln, Knochen
und Asche entgegenragte, kehrten wir um und in das goldene Tageslicht
zurück.
Wir versäumten nicht, uns auch von der gegenwärtig hier gebräuch¬
lichen Art der Todtenbestattung eine Anschauung zu verschaffen, um sie mit
der mittelalterlichen und der antiken zu vergleichen. Der Camposanto nuovo
liegt unterhalb der nach Capua führenden Chaussee auf einem ziemlich ab¬
hängigen Terrain, dessen Unebenheiten von den Gärtnern und Architecten
für eine große Mannigfaltigkeit von Schöpfungen trefflich benutzt wurde.
Man fährt wie in eine besondere Stadt hinein, so groß ist die Anlage.
Denkmäler in unserer Weise gibt es nur wenige, aber viele Hunderte von
Mausoleen, theils für einzelne Familien, theils für ganze Körperschaften,
ziehen sich zu Straßen oder Gruppen geordnet den Berg hinab. Man be¬
gegnet da allen Stilarten, dem griechischen, römischen, gothischen, selbst dem
egyptischen. Zwischen diesen schimmernden Gebäuden, in denen neben oder
über den Grabkammern sich stets eine Kapelle befindet, die durch Tages-
und Kerzenlicht erhellt wird, ragen schlanke Cypressen und wallende Pfeffer¬
bäume — unsern Trauerweiden ganz ähnlich — hervor; Rosen und andere
Blumen überall, und wo der Fels hervortritt, ist er mit Farrenkraut und
Hangenden Gewächsen oder mit blühendem Epheu überkleidet. Alles ist un¬
gemein .sauber und zierlich gehalten und das Ganze athmet eine freundliche
Feierlichkeit. Hätte man die ehrwürdigen Kapuziner, denen man den ernsten
Dienst auf dem Friedhofe gelassen hat, nicht in den Gängen wandeln sehen,
man hätte sich wol in die Gräberstraße von Pompeji versetzt wähnen
mögen.
Wir betraten ein Mausoleum, in dessen Tiefe wir einige Handwerker
arbeiten hörten; es gehörte einer der Todtenbrüderschaften an, deren es in
Neapel, ich glaube 160 gibt. Aus der Kapelle führt eine Treppe in ein
geräumiges Gewölbe hinab, das nach der einen Seite mehrere sehr hohe und
breite mit Marmor bekleidete Gänge entsendet, in die von Oben das Tages¬
licht hereinfällt. Diese sind nun ganz denjenigen der Katakomben nachge¬
bildet, nur daß sie Heller und freundlicher sind. Rechts und links dieselben
Schränke in den Wänden, mit Marmorplatten geschlossen, auf denen man
die Namen der Bestatteten liest. Wenn man in irgend einer Richtung die
Wände durchbräche, so würde man in ein benachbartes Gewölbe kommen;
man hat also auch hier Katakomben, aber sie sind, der modernen Richtung
entsprechend, in gesonderte Abtheilungen zerlegt. Unter der Erde ist man
an die altchristliche, über derselben an die römische Zeit erinnert, wie man
denn in allen Bereichen die Reste des Alten an den Anfängen des Neuen
vorbeiragen oder sich mit ihnen verbinden sieht.
Uebrigens werden nicht alle Leichname sofort in jene Schränke gebracht;
auf einige Hamletsfragen, die wir an den Todtengräber richteten, erfuhren
wir. daß man sie auch in die Erde begräbt, um ihre eingetrockneten Neste
nach fünfzehn Monaten wieder herauszunehmen und dann erst in jene Ge¬
wölbe zu bringen. Auf jene Weise erspart man das Balsamirer. Ob man
nicht auch im Alterthum mit solchen Leichen so verfuhr, die man nicht bal-
samiren. doch aber verbrennen wollte? — Noch Unbemitteltere läßt man in
der Erde liegen, bis ihr Platz anderweitig beansprucht wird; vielleicht nach
drei Jahren wandern die Knochen in ein gemeinschaftliches Gewölbe. Doch
der großen Masse der Armen wartet noch ein ganz anderes Schicksal. Ein
Frate führte uns in einen großen mit Lava gepflasterten Hof. in welchem
wir etwa fünfzig mit Steinplatten verschlossene Kellerlöcher bemerkten. Ueber
einer derselben ragte das Ende eines starken Hebebaumes. „Dies ist, wie
jener Hof auf der anderen Seite, der neue Kirchhof der Armen." sagte der
Frate, „wollen Sie das Grab sehen, in welches der Letzte — vor zwei Tagen
— bestattet wurde?" Da wir bejahten, befestigte ein Arbeiter die Steinplatte
an die von dem Hebel herabhängenden drei Ketten, und alsbald schwebte
sie. nachdem er ihn niederdrückte, wie eine Wagschale empor. Welch ein An¬
blick ward uns! Unten in dem großen Gewölbe, das sich vor uns aufthat,
in einer Tiefe von vielleicht 30 Fuß. soviel ich schätzen konnte, lag ein
Haufen von Leichen unordentlich und wirr durch einander, die meisten in
Leinen gewickelt, viele in gewöhnlichem Anzüge, obenauf ein Greis, quer
über ihm ein Kind .... Doch ich beschreibe nicht weiter. Wie kommen
sie da hinunter? Der Frate, der unserem Schauder die Frage ablas, s«gte
beruhigend: „Mit einem Strick."
Wir mußten noch mehr von dieser furchtbaren Bestattungsweise hören,
die uns auss Peinlichste überrascht hatte, und eilten nach dem einige hundert
Schritte entfernten alten Camposanto, den man ganz den Armen überlassen
hat. Hier traten wir in einen ähnlichen Hof; aber er war weit größer, als
jener, und hatte 19mal 19 der erwähnten Gewölböffnungen im Quadrat
geordnet. Ein anderer Hof enthält dann noch so viel Grüfte, daß ihre Zahl
im Ganzen derjenigen der Tage im Jahre gleichkommt. Jeden Abend wird
eine derselben geöffnet, um etwa vierzig Ankömmlinge aufzunehmen, und
dann bis zum nächsten Jahrestage geschlossen und verkittet. Ein Desinfec-
tionsmittel kommt nicht zur Anwendung, und dennoch bleibt bei dem dichten
Verschluß der Gewölbe die Luft gut; auch scheinen die Leichen mehr zu ver
trocknen, als zu verwesen.
Der Friedhof war von einer ziemlichen Anzahl Menschen der ärmsten
Klasse belebt, deren Thun und Treiben uns sehr rührend erschien. Mehrere
beteten laut und dringend vor den rings an den Wänden angebrachten
Krucifixen, Andere knieten über den Gewölben, auf deren Deckel sie eine
Blume gelegt hatten; hie und da kauerte eine ganze Gruppe im Kreise um
eine solche unheimliche Thür. Leute, die sonst einander vielleicht fremd ge¬
wesen waren, aber durch jenen traurigen Abend verbunden wurden, an
welchem sie ihre Todten in die gemeinschaftliche Gruft hatten verschwinden
sehn. Damals hatte das Schicksal sie zu einer Todtenbruderschaft vereinigt,
wie ihre wohlhabenderen Mitbürger aus freien Stücken, nach eigener Wahl
solche Genossenschaften unter sich bilden. Allmälig wurde auch die Ernte
des Tages hereingebracht. Alte abgenutzte Särge, zuweilen mit einer Laterne
verziert, wurden von zwei Leuten auf den Köpfen herbeigetragen und einst¬
weilen an der Wand niedergesetzt. Es erschienen Wagen, in denen zwei und
mehr Särge standen; ein Begleiter präsentirte im Bureau einem Geistlichen
die Todtenscheine, die Namen wurden vermerkt, und nun lieferte er seine
Ladung ab. Er hatte nur auf die Rückgabe der Särge zu warten. Wir
fragten den Todtengräber, ob man auch hier sich eines Strickes zum Hinab¬
lassen der Körper bediene. „Ja," sagte er, „wenn die Angehörigen einen
mitbringen, sonst geht es al soprs, a>1 basso," und dabei machte er die Be¬
wegung des Hinabstürzens. Er forderte uns auf, Abends dem Begräbnisse
beizuwohnen, aber wir konnten es nicht über uns gewinnen und verließen
den Kirchhof, dem nun bei Dunkelwerden mehr und mehr Särge zugetragen
wurden, so eilig, als gälte es noch vor Nacht die Heimath zu erreichen.
Wir waren fortgegangen, weil wir uns im Stillen von unseren deutschen
Voraussetzungen aus eine Scene der Verzweiflung vorstellten. Doch mußten
wir uns nun sagen, daß eine solche Begräbnißweise sich nicht zu halten ver¬
möchte, wenn das Volk etwas Verletzendes dann sähe. Bei uns freilich
würde sie, wenn sie aus irgend einem Grunde eingeführt würde, sofort einen
Aufruhr hervorrufen, aber hier, wo die Armen auf der Straße so eng ver¬
bunden mit einander leben, daß man nie Familie von Familie zu unter¬
scheiden vermag, gereicht es ihnen zum Troste, daß auch ihre Abgeschiedenen
hübsch bei einander bleiben; und daß sie mit einem salto morwlg — im
eigentlichsten Sinne — zu ihrer Ruhestatt gelangen, hat sür ihren beweg¬
lichen muntern Sinn nichts Beleidigendes. Und was uns dabei am Meisten
verletzt, die grelle Unterscheidung und Sonderung von Arm und Reich und
die Verleugnung aller Individualität, das nimmt der Neapolitaner auch hier
als etwas Selbstverständliches hin, wie er es in so vielen anderen Beziehungen
thut. Wer weiß denn auch, ob unsere Sentimentalität nicht etwas sehr
Krankhaftes und der Ausrottung werth sei?
Am 18. Januar wohnten wir dem Stapellauf einer Dampfcorvette
in Castellamare bei. Auf dem Wege vom Bahnhofe zu den Werften
wurde das anwesende kronprinzliche Paar mit lebhaften Zurufen begrüßt, auf
dem Platze selbst von dem aufgestellten Marinepersonal feierlich empfangen.
Ehe die Arbeit an den Stützen des Schiffes begann, umwandelte ein
Geistlicher mit einem Weihwedel den ganzen Bau; zwei Lazzaroni trugen
ihm einen Weihkessel voll des Elementes nach, dem der Täufling demnächst
übergeben werden sollte. Ich konnte nicht bemerken, daß irgend Jemand bei
diesem feierlichen Acte mehr empfand, als das schwarze nunmehr geheiligte
Ungethüm selbst. Lebendiger schon wurden die Empfindungen, als jetzt der
bekannte Marsch aus der schönen Helena das Murmeln des Priesters ab-
löste, und nun fing auch das Hämmern, Stoßen und Ziehen an und ver-
setzte uns in die größte Spannung. Als das Schiff nur noch auf dem
Schlosse ruhte, wurde ein reizendes, noch unerwachsenes junges Mädchen,
die Tochter des Herzogs von Arpino, zum Gerüst hinaufgeführt, um dem
Schiffe den Namen und das Zeichen zu seiner Abfahrt zu geben. Die Be¬
wegung, welche dabei im Publicum entstand, schien noch einen anderen
Grund als den allerdings freundlichen Anblick zu haben. Auf unsere Fragen
erfuhren wir denn auch, daß sich in diesem Acte und in der Wahl der jungen
Dame gewissermaßen die, wenn auch nur poetische Sühne eines schrecklichen
Ereignisses früherer Zeiten vollziehe. Dies junge Mädchen sei die Urenkelin
jenes würdigen Admirals Carracciuolo, der in der fürchterlichen Reaction
des Jahres 1799 auf Befehl der Königin Karoline und unter Mitwirkung
Nelsons erhängt worden, und zugleich die Tochter einer Engländerin und
selbst englisches Landeskind. So bringe sie den damals besudelten Namen
zu Ehren und mildere zugleich das bittere Andenken an die schnöden Thaten
des englischen Seehelden.
In wie prägnanten Epigrammen weiß sich die Geschichte oft zuzuspitzen!
Die Erben jenes jämmerlichen Ferdinand, den der todte Carracciuolo noch
aus dem Wasser bedrohte, sind des Thrones verlustig gegangen, das Haus
Habsburg, dem die grausame Karoline entstammte, ist aus Italien verdrängt,
die Nachfolger Beider erheben unter der Zustimmung der Nation zu Ruhm
und Ansehen, was jene mit Schande zudeckten, und England, damals so
feindselig, leiht dem neuen Königreiche seine Freundschaft. Alles dies faßte
sich in dem Momente zusammen, als der „Carracciuolo", getauft von einer
Carracciuola, vor den Augen des Kronprinzen von Italien unter dem
Jubel der Menge langsam und majestätisch in die Wogen hinabglitt.
Ein Artikel „ Spanien und Cuba" in Ur. SO der Grenzboten vom
11. Dec, 1868 gibt dem Einsender Veranlassung, das Verhältniß zwischen
Spanien und Cuba auf Grund eigener Anschauungen darzulegen.
Daß bei der systematischen Unterdrückung, in welcher die spanische Re¬
gierung bisher die Insel gehalten hatte, die dortigen Zustände dem Publi-
cum nicht genau bekannt sind, ist nicht zu verwundern, denn weder spanische
noch cubanische Zeitungen durften dieselben offen besprechen. Daß aber die
Bevölkerung der Insel auf 889,000 im Ganzen (Weiße und Farbige) ange¬
geben wird, d. h. um ca. 60 °/y geringer als der letzte Census (1867) auswies,
muß zunächst berichtet werden.
Dieser Census ist officiell bekannt gemacht worden und ergibt:
kommen.
Dieses letztere Departement hat etwas mehr Flächenraum als das Erstere
und ist der Hauptsitz der Viehzucht und des Holzschlags, woher auch die nie-
dere Anzahl der Bevölkerung rührt, die wiederum einen entsprechenden Unter¬
schied in den Exporten zur Folge hat. Im westlichen Departement dagegen
wird der bei Weitem größte Theil des wichtigsten Stapelartikels, Zucker produ-
cirt. Man schätzt diese Production auf ca. 600,000 Tons für 1868. und nur
l0 bis 12 o/o davon fallen auf das östliche Departement. Zucker ist der Artikel,
von welchem Cuba lebt, weit mehr als vom Tabak, und insofern ist aller-
dings die Sclaverei, resp, deren Aushebung und Ersetzung, sei es durch freie
Arbeit der Schwarzen, sei es durch Chinesen oder durch weiße Arbeiter (die
theilweise schon jetzt angefangen hat), eine Lebensfrage für die Insel.
Ich sage für die Insel.
Nicht für Spanien. Für dieses gibt es nur Eine Frage, nämlich, ob
es seine Herrschaft gegen die Creolen noch überhaupt halten kann.
Wenn der oben berührte Artikel der „Grenzboten" behauptet, die Creolen
befänden sich in verschwindender Minderzahl, so müssen wir dem auf Grund
eigener Anschauung widersprechen. Kaum ein Drittel der weißen Bevölke¬
rung ist außerhalb der Insel geboren, und im Allgemeinen kann man be¬
haupten, gerade die Söhne von Altspaniern, die hier geboren werden, sind
die heftigsten Feinde der Regierung.
Cuba zeigt recht klar, welche Folgen eine Colonialregierung im Style
des vorigen Jahrhunderts hat.
Die Blüthe der Insel fing mit dem Jahre 1818 an, in welchem zuerst
fremde Schiffe zugelassen wurden. Die Zölle auf nichtspanische Waaren blie¬
ben aber immer noch doppelt so hoch als die auf spanische Artikel, und
wuchsen, wenn unter fremder Flagge importirt wurde, auf das Dreifache.
Es mußten noch andere Gründe dazu kommen, um die Insel so weit zu
heben, daß sie in den letzten Jahren allein so viel an Rohrzucker produciren
konnte, wie ganz Frankreich, Rußland, Oestreich und der Zollverein zusam¬
mengenommen, an Rübenzucker.
Von Hapel waren französische Pflanzer eingewandert, die dort Alles
verloren hatten und auf Cuba ihre Kenntnisse und Erfahrungen verwerthe¬
ten. Von Mexico, das sich eben losriß, kamen flüchtige Spanier mit theil-
weise bedeutenden Capitalien hinüber, die englischen Colonien wurden gleich¬
zeitig durch die Selavenemancipation gründlich ruinirt, und schließlich eignete
sich die geographische Configuratton der Insel, welche im westlichen Departe-
ment nirgend über 80 Kilometer Breite hat, wie keine andere zur Ver¬
schiffung der Producte. Dazu kamen ein vorzüglicher Boden, der ohne neue
Anpflanzung S bis 10 Jahre nacheinander das Rohr treibt, und ein für
die Tropen verhältnißmäßig gesundes Klima. Auf diese Weise machte sich
der schädliche Einfluß der Regierung wenig bemerklich, die Production wuchs
fortwährend, zum großen Theil freilich durch die heimlich von der Regierung
begünstigten Negereinfuhren, die wohlfeile Arbeiter schafften. Aeußerlich
waren Ruhe und Ordnung da, und wo so viele Leute reich wurden, konnten
auch die Beamten, die sich von Spanien aus rasch ablösten, ihre Taschen
füllen, ohne daß es sehr ausfiel So kam es, daß die Flibustier-Einfälle
von Narciß Lopez und Anderen (1830 und 1861) höchst kläglich ausfielen.
Einzelne unter den Creolen sahen allerdings mit Abscheu die entwürdigende
Behandlung ihrer Heimath an, die von der Regierung auf asiatische Weise
beherrscht und durch felle Richter, corrumpirte Beamte, Mangel an Schulen und
Einfluß der Jesuiten gründlich demoralisirt wurden. Aber der großen Menge
ging es materiell viel zu gut, als daß sie etwas zur Aenderung der Zu¬
stände hätten thun sollen.
Bis zum Schluß des Krieges in den Vereinigten Staaten ging die Insel
stets vorwärts, seit 1866 ist ein Rückschritt bemerklich.
Zuerst hörten die Negereinfuhren auf, denn die Vereinigten Staaten,
welche früher diesem Schmuggel ruhig zugesehen, ja denselben begünstigt
hatten, ließen jetzt sehr deutlich merken, daß sie ihn nicht länger dulden wollten,
und Arete Sam wird in der neuen Welt selbst von Spanien sehr viel mehr
respectirt als John Bull und Johnny Crapaud zusammen.
Mit der Ueberzeugung, daß die Sclaverei nun über kurz oder lang
fallen müsse, hatte sich unter den Creolen etre liberale Partei gebildet, die
zum Theil nur Reformen, zum Theil aber schon damals insgeheim die Un¬
abhängigkeit von Spanien anstrebte.
Die Regierung, um sich den Anschein der Willfährigkeit zu geben, for¬
derte Abgesandte nach Madrid, um mit ihnen über „die nothwendigen Refor¬
men" zu berathen. Es war eine Verhöhnung der schlimmsten Art, denn im
Ernst war an Reformen niemals gedacht worden: über das wichtigste Interesse
der Insel, die Sclavenfrage, durften sich die Abgesandten nicht einmal äußern,
der Plan dafür, den die Deputirten, obgleich sie meistens selbst Pflanzer und
Sclavenhalter waren, in richtiger Einsicht der Lage, zum Zweck allmälige
Abschaffung der Sclaverei eingebracht hatten, wurde gar nicht zur Discussion
zugelassen und die Deputirten mit hohlen Versicherungen abgefertigt. Doch
gelang es einigen von ihnen, der Regierung schließlich noch den Plan für eine
neue Besteuerung einleuchtend zu machen, der die Hauptveranlassung zum
Ausbruch der gegenwärtigen Unruhen gab.
Es war ein verzweifelter Versuch, um Cuba indirect zum Abfall von
Spanien zu bringen, aber die Regierung stets in Geldnoth, verschlang gierig
den Köder.
Die Eingangszölle wurden etwas herabgesetzt, die Ausgangszolle ab¬
geschafft, einige indirecte Abgaben erlassen, und dagegen eine directe Steuer
eingeführt.
Bei einer politisch reifen Nation wäre dieser Schritt vielleicht am Platz ge¬
wesen, bei einem unreifen absichtlich corrumpirten Volk war diese von einer ver¬
haßten Regierung ohne Befragung des Volks versuchte Maßregel ein Wahnsinn.
Der Erfolg hat gezeigt, daß Spanien die Henne umbrachte, die ihm die
goldenen Eier legte.
Die neue Steuer sollte eigentlich eine Einkommensteuer sein, wurde
aber so willkürlich, so planlos, ungerecht und unvernünftig vertheilt, daß,
während einzelne Personen kaum 2«/» ihres Einkommens bezahlten, kleine
Leute 10. 15, und bis 20«/o steuerten.
Natürlich schuf diese Ungleichheit sofort Unzufriedenheit, und wenn diese
erst kürzlich zum Ausbruch kam, so ist das dem geduldigen Sinn, dem Mangel
an Energie der Creolen zuzuschreiben, welche sich nicht leicht zu thätlichen Wider-
stand ermannen können. Aber der Boden war vorbereitet, und sowie die
ersten Nachrichten über die spanische Revolution kamen, ging es auch auf
Cuba los. Aus einem kleinen Auflauf in Uara, der gegen die Steuern ge¬
richtet war, entwickelte sich eine Jnsurection. die Anfangs nur gewisse Re¬
formen durchsetzen wollte, nach kurzer Zeit aber schon die Unabhängigkeit
Cubas von Spanien zu ihrem Feldgeschrei machte.
Schon nach wenig Wochen hatte sich der Aufstand über das ganze öst¬
liche Departement verbreitet, und nur die Hafenplätze Manzonillo, Cuba
Gibara und Nuevita wurden durch die spanischen Truppen gehalten, da diese
von der Marine unterstützt werden konnten; im Inneren des Landes hielten
sich außerdem Puerto Principe und Holguin; der ganze Rest, also ungefähr
die Hälfte der Insel war im Besitz der Insurgenten. —
Einen großen Theil der Schuld trägt jedenfalls der bisherige General-
capitän Lersundi. Dieser, ein eifriger Anhänger der Königin, seit Narvaez'
Tode der hervorragendste Militär unter den sogenannten Moderados (d. h.
der Partei des klerikalen und militärischen Despotismus) wollte offenbar
die Insel für die Königin halten, verheimlichte nach Möglichkeit alle Nach¬
richten aus Spanien, ließ überall den Namen der Königin und deren Bild¬
nisse beibehalten, und statt die Reformen zu geben, die die Revolution den
Spaniern gebracht hatte, oder doch in Aussicht stellte, suchte er die Regierung
im alten despotischen Styl fortzuführen, trieb dadurch alle Creolen in die
Opposition, und machte selbst liberale wohldenkende Spanier irre. Zugleich
wurde der Krieg gegen die Insurgenten ohne Kraft getrieben; dieselben
machten Fortschritte über Fortschritte. Daß es an Truppen fehlte, mußte
Lerfundi wissen, er hätte sich darum nur durch liberale Concessionen helfen
können. Damals, im November, hätte die Gewährung derselben Freiheiten,
wie sie Spanien besitzt, sowie die Bewilligung einer colonialen Legislative
noch Alles retten können. So geschah nichts, 'und fast alle Creolen fielen
ab; aus den besten Familien gingen junge Leute heimlich fort, um sich den
Insurgenten anzuschließen, der Einzelne zog die Sympathien seiner Familie
nach, und so veränderte sich die Richtung der ganzen Bewegung. Die ur¬
sprünglichen Urheber hatten ihren Zweck erreicht, die Creolen erstrebten ihrer
überwiegenden Mehrheit nach die Unabhängigkeit der Insel von Spanien,
und die Regierung konnte sich hinfort nur auf die Altspanier in Cuba ver¬
lassen.
Am 4. Januar langte der neue Generalcapitän Dulce endlich an; er
hatte früher die Insel drei Jahre lang regiert, war bet den Creolen beliebt,
dazu ein kluger Mann, mit den ausgedehntesten Vollmachten versehen, und
den eingreifendsten Reformen geneigt. Er kam zu spät. Die Creolen waren
gegen die Regierung zu erbittert, um sich noch umstimmen zu lassen, und
gerade in Havanna, wo es bis dahin ruhig geblieben war, fing bald nach
Dulce's Eintreffen die Bewegung an.
Zum Glück waren kurz vorher, und gleichzeitig mit Dulce Truppen aus
Spanien angekommen, und wenn diese noch verstärkt werden, so mag die
Revolution für dieses Mal noch niedergedrückt werden. Die letzten Nach¬
richten sprechen von Erfolgen der Truppen. Das östliche Departement ist
durch den dreimonatlichen Krieg sehr erschöpft, den Insurgenten fehlt es an
Lebensmitteln und Waffen, dabei ist keine Ordnung, keine Disciplin, und
schließlich sind die Creolen verkommene, durch Sclaverei und schlechte Regie¬
rung demoralisirte Leute, ohne Selbstbewußtsein und rechten Muth.
Dulce hat eine Generalamnestte erlassen für Alle, die vor dem 21. Febr.
die Waffen niederlegen; vielleicht ergeben sich die Insurgenten. Im anderen
Fall wird Spanien mehr Truppen schicken, und vielleicht siegen. Aber Cuba
geht ihm doch verloren, wenn nicht dieses Mal, doch nach einigen Jahren.
Das creolische Element ist zu sehr und zu lange gegen das spanische
verhetzt. Nach den letzten Nachrichten haben in der Havanna Straßenkampfe
stattgefunden, Mordanfälle auf spanische Soldaten. Es sind das Handlungen
der Verzweiflung, denn an das Gelingen eines Aufstandes in Havanna ist
nicht zu denken, das spanische Element ist dort viel zu stark. Eine Annexion
Cubas an die Vereinigten Staaten wird vorläufig von beiden Theilen noch
nicht gewünscht.
Die Cubaner müssen vor Allem ihre Sclavenfrage ordnen, ist das aber
geschehen, so fällt die Insel entweder der Union, wie ein Apfel, der reif ist
in den Schooß oder — der Apfel verfault. —
Wenn die Creolen ihre Unabhängigkeit von Spanien erringen sollten,
so wird eine jämmerliche Wirthschaft Platz greifen. Das Volk ist unfähig
sich selbst zu regieren, es würde noch schlimmer werden, als es in Peru oder
Mexico ist.
Was aber die Sclavenfrage betrifft, so kommt diese erst in Wendung,
wenn eine der beiden Parteien gesiegt hat; dann aber ist eine ruhige Lösung
möglich, ja wahrscheinlich, denn an Sclavenaufstände denkt in Cuba kein
Mensch, solche Aufstände wären nur zu befürchten, wenn die Revolution
siegte, und die Spanier die Sclaven aus Rache gegen die Creolen aufsetzten,
und selbst dann wäre der Erfolg zweifelhaft. In den Südstaaten der Union
sind keine Negeraufstände während des Kriegs ausgebrochen, und in Cuba
steht das Zahlenverhältniß zwischen Weißen und Schwarzen noch günstiger
für Erstere als in Louisiana, Südcarolina und Alabama.
Die Sclavenfrage findet ihre Erledigung sicher in wenigen Jahren. Wer
aber Cuba Gutes wünscht, der kann sich nur freuen, wenn es baldmöglichst
unter die Fittige der großen Republik kommt. Unter spanischer Herrschaft
und bei liberaler Verwaltung kann Cuba möglicherweise gedeihen, in der
Unabhängigkeit sicher nicht, wenigstens nicht ohne eine langjährige Erziehung
zum Selfgovernement.
or. Gsell-Fels und Berlepsch, Südfrankreich und seine Kurorte. Mit 18 Karten
und 21 Stadtplänen v. L. Ravenstein, 5 Panoramen und 25 Ansichten von Plato
Ahrens. Hildburghausen, Bibliogr. Just. 1869. 8. XVII. u. 6 S. u. 747 Spalten.
Es gibt zwar noch Menschen, auch unter den Gebildeten, welche Cours¬
buch und Reiseführer gründlich verachten, und wenn sie einmal eine Reise
anzutreten genöthigt sind, planlos in die unbekannte Welt hinausfahren,
Im Ganzen aber kann man leicht beobachten, daß neuerdings mit der Reise,
lust auch die Reisekunst an Verbreitung gewonnen hat, und daß immer mehr
Menschen das Bedürfniß empfinden, über die auf einer Reise ihnen ent¬
gegentretenden Orte, Menschen und Verhältnisse Kenntniß mitzubringen und
zu gewinnen, sich für die Reise und auf derselben zu orientiren. Die neuere
Reiseliteratur hat es in meist vortrefflicher Weise verstanden, diesem Be-
dürfniß entgegen- und nachzukommen. Wer eine richtige Würdigung ihres
Werthes gewinnen will, vergleiche z. B. Ebels vielbändiges Werk: „An¬
leitung.....die Schweiz zu bereisen". 2. Aufl. 1804—1803, 3. Aufl. 1811 (?)
— mit den jetzigen Reisehandbüchern für die Schweiz, oder auch das erst
vor 21 Jahren erschienene „Handbuch für Reisende in Italien, von Ernst
Förster" mit dem kürzlich vollendeten dreibändigen Bädeker'schen Italien.
Der vorliegende „Führer durch Südfrankreich" hatte insofern eine neue
Bahn zu betreten, als er neben den Bedürfnissen der Touristen auch die der
Leidenden zu berücksichtigen hatte, für welche, wenigstens bei uns in Deutsch¬
land, das südliche Frankreich wol noch häufiger das Ziel einer Reise wird,
als für Vergnügungsreisende. Darum war es wohlgethan, den Haupttheil
der Arbeit einem Arzte zu übergeben. Die Wahl der betreffenden Persön¬
lichkeit scheint auf den rechten Mann gefallen zu sein, denn die Arbeit des
Dr. Gsell-Fels in Zürich, von welchem die Schilderung von Vichy, die
ärztlichen Bemerkungen über Nizza und der ganze Abschnitt über die Pyre¬
näenbäder herrühren, ist in jeder Beziehung eine vortreffliche. Im Hinblick
auf die voraussichtlichen Hauptbenutzer des Buches finden wir es nicht nur
gerechtfertigt, sondern vielmehr dankenswerth, daß der Verf. den gewöhn¬
lichen Angaben der Reisehandbücher auch die Analysen und Gebrauchs¬
anzeigen der Mineralwässer hinzufügte. Auch die meteorologischen Verhält¬
nisse haben überall, wo sie in Frage kommen, Berücksichtigung gefunden.
So bietet das Buch eine Fülle von Angaben, welche es nicht nur zur Be¬
nutzung an Ort und Stelle, sondern auch bei der Wahl eines Bade- oder
klimatischen Kurortes, also besonders für Aerzte werthvoll machen, zumal da
wenigstens betreffs der Pyrenäenbäder eine gleich vollständige Zusammen¬
stellung in der deutschen Literatur bisher fehlte.
Auch über die Bearbeitung der Provence und der Kivjsra al xvnentö
durch den Lehrer Kümmerle läßt sich viel Gutes sagen, wobei wir aber
den Wunsch nicht unterdrücken können, die klimatischen Kurorte östlich von
Nizza in späteren Auflagen etwas ausführlicher behandelt zu sehen. Bordi-
ghera ist kaum genannt. Besonders das von Leidenden aus Deutschland
so viel besuchte Mentone hätte eine sorgfältigere Berücksichtigung verdient.
Ueber die Preise daselbst findet sich gar nichts angegeben, und man wird
somit fälschlich verleitet, sie als denen von Nizza gleich anzunehmen. In
Wirklichkeit aber sind sie noch wesentlich höher, indem man unter 7 Fr. für
Pension und 3—12 Fr. für Wohnung excl. Licht und Heizung täglich nicht
auskommen kann. Diese systematische Ausbeutung der Fremden ist um so
beklagenswerther, da sie fast nur Kranke trifft, und hat schon Manchen, der
in seiner Unkenntniß dieser Verhältnisse ohne entsprechende Mittel Mentone
als klimatischen Kurort gewählt hatte, zur Abkürzung seines Aufenthalts
gezwungen und dadurch den Kurerfolg beeinträchtigt oder aufgehoben.
Daß die Aerzte durch Beisetzung oder Weglassung eines Sternchens in
empfehlenswerthe und nichtempfehlenswerthe eingetheilt werden, läßt sich
allenfalls entschuldigen, wenn, wie es hier bei den Pyrenäenbädern der Fall
ist, ein Arzt solche Kritik ausübt; wo diese Unterscheidung aber von einem
Laien ausgeht, da ist sie eine unberechtigte Anmaßung. Zudem ist in Men-
tone der schon seit Jahren daselbst praktizirende Dr. Dührßen weggelassen.
Statt or. Gensmer muß es heißen: Genzmer. Die seit Ende Oel. 1868
eröffnete und von dem vor Berlepsch erschienenen Bädeker (Oberitalien) bereits
erwähnte Eisenbahnstrecke Nizza-Monaco kennt unser Buch noch nicht. —
In Monaco gibt es ein Hotel „de Londres" nicht, wol aber ein Hotel du
Louvre.
Den meteorologischen Angaben in der ersten Hälfte des Werkes hätte
wol etwas größere Sorgfalt gewidmet werden können. Wenn auf Sy. 291
die Abendtemperatur der Wintermonate in Nizza auf -j- 18,8° 0. im Mittel
angegeben wird, bei -^14,5° Mtttagstemperatur, oder wenn auf derselben
Zeile 771,9 Ma. als'durchschnittlicher und 774 M. als niedrigster Baro¬
meterstand von Mentone. und dann wieder auf Sy. 350 z. B 0,768 „Par.
Zoll" (soll heißen Meter) als mittlerer Barometerstand des Winters in San
Remo bezeichnet wird und für beriethen Ort nur 6 sonnenhelle Tage für den
ganzen Winter gezählt werden, oder wenn man Sy. 265 das Zeichen " für
Ma. gebraucht sieht — so sind das Schreib- oder Druckfehler, die zwar
nicht vorkommen sollten, aber nicht all zu sehr ins Gewicht fallen; es kom¬
men aber auch entschieden falsche Angaben vor. So ist die Temperatur der
Tageszeiten für Mentone sicherlich viel zu hoch angegeben, wie einerseits der
Vergleich mit Nizza, andererseits die Beobachtungen des or. Stiege beweisen,
aus dessen Temperatur-Tabellen für die 6 Winter 1863—68, wenn die um
1 Uhr abgelesener (1863—65) und die als Maximalzahlen angegebenen
(1865—8) als gleichnamige Größen behandelt werden, sich folgende Mittel¬
zahlen für die wärmste Tageszeit ergeben: Nov. 15.9° O., Dec. 13,3, Jan.
12,3, Febr. 13.6, März 14.6. Die Temperaturangaben des Reisehandbuches
sind um 2.85° 1,7° 2.7° 2.9° und 6.4° 0. (!) höher, als die nach Stiege be¬
rechneten, und um 3° 2,6° 4.2° 6.5° 4,8° höher als die in demselben Buche
verzeichneten Mittagstemperaturen von Nizza.
Die Temperatürmittel für Nizza, welche das Handbuch mittheilt, be¬
ruhen nicht auf Beobachtungen, „seit dem Anfange unseres Jahrhunderts in
ununterbrochener Folge gemacht", sondern auf denen, die Roubaudi 1830
bis 1842 incl. angestellt hat.
Die Angaben über den Feuchtigkeitsgehalt der Lust lassen die Bezeich¬
nung des Instruments vermissen. Stiege hat nach August's Tabellen als
Mittel für November bis März in Mentone 68 gefunden, während das
Handbuch als Mittel für den Winter 57, 48 angibt. Wahrscheinlich hat
hier das Saussure'sche Haarhygrometer zu den Beobachtungen gedient. In
der meteorologischen Tabelle für Pan aber sind gar zwei Columnen für Hygro¬
meterbeobachtungen, ob die erste nach Daniel oder Regnault, und die zweite
nach Saussure oder August, ist nicht gesagt.
Ueberhaupt sollte bei den meteorologischen Angaben für Winterkurorte
nach Möglichkeit ein einheitlicher Plan festgehalten werden. Die Jahres-
Mittel der Temperatur, die Anzahl der sonnigen Tage im ganzen Jahr be-
weisen für den Patienten gar nichts; für ihn kommen nur die Monate
November bis März oder höchstens October bis April in Betracht, und er
muß durch Angaben über die Mittagstemperaturen, die Zahl der sonnigen
Tage, die Stärke und Richtung der Winde und die Einrichtung der Woh¬
nungen in den Stand gesetzt werden, zu beurtheilen, an wie viel Tagen
er voraussichtlich die freie Luft genießen, und wie er sich bei schlechtem Wetter
zu Hause vor Kälte und Wind schützen kann.
Die Arbeit des Herausgebers Berlepsch, die sich diesmal auf die Ein.
teilung, auf Notizen über die Reiserouten von Deutschland aus. und auf
Ueberarbeitung der ersten Hälfte des Buches lMviers,) beschränkte, ist für
Erfahrene an gewissen Nachlässigkeiten in Styl und Arbeit und hier und da
an dem Mangel objectiver Ruhe zu erkennen. Ausdrücke wie „Winter¬
aufenthalter", „Philhellenenfreund" sind wir wenigstens geneigt, auf seine
Rechnung zu setzen. Die Abschnitte S. XXII bis XXV: „Fußreisen" und
„Einige Wanderregeln" sind fast wörtlich aus dem Reisehandbuch für die
Schweiz. 5. Aufl., Hildburghausen 1868. S. 17—20 abgeschrieben, dergestalt,
daß sich anfangs sogar die Ausdrücke „Alpenwanderungen", „Alpentouren,,
wiederfinden, obgleich die Ueberschrift den Beisatz führt: „für Pyrenäen¬
wanderer". Ja Herr B. kann sich so schwer von den^Alpen trennen, daß er
auch Genua von einer „Alpenkette" umgeben schildert (Sy. 356), obgleich
aus Sy. 344 bereits bemerkt ist, daß der Lot al lenäs. die geographische
Grenzscheide zwischen den Seealpen und den Apenninen bilde.
Am besten wird die Zuverlässigkeit des Hrn, B. durch folgenden Satz
characterisirt is. 6, Eintrittsrouten. Berlin-München-Genf): „Bei Reisen
durch Baiern ist den aus Preußen kommenden, nach der Schweiz gehenden
Passagieren die Benutzung der baierischen Ostbahn über Regensburg und
München besonders zu empfehlen. Es ist die kürzeste und billigste Verbin¬
dung zwischen Berlin, resp. Dresden .... einerseits, und München, resp.
Bodensee andererseits; 67V? Meilen mit 60 Pfund Freigepäck, während auf
der baierischen Staatsbahn die Entfernung 79 Meilen beträgt und kein Ge¬
päck frei ist. (Folgen Angaben über Abgangszeiten und Preise.) Die Taxen
über Hof sind um einige Thaler theurer." Nun beträgt die Entfernung von
Leipzig nach München, denn diese ist, obgleich blos Dresden und Berlin
genannt werden, gemeint, allerdings über Eger 67.7 und über Hof 79 Mi.;
es wollen aber die Reisenden, für welche Hr. B. dies geschrieben hat. nicht
nach München, sondern nach der Schweiz und Südfrankreich, also zunächst
nach Lindau, und dahin beträgt die Entfernung von Reichenbach aus, wo
die Linien zusammentreffen, über Eger und München 89,5 und über Hof
dagegen nur 83,8 Mi., und braucht man zu dieser Strecke mit dem Berlin-
Lindauer Courierzug, den B. gar nicht erwähnt hat, über Hof und Bam-
berg ohne Wagenwechsel — was für Leidende doch erwähnenswert!) ist —
16 Sed. 20 Min., über Eger und München dagegen mit wiederholtem
Wagenwechsel mindestens 24 Stunden. Bei durchgehenden Zügen sind auf
der Staatsbahn eben so gut 50 Pfund Gepäck frei, wie auf der Ostbahn,
und ist die gegentheilige Behauptung des Hrn. B. abermals nicht wahr.
Was hat die baierische Ostbahn gethan, um sich bei Hrn. B. so in Gunst zu
setzen, und was die Staatsbahn, um sich solche Feindschaft von ihm zuzu¬
ziehen, daß er sich in dieser Vorliebe und Abneigung derartige Verdrehungen
und Täuschungen erlaubt?
Die Ausstattung des Buches ist, wie bei den früheren Reisebüchern aus
demselben Verlag, vorzüglich; nur müssen wir immer wieder das Format als
zu groß bezeichnen. — Die großen Karten und die Specialkarten für das
südöstliche Frankreich stehen den Pyrenäentartchen an Feinheit und Deutlich¬
keit bedeutend nach.
Vor 30 Jahren waren Angriffe einer feindlichen Flotte nicht so gefähr¬
lich als jetzt. Es fehlte den Schiffen die freie Bewegungsfähigkeit, jene große
Unabhängigkeit vom Winde und Wetter, welche ihnen die Einführung der
Dampfkraft verliehen hat: es fehlte die Sicherheit ihres Motors vor feind¬
lichen Geschossen; denn die Takelage, ihre einzige bewegende Kraft, konnte
durch gut treffende Schüsse gänzlich derangirt werden, und das Treffen
war bet dem großen Umfang der Takelage leicht, während heut die unter
Wasser liegende Schraube fast unverwundbar ist. Noch mehr, der Schiffs¬
körper selbst ist jetzt durch die Panzerung unverwundbar geworden, so
lange das Fahrzeug in einer gewissen Distanz bleibt, und die Einführung
der gezogenen Geschütze erlaubt ihm in dieser Distanz zu beharren, da
selbst mittlere Kaliber gegen Mauerwerk und sogar gegen Erdwerk genügende
Wirkung ausüben, und nur gepanzerten Küstenforts gegenüber unwirksam
bleiben würden, während man einst 10 Geschütze der Flotte als nothwendig
für die Beschießung jedes Strandgeschützes annahm. Will endlich eine feind¬
liche Flotte Landungstruppen aussetzen, so besitzt jetzt jedes größere Schiff
unter seinen Booten eine Dampfbarkasse, welche schnell die übrigen Boote
ans Land bugsiren kann, ohne daß in diesen der Raum für Landungstruppen
durch rudernde Matrosen beengt würde. Die Vervollkommnung der Angriffs¬
mittel ergibt, daß vor Allem das offensive Element der Vertheidigung
zu stärken ist. Wir müssen in erster Linie uns rüsten durch ein Geschwader
von Hochseeschiffen. Aber auch die Küstenvertheidigung durch Schiffe muß gegen¬
über der hohen Bewegungsfähigkeit der feindlichen Dampferflotte möglichst
mobil eingerichtet sein. Die Panzerboote der Küstenvertheidigung müssen eine
bedeutende Schnelligkeit besitzen, —. wie man sie unserem „Arminius" bereits
gegeben hat und wie sie die französische Mräe-oots „Taureau" und deren
Schwesterschiffe „Belier", Cerbere", „Boule-Dogue" besitzen, im Gegensatz zu
den unbehilflichen Monitors von Amerika, Nußland und Holland. — Aber
auch die Landstreitkräfte müssen mit größerer Schnelligkeit als das feindliche
Geschwader zu dampfen vermag, an jeden Punkt geworfen werden können,
wo der Feind landen will.
Einen ernstlichen Landungsversuch wird der Feind nur an solchen
Punkten machen, wo auch seine schweren Schiffe nahe genug an das Land
herankommen können, um den Landungsbooten keinen weiten Weg nach der
Küste zu geben und dieselben noch mit ihren Geschützen decken zu können.
Erste Forderung für die Vertheidigungswerke an diesen Punkten ist dem¬
nach eine Armirung mit Geschützen, welche bis nach dem tiefen Fahrwasser
genügende Durchschlagskraft gegen Panzerschiffe besitzen. In den Schießver¬
suchen des vergangenen Sommers hat sich die Ansicht festgestellt, daß unsere
schweren Gußstahlgeschütze den Ansprüchen genügen, die an ein Küstenver¬
theidigungsgeschütz zu machen sind. Vorläufig mag dieses richtig sein: die Ver-
suche haben gezeigt, daß auf kurze Entfernungen selbst 8zottige massive Eisen¬
platten, und die 4^2 Migen Platten der gewöhnlichen Panzerschiffe auf mitt¬
lere Entfernungen durchschossen wurden. — Aber es handelt sich nicht blos
um die Platten, die man zu beschießen haben wird, sondern auch um die
Geschütze, denen man gegenübertreten muß, und deren Tragweite die Distan-
zen regelt, und da wird das Verhältniß schwieriger. Allerdings den franzö¬
sischen Guß eisen Hinterladern der Marine (19 und 24 Centimeter Kaliber,
150 Kilo — 300 Zollpfund Geschoßgewicht) und den englischen Woolwich-
300Pfündern, (IIV2 Tons Rohrgewicht), welche neuerdings auch in der
Mitte großer Breitseitenschiffe geführt werden, mag unser 96 Pfänder über¬
legen sein, aber schon setzt die englische Flotte Woolwich400Pfünder (18
Tons Rohrgewicht) auf ihre Breitseitenschiffe wie „Hercules", „Audacious"
und selbst „Minotaur", und die Thurmschiffe werden bald 600Pfünder (22'/z—
23 Tons — 400 Centimeter Rohrgewicht) tragen, von denen bereits Probe¬
exemplare hergestellt sind. Diesen Geschützen gegenüber wird es nothwendig,
noch schwerere Geschütze zu construiren, und wenn auch wegen der schwierigen
Handhabung diese Monstregeschütze nicht als allgemeine Bewaffnung ein¬
zuführen sind, so wird man sie doch sür wichtige Hafeneingänge u. f. w-
nicht außer Augen lassen dürfen.
Bei Aufstellung der vertheidigenden Geschütze ist es nöthig, die Batte¬
rien so tief und so nahe dem Wasserspiegel anzulegen, daß die niedrigsten
Kanonenboote und Monitors in der Wasserlinie beschossen werden können, und
daß denselben die Möglichkeit genommen wird, durch Herandampfen in den
todten Winkel zu gelangen, wo die hochgelegene Batterie, welche ihren Kano¬
nen keine genügende Depression geben kann, über die Boote hinwegschießt,
wie z. B. die preußischen Batterien über den „Rolf Krake" im Wenning-
bund. Andererseits aber ist wieder nöthig, der Batterie eine so hohe Lage
zu geben, daß sie, namentlich bei dem starken Einfallswinkel des preußischen
Geschützsystems, im Stande ist, das Deck der feindlichen Monitors und selbst
hoher Panzerfregatten ziemlich senkrecht zu treffen. Das Deck ist der ver¬
wundbarste Theil der Panzerschiffe, weil sie hier entweder gar nicht oder nur
sehr schwach gepanzert sind. Die vortheilhafteste Aufstellung der Küsten¬
geschütze ist sonach in zwei Etagen, d, h. eine Batterie dicht am Strand, ganz
wenig über dem Wasserspiegel, und eine zweite dahinter, möglichst hoch auf
dem Ufer, freilich nicht zufern vom Wasser.
Noch vor wenig Jahren galten gemauerte Forts, möglich mit Granit¬
blöcken verkleidet, gedeckte Geschütze in einer oder zwei Etagen, sowie Mörser
und Pivotkanonen oben auf der Plattform, als das Stärkste, was man für
Küstenvertheidigung herstellen könne — unsere Leser erinnern sich wol,
welchen Respect 1834 Napier's Flotte vor den Forts von Kronstäbe hatte,
und wie wenig die englisch-französischen Linienschiffe gegen die gleich Linien¬
schiffen in drei Batterien starrenden Forts von Sebastopol aufrichteten.
Erdwerke galten damals als Aushilfe an Stellen, wo man nicht Mauern
und „grämte natis" aufführen konnte. Die Einführung gezogener Geschütze
sehr schweren Calibers hat alle jene Verhältnisse in ihr Gegentheil verkehrt.
Der Schutz von Mauern aus Backsteinen oder Granitblöcken hat sich den
schweren gezogenen Kanonen gegenüber bei allen Proben als unwirksam
herausgestellt, Erdwälle sind besser, aber genügen auch nicht, wenn sie nicht
ganz unverhältnismäßig starke Profile (große Dicke) und eine sehr schräge
Böschung erhalten, um die von den Geschossen aufgeworfene Erde am Herab¬
rutschen zu hindern. Zugleich liegt bei den großen Sprengladungen moder¬
ner Hohlgeschosse die Gefahr sehr nahe, daß die colossale durch die platzende
Bombe aufgeworfene Erdmasse die Kanone überschüttet und gefechtsunfähig
macht, — wie das z. B. beim Fort Fischer in Amerika der Fall war. Uno
diese Gefahr wird um so größer, je mehr Traversen vorhanden sind, d. h.
Erdaufwürfe zwischen den einzelnen Geschützen, welche den Zweck haben, falls
eine Granate bei einem Geschütz platzt, ihre Sprengstücke für die anderen
ungefährlich zu machen, und welche z. B. bei der Nordcitadelle von Ant¬
werpen besonders in die Augen fallen. Die Forderung sehr starken Profils,
sehr großer Dicke des Erdwalls, hat aber wieder die Verwendungsfähigkeit
der Geschütze außerordentlich beschränkt: bei großer Dicke des Erdwalls liegt
das Geschütz viel weiter hinter der äußeren Wallfläche, als bei den früheren
schwachen Wällen, es kann also, wenn die äußere Oeffnung der Scharte nicht
zu groß werden soll, nach seitwärts nur in viel kleinerem Winkel sich drehen
und nicht so weit seitwärts feuern als früher. Dieser Nachtheil ist so be¬
deutend, daß man es sogar vorgezogen hat, einen Theil der Geschütze ganz
ungedeckt zu lassen, indem man die Kanonen über Bank (M ba-rdsttö) d. h.
über die obere Kante des Walls feuern ließ; dann war der Wall durch Ein-
schnitte nicht geschwächt, und die Seitenrichtnng des Geschützes ganz unbe¬
hindert, aber allerdings hatten das Nohr und die Köpfe der Bedienungs¬
mannschaft gar keinen Schutz, Die Vortheile freien Schußfeldes und guter
Deckung von Geschütz und Bedienungsmannschaft sind nur bei einer Eisen¬
deckung zu vereinigen, und so ist denn die neuere Befestigung der Strand¬
batterien auch aus Eisenpanzerung hingewiesen. Zunächst auf eiserne Dreh¬
thürme, deren Dicke hier nicht durch die Rücksicht auf das Panzergewicht be¬
schränkt zu werden braucht, wie bei den Panzerschiffen mit ihrer bestimmten
unüberschreitbaren Tragfähigkeit. Bereits hat England für Gibraltar, Ply-
mouth :c. solche eiserne MMs zur Deckung der Geschütze herstellen lassen.
Noch früher führte Rußland Panzergeschützstände ein, die auch eine formidable
Bewaffnung von gezogenen Gußstahl-300Pfündern erhalten haben. Schon
im Anfang 186S wurde für Kronstäbe von den englischen Millwall-Jron-
works eine colossale Panzerwand von 43V2 Fuß Länge und 10 Fuß Höhe
vollendet, die ganz aus Walzeneisenbalken von 12 Zoll quadratischem Quer¬
schnitt zusammengesetzt ist, welche mit vorspringenden Leisten und entsprechen¬
den Auskehlungen fest ineinander gefugt, und äußerlich nicht durch Bolzen
geschwächt sind. Als Horizontalverband sind auf der Rückseite der Wand
noch 3 Zoll dicke eiserne Gurte mittelst nicht ganz durchgehender Bolzen an
den Platten befestigt, und mit senkrechten einzölligen Strebepfeilern dahinter
ebenfalls verholzt, welche letzteren auf einer 43^2 Fuß langen, 2 Fuß breiten
und 3Vs Zoll dicken Bodenplatte verbunden sind und somit gegen den An¬
schlag feindlicher Geschosse eine genügende Stütze gewähren. Die Geschütze
dieser Wand ersetzen, da sie bei 13 Zoll Wanddicke (statt 8-10 Fuß Wand-
dicke in den steinernen Forts) sehr viel Seitenrichtung nehmen können, so
ziemlich die freien Barbettgeschütze, während in den unteren gedeckten Etagen
die Batterien 6 zottige Schutzplatten erhalten haben.
Bis jetzt hat sich dafür die Zähigkeit des Schmiedeeisens (Walzeisens)
widerstandsfähiger gezeigt als sehr hartes Material. Mit letzterem will es
Gruson in Buckau (einer Vorstadt von Magdeburg) versuchen, der sich aus¬
schließlich auf Erzeugung von Hartgußeisen geworfen, und damit für Ge¬
schosse theilweise sehr gute Resultate erzielt hat. Indessen haben Geschosse
eine andere Aufgabe als der Panzer: dieser soll etwas nachgeben und damit
die Kraft des Choes schwächen, jene sollen absolut nicht nachgeben. Außer¬
dem muß Gruson seinen Hartgußpanzer, um einigermaßen mit dem Walzeisen
zu concurriren, viel dicker machen als letzteres (26—28 Zoll in der neuen
Deckung), und damit so schwer, daß er für Panzerschiffe gar nicht, für
Küstenbefestigungen aber wenigstens minder brauchbar erscheint. Für die
vorjährige Pariser Ausstellung hatte Gruson eine außerordentlich dicke Panzer¬
deckung hergestellt, gleich "der Hälfte einer senkrecht durchschnittenen colossalen
Hohlkugel, deren Basis sich wieder nach Außen krümmt, sodaß die Geschosse
nach außen zurückprallen sollten. Doch scheint es uns dann erst recht möglich,
daß das Geschoß in der Krümmung eine Stelle, trifft, von der es nicht zu¬
rückprallt. — Neuerdings hat derselbe Fabrikant dem Vernehmen nach die
Idee der Millwall-Jronworks wieder aufgenommen, indem er massive Eisen¬
balken oder - blocke mit vorspringenden Leisten und entsprechenden Nuthen
durch bloße Zusammensetzung ohne Bolzen verbindet — für Küstenforts hat
diese transportable Deckung vielleicht eine Zukunft.
In den letzten Monaten ist eine wichtige und geistreiche Erfindung der
Panzerdeckung für Küstengeschütze erprobt worden, das proteotsä IiArdötte-
System des englischen Artilleriekapitäns Moncrieff, das seit einem Jahrzehnt
entworfen, aber, nach einigen Modifikationen, erst jetzt praktisch verwerthet
wurde. Moncrieff sieht von jeder Eisen- oder Walldeckung ab. Wie die
neuere Fortification den gezogenen Geschützen keine hohen Wälle mehr ent¬
gegensetzt, sondern die Wälle nur wenig über die Höhe der Glaciscröte auf¬
schüttet, und durch einen tiefen Graben zwischen Glacis und Wall vor Er¬
stürmung sichert, hat auch Moncrieff seine Küstenbatterien nur durch einen
Graben und ein Glacis gesichert. Auf der Binnenseite des Grabens hat er
einige Ruthen von letzterem entfernt, für jedes Geschütz eine tiefe Grube ge¬
graben, und das Geschütz durch einen mehrere Ruthen dicken, also sehr starken
Erdwall gegen solche Geschosse gesichert, die in die Graben-Escarpe schlagen,
während alle übrigen Kugeln unschädlich über die Geschützgrube wegfliegen.
Um aber das Geschütz aus der Grube in eine Stellung zu bringen, aus
welcher es auf den Feind feuern kann, hat er dasselbe auf einem colossalen eiser¬
nen Wagebalken befestigt, dessen eines Ende sich senkt, wenn das andere
Ende gehoben wird. Auf dem vorderen, gegen den Feind gerichteten Ende
steht die Lafette mit dem Geschütz, auf dem Hinteren Ende befindet sich ein
etwas stärkeres Gegengewicht, der Elevator (von 6 Tons —120 Ctr. beim
Versuchgeschütz). Nur in dem Moment, wo der Schuß abgegeben werden
soll, liegt das vordere Ende so hoch, daß Rohr und Kopf des richtenden
Artilleristen über den Grubenrand hinwegragen, und nur in diesem Moment
eine kleine Zielscheibe bieten. Sobald der Schuß abgegeben ist, wirkt der
Rückstoß auf das vordere Ende des Wagebalkens und versenkt das Geschütz
auf den Boden der Grube, wo es, ehe noch das Gegengewicht sein Wieder-
aufsteigen bewirkt, durch eine Haft (für das Laden) festgehalten wird. Ist
das Laden beendigt, so wird das Geschütz losgemacht, das Gegengewicht
senkt sich, und das Geschütz steigt wieder über den Grubenrand, um von
Neuem zu feuern. Die Horizontalaxe des „Wagebalkens" liegt auf einer
Drehscheibe, sodaß das Geschütz als Pivotgeschütz wirkt und überall hin feuern
kann. Die Einwürfe, die man diesem System machen kann, sind erstens die
Complicirtheit der Maschinerie, die nach längerem Spielen vielleicht die Ge¬
nauigkeit des Zielens beeinträchtigen wird, obwol bisher alle Versuche große
Solidität gezeigt haben, und zweitens der Mangel an Deckung gegen Vertical-
feuer von oben einfallenden Granaten oder Sprengstücken. Gegen letztere
könnte man nach unserer Ansicht ein zwei Zoll starkes Eisenbach anbringen,
auf starken Eisenstützen, welche auf dem Rande der Drehscheibe stehen und sich
mit dem Geschütz drehen. Uebrigens braucht das Geschütz nicht gerade in
einer Grube zu stehen — es kann auch hinter einem Wall aufgepflanzt sein,
der dann keine Schießscharten erhält. Wahrscheinlich werden mit der Zeit
alle unsere Küstenbatterien mit Geschützen auf Moncnefflafetten armirt wer¬
den, mit einziger Ausnahme der besonders exponirten Punkte, z. B. der
Hafeneingänge, welche Eisendeckungen erhalten müssen, und der Reduits
von Küstenbefestigungen, während sonst Erdwerk mit bombenfesten Käse-
matten genügen, die auch ihrer Billigkeit wegen vortheilhaft sind. Als Eisen¬
deckung empfehlen sich bei Landbefestigungen die Coles'schen Drehthürme
wegen ihres unbeschränkten Schußfeldes; wenigstens sind sie hier viel eher
als auf Schiffen anwendbar, da man hier ohne Rücksicht auf die Tragfähig,
keit des Unterbaues ihnen dicke Wandung geben und dadurch den Anprall
des Schusses so weit unschädlich machen kann, daß Verbiegung der Axen oder
Festklemmen in den Führungen nicht zu befürchten ist.
Das Solideste bleibt allerdings ein mit Eisen verkleideter Erdwall mit
Minimalscharte, welche gerade groß genug ist, um die Geschützmündung hin¬
durch zubringen, wobei das Geschütz nicht wie in früherer Zeit mit der
Mündung, sondern mit dem Stoß, dem Bodenstück, im Richten einen Kreis
beschreibt. Diese Befestigung läßt sich aber nur dann ohne Nachtheil an¬
wenden, wenn wenig Seitenrichtung nothwendig ist, z. B. an der Biegung
eines Flusses, von dem ein Stück der Länge nach bestrichen werden soll.
Ueberhaupt ist das Fahrwasser möglichst zu enfiliren, da sonst die Panzer¬
schiffe unter vollem Dampf zu schnell vorbeifahren und Breitseiten abgebend
aus der Ziellinie verschwinden. Die Moncrieffgruben - oder Stände da-
gegen sind der einzige Schutz sür Geschütze, die mit außergewöhnlich hoher
Elevation feuern und den Gegner nicht horizontal, sondern von oben treffen
sollen, also namentlich für die Mörser. Diese hat man bisher zwar auf
den Flotten, welche gegen Festungen operiren sollten, also in der ganzen
Stadt ein sehr großes Zielobject besaßen, gebraucht, aber nicht bei Küsten¬
vertheidigung gegen Schiffe. Ihr Feuer ist nämlich so ungenau, daß in
den letzten englischen Versuchen bei Shoeburyneß gegen die Cementdeckung
der Panzerforts, wo doch die Distanz ganz genau bekannt war, die
Bomben das Ziel oft gar nicht trafen. Noch viel weniger wäre dies gegen¬
über dem kleinen Object eines Schiffs zu erwarten, das seinen Platz stets
verändert, und bei dem eine Irrung von 30 Schritt in der Distanz die
Bombe diesseits statt jenseits ins Wasser schlagen läßt. Und doch ist
gerade das Verticalfeuer des Mörsers enorm wichtig geworden: früher
genügten Kanonen mit ihren Schüssen auf die Flanken des Schiffs, dieses
zu durchschlagen, heutzutage bietet einzig das Deck in größeren Distanzen
Chancen für den Durchschlag der Geschosse, weil sich das Deck, ohne das
Schiff übermäßig zu beschweren, nicht stark panzern läßt. Aus diesen Gründen
ist man vor einigen Monaten, und zwar bei uns in Preußen, zuerst dazu ge-
schritten, einen gezogenen Mörser für Versuche herzustellen, und damit die
Präcision des Schusses erheblich zu steigern*). Bei Vertheidigung von Hafen¬
eingängen wie z. B. bei Kiel, wo die Entfernung genau bekannt ist, wird
der gezogene Mörser sich möglicherweise als der gefährlichste Feind der Panzer¬
schiffe erweisen.
Ferner aber ist für die Wirkung der Küstengeschütze bei Häfen und Flu߬
mündungen eine Hilfe anderer Art von höchster Wichtigkeit, wir meinen die
Herstellung unterseeischer Sperrungen, welche entweder die feindlichen
Schiffe gar nicht hereinlassen, oder sie wenigstens so lange an einem Punkte,
dessen Entfernung genau bekannt ist, festhalten, daß die Küstengeschütze sie
in den Grund bohren können. Wo die Sperrungen nicht genügten, sind im
letzten amerikanischen Kriege wiederholt Panzerschiffe und selbst Holzschiffe
unter dem Feuer der Batterien vorbeigefahren, und haben mit Kar¬
tätschen Barbettgeschütze, und selbst Geschütze in Scharten durch Tödtung
aller Kanoniere kampfunfähig gemacht. Für Sperrungen ist Versenkung von
Schiffen oder Steinen, wie in Sebastopol oder Charleston, nicht zu empfehlen,
weil sie den Hafen für die Zeit nach dem Kriege ruinirt, und die eigene
Flotte an Ausfällen hindert. Das Sperren durch Ketten, welches im Mittel¬
alter in Constantinopel, Pisa, Genua u. s. w. vielfach im Gebrauch war,
und auch jüngst von den Paraguiten angewandt wurde, genügt deshalb nicht,
weil leichte Ketten zu schwach sind gegenüber dem Anlaufe von Panzer¬
dampfern, schwere Ketten aber durch ihr eigenes Gewicht in der Mitte sich
zu sehr senken, sodaß z. B. in Paraguay die brasilianischen Panzerdampfer
bei geringer Veränderung des Wasserstandes über dieselben hinwegfahren
konnten. Das Richtige sind solide, schon im Frieden vorbereitete schwim¬
mende Sperrungen, die durch Gewichte und Verankerung in einer bestimmten
Tiefe (etwa 5 Fuß) unter Wasser gehalten werden, und zwar wieder nicht
hölzerne Kästen oder Tonnen, die sich im letzten amerikanischen Kriege nicht
bewährt haben, sondern eiserne Kisten, wo möglich mit vielen einzelnen wasser¬
dichten Abtheilungen wie die Bojen, sodaß sie selbst bei Beschädigungen an
mehreren Stellen doch nicht untergehen, und die außerdem mit Ketten unter¬
einander verbunden sind, und mehrere distante Reihen hintereinander bilden,
sodaß Panzerdampfer, die mit starkem Anlauf etwa die erste Reihe gesprengt
haben, doch nicht sofort die zweite sprengen können. Wenn ihre Mann¬
schaften dieses Hinderniß beseitigen wollen, bleiben die Schiffe sicher längere
Zeit im Bereich des wirksamsten Feuers; selbst den schwachen Geschützen der
Forts von Charleston gegenüber konnte kein Monitor es über Minuten aus¬
halten. Nöthig dabei ist nur, daß auch in der Nachtzeit sür die Möglichkeit
Heller Beleuchtung in jedem Augenblick gesorgt ist, damit die Küstenbatterien
scharf zielen können, also an den Hauptpunkten durch electrisches Licht, sonst
durch Holzstöße, die sofort in Flammen gesetzt werden, wie im amerikanischen
Kriege. Wünschenswert!) ist außerdem, daß ein Mittelglied der Sperrung
sich auslösen läßt, um unserer Flotte eventuell Ausfälle zu gestatten, und
daß dabei Netze und Taue ausgelegt sind, um die Schrauben der feindlichen
Schiffe zu verstricken.
Ein zweites wichtiges Mittel sür Hafenvertheidigung sind die unter¬
seeischen Minen oder Torpedos, hohle mit starker Sprengmasse (Pulver,
Dynamik u. s. w.) gefüllte Behälter, die unter Wasser verborgen, entweder
schwimmend und verankert, oder auf fester Unterlage 3—10 Fuß unter Wasser
als Rahmen-Torpedos liegen, bei einer Berührung explodiren, und das be¬
rührende feindliche Schiff entweder in die Luft sprengen oder ihm ein Loch
in den Boden reißen. Zuerst wurden diese Torpedos von den Russen und
ausgiebiger von den Conföderirten im letzten amerikanischen Kriege ange¬
wandt, zum Theil mit großem Erfolge, da sie mehrfach Unionsschiffe*) in
die Luft sprengten, — den Monitor „Tecumseh" so schnell, daß nur wenige
von der Mannschaft sich retten konnten — und die muthigsten Admiräle
in respectvoller Entfernung hielten. Preußen hat jetzt eine Gelegenheit,
die Erfahrungen der Konföderation sich zu Nutze zu machen, da der
miet en^meer ihres Küstenvertheidigungsdepartements für den Golf von
Mexico — Mohne:c. —, ein Herr v. Scheliha jetzt wieder in preußische
Dienste getreten ist; derselbe hat seine Erfahrungen in einem zugleich
deutsch und englisch herausgegebenen Buche veröffentlicht. Bereits sind am
27. October v. I. unter Viceadmiral Jachmann und General v. Kameke in
der Wieker Bucht (dem Theil der Kieler Föhrde, welcher zwischen Bellevue
und Holtenau liegt) gegen alte Ruderkanonenboote Versuche mit Pulver- und
mit Nitroglycertntorpedos (Dynamik, Dualin oder 10 Centner Spreng-
Pulver) gemacht worden, welche die Fahrzeuge in der Mitte vollständig in
die Höhe sprengten und die Enden versinken ließen, während die vor einiger
Zeit in England an der alten Segelfregatte „Terpstchore" angestellte Probe
dem Schiff bloß ein großes Leck beibrachte, und noch in letzter Zeit in
Schweden vier von sechs mit Dynamik gefüllten Seculum die alte Fregatte
„De'siree", deren Boden man für den Versuch gepanzert hatte, ebenfalls
nur zum Sinken brachten. Unvollkommen waren die Torpedos von den
Dänen verwandt worden, als der Uebergang der Preußen über den Alsen-
sund drohte. Jene Torpedos hatten Glasröhren, die über das Wasser
ragten, und durch welche, wenn ein anstoßendes Schiff sie zerbrach, das See¬
wasser hineinlaufen und den Sprengsatz explodiren lassen sollte. Die Preußen
aber nahmen ein Tau zwischen zwei Boote und kämmten die Glasröhren ab,
ohne durch die Explosion Schaden zu leiden.
Doch ist dabei auch in mehrfacher Beziehung Vorsicht nöthig. In
Oestreich, wo Venedig. Pola und Lissa durch Seculum geschlossen sind, wur¬
den S Torpedos (1 in Malamocco vor Venedig, 4 in Pola) durch Gewitter
entzündet. Damit dies und Explosionen beim Anstoßen der eigenen Schiffe
vermieden werde, wird der Contact der electrischen Zündung mit der Lei¬
tung erst im letzten Moment hergestellt. — Vor Pola liegen 2 Torpedolinien
in 10-12 Fuß Tiefe.
Besonders sinnreich ist das östreichische für Trieft berechnete System,
das allerdings nur bei Angriffen am Tage gut wirken wird. Von jedem
Torpedo läuft ein electrischer Draht, durch den er zu entzünden ist, nach dem
Centralobservatorium der Stadt, welches die ganze Bai überschaut. Hier ist
eine camera odsoura (wie bei einem photographischen Apparat) angebracht,
auf deren Platte im Landschaftsbilde alle Punkte markirr sind, wo Torpedos
liegen. Nähert sich ein feindliches Schiff einem dieser Punkte, so wird mittelst
einfachen Fingerdrucks durch den electrischen Draht der Torpedo entzündet.
Vielleicht noch wichtiger ist eine andere Triestiner Erfindung, an der
ein Engländer Wheathead und ein Dalmatiner Lupis betheiligt sind, und
bei der vermieden wird, daß eine große Zahl Torpedos unthätig liegt und
den Feind erwartet. Nach einer Version besteht diese zur Zeit geheimgehaltene
Erfindung darin, daß ein Torpedo in Form einer Rakete unter Wasser
horizontal nach dem feindlichen Schiffe hin gerichtet und durch electrische Trieb¬
kraft in den Boden desselben geschleudert wird.*) Auf jeden Fall werden
die Torpedos ein sehr wichtiges Mittel der Hafenvertheidigung bilden
müssen.
Außerdem sind die Landbatterien durch schwimmende Panzerbatterien zu
unterstützen, allerdings nicht durch so unbehilfliche Kasten wie es die ersten eng¬
lischen,**) französischen und die östreichischen „Feuerspeier" waren, auch nicht
durch schärfere Bleitseitenbatterien wie die russische „Perwenetz", sondern
durch Thurmfahrzeuge, die bei großer Schnelligkeit stets die gewünschte Di¬
stanz beibehalten und nach verschiedenen Orten eilen können.
Schwieriger als der Schutz der wichtigsten" Küstenpunkte gegen feindliche
Kriegsschiffe erscheint die Vertheidigung einer ausgedehnten offenen Küsten¬
strecke gegen die Landung eines feindlichen Corps.. Eine Transportflotte,
welche ihr Landungscorps aussetzen will, hat vor dem Vertheidiger den
großen Vortheil voraus, daß sie den augenblicklich schwächsten Punkt der
ganzen Küstenlinie nach Belieben wählen kann, und nicht wie die Kriegs¬
flotte beim Angriff auf einen Hafen, den Stier bei den Hörnern zu fassen
genöthigt ist. Noch größer ist der Vortheil, daß sich im Allgemeinen ihr
Landungspunkt überhaupt nicht errathen läßt, weil sie, vor der Küste hin-
und herkreuzend bis zum letzten Augenblick den Vertheidiger über den ge¬
wählten Punkt im Ungewissen läßt, und daher die Wirkung der Ueberraschung
für sich hat. Zwar waren auch früher diese Vortheile in gewissem Maße auf
Seiten des Angreifers: et hatte aber damals mit der großen Schwierigkeit
zu kämpfen, daß er in seinen Bewegungen und deren Schnelligkeit von Wind¬
richtung und Windstärke abhängig war, die jeden Augenblick wechseln konnten,
daß also ein präcises Eingreifen aller Operationen in einander als völlig
unsicher betrachtet werden mußte. Die Einführung des Dampfes hat dieses
Verhältniß gänzlich geändert. Allerdings wird der Vortheil vollkommen
freier Wahl der Oertlichkeit durch gut angelegte Küstenbefestigungen einge¬
schränkt.— Eine vorspringende Landspitze liegt insofern am günstigsten, als
auf einer derartigen Halbinsel die Flotte von beiden Flanken her decken, be¬
ziehungsweise die Landbatterien zum Schweigen bringen kann. Andererseits
ist die Flotte hier gegen Wind und See weniger geschützt als in einer Bucht.
Namentlich bei der unvergleichlich praktischen und zugleich sehr umfang-
reichen Organisation, welche die französischen Truppentransportschiffe besitzt,
hat das Landungscorps enorme Vortheile voraus, schon insofern, als jetzt
ein Zusammenwirken von Flotte und Landmacht nicht mehr zu den unberechen¬
baren Actionen gehört. Bereits im Krimkriege, wo doch nur ein Theil der
Transportflotte aus Dampfern bestand, wurden binnen wenigen Stunden
ganze Divisionen ans Land geworfen, die sofort, durch Tirailleurs gedeckt, in
die ihnen bezeichneten Stellungen auf dem Lande einrückten. Und heut um¬
habe die französische Transportflotte nicht weniger als 80 große Schiffe,
theils Linienschiffe, welche zum Kampf zu langsam oder sonst nicht mehr
tauglich erscheinen, theils große Barkschiffe mit zwei (weiß gestrichenen) Etagen
von nicht geringerer Länge als die Linienschiffe, neben denen sie z. B. in
Cherbourg Bord an Bord liegend zu sehen sind; diese Flotte vermag ein
Corps von nicht weniger als 40,000 Mann und 12,000 Pferden auf einmal
zu befördern. Vom Schutze der Nacht gedeckt kann diese Flotte, deren
Organisation bei den letzten Debatten über das Marinebudget durch den
Regierungscommissär, den berühmten Schiffsbauingenieur Dupuis de Löme
in das Licht gesetzt wurde, plötzlich an einem beliebigen Punkte der feind¬
lichen Küste erscheinen, der vielleicht von größeren Festungen und Marine¬
stationen weit entfernt liegt. Bei Tagesanbruch werden die Boote sofort
auf der Landseite ausgesetzt; sie brauchen nicht mehr wie früher einen großen
Theil ihres Raumes durch rudernde Matrosen zu besetzen, Dampfbarkassen
schleppen die Boote, die Mannschaften springen oder waten ans Land, die
ersten Bataillone rücken durch Tirailleure gedeckt in die besten Stellungen
vor; binnen wenigen Stunden sind die Mannschaften des ganzen Corps ge¬
landet, während auf den Schiffen aufgeführte zerlegbare Kanonenboote, aller¬
dings unter sehr bedeutendem Zeitverlust, für die Landung zusammengesetzt
werden, um die Landungsboote zu decken.
Bis Hieher waren alle Vortheile auf Seiten der Angreifer: jetzt aber
beginnen für sie die Schwierigkeiten, während für den Vertheidiger die
Chancen wachsen. Die Landung der Infanterie selbst war leicht und schnell
zu bewerkstelligen: aber Tagelang — in der Krim vier Tage — dauert es,
bis auch die Pferde und die Geschütze, der Train und all' das unzählige
Material gelandet ist, das heutzutage einer Armee für ihre Operationen un¬
entbehrlich ist, und de-r Armee die Möglichkeit gibt, von der Stelle zu rücken,
zumal gegen -einen Feind, der im eigenen Lande alle Hilfsquellen in der
Nähe hat. Und je weiter der Angreifer vorrückt, desto ungünstiger wird
seine Lage. Die Verbindungslinie zu seinem einzigen Depot, der Flotte
und ihren Ressourcen, wird immer länger und angreifbarer, die Flotte selbst
liegt ihm ferner. Die Schiffe ihrerseits sind unbeweglich an den Landungs¬
punkt gefesselt, um im Falle einer Niederlage die Truppen wieder ciufzu-
nehmen oder zu schützen, aber beim Vormarsch können sie die letzteren nicht
decken, und sie mögen sich glücklich schätzen, wenn Wind und Wetter er¬
lauben, am Landungsplatze zu bleiben, nicht auf die hohe See hinaustreiben
oder gar auf den Strand werfen. Das Landungscorps aber wird wieder
bei jeder Meile weiteren Vordringens durch Detachirungen geschwächt, welche
zum Schutz der Verbindung mit der Flotte nach allen Seiten zu entsenden
sind. Auch wenn der Angreifer Erfolge gegen Truppen des Vertheidigers
erringt, so kann er sie nicht ausnutzen, da ein LandAngscorps aus Mangel
an Raum auf den Schiffen möglichst wenig Cavallerie mit sich führt. Jede
Stunde Verzögerung im Vormarsch aber verstärkt den Vertheidiger. der mit¬
telst der Telegraphen und der Eisenbahnen von allen Seiten Verstärkungen
heranzieht, und dessen Truppen von jedem Punkt die Operationsbasis und
die lange Verbindungslinie des Angreifers mit seinen Schiffen bedrohen.
Betrachten wir also die Maßregeln, welche der Vertheidiger entgegen¬
zusetzen hat. Zur Abwehr gegen Landungen darf man keineswegs die Truppen
längs der ganzen Küste zerstreuen, sondern man muß sie an den Knoten¬
punkten der Küsteneisenbahnen concentriren, um sie in jedem Augenblick nach
dem gefährdeten Punkt dirigiren zu können. Wenn diese Maßnahmen einiger¬
maßen gut getroffen sind, wird der Vertheidiger fast immer das verhält¬
nißmäßig schwache Landungscorps aufzuhalten im Stande sein. Hierzu
kommt, daß gerade unsere deutschen Küsten eine Landung sehr schwierig
machen. Vieles in der Configuration unserer Küsten ist ungünstig, aber die
große Gunst hat uns das Meer erwiesen, daß wir vom Schiffsbord aus
schwer zu überfallen sind. Nur wenige Küstenpunkte, die nicht durch Marine¬
stationen oder Befestigungen gedeckt sind, und den Feind bei der Landung
wenigstens so lange aufhalten, bis Succurs herangezogen ist, lassen über¬
haupt eine Annäherung tiefgehender feindlicher Schiffe zu. An allen anderen
Stellen müßte die Transportflotte weit draußen in der See ankern, um nicht
plötzlich auf Untiefen getrieben zu werden, ohne Schutz vor dem Winde und
in einer Entfernung, welche den landenden Booten den Weg außerordent¬
lich verlängert, die Zeit der Landung selbst in gefährlicher Weise ausdehnt,
und Gelegenheit bietet, während des Heranfahrens die Boote wirksam zu
beschießen, ohne daß die feindliche Flotte wegen der Entfernung mit den
Schiffsgeschützen viel ausrichten kann. Für den Fall, daß es an solchen,
nicht durch Marinestationen gedeckten Punkten gelingt, den Feind noch wäh¬
rend der Landung selbst zu überraschen, gilt es zunächst, die Landungsboote
in den Grund zu bohren. Nicht nur durch Strandgeschütze, auch durch Küsten¬
fahrzeuge, in weiterer Entfernung vom Strande nicht durch Kanonenboote,
deren Mannschaft leicht mit Kartätschen vom Deck gefegt werden kann, sondern
durch größere gedeckte Fahrzeuge. In solchem Fall würden sich die Kriegsfahr-
zeuge von etwa 400 und 600 Tons sehr bewähren, da sie selbst mit Anker¬
ketten in der Wasserlinie umschlungen, stärker und schneller als die feindlichen
Kanonenboote und Landungsboote sind, und doch ihres geringeren Tiefgangs
wegen so nahe an der Küste agiren können, daß sie von den schweren Schiffen
der feindlichen Flotte nicht behelligt werden.
Ferner aber empfiehlt sich für den Zweck, jede feindliche Landung
gleich im Beginn möglichst aufzuhalten, die Einrichtung, einen Theil des
Seebattaillons zu einem fliegenden Küstencorps auszubilden. Dasselbe mag
eine Anzahl solcher kleiner zweirädriger Karren erhalten, wie die englischen
gegen die Fenter ausgesandten fliegenden Colonnen besaßen. Wie bei Eisen¬
bahnwagen ist der Oberbau breiter als die Axenlänge; von der Plattform
des Wagens hängt jederseits außerhalb des Rades ein festes Trittbret herab
und auf der Plattform sitzt, mit dem Gesicht nach den Flanken zugewandt
die Mannschaft, die in jedem Moment herabzuspringen bereit ist. Die Räder
müssen leichte, aber des Strandsandes wegen ziemlich breite eiserne Kränze
besitzen, und zugleich mögen dieselben kleine Vorsprünge und die Spurweite
der Küsteneisenbahn erhalten, um, wo es möglich ist, auf dieser jede beliebige
Strecke zurücklegen zu können, und so die Fahrt bedeutend zu beschleunigen.
Die Pferde zu diesen Wagen (abgesehen von der für das Exerciren nöthigen
geringen Bespannung) brauchen im Frieden nicht bereit gehalten zu werden,
da Bauernpferde, im Kriege selbst ausgehoben, vollkommen genügen. In
Verbindung mit leichten Kartätschgeschützen oder gezogenen Vierpfündern
würde solche fliegende Infanterie die ersprießlichsten Dienste leisten. Sobald
eine in ihrem Küstendistrict drohende Landung telegraphisch angekündigt ist,
eilen sie auf ihren leichten Wagen nach der bedrohten Stelle, suchen sich eine
Terrainwelle als Deckung, oder richten sich schnell eine Schützenposition her,
und beginnen ein Schnellfeuer auf die herannahenden Boote. Ebenso feuern
die leichten Geschütze der entsprechend einzurichtenden fliegenden Küstenartillerie
— unserer Seearlillerie — mit Kartätschen auf die Mannschaften in den
Landungsbooten, ohne sich um die großen Schiffe zu kümmern; letztere liegen
wegen ihres Tiefgangs wahrscheinlich doch zu entfernt, um viel schaden zu
können, wenn sie aber auch nahe herankommen, würden sie doch nicht viel thun,
aus Furcht, ihre eigenen landenden Leute zu treffen. Unter günstigen Umständen
mag es schon dadurch gelingen, die Boote des Feindes auf einige Zeit vom
Lande abzuhalten, oder Mannschaften derselben in die See zurückzudrängen.
Auf jeden Fall aber wird hierdurch die Landung verzögert. Unterdeß werden
mittelst der Telegraphen und der Küsteneisenbahn die an den nächsten Eisen¬
bahnknotenpunkten concentrirten Truppen herangezogen, um die Vertheidigung
zu unterstützen, für welche die fliegende Infanterie gleichsam die Avantgarde
bildete. Zeitgewinn ist hier Alles.
Setzt der Feind dennoch mit überlegenen Kräften seine Landung durch,
so erteilt die fliegende Colonne sofort in der Richtung des nächsten Eisen»
bahnpunktes, wo Truppen concentrirt stehen, nach dem Inneren, ohne daß
sie vom Feinde, der wenigstens während des Kampfes keine Kavallerie aus¬
zuschiffen vermochte, verfolgt werden könnte. Sie überläßt es dabei den
Cavallerievedetten, von welchen sogleich die Rede sein wird, Fühlung am
Feinde zu behalten, und sucht möglichst bald auf Verstärkungen zu stoßen,
um mit diesen den Feind an Punkten anzugreifen, wo ihn seine Schiffe nicht
unterstützen können, ihm durch Flankendiversionen wo möglich die Verbindung
mit den Schiffen abzuschneiden, diese Verbindungslinien wenigstens als flie¬
gendes Corps zu stören und den Feind schließlich im Verein mit dem ge-
sammten Vertheidigungscorps ins Meer zu werfen.
Aus diesen Andeutungen ergibt sich, daß für die Küstenvertheidigung
eine zweckmäßige Organisation des Nachrichten- und Meldewesens unent¬
behrlich ist, welche gestattet, sobald an einem Punkte ernstliche Anstalten zur
Landung gemacht werden, sofort den Reserven davon Nachricht zu geben und
ausreichende Streitkräfte in möglichster Schnelligkeit zu concentriren. Dafür
müssen vor Allem auf der See selber Avisos von größerer Schnelligkeit als
die feindlichen schweren armirten Schiffe stets Fühlung an der feindlichen
Flotte behalten, und alles Wichtige sofort der nächsten Ausguck- und Te¬
legraphenstation -an der Küste signalisiren. Auf dem Lande aber wird
man zwischen den einzelnen befestigten Depots eine Kette von Cavallerie¬
vedetten nöthig haben, welche Ausguck halten und möglichst schnell Nachricht
nach den Eisenbahn- und Telegraphenstationen oder nach dem Quartier der
fliegenden Küsteninfanterie bringen können. Da für diese Function der Ca-
vallerie keine besondere Kampftüchtigkeit, wol aber Selbständigkeit des Ur¬
theils, manche nautische Kenntniß und vor Allem genaue Kenntniß der
Terrainverhältnisse nothwendig ist, wird hier vorgeschlagen, die aus den
Strandgegenden sich rekrutirenden Landwehrschwadronen permanent der
Küstenvertheidigung zuzuweisen, und die Leute der betreffenden Linienregimenter
vor ihrer Entlassung einen besonderen Jnstructionscursus durchmachen zu
lassen, wobei natürlich nur die einfachsten Signale berücksichtigt werden.
Eine besondere Ausbildung dieser Cavalleristen, wie auch der fliegenden In¬
fanterie und Artillerie ist unerläßlich, wenn der Dienst im Kriege prompt
ausgeführt werden soll. Kenntniß des Strandes, in der Nordsee Kenntniß
von Ebbe und Fluth und von Zugänglichkeit der Watten, Kenntniß der
Schiffsarten, ihres Aeußeren und der Art ihres Erscheinens (Rauchwolken,
Takelagen, Flaggensignale), um über feindliche und befreundete Schiffe Mel¬
dungen abstatten zu können, Beurtheilung der Wassertiefe am Strande nach
der Färbung. Fähigkeit die Distanzen auf dem Wasser richtig zu schätzen,
Schießen auf bewegte Ziele, Bedienung der Fanale, richtige Benutzung der
Dünen — Alles das sind Sachen, die eine besondere Ausbildung nöthig machen,
Für die Ausschau an den Küsten hat England ein besonderes Küsten-
wachtcorps (coast Zukrä) von 5—6000 Mann ausgedienter Seeleute, die
besonders von den zahlreich an den Küsten vorhandenen Martellothürmen
Ausschau halten, ähnlich wie das frühere Königreich Sardinien ein Corps
von 4—S00 Thurm- und Küstenwächtern besaß, welches ursprünglich zur Be¬
obachtung herannahender Sarracenen gegründet war. Auch wir würden gut
thun, derartige Küstenwachen von Strandbewohnern, Fischern, Lootsen :c. zu
schaffen, welche mit den Cavallerievedetten in Verbindung stehen und mit
ihnen sich unterstützen würden. Frankreich hat in dieser Beziehung genügend
Vorsorge getroffen, wie auch seine Küsteneisenbahnen und Telegraphennetze
sehr günstig angelegt sind.
Sämmtliche Offiziere dieser Küstentruppen müssen genaue Karten des
Küstenterrains erhalten, um auch die kleinsten Vortheile sofort mit Sicher¬
heit benutzen und die dioertesten Wege einschlagen zu können, und um durch
die Angaben über die Tiefe der See bis auf Sehweite die Gefährlichkeit
eineK etwaigen Angriffs bemessen zu können. Die Artillerie endlich wird
nicht nur, wie jetzt mit den schweren Kalibern für die Forts, sondern auch
mit dem 4-Pfünder, namentlich gegen schwimmende Ziele auszuererciren sein,
und ebenso ist die Küsteninfanterie nicht im Bataillonsexerciren, sondern in
Compagniecolonnen auszubilden, so wie im Boots - und Landungsdienst, zu¬
gleich dem einzigen wesentlichen Dienst, welchen die auf Kriegsschiffen com-
mandirten Seesoldaten zu leisten haben. 24 Compagnien solcher Infanterie
dürften nach Herstellung unserer projectirten Küstenbefestigungen ausreichen,
um die zwischen denselben belegenen Stromgegenden gegen Landungen bis
zum Herannahen des Gros eines Nord- resp. Ostseecorps zu schützen. Nach .
Organisation der betreffenden Küstenvertheidigungscorps wird es durch die¬
selben in Verbindung mit befestigten Marinestationen und Marinedepots,
mit Küsteneisenbahnen und Telegraphen möglich sein, unsere ganze Küste
gegen jede feindliche Landung zu schützen. Denn Eisenbahnen und Telegraphen
bewirken, daß trotz der Dampfschiffe eine Landung prekärer ist als jemals.
Zum Schluß betrachten wir den Fall, daß schon in der nächsten Zeit,
noch vor Vollendung des Systems unserer Küstenbefestigungen und der
Schiffsbauten für unsere Flotte, ein Krieg gegen eine überlegene Seemacht
z. B. Frankreich, ausbräche. Die unvollendeten Werke der Wesermündung,
der Elbmündung, Pillaus und Memels*) würden zu einem vorläufigen Ab-
Schluß gebracht, und ebenso wie die Werte an der Jahde, der Kieler Ein-
fahrt, von Stralsund, von Peenemünde, Swinemünde und Danzig vollständig
armirt und mit Besatzungen versehen werden, während weiter binnen an
den Eisenbahnen die Reservetruppen aufgestellt würden. Da der Feind mit
einer überlegenen Anzahl von Panzerschiffen, d. h. wenigstens einem Dutzend
Panzerfregatten auftreten würde, so wären die Holzschiffe unserer Kriegsflotte
am besten sämmtlich nach Kiel zu concentriren, wo sie am sichersten sind,
und eventuell in gesammter Macht einen möglichst starken Schlag führen
können — nur die Kanonenboote wären theils in die Rügenschen Gewässer,
theils nach der Nordseeküste, ihrem eigentlichen Terrain, zu verlegen. Sie
zeigen ihre wahre Stärke erst, wenn der Feind aggressiv verfährt und in die
Küstengewässer kommt, nicht wenn er, wie 1864 die Dänen, auf hoher See
bleibt. Das Gleiche gilt von den Panzerfahrzeugen „Arminius" und „Prinz
Adalbert", die bei ihrem geringen Tiefgange in den flachen Gewässern viel
mehr nützen können, als vor Kiel. Der „König Wilhelm" wäre ebenfalls
nach Kiel zu legen, das ohne Zweifel von einem starken feindlichen Ge¬
schwader blokirt werden würde: denn gerade dieses Geschwader zu verjagen,
ist eine für das große Schiff passende Aufgabe, das in seinem achtzölliger
Panzer kein feindliches Geschütz zu fürchten hat, dem seine Schnelligkeit
stets erlaubt, die passende Distanz zu halten, und dem die einzige Gefahr
ein gleichzeitiges Anrennen mehrerer feindlicher Schiffe ist, wobei ihm der
Rückzug abgeschnitten werden kann. „Kronprinz" und „Friedrich Karl", die
nicht stärker sind als die französischen Schiffe, würden zweckmäßiger in der
Eid- und der Wesermündung wie schwimmende Batterien stationirt werden,
wo sie in Verbindung mit den Landbatterien viel leisten könnten, während
sie bei Kiel höchstens zwei Panzerfregatten des Feindes neutralisiren wür¬
den, ohne denselben irgend überlegen zu sein.
Trotz der wenig vorgeschrittenen Entwickelung unserer Marine wird ein
Seeangriff Deutschland nicht mehr wesentlich bedrohen können, während
früher im Fall einer feindlichen Diversion von Norden die Küste offen,
und hilflos preisgegeben war.
(Bgl. Ur. 8 u. 9 der Grenzboten.)
„Auch die Fondsgüter müssen säcularisirt werden", sagte mir vor Kur-
zem ein Mann „aus dem Reiche", im Laufe eines Gespräches über Oestreichs
finanzielle Verhältnisse. Der Mann hatte keine Vorstellung von dem Wesen
dieser Güter und der Verwendung ihres Ertrages, und befand sich somit in
einer Lage, in der sich viele außerhalb Oestreichs und auch in Oestreich
Lebende befinden, wo man gleichfalls nur theilweise mit diesen Fouder und
ihrem Wesen vertraut ist. Daß Nichtöstreicher über diese Güter nicht Be¬
scheid wissen, ist übrigens nicht zu verwundern, da es in Deutschland nichts
denselben Aehnliches gibt.
Wenn man in Oestreich von Fondsgütern und deren Erträgen spricht,
so hat man vornehmlich zwei solche Forte und deren Güter im Auge, den
Religionsfond und den Studienfond.
Der erstere ist i. I. 1782 gegründet und zwat' zunächst aus den Gütern
der Klöster, geistlichen Brüderschaften. Beneficien, überflüssigen Kirchen,
Capellen u. s. w.. welche unter Kaiser Joseph II. sowie später eingezogen
worden sind. Er umfaßt also die schon vor Gründung des Religionsfonds
in einzelnen Provinzen für Zwecke des Cultus vorhanden gewesenen Ver¬
mögenschaften (z. B. den Emeriten- und Defieientenfond. den alten inner¬
östreichischen Religionsfonde u. s. w.) das freieigenthümliche und das be¬
lastete Vermögen der erwähnten aufgehobenen Institute und die aus den
Einnahmen dieser Institute entstandenen neuen Vermögensobjecte, sowie
endlich diejenigen Vermögenschaften der aufgehobenen Brüderschaften und
Institute, welche für geistliche Stiftungen bestimmt waren. Im Laufe der
Zeit wurden dem Religionsfond bestimmte Gefälle zugewiesen und zwar
1) die Jude rcalarfrüchte der erledigten Beneficien, welche im Jahre 1862 "
65,263 Gulden betrugen. 2) Den Religionssond- und die geistliche
Aushilfssteuer, welche von den reicheren Beneficien nach firirtem Pro¬
centsatz aus dem den angenommenen Unterhaltungsbetrage überschreitenden
Einkommen zu leisten sind. Im Jahre 1862 betrugen sie 11,8S8 Gulden.
3) Die Religionsfond-Pauschalien, deren Entrichtung den gegenwärtig
bestehenden und ihr Vermögen freiverwaltenden, aber unter Joseph II. im
Namen des Staates administrirten Stiftern und Klöstern obliegt. Im Jahre
1862 warfen sie 32.235 Gulden ab.
Religionsfonds bestehen nur in den deutsch-slavischen Ländern,
und zwar in Oestreich ober und unter der Enns, in Steiermark, Tirol und
Vorarlberg, in Kärnthen, Krain, Galizien, Böhmen, Mähren, Schlesien,
dann für das trienter Gebiet, für Görz und Jstrien, und seit 1821 auch für
Dalmatien. Sie brachten im Jahre 1862 die Gesammtsumme von
2,983.610 Gulden ein, und zwar abgesehen von den oben unter 1. 2. 3.
angeführten Einnahmen aus den Jntercalarien. der Religionssondsteuer und
den Religionsfond-Pauschalien im Betrage von 109,356 Gulden. Die erst
genannte Summe war eingegangen: a,) aus Vermächtnissen, Geschenken und
sonstigen Beiträgen 184,222 Gulden; b) aus den Erträgnissen von Herr-
schaften, Realitäten und nutzbaren Rechten 190.806 Gulden; o) aus Capi¬
talien 2.499.426 Gulden. Endlich 24.870 Gulden aus Privatobligationen,
das Uebrige aus Staatspapieren.
Von dieser Ge sammtsumme zahlte überhaupt den höchsten Betrag
Böhmen, nämlich 964.600 Gulden. Daran reihen sich: Mähren mit
604.506 Gulden; Oestreich unter der Enns mit 600,937 Gulden; Ga-
lizien mit 465,525 Gulden; Steiermark mit 250.891 Gulden; Oestreich
ober der Enns mit 142.288 Gulden; Tirol und Vorarlberg mit
127.015 Gulden; Dalmatien mit 120.501 Gulden; Schlesien mit 103.679
Gulden; Krain mit 8^928 Gulden; Kärnthen mit 61.506 Gulden;
Küstenland mit 61.366 Gulden; Salzburg mit 1195 Gulden; Krakau
mit -813 Gulden. Auch aus Herrschaften und Capitalien nimmt Böhmen
am meisten ein, nämlich 898,924 Gulden; während aus den gleichen Titeln
Oestreich unter der Enns, welches sich anreiht, nur 563.098 Gulden
erzielt. In Mähren resultiren aus diesen Einnahmsquellen 591,804 Gulden;
in Oestreich ober der Enns 124.937 Gulden.
In diesen Kronländern find die Religtonsfonds zur Deckung der Aus¬
gaben, für welche sie bestimmt sind, ausreichend, während in allen übrigen
der Staat zuzählen muß, um das Erforderniß der Religionsanstalten zu
decken. Dahin gehören namentlich, außer principiellen Verpflichtungen, Be¬
streitung der Patronatsauslagen, Bestellung des Tischtttels, Dotationen
neuer Pfarreien. Kirchenbauten, Unterhaltung der Cooperatoren, der theo¬
logischen Faeulitäten, Religionslehrer, Pensionen und Zulagen für Geist¬
liche, Stipendien. Unterstützung der Mönchsorden :c. Der böhmische Re¬
ligionsfond hatte 1862 einen Ueberschuß von 35,594 Gulden; der mährische
46,199 Gulden. In Oberöstreich und Niederöstretch compensirten sich
Einnahmen und Ausgaben. Sämmtliche Ueberschüsse also betrugen 1862
die Summe von 81,793 Gulden, während die Abgänge der übrigen Kron¬
länder in demselben Zeitraum die Summe von 1,210,257 Gulden ausmachten.
Es mußte also 1862 aus Staatsmitteln ein Deficit von 1,128.464 Gulden
gedeckt werden.
Im Ganzen genommen ist also der Religionsf vnd in Oestreich
nicht solvent, der Staat kommt für den Abgang auf. während umgekehrt
die Einnahmen desselben in die Staatskassen fließen. Factisch bezieht somit
das Einkommen des Religionsfonds der Staat, der denselben auch durch die
Landesstellen unter Mitaufsicht der Bischöfe unter den Bedingungen verwaltet,
welche durch Artikel 31 des Concordats vereinbart worden sind. Durch
denselben Artikel des Concordats wurde auch das Eigenthumsrecht an
diesem Fond, wie an dem Studienfond der Kirche (der Kirchenprovinz, be¬
ziehungsweise der Diöcese) zugeschrieben, d. h. insofern in diesen Fouder
nicht Güter nicht-kirchlichen Ursprungs enthalten sind, wie seiner Zeit (1862)
auch im Reichsrath hervorgehoben worden ist.
Wollte aber' die Kirche einmal dieses Verhältniß außer Acht lassen,
und einen unbedingten Anspruch auf diese Fonds erheben, wollte sie die
ausschließliche Verwaltung derselben in die Hände nehmen, so hätte der
Staat solchen Ausschreitungen gegenüber wirksame Repressalien in Händen.
Alles nämlich, was der Staat seit Gründung dieser Fonds, insofern die Ein¬
nahmen derselben nicht zureichten, um die Kosten der ihnen zugewiesenen An¬
stalten zu bestreiten — zugeschossen hat, wird als Vorschuß behandelt und
unter die Bestimmung gestellt, daß der betreffende Fond gehalten ist. die
empfangenen Vorschüsse dem Staate zurückzuerstatten, wenn sich die Fond¬
verhältnisse so bessern, daß Zurückerstattung möglich ist. Der Staat kann
also diese Repressalien anwenden und Rückerstattung seiner geleisteten Vor¬
schüsse beanspruchen, sowie gleichzeitig die Bewilligung weiterer Vorschüsse
verweigern, sobald die Kirche einmal die unbeschränkte Disposition über diese
Fonds verlangen sollte, was nicht selten von Geistlichen, welche die Sachlage
nicht genugsam kennen, drohend in Aussicht gestellt worden ist. Der hohe
Clerus indeß, der die Verhältnisse genau kennt, wird es wol unterlassen, an
dem bisherigen Modus zu rütteln, mit dem sich auch der Staat zufrieden
geben kann, in dessen Besitz der Religions- wie der Studienfond faktisch be¬
reits ist und nicht erst, wie Viele glauben, zu kommen braucht.
Studienfonds gibt es in folgenden deutsch-slavischen Ländern:
in Oestreich ober und nnter der Ens. in Steiermark, Tirol und Vorarlberg,
im Küstenlande, in Kärnthen, Krain. Galizien, Böhmen, Mähren und Schlesien.
Gebildet sind sie aus den Gütern des unter Maria Theresia aufgehobenen
Jesuitenordens. Der Gesammtertrag derselben betrug im Jahre 1862
1,061,816 Gulden, und zwar a) 580.538 Gulden aus Capitalien (3956 aus
Privatobligationen); b)57,854 Gulden aus Herrschaften; e) 214,460 Gulden
aus Schulgeldern; ä) 208,964 Gulden aus sonstigen Beiträgen.
Den höchsten Beitrag zu dieser Gesammtsumme lieferten Nieder¬
östreich mit 274.951 Gulden und Böhmen mit 254.009 Gulden. Daran
reihen sich Mähren mit 123.886 Gulden. Galizien mit 96.689 Gulden,
Steiermark mit 60,591 Gulden, Tirol mit 47,796 Gulden. Oestreich
ober der Enns mit 45,563 Gulden, Küstenland mit 38,885 Gulden.
Krain mit 31,737 Gulden, Schlesien mit 29,700 Gulden, Salzburg mit
23.276 Gulden, Krakau mit 11.972 Gulden, Kärnthen mit 9868 Gul¬
den, Bukowina mit 6318 Gulden und Dalmatien mit 6507 Gulden.
Ausreichend zur Erfüllung seines Zweckes ist aber hier lediglich der Fond
von Niederöstreich, der einen Ueberschuß von 8570 Gulden ergibt. Alle
anderen Fonds erhalten Staatszuschüsse, welche in Summa 1,257.488 Gul-
den betragen. Von wirklichen Ueberschüssen ist also auch beim Studienfond
keine Rede, und ein vollständiger Verkauf der Liegenschaften des Studien¬
fonds würde das factisch bestehende Verhältniß nicht wesentlich ändern.
Man hat indeß schon frühzeitig an den Verkauf dieser Güter gedacht.
Vom Jahre 1818 bis zum Jahre 1858 wurden auch Fondsgüter um den
Kaufschilling von 19.630,171 Gulden verkauft, von denen 16.431.214 Gul-
den aus Gütern des Religionsfonds, 2,598,933 Gulden aus Gütern des
Studienfonds stammten. 500,024 Gulden wurden aus Stiftungsfonds,
gutem gelöst.
Im Jahre 1862 gab es in den deu thes-slavisch en Ländern noch
ungefähr 62^ Quadratmeilen Fondsgüter (in den Ländern der ungarischen
Krone 26^, in den kroatisch-slavonischen Provinzen 3*/» Quadratmeilen),
darunter ungefähr 11^ Quadratmeilen Domänen, 5lVs Quadratmeilen
Forste, welche sich in folgende Gruppen vertheilen:
Aus diesen Fondsgütern (die ungarischen ausgenommen) floß im Jahre
1862 ein reiner Ueberschuß von 248,660 Gulden, von denen das Meiste
Böhmen leistete, nämlich 44,732 Gulden. Daran reihen sich Niederöstreich
25,733. Galizien 25,448. Oberöstreich 19.600, Küstenland 9789. Tirol 8479.
Mähren 4980, Krain 4717. Salzburg 3640. Steiermark 2023. Krakau 136
Gulden. Die dalmatischen Güter brachten 108,056 Gulden ein.
Aus Capitalien wurden für beide Fonds eingenommen 3,079,984 Gulden.
Aus sonstigen Einnahmsquellen flössen in demselben Zeitraume 716,982,
so daß sich die Gesamteinnahmen des Religions- und Studienfonds auf
4,045,426 Gulden bezifferte. Hält man dieser Einnahme die Gesammt-
Ausgaben von 6,422,008 entgegen, so bleibt bei Berücksichtigung der oben
erwähnten Ueberschüsse ein ungedeckter Rest von 2,377,000 (in runder Summe),
für welchen der Staat aufkommen mußte. Dieses Verhältniß hat sich seit¬
dem nicht wesentlich verändert.
Der sogenannte Normalschulfond, welcher durch die unter Joseph.II.
erfolgte Aufhebung der geistlichen Brüderschaften und durch die Zuweisung
eines Theiles ihres Vermögens entstanden ist (die anderen Theile fielen dem
Religionsfond oder Armeninstituten zu), hat. abgesehen von Krakau. wo für
etliche kleinere Grundparzellen 446 Gulden Pacht gezahlt war, keine Liegen-
schaften. Sein Einkommen fließt aus Schulgeldern, dem Gewinn am Schul¬
bücherverkauf, aus Geschenken, sonstigen Beiträgen und namentlich aus Ca¬
pitalien, welche etwas über 200,000 Gulden einbringen. Ausreichend ist der
Normalschulfond lediglich in Böhmen und Oestreich unter der Enns. Ebenso
unauskömmlich sind die Findel-, Gebärhaus- und Jrrenhausfonds, sowie der
Fond für ständische Erfordernisse, welche indeß seit 1854 nicht vom Staate
dotirt werden, sondern die Bedeckung ihrer Abgänge aus Landesmitteln
erhalten. Sie gehören also schon an sich betrachtet, ebenso wenig Hieher, wie der
ständische Domesticalfond, der Einiges (48,644 Gulden) aus Liegenschaften
bezieht, im Ganzen aber gleichfalls nicht ausreichend ist, und der Stif¬
tungsfond.
3 Bände, Hannover 1868. Karl Rümpler.
Der seltene Beifall, welcher dies Buch seit seinem ersten Auftreten be¬
gleitet hat, macht eine kritische Aeußerung bei dem Erscheinen der jetzt vor¬
liegenden dritten Auflage leicht und schwer: leicht, insofern man in ihn nur
einzustimmen brauchte (was man mit gutem Gewissen könnte) und schwer,
insofern man ungern diesem Beifall gegenüber Bedenken oder gar tadelnde
Bemerkungen vorzubringen^sich entschließen wird. Dennoch werden die letz¬
teren bei aller Anerkennung der werthvollen Arbeit sich nicht ganz unter¬
drücken lassen. Wir sind weit entfernt, mit Grimm über die Grundanschau¬
ungen kunstgeschichtlicher und aesthetischer Art rechten zu wollen, auf denen
er sein Werk aufgebaut, denn wenn wir auch mit ihnen nicht durchweg überein¬
stimmen, so bleibt doch dem wissenschaftlichen Manne das Recht einer eigenen
Anschauung und Ueberzeugung. Und in dieser Beziehung stehen wir seinem
Buche mit voller Achtung gegenüber. Wenn aber einem Schriftsteller das
Glück zu Theil wird, seine Arbeit in drei Auflagen der Oeffentlichkeit zu
übergeben, so ist man verpflichtet, an die neueste Fassung den vollsten An¬
spruch thatsächlichster Zuverlässigkeit zu machen, zumal wenn die Auflagen sich
stets als „durchgearbeitete" ankündigen. Diesem Anspruch genügt Grimm
nicht durchweg. Es sind Ungenauigkeiten und Unrichtigkeiten in diese dritte
Auflage übergegangen, die man beim ersten Erscheinen eines Buches natür¬
lich findet, die man aber nach zweimaliger Durcharbeitung desselben nicht wol
entschuldigen kann. Wir geben einig« Belege. -— Band II. S. 10S (1. Aufl.
I. 416) ist zu lesen: „Die Medici zeigen sich hier so unerbittlich, daß einer
von den Valori's . . . nur deshalb zum Tode und zu ewigem Gefängniß
verurtheilt wird ze." (Unbillige Autorengrausamkeit, erst zu tödten und dann
einzusperren!) Bd. II. 254 (1. Aufl. II. 160) wird die Kirche Se. Miniato
ohne Weiteres „den besten hohenstaufischen Zeiten" zugeschrieben, während
sie eine Neugründung Kaiser Heinrich's II. und der Kunigunde vom 1.1013
ist und die vorgebrachten Zweifel gegen die Zurückführung des jetzigen Baues
auf diese Zeit noch nicht genügend erörtert sind (vergl. Schnaase, Gesch. d.
b. K. IV. 2. S. 192. u. VII, 1. S. 81 ff.). Bd. III. 39 (1. Aufl. II. 239)
ist die architectonische Beschreibung der Kapelle bei Se. Lorenzo falsch. „Die
Fußspitzen der auf den Sarkophagen liegenden Gestalten" erreichen keineswegs
„beinahe die die Ecken der Sakristei bildenden starken Pfeiler aus dunklem
Marmor," denn zwischen der Architectur, innerhalb deren die Sarkophage
stehen, und den Ecken der Sacristei befinden sich noch Thüren. Wenige
Zeilen weiter wird das Gesims, welches den Sockel der Wand schließt, und
auf welchem die Pilaster aufsitzen, ein „kühn vorspringender, die Breite der
Wand durchschneidender Fries" genannt. Eine derartige Ungenauigkeit muß
lästig berühren, da entweder der Verfasser aus einer trüben Erinnerung her¬
aus seine Beschreibung gemacht oder den Unterschied zweier so wesentlich
verschiedener baulicher Glieder, wie Gesims und Fries, nicht beachtet hat.
— Auch die undeutsche Art, zeitwortlose „kurze Sätze mit prägnanten Schlag¬
wörtern" (Bd. III. 61) möglichst anzuwenden, findet sich, mit allzugroßer
Hartnäckigkeit gehegt, unverändert in der dritten Auflage vor.
Endlich muß der beharrlich festgehaltene Mangel eines sachlichen Ver¬
zeichnisses, das zur dauernden Benutzung des Buches ein unentbehrliches
Hilfsmittel ist, gerügt werden. Einige Züge von Nichtbeachtung der bezüg¬
lichen Literatur oder neuerer Ereignisse im Bereiche der neudeutschen Kunst,
deren andeutende Erwähnung den Schluß des Buches bildet, lassen wir gern
auf sich beruhen. Denn der Kritik kann es billig erspart werden, dasjenige
des Längerer zu erörtern, was jeder Leser sehr bald nothwendig gewahr
werden muß: daß das Buch mit einem unnöthig gesteigerten, fast gereizten
Selbstgefühl geschrieben ist, was der Sache, um die es uns einzig zu thun
ist, mehrfach nicht dienlich war.
Unsere Bedenken oder Ausstellungen richten sich also ausschließlich auf
Dinge, die von einer fleißigen und wahrhaft tüchtigen Arbeit unter allen
Umständen gefordert werden müssen, die nicht vom Belieben oder einer
genialischer Laune des Einzelnen abhängen, sondern die aus allgemeinen und
unabänderlichen Bedingungen sich ergeben. Es muß wunder nehmen, daß
ein Schriftsteller von Hermann Grimm's Bedeutung diesen Anforderungen
oft mit wahrer Geflissentlichkeit aus dem Wege geht, und wir wiederholen,
daß wir diese Wahrnehmung lebhaft bedauern.
Dessen ungeachtet bleiben dem Buche ausgezeichnete Vorzüge, und es wird
stets unter die besten Werke gerechnet werden müssen, welche im gebildeten
Publikum Begeisterung und Liebe für echte Kunst und große Künstler zu
erwecken im Stande sind. Wer die Arbeit gerundeter, gefeilter und als
wissenschaftliche Leistung mit einem Worte gediegener zu sehen wünschte, ist
deshalb nicht blind für die vortrefflichen Eigenschaften, die sie besitzt. Dahin
rechnen wir ganz vornehmlich die warme und nachhaltige Anregung für die
Kunst, die das Buch in Kreisen hervorgebracht hat, welche sonst mit dieser
eben noch nicht sonderliche Bekanntschaft gemacht hatten. Das aber ist
ein ganz positives Verdienst, das Jeder bereitwillig anerkennen wird. Und
da Grimm's Michelangelo dieses Verdienst sich mit gutem Grunde erworben
hat, wünschen wir aufrichtig, daß er seine erfreuliche Wirkung in immer
weitere Kreise trage.
Jede wichtige Frage, welche sich im Leben einer Nation zur Lösung
drängt, findet ihre Verfechter. Wie Viele sich aber auch in dem Kampfe für
diese Lohn-ng auszeichnen mögen, in der Regel ist es nur ein Mann, in
welchem sich ihr Prinzip wahrhaft verkörpert.
Der Name D api s ist in Amerika identisch mit Sclavenemancipativn; in
diesem Namen kreuzen sich die beiden feindlichen Prinzipien, welche den blu¬
tigen amerikanischen Krieg zur Folge hatten.
Ein Davis wurde von den Südlingen zum Führer der Rebellion und
Präsidenten des Sonderbundes ernannt, ein anderer Davis war es, welcher
zu jener Zeit, als sein obiger Namensverwandter, damals Senator des
Staats Mississippi, mit den meisten Vertretern der Sclavenstaaten den Con-
greß verließ, obwol selbst Repräsentant eines Sclavenstaates, auf die Seite
des Nordens trat und mit Hingabe, Selbstaufopferung und unerschütterlichem
Muthe für die Erhaltung der Union, für den Sieg der Freiheit wirkte, der
den meisten zur erfolgreichen Beendigung des Krieges und zur Sicherung
seiner Resultate getroffenen Maßregeln den Stempel seines Geistes aufdrückte-
Henry Winter Davis von Maryland war der Cicero, Jefferson Davis
der Catilina der nordamerikanischen Republik.
Die öffentliche Wirksamkeit dieses Mannes erstreckt sich über einen Zeit¬
raum von kaum 10 Jahren, und in dieser kurzen Zeit erlangte er eine Be¬
deutung, wie sie neben ihm nur wenigen anderen Politikern seiner Zeit zu
Theil geworden.
Davis Lebensgeschichte ist einfach. Am 26. August 1817 in einer pro¬
testantischen Pfarrerfamilie zu Annapolis im Staate Maryland geboren, er¬
hielt er seine erste Schulbildung unter Leitung seines Vaters, welcher damals
Rector am Se. Johns College war; später wurde er Zögling des Kenyon-
College im Staate Ohio, studirte dann auf der Universität von Virginia die
Rechte, worauf er sich in dem virginischen Städtchen Alexandria als Advokat
niederließ.
Bereits in den ersten Jahren seiner Ausbildung starb sein Vater, und
hinterließ ihm außer einigen Sclaven kein Vermögen. Der junge Davis
war deshalb ganz auf die Unterstützung einer auch nicht besonders wohl¬
habenden Tante angewiesen.
Der Verkauf seiner Neger hätte ihm leicht die Mittel gegeben, seine
Studien sorgenfrei zu vollenden; man machte ihm gute Anerbietungen, aber
er wies alle Anträge entschieden zurück. Da er nach den damaligen Gesetzen
nicht das Recht besaß, seinen Sclaven die Freiheit zu schenken, ließ er die¬
selben sich für ihre eigene Rechnung vermiethen, während er sich selbst küm¬
merlich als Hauslehrer durchbrachte.
In Alexandria scheint Davis als Advokat wenig- Glück gehabt zu haben,
dazu kam noch, daß er seine Stellung durch einige Zeitungsartikel, welche
die damals noch unantastbare Göttlichkeit der Sclaverei in Zweifel zogen,
unhaltbar machte. Nach dem Tode seiner ersten Gattin zog er im Jahre 1880
nach Baltimore, wo er bald eine gute Praxis als Rechtsanwalt erlangte und
sich einige Jahre später zum zweiten Male verheirathete.
Sein erstes öffentliches Auftreten fällt in das Jahr 1856. Er war nie-
mals Stadtrath, niemals Sraatsdeputirter oder Beamter gewesen, hatte keine
der niedrigen, in der Regel schmutzigen Stufen betreten, welche in Amerika
zu den höchsten Ehrenämtern führen, und wurde dennoch sogleich zum Con-
greßrepräsentanten erwählt. In dieser Stellung erwarb er sich durch Bered¬
samkeit, Gewandtheit und Schlagfertigkeit in der Debatte rasch eine so her¬
vorragende Stellung, daß er binnen Kurzem Mitglied der wichtigsten perma¬
nenten Comites des Repräsentantenhauses wurde. Er vertrat einen Distrikt
der Stadt Baltimore im 34., 35. und 36. und schließlich im 38. Congreß.
Doch erst die Krisis von 1861 machte Davis zu einem allgemein be¬
kannten Politiker. Das Repräsentantenhaus des 36. Congresses wählte sei-
nen Sprecher. Gleich zu Anfang der Abstimmung sah «nan. daß die Ent¬
scheidung von einer Stimme abhängen werde und auf diese waren alle Blicke
gerichtet. Der Krieg hing bereits als unheilschwangere Wolke über dem Lande,
und der Süden glaubte, des noch zweifelhaften Vertreters von Maryland
sicher zu sein. Davis war nicht anwesend, als die Abstimmung begann, und
die Stimmen standen sich gleich, als er eintrat; mit Siegeshoffnung begrüßte
ihn die eine, mit banger Erwartung die andere Partei; — er stimmt für
die letztere, und der republikanische Sprecher war erwählt.
Das geschah, während Davis' Heimath der Sitz der Sclavenpropaganda
war, und die Aristokratie dieses- Staates, zu welcher alle seine persönlichen
Freunde zählten, enthusiastisch für die Rechte des Südens schwärmte. — In
Maryland brach ein förmlicher Sturm der Entrüstung gegen ihn los; die Legis¬
lative dieses Staats schickte ihm ein Tadelsvotum, und in verschiedenen Zu¬
schriften wurde er geradezu aufgefordert, abzudanken. Aber inmitten dieses
Sturmes ging Davis noch weiter. Als der Pöbel Baltimore's im April 1861
die ersten Freiwilligen von Massachusets, welche zum Schutz der Bundeshaupt¬
stadt gegen die Rebellen herbeieilten, -in dieser Stadt angriff, als der Ver¬
rath .sich in allen Salons breit machte, jeder Patriot in der guten Gesell¬
schaft geächtet war, als durch Treue gegen die Union Nichts zu gewinnen,
aber Alles zu verlieren war, als sich selbst diejenigen Politiker scheu zurück¬
zogen, welche aus gröberem Stoff geformt waren, sammelte er die zerstreu¬
ten Patrioten , meistens Arbeiter, zu einer Partei, durchzog Stadt und Land^
nach allen Richtungen, um unter steten persönlichen Gefahren, die Unteil¬
barkeit der Union zu predigen. Als dann die Grenz-Sclavenstaaten zum
Lohn dafür, daß sie nicht abgefallen seien, um gesetzlichen Schutz für ihre
Sclaveninteressen baten, organisirte er in Marhland die Partei, welche sofor¬
tige Emancipation proklamirte und durchsetzte. Und als endlich das ganze
Land glaubte, mit Befreiung der Neger sei es abgethan, erklärte Davis sich
zum momentanen Schrecken einer großen Anzahl seiner Parteigenossen für all¬
gemeines Stimmrecht, und machte diese Frage zum Schiboleth der neuange¬
brochenen Aera.
Jetzt begann seine große oratorische und staatsmännische Thätigkeit.
Als Redner konnte sich Henry Winter Davis eines Namens rühmen,
wie ihn seiner Zeit neben ihm im Congreß Niemand, selbst nicht Thciddeus
Stevens besessen. Seine Reden gehören der amerikanischen Literatur an.
Die charakteristischen Züge seines oratorischen Styls waren hohe Eleganz,
klare Logik, lapioare Kürze. Jeder Gedanke sprang klar und gut einge¬
kleidet über seine Lippen. jede Idee wurde von ihm so ausgedrückt, daß sie
wie ein fein geschliffner Diamant nach allen Seiten hinglänzte.
Fast jeder Congreßrepräsentant sann eine Rede halten; in ihrer
engeren Heimath werden die meisten dieser Redner sogar für Demosthene
angesehen, aber im Congreß, wo während der ganzen Sitzung ein jahrmarkt¬
ähnliches Durcheinander herrscht, gelingt es nur sehr Wenigen von Ihnen,
sich Ruhe und Aufmerksamkeit zu verschaffen. Davis war einer dieser
Bevorzugten.
„?dö Zentleman U^i^Z is up" — erscholl es gewöhnlich durch
die Corridore des Kapitals, wenn er sprach, in Schaaren strömte das
Volk nach den Gallerien, und selbst die Senatoren eilten herbei, um ihn zu
hören.
Und es war in der That ein Genuß ihn sprechen zu hören. Die
zartgebaute Gestalt schien zu wachsen mit den Perioden, welche er wie
Perlen aneinanderreihte; seine Augen strahlten von Begeisterung, wenn er
seine wuchtigen Argumente gegen einen Antrag der Gegenpartei schleuderte,
und nicht selten brach das Publikum auf den Gallerien in so lauten Beifall
aus, daß sich der Sprecher des Hauses oft genöthigt sah, dieselben räumen
zu lassen. Dabei war ihm jede Effekthascherei fremd; nie hörte man von
ihm eine jener zu Gemeinplätzen gewordenen, auf den Beifall der Massen
berechneten Phrasen; immer ging er direkt auf das Wesen der Sache los.
Als Beweis seiner hinreißenden Gewalt über die Handlungsweise seiner
Collegen sei es vergönnt, eine extemporirte Rede einzuflechten, welche er am
11. April 1864 im Repräsentantenhause hielt. Die Aussichten der Republik
waren damals hoffnungsloser denn je; überall Niederlagen, überall De¬
müthigungen und im Rücken der Armee jene furchtbare Reaction, welche be¬
reits in New-Aork ihre Bluthochzeit gehalten hatte. Da wurde im Congreß
der Antrag gestellt, den Süden anzuerkennen und so dem Kriege ein rasches
Ende zu machen. Die meisten Republikaner waren wie gelähmt, dieses
Schreckenswort hatte wol mancher befürchtet, doch keiner hatte es für mög¬
lich gehalten, daß ein Vertreter des Nordens nach so viel Blutvergießen,
nach so großen Opfern den Muth haben werde, es auszusprechen. Henry
Winter Davis aber erhob sich sofort und wies den schmachvollen Antrag in
einer Rede zurück, welche wol verdiente, neben dem berühmten „Hu,oil8<iug,s
tauäem" — aufbewahrt zu werden.
Er sagte-.
„Herr Sprecher! Wenn man behauptet, daß eine Zeit kommen mag, wo
die Frage wegen Anerkennung der südlichen Konföderation aufgeworfen wer¬
den darf, so will ich dem nicht widersprechen. Wenn das Volk erschöpft
durch Steuern, müde der Opfer und des Blutvergießens, betrogen von seinen
Gesetzgebern, verführt von Demagogen zu dem Glauben, daß Frieden der
Weg zu Wiedervereinigung und Unterwerfung der Pfad zum Siege ist, seine
Waffen wegwirft vor dem herannahenden Feind; wenn weite Klüfte zwischen
der Bevölkerung jedes Staates jedem Auge klar werden lassen, daß Trennung
vom Süden Anarchie für den Norden ist, und daß Frieden ohne eine wiederher¬
gestellte Union das Ende dieser Republik ist: dann wird die Unabhängigkeit
des Südens eine vollendete Thatsache sein, und die Herren können sich, ohne
Hochverrath an der todten Republik zu begehen, in diesem wandernden Kon¬
greß, wo immer derselbe dann auch tagen mag, für Anerkennung ihrer
„Masters" im Süden erklären. Doch bis jener Tag kommt, wünsche ich im
Namen der amerikanischen Nation, im Namen jeder Familie, welche einen
für die heilige Sache Gefallenen betrauert, im Namen derer, welche vor uns
in Schlachtordnung stehen, im Namen der Freiheit, die uns von unseren Vor¬
fahren überkam, ewigen Fluch dem, der den Vorschlag machen sollte, dieses
gesegnete Land auf eine so schmachvolle Weise zu Grunde gehen zu lassen.
Vor der Hand soll darum nach dem Willen des amerikanischen Volkes
kein Compromiß geschlossen werden. Ruin für uns, oder Untergang der süd¬
lichen Rebellen sind die einzigen Auswege. Nur vermittelst solcher Entschlüsse
können sich Nationen über große Gefahren erheben und dieselben in ent¬
scheidenden Krisen bewältigen. Nur dadurch, daß Frankreich ein einziges Feld¬
lager wurde, und entschlossen war. daß Europa dieses Land eher vernichten
als unterwerfen solle, nur dadurch ist es das tonangebende Reich Europas ge¬
worden. Einem solchen Entschluß verdankt das amerikanische Volk, daß es.
nachdem es seine zögernde Regierung zwang, das Schwert zu ziehen, und die
Existenz der Nation für die Integrität der Republik aufs Spiel zu setzen,
jetzt als Nation geachtet dasteht vor der Welt. Weil das Volk der Ver-
einigten Staaten diese Generation dem Schwerte weihte und das Blut seiner
Kinder rücksichtslos vergießen läßt, weil es angesichts des Himmels geschworen
hat. daß dieser Kampf mit gänzlicher Niederlage oder mit völligem Triumph
enden soll, sind wir geworden was wir sind, weht die Flagge der Republik
noch stolz dem Feinde entgegen, sind weite Regionen den Gesetzen des Landes
-unterworfen geblieben, dringt unser mächtiges Heer jetzt tief ins Innere der
Rebellion. Nur durch den ernsten und feierlichen Entschluß des Volkes, daß.
.was auch immer unser Schicksal sein mag. dasselbe groß sein soll, wie die
amerikanische Nation, würdig der Republik, welche sich zuerst in die Reihe
der großen Weltreiche stellte und keinen Frieden machte, außer unter dem
Siegesbanner, wird das amerikanische Volk diese Krisis überleben. Und das
wird uns retten!
Wir werden Erfolg haben und nicht untergehen. Ich setze ein unwan¬
delbares Vertrauen auf die Festigkeit, Geduld und Ausdauer des amerika¬
nischen Volkes, und wenn wir geschworen haben, bei dem großen Entschluß
bleiben, entweder zu siegen oder unter zu gehen, dann ist der Sieg unser.
Und fallen wir mit solch einem heroischen Entschluß, so fallen wir mit Ehren,
und überliefern die unserer Verwahrung anvertraute Freiheit den künstigen
Generationen unbefleckt. Meine Herren, wenn wir untergehen müssen, so
laßt nicht zu, daß unsere letzte Stunde durch Schwachheit geschändet werde!
Wenn wir fallen müssen, so laßt uns bis zuletzt zu der zusammenkrachenden
Republik stehen, damit ihre Trümmer uns begraben, die Geschichte verzeichnen
kann, daß in der Mitte des 19. Jahrhunderts Männer noch lebten, die ein
besseres Schicksal verdienten, aber von Gott gestraft wurden, für die Sünden
ihrer Vorfahren. Laßt die Ruinen der Republik den spätesten Generationen
von unserer Größe und unserem Heldenmuthe zeugen. Und laßt die Frei¬
heitsgöttin ihres Kranzes baar und kinderlos auf diesen Ruinen trauern und
es den Nationen der Welt klagen: „Ich habe Kinder gesäugt und erzogen,
doch sie haben ihre Hand gegen mich erhoben."
Wesentlich diesen begeisterten Worten war zuzuschreiben, daß fortan Nie¬
mand mehr wagte, die Abstimmung über den Antrag zu fordern. Bei solchen
Gelegenheiten wurde Davis von seinen College» beider Parteien mit Lob über¬
schüttet, und seine erbittertsten Gegner gaben ihrer Bewunderung seines Ta¬
lentes nicht selten den entschiedensten Ausdruck. So sagte, während Davis
sprach, ein Demokrat von Ohio zu seinem republikanischen Nachbar: „Ich
habe wirklich geglaubt, Ihr „schwarzen Republicaner" wolltet das Land rui-
niren, doch ich fange an, besser von Euch zu denken. Ich verabscheue die
Prinzipien dieses Mannes, doch welch nobler, rechtschaffener Bursche ist er
doch". Bei einer anderen Gelegenheit, als er durch eine kurze brillante
Rede einen Vorschlag dös Repräsentanten Pike vernichtet hatte, drückte ihm
dieser die Hand und sagte treuherzig: „Sie sind in Ihrer Verrücktheit ein
Stolz unserer Republik".
Als Volksredner errang Davis noch bedeutendere Erfolge, obgleich er
nie nach Beifall haschte und dem Volke persönlich sehr fern stand, indem er
— ganz gegen die amerikanische Praxis — nie in die Kneipen ging. Er
war eine durchaus aristokratische Natur; nur Wenige konnten sich seiner
Freundschaft oder auch nur des näheren Verkehrs mit ihm rühmen. An
Bildung überragte er sowol das seichte amerikanische Gelehrtenthum, als
den trostlosen Beamtenstand beträchtlich, ebenso den in Baltimore sehr mäch¬
tigen Advokatenstand, aus welchem sich Letzteres größtentheils recrutirt. Die
Arbeiter und seine übrigen Constituenten kannten ihn fast nur von der Red¬
nerbühne her, und dort sagte er ihnen gerade nicht immer, was sie gern hör¬
ten. Kaum ein zweiter Mann hat sich so rücksichtslos gegen den nicht sehr ge¬
duldigen amerikanischen Souverain, das Volk, betragen, wie Davis. So sagte
er einmal, als er Candidat für den Congreß war und in einer Markthalle eine
Versammlung anredete: „Ihr Männer habt meine Stimmabgabe, durchweiche
Pennigton Sprecher des Repräsentantenhauses wurde, mißbilligt. Meinet¬
wegen! Ihr könnt Vertreter haben, welche Eure Sclaven sind und Euren
albernen Ansichten und Capricen Rechnung tragen. Wenn Ihr mich wählt,
so werde ich nur nach meinem eigenen Ermessen Eure Interessen wahren,
und ich werde sie stets denen der Republik unterordnen." Was eine solche
Sprache in Amerika sagen will, kann Niemand, der die Zustände dieses Lan¬
des kennt, zweifelhaft sein.
Zu der republikanischen Partei stand Davis in einem eigenthümlichen
Verhältniß. Obwol Niemand seine Anhänglichkeit an ihre Principien und
seinen Patriotismus bezweifelte, so wußte man doch nie, wie man mit ihm
daran war. Den meisten republikanischen Politikern war er sogar das Lu-
kaut terribls der Partei. Wenn man bei allen anderen republikanischen
Congreßmitgliedern voraus wußte, wie sie über diese oder jene Maßregel
stimmen würden, so wußte man es bei Davis selten. Häusig stimmte er
z. B. in finanziellen und national-ökonomischen Fragen geradezu mit der
Gegenpartei. Denen, die mit der republikanischen Partei durch Dick und
Dünn liefen, die um der leidigen „Beute" Willen alle ihre Maßregeln bil¬
ligten, war Davis stets ein Dorn im Auge, und sie haßten ihn ebenso wie
die politischen Gegner. Er ging ihnen zu rasch, er war zu revolutionair, er
brachte die Partei in Gefahr, bei der großen Masse unpopulär zu werden.
Oft hatten sich im Repräsentantenhause über zwei Drittel der Vertreter vor¬
genommen, ihm nicht nachzugeben, und doch mißlang es ihm selten, seine
Maßregeln durchzusetzen. Seinen Worten und seinem Streben war der
Erfolg fast immer gewiß.
Außer der Emancipation der Negersclaven hat man Davis noch die
Räumung Mexico's durch die Franzosen und schließlich die Anbahnung der
Bewegung für allgemeines Stimmrecht im Wesentlichen zugeschrieben.
Man betrachtet gewöhnlich Abraham Lincoln als den amerikanischen
Emancipator. Lincoln war jedoch nur der Vollstrecker des großen Wortes,
nicht der Schöpfer desselben, und gerade das ist sein unsterbliches Verdienst,
daß er es ehrlich vollstreckte. Seinem ganzen Wesen nach conservativ, war
Lincoln nicht der Capitain der Emancipationspartei, sondern nur ihr Feld¬
webel; er stürmte ihr nicht voran, er schritt sicher und bedächtig hinterher;
das wichtigste Glied des Führer-Triumvirats war Henry Winter Davis.
Lincoln dachte noch nicht daran, daß die Sclavenemancipation eine Folge
des Krieges sein werde, er betrachtete denselben noch als bloßen Pflanzer¬
ausstand, mit dessen Unterdrückung die alten Verhältnisse wieder hergestellt
sein würden, als bereits Davis im Kongreß und Wendet Philips in den Volks-
Versammlungen der nördlichen Staaten, die Emancipation predigten, welche
endlich Lincoln nur zögernd und durch die Volksstimme gezwungen pro-
clamirte.
Davis war ferner einer der Ersten, welche sich für Bewaffnung der
Neger aussprachen zu einer Zeit, wo der Gedanke daran selbst in den loyalen
Staaten als Hochverrath an den Vorrechten der kaukasischen Race angesehen
wurde. Er bewies dem Volke, daß auf allen Schlachtfeldern des großen Re-
volutivnskrieges Schwarze angekämpft hätten, ja daß sogar das erste Opfer
jenes Krieges ein Neger gewesen war. Er half den Beschluß, welcher die
Negerbewaffnung verfügte, durchsetzen, und Niemand wird heute leugnen
können, daß die Neger sehr viel zur Unterdrückung der Rebellion beitrugen.
Seinen größten Erfolg erfocht Davis aber gegen die Winkelzüge Napoleon's
und den Neutralitätsbruch Englands. Zu einer Zeit, als die ganze Nation
mit Sorge der Zukunft eritgegenblickte, und die Actien der Unionssache tief
unter Pari standen, erhob er seine gewaltige Stimme gegen die in Mexico
begonnene Intrigue, und an jenem Tage, als eine Versammlung von 3000
Bürgern ihm in Philadelphia nach einer Rede ihr tausendstimmiges Bravo zu¬
rief, begann der mexicanische Kaiserthron zu wanken. Er ließ die That der
Drohung auf den Fuß folgen und setzte im Congreß den denkwürdigen Be¬
schluß durch, welcher die Räumung Mexico's und den Zusammenbruch des künst¬
lichen Kaiserthrons zur Folge hatte. Nicht bei Seward hat sich Napoleon für
das mexicanische Fiasco zu bedanken, sondern bei Henry Winter Davis.
Als man im Rathe der Nation rathlos war und nicht recht wußte,
was man mit den freigewordenen Schwarzen anfangen sollte, war Davis es
abermals, der in einer Volksversammlung zu Chicago das Zauberwort aus¬
sprach, welches die ins Stocken gerathene Bewegung wieder ins Rollen
brachte, indem er Raeengleichheit und allgemeines Stimmrecht proclamirte
zu einer Zeit, wo noch die muthigsten Männer des Fortschritts vor diesen
Gedanken zurückschraken. Und heute nach drei Jahren des Zögerns, der Agi¬
tation und des inneren Ringens hat endlich seine Partei diese Idee zu ihrem
Programm gemacht und bereits in der Präsidentenwahl mit derselben gesiegt.
Als politischer Schriftsteller hat sich Davis durch ein Buch bekannt ge¬
macht, das den Titel „der Kampf zwischen Ormuz und Ahriman im 19.
Jahrhundert" führt. In diesem Buche sind die amerikanische Republik und
das russische Kaiserreich als die Repräsentanten der beiden einander be¬
kämpfenden Gegensätze hingestellt. Das Werk erschien 1852, und machte in
Amerika Furore, da es gegen die von jedem Amerikaner bis dahin heilig
gehaltene Nichtintervenlionspolitik Washingtons auftrat, und der Republik
predigte, daß Gleichgültigkeit gegen die Fceiheitskämpfe anderer Völker nichts
Geringeres als Selbstmord sei. „Das amerikanische Volk — so hieß es
unter Anderem — ist in die Jahre der Reife getreten, es kann sich nicht
auf chinesische Weise von der Welt abschließen, es muß an den Welthändeln
regen Antheil nehmen, und wo immer sich eine Gelegenheit bietet, einer be¬
drückten Nation zu helfen, muß es, dem Brennus gleich, sein Schwert in die
Waage werfen. Wenn es deshalb möglich ist, daß der Sache der Freiheit
in Europa durch uns zum Siege verholfen werden kann, so lehrt uns die
gesunde Vernunft, keine Gelegenheit zu verpassen, durch irgend ein Opfer ihr
diesen Sieg zu sichern, indem dieses unsere beste und sicherste Selbstverthei-
digung ist. Ob auch unser Banner auf tausend europäischen Schlachtfeldern
siegreich weht, man wird uns nicht mehr hassen, als man uns bereits in den
europäischen Kabinetten haßt. In diesem Kampf handelt es sich aber nicht
um Republik oder Monarchie, sondern um den Krieg zwischen Freiheit und
Sclaverei. Es ist noch zweifelhaft, ob nicht ein erbliches Oberhaupt — wenn
es rechtschaffen ist — für einige Theile Europas das beste wäre. Die freieste
Regierung der Welt — nach der unseligen — ist die populäre Monarchie
England, und das gekrönte Haupt Victoria's ist uns bei weitem theurer, als
der Despot ohne Krone, welcher die Welt mit dem Spottnamen Prinz-
Präsident der französischen Republik verhöhnt.....Der ehrwürdige Titel
Präsident wird bald eben so verrufen sein, wie der des Königs, wenn er von
dem Despoten Frankreichs noch lange geführt wird."
Leider kann ich diese Skizze nicht schließen, ohne einer Verirrung dieses
ausgezeichneten Mannes zu gedenken, nämlich seiner Verbindung mit der
Partei der sogenannten Knownothings.
Als ein Führer dieser Fanatiker im Staate Maryland diente auch Davis
eine Zeit lang dem Fremdenhaß, freilich aus anderen Beweggründen, als die
Menge seiner Parteigenossen. Man hat versucht, ihn später reinzuwaschen,
und ihn besonders in den Augen der Deutschen zu rehabilitiren. Das ist
ebenso überflüssig wie vergeblich. Davis hatte Jahre lang mit angesehen.
Wie die massenhaft einwandernden Deutschen und Jrländer gedankenlos in
die Reihen der demokratischen Partei traten, wie sie größtenteils durch den
schamlosesten Betrug, nachdem sie kaum fünf Monate im Lande waren, zu
Bürgern gemacht wurden, und dafür durch ihre Stimmen den Demokraten
zum Siege verhalfen. wie sie, ohne nur im Geringsten zu wissen, warum es
sich handelte, abstimmten, wie sie sich von demokratischen Stimmenmäklern
schaarenweise an die Stimmplätze treiben ließen, was ihnen bekanntlich den
bezeichnenden Namen „Stimmvieh" verschaffte. Er sah das Alles, und sein
Herz erfüllte bald eine maßlose Erbitterung gegen Leute, welche vorgaben,
der Freiheit halber in dieses Land gekommen zu sein, und doch den Selaven-
halterinteressen bereitwillig in die Hände arbeiteten. Seine Ansichten über
die Deutschen erfuhren übrigens später, besonders als er unsere reiche Litera¬
tur im Original kennen lernte, eine völlige Umwandlung.
Das Ende des amerikanischen Krieges ist mit dem Henry Winter Davis'
beinahe zusammengefallen. Die Schlachten des größten Bürgerkrieges, wel¬
chen die Welt je gesehen, waren geschlagen, und nun wiederholte sich eine
Erscheinung, wie sie riach solchen Katastrophen fast überall vorkommt; die
Reaction wuchs zur Springfluth an, und riß die schlechteren Elemente der
Fortschrittspartei in ihren Strudel, die besseren aber warf sie theil¬
weise auf den Sand, und die, welche gegen sie ankämpften, hatten
einen schweren Stand. Henry Winter Davis war politisch ein Opfer
jener Reaction in Maryland, indem an seine Stelle ein gemäßigter Re¬
publikaner erwählt wurde, der sofort in das andere Lager überging. Er hat
diesen Wechsel nicht überlebt.
In der Vollkraft des Mannesalters ereilte ihn plötzlich der Tod, er starb
am 30. December 1865 nach kurzer Krankheit in Baltimore.
Die Trauer um ihn war allgemein, und die ausgezeichnetsten Männer
des Landes suchten Gelegenheit, seinen Verdiensten ihren Tribut zu zollen,
die jetzt auch von den Gegnern nicht mehr geleugnet wurden.
Gustav Adolf von G. Droysen. Erster Band (369 S.) Leipzig bei Veit u. Co.
Herr Dr. Droysen, Sohn I. G- Droysen's hat sich in der wissenschaft¬
lichen Welt schon früher durch werthvolle Monographien aus der Geschichte
des dreißigjährigen Krieges, namentlich durch seine im dritten Bande der
„Forschungen zur deutschen Geschichte" abgedruckten Studien über die Be-
fagerung von Magdeburg bekannt gemacht. Das vorliegende Buch bildet
den ersten Band eines größeren Werks über den Schwedenkönig, dessen
Stellung zu den im dreißigjährigen Kriege ringenden Parteien seit zwei Jahr¬
hunderten zu den schwierigsten und interessantesten Problemen der historischen
Forschung gehört. Der Verf. hat nicht sowol eine Revision der seither ge¬
läufigen Ansichten, als eine neue Darstellung auf Grund bisher gar nicht
oder doch nur unvollständig benutzter Quellen unternommen, deutscher wie schwe¬
discher. Ueber die letzteren werden wir uns erst nach dem Erscheinen des
zweiten Bandes unterrichten können, unter den deutschen von ihm benutzten
Archiven, werden Dresden und die beiden Münchener Sammlungen (Reichs¬
archiv und königliche Bibliothek) in erster Reihe genannt.
Der erste Band hat es mit der Geschichte Schwedens unter den fünf
ersten Fürsten aus dem Hause Wasa und den ersten 18 Regierungsjahren
Gustav Adolfs zu thun; er schließt mithin an demselben Punkt, von welchem
Helbigs verdienstvolles aus den dresdnern Archiven geschöpfte Buch (Gustav
Adolf und die Kurfürsten von Sachsen und Brandenburg, Leipzig 1854)
beginnt, und enthält eine in alle Details gehende Darstellung der einzelnen
Phasen der schwedischen Politik, seit Beginn des Resormationszeitalters,
so zu sagen die Vorgeschichte des Systems, welches Gustav Adolf verfolgte,
nachdem er auf deutschem Boden gelandet war. Damit ist zugleich gesagt,
daß der zu erwartende zweite Band den eigentlichen Schwerpunkt des Werks
bilden, und daß eine abschließende Beurtheilung desselben erst möglich sein wird,
wenn der Verf. zu den bisherigen Arbeiten über seines Helden deutsche Feld-
und Schachzüge Position genommen. All' die Controversen, welche über die
dem Schwedenkönige zu vindicirende Stellung in der deutschen Geschichte be¬
stehen, haben es mit dem kurzen Zeitraum zu thun, den derselbe auf deut¬
scher Erde verbrachte, seine Vorgeschichte wird von den Historikern gewöhnlich
nur nach den Resultaten, welche sie über die I. 1630—1632 gewonnen, also
retrospeetiv beurtheilt.
Droysens Arbeit sucht dagegen an der Betrachtung aller, der pommerschen
Landung vorhergehenden, Phasen von Gustav Adolf's Regierung den Aus¬
gangspunkt für das schließliche Urtheil über dieses Helden deutsche Politik
zu gewinnen und trägt schon aus diesem Grunde den Stempel der Selbstän¬
digkeit und Unabhängigkeit von früheren Forschungen. Seine Stellung zu
dem, was man gewöhnlich Gustav Adolf's deutsch-protestantische Mission nennt,
bezeichnet der Verfasser in der Vorrede so präcis, daß wir uns nur an
diese zu wenden brauchen, um mit dem letzten Wort des gesammten Werks
im Voraus bekannt zu werden. „Man hat sich daran gewöhnt", heißt es
a. a. O., „Gustav Adolf's welthistorische Bedeutung darin zu sehen, daß er
das Evangelium vom Rande des Untergangs rettete. Zwei Jahrhunderte
sind geschäftig gewesen, diese Anschauung zur herrschenden zu machen, so
sein Andenken gleichsam zu verklären. Die Ehrerbietung vor seinen Tugenden
hat sich mit der Bewunderung für seine Pläne und seine Thaten vermischt.
Weil er die evangelische Lehre geschützt, gerettet hat, will man, daß er aus.
gezogen sei. sie zu retten und zu schützen. Als der Heros des Protestantis¬
mus lebt er in der Erinnerung der evangelischen Welt, als der fromme Held
im Dienste des Glaubens. Wie man den Apostel Paulus abgebildet sieht,
mit der offenen Bibel in der Linken und dem bloßen Schwert in der Rech¬
ten, so steht der Nordländer vor dem Blick der bewundernden Nachwelt. —
Aber wenn es sich nun erweisen ließe, daß andere Gründe ihn zum Handeln
trieben und sein Handeln bestimmten, als der Wunsch, die Glaubensfreiheit
zu schützen und das Evangelium zu retten — ist die evangelische Welt ihm
minder Dank schuldig, wenn das. was er vollbrachte, ihr zum Heil gereichte.
Der Erfolg überdauert in der Geschichte, nicht die Absicht. Was erreicht ist,
bleibt dasselbe, wie immer es erreicht wurde, die Tugend und das Laster des
Handelnden sällt nicht zurück auf das Resultat seines Handelns........
Nicht daß für die Entwickelung der reinen Lehre Gustav Adolf's Eingreifen
in die deutschen Angelegenheiten entscheidend gewesen ist, bestreite ich. Aber
ich bestreite, daß er zu Nutz und Frommen des kirchlichen Lebens und der
Glaubensfreiheit in sie hat eingreifen wollen. Ich behaupte, daß Gründe
rein politischer Natur ihn zur Verwendung auch dieses Mittels bewogen,
gezwungen haben."
Die Gewöhnung. Gustav Adolf's welthistorische Bedeutung ausschließlich
oder auch nur vorzugsweise in der Rettung des Evangeliums zu suchen, ist,
unserer Meinung nach weder so allgemein, noch so unbeschränkt gewesen, daß
der Verf. mit seiner Anschauung auf principiellen Widerspruch zu stoßen
fürchten müßte. Im Gegentheil sind die Zeiten der naiven Bewunderung
für den „Heros des Protestantismus" auch in der deutsch - protestantischen
Welt so gründlich vorüber, daß schon vor fünfzehn Jahren Versuche gemacht
werden konnten, den großen Todten von Lützen vor dem Vorwurf gemeiner
Eroberungslust und frechen Eindrangs (wie er namentlich durch Leo, Bart-
hold und Gfrörer erhoben worden) zu vertheidigen; dafür daß die nöthige
Reaction gegen die einseitig idealisirende Auffassung früherer Zeiten ihren
Einfluß auch in weiteren Kreisen geltend gemacht hat, ja, in gewissem Sinne
sogar in das Volksbewußtsein übergegangen ist, läßt sich das anspruchsloseste
aller Zeugnisse, das Conversationslexikon anführen.
G. Droysen's Anschauung kann mithin darauf rechnen, in der öffentlichen
Meinung entschiedenes Entgegenkommen zu finden, und die Methode, nach
welcher der Verf. gearbeitet hat, trägt so überzeugend den Stempel der Un¬
befangenheit und Solidität an sich, daß ihr die Anerkennung der Fachmänner
ebenso wenig fehlen wird, wie die des großen Publikums, Nicht eine Bio¬
graphie Gustav Adolf's, sondern eine Geschichte seiner Politik ist es, mit
welcher wir es im strengsten Sinne des Worts zu thun haben. — Das erste
Buch macht den Leser im Einzelnen mit dem System bekannt, welches Gustav
Was«, Erich und Karl IX. befolgten, um ein schwedisches Uebergewicht an der
Ostsee zu begründen. Die Spitze desselben ist zunächst gegen Dänemark ge¬
richtet, das sich einmal von den Traditionen der kalmarischen Union nicht
los machen kann, und später Schwedens Erwerbungen an der östlichen, liv-
estländischen Küste des baltischen Meeres entgegentritt, und dem Einfluß, den
Erich XIV. durch die Unterwerfung Revals gewonnen (Juli 1661) die
Schattengestalt des mit Nußland verbündeten „Königs" Magnus entgegen
zu setzen suchte. Noch bevor dieser Kampf ausgefochten war, führte Johann's
verhängnißvolle Ehe mit der polnischen Prinzessin Katharina, zu einem top.
pelten Conflict: innerhalb Schwedens trat, gleichzeitig mit Alba's nieder-
ländischen Siegen und dem Beginn der französischen Bürgerkriege, eine Re¬
action im katholischen Sinne ein, welche sich zunächst in einer veränderten
Richtung der Politik fühlbar machte, und wenig später begann der lange er¬
bitterte Krieg mit Polen, dessen abtrünniger König schon im I. 1593 aus
seiner schwedischen Herrschaft verdrängt wurde. Seit der Thronbesteigung
Karl's IX. steht der Antagonismus Polens gegen die protestantische Monarchie
des baltischen Nordens im engsten Zusammenhang mit den Plänen der
Habsburgischen Universalmonarchie und deren Absichten auf die Herrschaft
über die Ostsee. Der Gegensatz gegen Dänemark hat darum nicht aufgehört,
aber er ist in zweite Linie gerückt, und gewinnt seine entscheidende Färbung
fortan durch die Beziehungen Schwedens zu der protestantischen Opposition
in Deutschland.
Die folgenden Bücher gehen im Einzelnen den Windungen der schwedischen
Politik nach, bevor diese durch die Landung in Pommern den letzten und
entscheidenden Schritt that, um an die Spitze der lang geplanten, aber immer
nicht zu Stande gekommenen protestantischen Konföderation gegen die habs-
burgisch-spanischen Herrschastsansprüche zu treten. Eingeleitet ist das zweite
Buch durch eine Charakteristik der Person und des Entwicklungsganges des
Helden selbst. Auf diese wird um so größeres Gewicht zu legen sein, als sie
eigentlich den einzigen Abschnitt des gesammten ersten Bandes unserer Schrift
bildet, welcher es mit den handelnden Personen als solchen zu thun hat; in den
folgenden Büchern und Capiteln treten die den Gang der Ereignisse
bedingenden Männer wieder so vollständig hinter die geschilderten Verhält¬
nisse und diplomatischen Verwickelungen zurück, daß das Interesse des Lesers
leicht erlahmt, mindestens von seiner Frische und Ursprünglichkeit verliert.
Der Verfasser, der bereits in der Vorrede gesagt hat, „er wolle nicht den
Verlauf des Lebens, sondern die Reihe von Verhältnissen darlegen, in welche
Gustav Adolf eingegriffen hat", geht diesem seinen Hauptzweck so direkt nach,
ist mit der Bewältigung der schwierigen Aufgabe, die verschiedenen Phasen
der europäischen Gesammtsituation zu schildern und auseinander abzuleiten,
so ausschließlich beschäftigt, daß er zu näherer Bekanntschaft mit den Per-
sonen nicht die Zeit hat. Wir wollen unerörtert lassen, in wie weit die Ge¬
schichte der Politik eines Staates wahrhaft anschaulich gemacht werden kann,
wenn sie nicht zugleich eine Geschichte der betheiligten Politiker ist. und wo
der Punkt beginnt, an welchem das Handeln der Personen nicht mehr
auf die sie beherrschenden Verhältnisse zurückgeführt werden kann, sondern
umgekehrt die Personen vor den Verhältnissen in den Vordergrund treten
*
müssen —, sondern nur constatiren, daß es gerade das Geschick des Verfassers
für die individuelle Charakteristik ist. das uns seine ausschließliche Vertiefung
in die diplomatischen Verhandlungen, den scheinbar von den Personen unab¬
hängigen Lauf der Dinge, bedauern läßt. Der kurze Abschnitt, der von des
Königs Person handelt, „die wie ein Nordlicht erscheinen mag — so groß, so
wunderbar, so leuchtend und doch so kühl" entwirft ein so klares, in so festen
Zügen gezeichnetes Bild des Helden, daß uns unwillkürlich der Wunsch be¬
schleicht, der Verfasser hätte den Pinsel des Portraitmalers länger in Hän¬
den behalten und nicht sogleich gegen den Griffel des diplomatischen Geschichts¬
schreibers vertauscht.
Dieser Umstand macht sich auch in der Folge geltend, namentlich in den
Abschnitten, welche es mit Gustav Adolf's livländischen, gegen Polen und
Russen erfochtenen kriegerischen Erfolge zu thun haben und die zu Gunsten
der gleichzeitigen Verhandlungen mit dem pfälzer Hof und den General¬
staaten in einen allzuengen Rahmen zusammengeschoben sind. Daß der Ver¬
sasser auf des Königs eigenthümliches militairisches Talent und die unge¬
heuren Erfolge nicht näher eingeht, die derselbe gerade gegen Polen errang,
erklärt sich wieder aus dem Plan des Werks, das leider nur eine Geschichte
der schwedischen Politik jener Zeit sein will. Aber ohne Entfernung von diesem
Ziel wäre es doch wol möglich gewesen, der großen staatsmännischen Wirk¬
samkeit zu gedenken, die Gustav Adolf gerade in diesem Zeitpunkt als Orga¬
nisator der neu eroberten Provinzen seines Reichs entfaltete. Diese Seite sei¬
nes reichen politischen Talents hat Gustav Adolf nie glänzender und aus¬
giebiger zu zeigen vermocht, als gerade in den Jahren, welche der Erobe¬
rung Riga's folgten; außerdem ist die Methode, nach welcher er die durch
den polnisch-jesuitischen Druck verwilderten Länder der baltischen Küste pro¬
testantischer Cultur zurückzugewinnen, ihnen für Jahrhunderte die Bahn der
Entwickelung vorzuzeichnen wußte, ein Vorbild für das Verwaltungssystem,
dem der König während seiner deutschen Eroberungszüge huldigte.
Daß an diesem, immerhin bedeutungsvollen Abschnitt im Leben des
nordischen Helden vorüber gegangen wird, hat übrigens doppelte Gründe
und das relativ gute Recht derselben, liegt zu sehr auf der Hand, um verkannt
werden zu können; der Verfasser betrachtet die gesammte Thätigkeit Gustav
Adolf's unter dem Gesichtspunkte ihrer Bedeutung für den großen deut¬
schen Krieg, und er hat es ausschließlich mit Primairen Quellen, vor¬
wiegend mit denen zu thun, die er selbst erschlossen. Und diese Quellen
führen nach Westen, nicht nach Osten. Zu derselben Zeit, da Gustav Adolf
Livland unterwirft und siegreich durch Kurland nach Litthauen und Polen
vordringt, muß er Dänemark „den Vortanz" in den gegen Oestreich gerichteten
Bestrebungen überlassen und beginnen die Generalstaaten für den großen
Bund zu werben, zu dem sich alle protestantischen Fürsten und Völker zu¬
sammenschließen sollen, um zugleich gegen Habsburg und gegen Spanien in
die Schranken zu treten. Während der niederländische Gesandte Kaspar von
Voßbergen mit Gustavs Bevollmächtigten Salvius verhandelt, trifft die Kunde
von dem Ableben Jacobs I. von England an, dessen zögernde und energielose Hal¬
tung bis dahin eines der vornehmsten Hindernisse für ein gemeinsames Vorgehen
der protestantischen Mächte abgegeben hatte. Dann erfaßt im Frühjahr 1624
Richelieus' kräftige Hand die Zügel der französischen Staatsleitung, und er, „der
gleichgiltig über Kleinigkeiten ist, aber alles Große groß nimmt", tritt sogleich
mit Holland, wenig später mit dem Grafen von Mansfeld in Verbindung.—
Die Bewegung zu Gunsten der Unterstützung der zusammenbrechenden prote¬
stantischen Sache ist fortan in ein neues Stadium getreten. Aber noch
einmal wird Schweden von der gemeinsamen Action, — und was damit
gleichbedeutend geworden ist, von der Führung derselben ausgeschlossen, die
Frucht der Haager Conferenz (des „Concerts") ist ein dänisch niederländisch-
englisches Bündniß, das den stolzen Schwedenkönig wol zum Zutritt einladet,
ihm aber die Bedingungen vorschreiben will, unter denen er an der gemeinsamen
Action Theil nehmen soll. — Der Abschnitt, der die secher gehörigen Trans¬
actionen schildert, ist neben dem Schlußcapitel „das Directorium Däne¬
marks" als der wichtigste des ersten Bandes anzusehen. Er gewährt uns
Einblick in die Gesichtspunkte, unter denen Gustav das Verhältniß Schwedens
zu der protestantischen Sache in Deutschland von Hause aus auffaßte, und
'bietet zugleich den Schlüssel zu dem ferneren Verhalten dieses scharfsichtigen
Fürsten in der deutschen Frage. En läßt das dänische „Directorium" sich
auswirthschaften, läßt Niederländer und Engländer die Erfahrung machen,
was es mit der Führung einer Macht zweiten Ranges und einem Führer
noch tieferer Ordnung auf sich hat, und greift erst zum Schwert, als er nicht
nur unbestritten an die Spitze aller noch gegen Habsburg kämpfenden Mächte
treten muß, sondern als die Bedingungen des Kampfs und ver Kampfpreis
nur von ihm allein bestimmt werden können; Dänemark's doppelter Verrath
ist ihm nur Mahnung dazu, den Kampf lieber allein, als an der Seite eines
Combattanten zu unternehmen, der weder gefügig noch zuverlässig ist.
Mit dem unwürdigen Frieden, den das niedergeworfene Dänemark am
3. Juni 1629 auf Unkosten jener Bundesgenossen abschloß, denen der schwach,
liebe Christian nützlicher erschienen war, als der kühne Gustav, schließt der
vorliegende erste Band. Richelieu's Ausruf: „es roi ä«z Sueäs <5kalt un
nouveau solsil Isvant", ist an den Schluß desselben gesetzt, und bildet gleich¬
sam die Ankündigung der vielversprechenden Fortsetzung. — Dieser sehen
auch wir mit Spannung entgegen. Wir sprechen noch den Wunsch aus. daß
es Herrn Droysen gefallen möge, das Bild des Fürsten, der im Mittelpunkt
dieser Politik steht, möglichst vollständig herauszuarbeiten. Nur wenn wir den
Menschen Gustav Adolf vor uns haben, werden wir den Diplomaten und
Staatsmann des 30 jährigen Krieges richtig verstehen.
Die nachstehenden drei Briefe Schiller's sind an einen Leipziger Kauf¬
mann Kunze gerichtet, über dessen Person und Beziehung zu unserem Dichter
der Herr Geh. Rechnungsrath Fr. A. Wilken in Berlin, dem wir die Mit¬
theilung derselben zu danken haben, die folgenden erläuternden Notizen gibt.
„Kunze war ein wohlhabender angesehener Kaufmann in Leipzig, der
voller Interesse für Wissenschaft und Kunst, ein gastfreies, gern besuchtes
Haus machte, aus dessen anregendem geselligen Kreise der ausgezeichnete
Portraitmaler Graff, der Schriftsteller Huber, der Kupferstecher Stock und
seine Töchter, der Buchhändler Göschen und der mit Kunze besonders nahe
befreundete Körner genannt werden mögen. Durch Körner wurde Schiller
in diesen Kreis eingeführt. Kunze war nur wenige Jahre älter als Schiller,
und im Jahre 1755 geboren. Ein herzliches Freundschaftsverhältniß, das
sich zwischen beiden bildete, blieb bis zu Kunze's am 30. März 1803 erfolg-^
tem Tode unverändert. Häufige Andeutungen darüber finden wir in dem
Briefwechsel zwischen Schiller und Körner. Von den ziemlich zahlreichen
Briefen Schiller's an Kunze, die vorhanden gewesen sein sollen, sind die hier
mitgetheilten die einzigen, welche sich noch im Besitze der Kunze'schen Nach¬
kommen erhalten haben. Ein paar andere Briefe Schiller's an Kunze und
dessen Frau sind bereits in dem von Hoffmann von Fallersleben und O. Schade
herausgegebenen Weimarschen Jahrbuche B. V., S. 179. 180, und in sehn«
ter's Briefen. Berlin (allgemeine deutsche Verlagsanstalt) B. II., S. 215-219,
veröffentlicht, und zwar in den beiden Werken ein Brief Schiller's an Kunze
vom 7. December 1785, in dem letzteren ein Brief Schiller's an dessen Frau
vom 7. April 1786 und an Kunze vom 24. Juli 1786. Sie sind dort irr¬
thümlich als an „Kunze, Director einer Löschanstalt in Leipzig" bezeichnet,
wobei ohne Zweifel eine Verwechselung mit dem vor einigen Jahren als
Bevollmächtigter der Feuerversicherungsanstalt in Leipzig verstorbenen Sohne
unseres Kunze stattgefunden hat."
Die Veranlassung zu den nachstehenden drei Briefen ergibt sich aus
diesen selbst, ihre Orthographie ist selbstverständlich beibehalten.
Dresden d. 13. Septbr. 86.
Ich habe Leipzig verlassen müssen ohne Abschied von Ihnen nehmen zu
dürfen, ohne mir noch einmal das Versprechen von Ihnen wiederhohlen zu
lassen, daß Ihre Freundschaft mir bleiben wird. Wenn das heilige Gelübde
der meinigen einigen Werth für Sie haben kann, so empfangen Sie es jetzt
aus reinem und offenen Herzen. Sie haben mich um einen Edlen Menschen
reicher gemacht und ich schäze diese Eroberung höher als alle Geschenke, die
das Glück zu vergeben hat. Unsere Seelen haben sich berührt, lassen Sie
das eine Verwandschaft unter uns stiften, die der alles verheerenden Zeit
mutig Trotz bieten kann. Unvergeßlich sind mir die wenigen Stunden, die
ich in Ihrem nähern Umgang durchlebte, diese Erinnerung wird ein Heller
Punkt in meinem Leben seyn. Könnte ich hoffen bester Freund, daß auch
von meiner Seite etwas zu Vermehrung Ihrer Freuden geschehen wäre
und noch geschehen könnte, dann glaube ich würde ich noch einmal so stolz
auf mein Herz seyn. Leben Sie wol und glücklich. Ich könnte diesem
Brief noch einen historischen Theil anhängen, aber das übrige können Sie
ja von Hudern erfahren und die Bestätigung unsrer Freundschaft, dächte ich,
wäre für einen Brief schon Inhalt genug. Erlauben Sie, daß ich in mei¬
nen trüben und glücklichen Stunden zuweilen an die Theilnahme appellire,
die Sie mir so liebevoll zusagten, und bisher bewiesen haben, und halten
Sie die Viertelstunde nicht für verloren, die Sie meinem Andenken und einem
. Brief an mich widmen.
Körner mit seiner Frau und Schwägerin befrachten meinen Brief mit
tausend Grüßen an Sie, Ihre liebe gute Frau, mit welcher Sie meine
Freundschaft brüderlich theilen werden. Die gute Karoline und unsere Chri¬
stine Kunze küssen Sie von meinetwegen herzlich. Empfehlen Sie mich un¬
serm lieben v. Hartwig und versichern Sie Ihn meiner immer währenden
Freundschaft, aber sagen Sie ihm auch, daß er den Ohrenbläßereien der
schwarzen Göttin nicht alles glauben soll. Wir Mediciner sind darinn übler
daran als andre, weil unsre Furcht vor Krankheit mikroskopische Augen hat,
weil wir tausend Wege mehr entdecken, die die Krankheit zu unserm Leben
ausfündig macht; Aber eben diese Bekanntschaft mit dieser Materie liefert
noch ungleich mehr Gründe zu unsrer Beruhigung, worauf ich den guten
Hartwich verweise.
Dresden, den 30. Juli 86.
Ich schreibe Dir nur mit wenigen Worten, liebster Freund, daß ich das
Bewußte richtig erhalten habe und Dir recht sehr für Deine Gefälligkeit
danke. Unsre Körnern wie Du weißt ist glücklich entbunden und befindet
sich mit dem Kinde*) recht wol. Das Säugen bekömmt ihr sehr gut und
wir hoffen, daß unter diesen Aspecten ihre Wochen sehr gut vorbeigehn
werden. Wie glücklich Körner sich fühlt und wie sehr wir uns alle freuen,
daß diese immer bedenkliche Epoche für die Weiber, so erwünscht vorübergeht
und die Freuden unsres Zirkels durch keine verdrüßliche Zufälle leiden —
das liebster Freund kannst Du Dir leicht einbilden. Ich hoffe, daß wir Dir
bald ebenso glückwünschen können.
Lebe wohl und grüße Deine liebe Frau und Karolinen herzlich von mir.
Körners und Huber grüßen Dich ebenfalls und ich bin unverändert der
Deinige
Aeußere Adresse: An Herrn Fridrich Kunze, berühmten Kaufmann in
Leipzig ze.
(Ohne Ort und Datum, vermuthlich nicht
lange nach dem vorigen geschrieben.)
Die Nachricht von der glücklichen Niederkunft Deiner Lieben Frau hat
mich herzlich gefreut und um so mehr, da ihre vorige Niedergeschlagenheit
und Krankheit keine so leichte Entbindung hoffen liefen. Jetzt wirf alle
Mediziner zur Thüre hinaus die die gute Mutter Natur so gelästert haben
— Hartwig ausgenommen versteht sich. Der bleibt als Freund. Grüße
mir Deine liebe Frau tausendmal und sage ihr, daß ich an ihrer Freude
den innigsten Antheil nehme. Das schlimmste ist jetzt überstanden und der
Himmel wird auch für das folgende sorgen. Leb wol.
Mit Ur. R beginnt diese Zeitschrift ein neues Quartal,
welches durch alle Buchhandlungen und Postämter zu be¬
ziehen ist.
Leipzig, im December 1868.Die Verlagshandlung.
„Von deutschen Hochschulen. Allerlei was da ist und was da sein sollte. Von einem
deutschen Professor." Berlin 1869.
Es wäre starke Selbsttäuschung, wenn die näheren und ferneren Univer¬
sitätsverwandten, die deutschen Professoren und Studenten glauben wollten,
ihre Angelegenheiten ständen in der ersten Reihe nationaler Interessen,
Wünsche und Bestrebungen dieser unserer gegenwärtigen Umgestaltungsperiode.
Das Jahr 1866 hat unsere Universitätszustände so gut wie nicht berührt, und
auch was sich seit 1866 herauszuarbeiten sucht, konnte bisjetzt nur mittelbar
und von der Seite her einen sehr begrenzten Einfluß auf jene üben. Denn
für die Sache selbst, für die einzelne Universität oder für alle deutschen Uni-
verspäten ist es von nur untergeordnetem Belang, ob drei aus ihrer Zahl
nunmehr auch noch unter das preußische Cultusministerium gestellt sind,
von dem früher schon nicht weniger als sechs, beziehungsweise acht, wenn
man Münster und Braunsberg aus Höflichkeit für voll gelten lassen will —
abhängig waren. Herr von Muster hat sich auch immer äußerst beflissen ge¬
zeigt, die berechtigten Eigenthümlichkeiten dieser neuen Glieder des preußi¬
schen Staates zu schonen, d. h, er hat im Wesentlichen Alles beim Alten ge¬
lassen und damit, wie nicht zu leugnen ist, das richtige getroffen. Denn
die neupreußischen Universitäten selbst haben noch kein Zeichen von sich ge¬
geben, daß sie eine durchgreifende Veränderung ihrer Zustände begehren, und
selbst wenn dies geschehen wäre, konnte doch der jetzige preußische Cultusminister
schwerlich der Mann sein, der dazu berufen ist. Im Einzelnen ist er übrigens
den gewöhnlichen Desiderien und Anliegen, soweit sie sich auf das beschränken,
was man „eine Universität haben" zu nennen pflegt, mit anerkennenswerther
Zugänglichkeit und Liberalität nachgekommen, versteht sich, immer nur so
weit, als die ihm schmal zugemessenen Mittel es erlaubten. Die Studenten¬
schaften in Göttingen, Marburg und Kiel haben von der neuen Ordnung der
Dinge bis jetzt auch nichts weiter verspürt, als daß das System des ein-
jährigen Freiwilligendienstes manche Commilitonen zu einer geringfügigen
Aenderung in ihren Studien — oder noch häufiger in ihrem Bummelgang
durch das Triennium veranlaßt.
Es liegt nahe mit diesem gegenwärtigen Stillleben unserer Universitäten,
ihr Verhalten in der letzten großen Epoche allgemeiner politischer und so¬
cialer Bewegung, während des Jahres 1848 zu vergleichen. Wir lassen die
grotesken Ausbrüche studentischen Revolutionsfiebers in München, Wien
oder auch in dem kleinen Weimar-Jena, ganz bei Seite, wir sprechen auch
nicht von den Professoren, Agitatoren, Volks- und Kammerrednern oder
Ministern. Wir erinnern nur an das, was damals von den Universitäten
selbst sür ihre eigene Umgestaltung aus der Grundlage der „zeitgemäßen"
Ideale geschehen ist. Denn trotz der in mehr als einem Sinne anstrengen¬
den, ja aufreibenden Forderungen, welche Vaterland und Volk damals an
die Blüthe seiner Geistesbildung auf dem Katheder und auf den Subsellien
der Hörsäle stellte, blieb doch noch auf eine jetzt kaum mehr begreifliche Weise
diesem so tief und allseitig in Anspruch genommenen Elitecorps der Nation
Zeit und Kraft genug übrig, um die eigensten häuslichen Anlegenheiten mit
demselben Eifer zu fördern. Wie billig ging die Jugend mit der That
voran, und das Alter folgte nach. Damals, wo die Worte Parlament und
parlamentarisch noch den vollen Zauber eines neu importirten Fetisches be¬
saßen, mußte es natürlich auch ein Studentenparlament sein, welches die Ne-
formgedanken der Jugend zum Ausdruck brachte. Bekanntlich gehörte der
Sommer 1848 zu den schönsten, die jemals über das deutsche Land gezogen
sind, aber auch zu den heißesten, und man weiß, welchen Einfluß diese beiden
Eigenschaften auf die großen weltgeschichtlichen Actionen der Zeit von
der pariser Februar- bis zu der wiener Octoberrevolution geäußert haben.
Das deutsche Studentenparlament tagte in der allerschönsten und allerheißesten
Woche jenes Sommers an einem Orte, den die Natur selbst sür solches
Wetter zu einer Art von idyllischem Paradies bestimmt zu haben scheint, in
Eisenach oder auf der Wartburg, mehr in den himmlisch kühlen Schluch¬
ten und Waldgehängen um dieselbe sammt den dazu gehörigen Felsenkellern
als oben auf dem alten romantischesten aller heißen Felsenneste, oder in der
schwülen und altbürgerlichen Stadt selbst. Demgemäß konnte es auch nicht
verwundern, daß Verhandlungen und Beschlüsse dieses eisenacher Parla¬
mentes einigermaßen die Atmosphäre, welcher sie ih.e Entstehung verdankten,
erkennen lassen. Selbst die Führer der Majorität, die doch als Sieger mit
ihrem Werke zufrieden hätten sein sollen, waren dies, wie Jeder es hören
konnte, der wollte, nur in so weit, als die Tage in Eisenach zu einem herr¬
lichen „Ulk" in der Umgebung und als Staffage einer herrlichen Natur
Veranlassung gegeben hatten.
Etwas später, schon in der kühlen Zeit der zweiten Hälfte des Sep¬
tembers und an einem weniger romantischen Orte, wenn gleich noch immer
romantisch genug, in Jena, constituirte sich das Professorenparlament, oder
wie es sich selbst, um der ominiösen Verwechselung mit dem damals schon
von den Demokraten häufig gebrauchten Schimpfnamen der Nationalversamm¬
lung in Frankfurt zu entgehen, officiell benannte: der Congreß deutscher Uni¬
versitätslehrer zur Reform der deutschen Universitäten. Unmittelbar vorher war
der erste Reif^ in die Blüthe der deutschen Freiheitsbegeisterung gefallen,
die häßlichen frankfurter Septembertage mit ihrem Cannibalismus, die man
überhaupt sehr gern aus der Geschichte des wenn auch tollen, doch sonst
meist harmlosen Revolutionsjcihres wegstreichen möchte. Damals wirkten sie
bei Männern aller Parteien wie ein großes, sittliches Unglück, das über die
ganze Nation hereingebrochen war und man übersah gänzlich, daß eben nur
der damals völlig vergiftete Boden der edeln freien Reichsstadt dasür verant¬
wortlich gemacht werden konnte, und daß anderwärts in Deutschland derartige
feige und brutale Scheußlichkeiten unmöglich gewesen wären. Jedenfalls aber litt
der Schwung des Professorenparlaments nicht wenig durch solche Eindrücke,
die eine Stunde vorher von nicht wenigen Theilnehmern mit eigenen Augen
wahrgenommen worden waren. Fraglich aber ist es, ob nicht dieser Dämpfer
von außen her der Sache selbst mehr genützt, als geschadet hat. Denn
der radicale Idealismus, der gerade in diesen Kreisen, nicht weniger wie
in den studentischen, noch kurz vorher auf den allerhöchsten Stelzen einher¬
zuschreiten liebte, zog es denn nun doch vor, etwas bescheidener aufzutreten
um nicht — was jetzt nicht mehr möglich, damals aber sehr nahe lag —
gesinnungsverwandt mit den Helden von der bornheimer Haide zu er¬
scheinen. Demgemäß schritten die Verhandlungen der drei Tage viel regel¬
rechter und geschäftsmäßiger vor. als irgend Jemand erwartet und Viele
gehofft hatten, und die gefaßten Beschlüsse trugen, aus ihrer Zeit heraus be¬
urtheilt, durchweg den Stempel eines maßvollen und bescheidenen Neform-
bestrebens. Revolutionäres war in dem jenenser Parlamente nichts zu ent¬
decken, weshalb dann auch alle die ö'entadelt innerhalb und noch mehr außer¬
halb der Versammlung, die aus den verschiedensten Gründen auf so etwas
gerechnet hatten, sogleich mit angenommen verechtlicher Miene oder auch mit
echtem In grimme über diese philiströse Gesellschaft herfielen.
So wenig wie in dem großen Parlament zu Frankfurt, hatte man sich
in dem kleinen zu Jena eine klare Vorstellung darüber gemacht, wie denn
die Resolutionen vom Papier ins Leben treten sollten. Das schien sich..damals
von selbst zu verstehen, und in keiner Zeit ist mit dem vormals hoch ver¬
pöntem Begriff der organischen Entwickelung factisch und unbewußt solcher
Götzendienst getrieben worden als damals. Uebrigens war man verständig
"
genug, die Mitwirkung der Behörden und Ministerien nicht geradezu prin¬
cipiell auszuschließen: der Souveränetätsschwindel der Frankfurter, welcher
wie bekannt auch von Seiten mancher ihrer doctrinären Professorenelemente
getheilt und genährt wurde, eristirte in Jena nicht. Auch glaubte man mit
dem einmaligen Reformentwurf nicht abgeschlossen zu haben: man creirte
einen ständigen Ausschuß und dachte an wiederholte Berufung des Plenums,
in Jahresfrist oder noch früher.
Aber wie die große frankfurter Verfassung des Reichs, so blieb auch
dieser Reformentwurf der Universitäten bloßes Papier, und zwar, ohne daß
für oder gegen ihn irgend besondere Anstrengungen ins Werk gesetzt worden
wären. Die Periode der Reaction, die begrifflich schon mit jenem ominösen
18. September begann, weil an ihm die Gemüther sich von den Scheußlich¬
keiten eines angeblichen Radicalismus gründlich abgewandt hatten, beseitigte
Alles, was zu der Universitätsreform gehörte, lautlos und widerstandslos.
Nicht blos die burschikosen Ueberschwänglichkeiten des Studentenparlamentes,
sondern auch die ehrbaren und soliden Discussionen der jenenser Versamm¬
lung und ihrer immer dürftiger ausfallenden Fortsetzungen mußten es sich
in den folgenden Jahren des reactionären Hochwassers gefallen lassen, ganz
überfluthet zu werden. Es ging ihnen nicht anders, als allen anderen be¬
rechtigten und unberechtigten Bestrebungen zur Reform, an dem so mancher
Reform sehr bedürftigen Riesenleibe der deutschen Nation. Aber alles Andere
tauchte allmälig wieder auf, wie die grauen, schlammigen Wasser aus Mangel
an neuem Zufluß allmälig wieder abzulaufen begannen: die Universitäts-
reformfrage blieb im Sande begraben. Nicht einmal in der Presse erwachte
sie zu einigem Scheinleben. Es ist wunderbar zu sehen, wie wenig die Presse,
die doch notarisch zum großen Theil von dem lebt, was Angehörige der Uni¬
versitäten in allen möglichen Fächern schreiben, seither die interus. der Uni¬
versitäten beachtet hat, und noch wunderbarer, wie wenig von Seite der
berufsmäßig Schreibfertigsten, von den Männern der Universitäten selbst,
über diese und ihre Lebensfragen geschrieben worden ist. Das Studium
ihrer Entwickelungsgeschichte ist seitdem, man darf wol sagen, erst be¬
gründet, und durch eine große Anzahl allgemein bekannter geschichtlicher
Darstellungen festgestellt worden; aber was die Gegenwart betrifft, die
doch mindestens dasselbe Recht wie die Vergangenheit beansprucht, so hat
man diese einfach ignorirt. Selbst die handgreiflichsten Veranlassungen, wie
die gerade seit zwanzig Jahren so häufig einfallenden funfzigjährigen, hun¬
dert-, dreihundert-, ja vierhundertjährigen Jubiläen der allerbedeutendsten
deutschen Hochschulen haben eine Wiederaufnahme auch nur jener theoretischen
Reformbestrebungen mit der Feder nicht zur Folge gehabt.
Allerdings ist die practische Reform seit 1848 niemals stillgestanden
und Manches von dem, was damals als Postulat der Zukunft aufgestellt
worden, inzwischen erreicht. Dazu gehört die größere Annäherung der öst¬
reichisch-deutschen Universitätseinrichtungen an die des Mutterlandes. Bis
zum Beginn der Herrschaft des Bach'schen Ultramontanismus ist dort so viel
und so gründlich in diesem Sinne reformirt worden, daß selbst so resolute
Leute, wie die Schwarzen unter den schwarzgelben es doch nicht vermocht
haben, den deutsch-östreichischen Universitäten, selbst nicht einmal der von
Innsbruck in der Glaubensburg Tirol, den früheren Stempel bloßer Dressir-
cmstalten von Pfaffen und Schreibern wieder aufzudrücken. Es ist dort
überall ein frisches Leben erwacht, dessen Früchte freilich noch nicht gereift
sein können, aber nichtsdestoweniger der Reife entgegengehen. Jenes Pro¬
fessorenparlament von 1848, welches sich soviel Spott gefallen lassen mußte
darf stolz darauf sein, daß die Anregung, dazu direct von ihm aus¬
gegangen ist. Denn gerade seine Mitglieder aus Oestreich waren es, die in die
Heimath zurückgekehrt, die Sache der Reform in seinem Geiste, und anfänglich
auch bestens von der Staatsregierung unterstützt, in die Hand nahmen.
Auch ist Manches im Sinne jener Reformvorschläge umgestaltet, und es wird
sich keine einzige deutsche Universität auffinden lassen, welche nicht diesen oder
jenen offenkundiger Schaden mehr oder minder gründlich abgestellt hätte.
Aber im Ganzen ist doch Alles beim Alten geblieben, und die Verfassung
und das Wesen unserer Universitäten von 1869 zeigt in allen Haupt¬
zügen noch die einstmals so stark angefochtene Physiognomie der Zeit
vor 1848.
Darin läge weiter nichts Auffallendes oder Bedenkliches. Alle mög¬
lichen Ursachen können zur Erklärung eines solchen Stillestehens heran¬
gezogen werden. Man denkt zuerst an unüberwindliche Hindernisse von oben:
aber ein vorurtheilsfreier Beobachter wird bald erkennen, daß solche nicht be¬
stehen, wenn sie vielleicht auch in den Flegeljahren der Reaction bestanden
haben. In so weit die Universitäten für ihre Reformen nur keine besonde¬
ren Ansprüche an den fast überall gleich erschöpften Staatsseckel machen, ist
man den von ihnen formulirten Reformwünschen meist mit Bereitwilligkeit
entgegengekommen, ja man hat von oben her gelegentlich wol auch einmal
und zwar in ganz unverfänglicher Tendenz die Initiative ergriffen. Oder
ist innerhalb der Universitätskörper selbst ein Umschwung in der Auffassung
der eigenen Zustände eingetreten? Ist hier eine conservative Gesinnung,
identisch mit dem Principe der Stabilität zur Herrschaft, oder auch nur zur
Majorität gelangt? Wäre dies der Fall, dann verlangte es der Geist der
auf möglichste Entfaltung der Selbstbestimmung gerichteten Zeit auch diese
Corporationen in ihrem Kreise ruhig gewähren zu lassen. Denn wenn
irgendwo, so gibt es hier noch bedeutende Ueberreste von Selbstregierung und
Selbstverwaltung, während man anderwärts die Keime davon erst zu pflegen
hat. Aber die Sacke steht ganz anders. Man höre sich auf unseren Uni¬
versitäten um: Jedermann ist der Ansicht, daß die gegenwärtigen Zustände
unhaltbar seien, daß eine vollständige und gründliche Reform an Haupt und
Gliedern unumgänglich nöthig. Nur über die Art und die Ziele derselben
gehen die Ansichten so weit auseinander, als man einzelne Stimmen hört.
Und nicht blos über Detailfragen, sondern über die eigentlichen Principien.
Da es nun im gewöhnlichen nächsten Interesse der meisten Betheiligten liegt,
die Zustände, die man theoretisch verurtheilt, doch wenigstens noch praktisch
gelten zu lassen, wenn man gar keinen Ausweg sieht, wie man zu anderen
besseren oder doch wenigstens erträglichen gelangen soll, so würde also von
dieser Seite her der solus suo für alle Ewigkeit conservirt bleiben können.
Jeder, der daran rühren wollte, hat das Gefühl, daß der Einsturz des mor¬
schen Gebäudes zugleich eine sehr ernste Gefahr für alles das bedeutet, wo¬
rauf seine äußere Stellung, ja sogar seine Existenz beruht, und dieser Gefahr
setzt sich Niemand« aus, wenn er nicht von außen oder durch die Uebermacht
einer Idee dazu gezwungen wird.
Daß ein solcher Zustand der Würde des Instituts und seiner Vertreter
nicht wol entspreche, dürfte auf der Hand liegen. Aber er hat auch seine
großen praktischen Gefahren in sich. Wenn die Universitäten nach den ein¬
zelnen Köpfen und Stimmen, aus denen sie zusammengesetzt sind, sich selbst
für im höchsten Grade reformbedürftig, aber zugleich für mundtodt erklären,
so wird über kurz oder lang irgend eine außerhalb stehende Kraft sich befugt
oder gar genöthigt glauben, thätlich einzugreifen. Selbst wenn dieses, wie
keineswegs zu erwarten, ganz im Geiste der Universitäten selbst geschähe, so
würde doch im besten Falle die Reform nur octroyirt und damit wahrscheinlich
eine Scheinreform. Aber wer die Zeichen der Zeit beachtet, weiß, daß die¬
jenigen Kreise, welche zunächst sich für befugt halten möchten, die Reform¬
erbschaft der Universitäten anzutreten, die Bureaukraten, keineswegs geneigt
sein dürsten, gerade diejenigen unter ihren berechtigten Eigenthümlichkeiten
zu schonen, welche ihren Nutznießern am meisten ans Herz gewachsen sind
freilich aber auch nicht diejenigen, welche für die gesammte nationale Bildung
am werthvollsten sind, was noch viel mehr besagen will.
In diesem Sinne begrüßen wir'das Buch: „Von deutschen Hoch¬
schulen Allerlei was da ist und was da sein sollte, von einem deutschen Pro¬
fessor" mit herzlicher Freude. Es ist nach langem indolenten Schweigen zum
ersten Mal wieder ein kräftiges und entschiedenes Wort zur Sache, das, wenn
auch nichts weiteres, ganz gewiß den Anstoß zu frischen Discussionen geben
wird. Und diese ist vor allen Dingen nöthig, damit das negative nergeln und
Kritteln aufhöre, mit dem gar Nichts gewonnen und viel verloren wird.
Und der erste Schritt zum Bessern ist, daß man nur wieder zu ernsthaftem
und systematischem Nachdenken über alle diese Fragen gelangt, die man im
letzten Grunde doch nur aus purer Bequemlichkeit sich durch mehr als wohl¬
feiles Raisonniren bisher vom Hals geschafft hat. Es kann nicht fehlen,
daß sich dann bald wieder eine feste öffentliche Meinung in den betreffenden
Kreisen über ihre eigensten Angelegenheiten bildet, die notorisch ganz ver¬
schwunden war. Man wird wieder eine bestimmte Position zu dem Ganzen
und dem einzelnen Fragen einnehmen lernen, es wird sich wieder eine gesunde
Parteigruppirung bilden, die aus der Sache selbst und den realen Verhält,
rissen der einzelnen zu ihr erwächst, und nicht wie bisher aus allen andern
in diesem Sinne nicht Hieher gehörigen Motiven, aus politischen, religiösen,
socialen Einflüssen, welche mit den Universitäten als solchen Nichts zu thun
haben.
Aber auch über den engeren Kreis der eigentlichen Universitätsangehöri¬
gen wird das Buch seine Wirkung thun. Denn augenblicklich scheint es
zwar, als wenn alles Andere eher, als gerade die specifischen Universitäts-
angelegenheiten Interesse zu erregen fähig wären. Aber es scheint auch nur
so. Noch immer gehört der größte Theil aller derjenigen, die wir im heu¬
tigen Wortsinn als gebildet anzusprechen berechtigt sind, zu den Universitäts¬
verwandten im weiteren Sinn, und es ist noch immer ähnlich, wie es von
jeher war, daß die Fäden zwischen ihnen und den Universitäten auch im
späteren Leben niemals zerreißen. Jedermann hat aus praktischen und noch
mehr aus subjectiv-gemüthlichen oder idealistischen Motiven fortwährend Ver¬
anlassung, sich um das zu kümmern, was dort vorgeht. Mit einem Worte,
unsere Universitäten sind noch immer im höchsten Grade populär, was frei¬
lich nicht so verstanden werden darf, als liege das Publikum draußen in
unbedingter Bewunderung vor ihrer Herrlichkeit und Erhabenheit auf den
Knien. Eher das Gegentheil davon: jener skeptisch-negative Zug, der sie
selbst erfüllt, muß auch die Signatur des Publikums ihnen gegenüber bilden.
Aber dies schadet unserer Behauptung und auch der Sache selbst nicht. So¬
bald nur erst einmal von Seite der eigentlich zur Initiative bestimmten die
Sache der Universitäten wieder lebendig aufgegriffen würde, sollte auch die
Stimmung des Publikums sehr rasch zu positiver Theilnahme umschlagen.
In diesem Sinne unternehmen wir es, hier gewissermaßen das zu anti-
cipiren, was der natürliche Lauf der Dinge von selbst auch schaffen würde.
Eigentlich bedarf ja ein interessantes Buch keiner weiteren Empfehlung als
der. welche ihm sein eigenes Dasein gibt. In unserem Falle kommt aber
noch ein besonderer Umstand hinzu. Wir befinden uns, wie sich zeigen wird,
in voller Uebereinstimmung mit der Gesinnung und Haltung des Anonymus,
differiren aber in sehr wesentlichen, ja principiellen Punkten von seiner Auf-
fassung der faktischen Zustände, und demgemäß auch von seinen Reformvor¬
schlägen. Unsere Empfehlung schließt also eine Kritik keineswegs aus, viel¬
mehr soll sie recht eigentlich eine solche sein, so weit sie sich nach Ort und
Zeit überhaupt anbringen läßt. Denn auf eine gründliche Auseinander¬
setzung kann es hier nicht abgesehen sein; aber es wird der Sache doch immer
Nutzen bringen, wenn sie sich dem Publikum sofort von mehr als einer
Seite darstellt. Unsere eigene Berechtigung stützen wir aber auf dieselbe Le¬
gitimität wie der Anonymus. Er ist durch seinen Beruf verpflichtet, Genauestes
von deutschen Universitäten zu wissen, wir auch.
Zuvörderst bezeugen wir mit Genugthuung, daß der Anonymus
trefflich die Feder zu führen versteht. Das Buch ist von Anfang bis
zu Ende, wir wollen nicht sagen, glänzend, aber durchsichtig, lebendig,
sachgemäß einfach geschrieben. Ein gelinder Anflug von Humor schadet
ebenso wenig, wie die Blume dem guten Wein. Der Kern ist doch ernst
und positiv. Denn der Anonymus liebt die deutschen Universitäten und
glaubt an sie. Auch er will eine Reformation an Haupt und Gliedern, aber
eine wirkliche Reformation, wo die vorhandenen und geschichtlich heraus¬
gewachsenen Gebilde nur von dem allmälig darauf gelagerten Staub ge¬
reinigt, etwas zurecht gerückt und vielleicht ein wenig mit sanftem Finger-
druck umgeformt zu werden brauchen, um wieder in angeborener Güte und
Schönheit dazustehn. Dies zu beweisen, führt er das Durchschnittsleben
einer heutigen Universität in allen seinen wesentlichsten^ Symptomen vor, zu¬
erst die Studenten, dann die Professoren; sogar, was auf den ersten Blick
stutzig machen könnte, Pedelle, Universitätsrichter, Kuratoren. Dann geht es
von den Personen ab zu den eigentlichen Zuständen, eingeleitet durch ein mit dem
kurzen aber bedeutsamen „Wohin?" überschriebenes Capitel. Die Berufungen,
der Lehrvortrag selbst, oder wie es hier frischer heißt „auf dem Katheder",
die Promotionen, akademischen Beneficien, endlich die Examina, mit beson¬
derer Rücksichtnahme auf die juristischen und kameralistischen — weil diese in
neuester Zeit trotz der sonstigen Stagnation der Reform doch zu weitgreifen¬
den Veränderungen Anlaß gegeben haben — damit wäre der Rahmen dessen,
was hier überhaupt besprochen werden kann und soll, auch nach unserer Mei¬
nung hinlänglich ausgefüllt, und mehr ohne Zweifel vom Uebel, namentlich
in den Augen des größeren Publicums. — Der Angelpunkt des Ganzen liegt,
wie sichs gehört, auch räumlich in der Mitte des Buches, in dem lakonischer
„Wohin?" Damit ist die momentan wichtigste Frage über die Stellung
der Universitäten zu unserem gesammten nationalen und öffentlichen Leben
gemeint, die vielfach schon, weil sie offenbar in der Lust liegt, berührt, aber
noch niemals^aus Gründen, die wir vorhin kurz registrirten, eigentlich dis-
cutirt, viel weniger theoretisch entschieden worden ist. Bei den großartigen
Reformbewegungen von 1848 tauchte so gelegentlich wol auch auf. aber
damals war die Zeit in keiner Weise dazu geschaffen, ihre durchschlagende
Wichtigkeit zu begreifen. Die Geschichte unserer Universitäten zeigt uns.
daß sie aus anfänglich ganz freien und selbstwüchsigen Institutionen zum
Betrieb und zur Weiterüberlieferung der Wissenschaft allmälig immer mehr
zu Staatsanstalten geworden sind, welche die Aufgabe haben, eine gewisse
Summe von Kenntnissen und Fertigkeiten zu überliefern, die der Staat zur
Vorbedingung der Verwendbarkeit in verschiedenen großen Zweigen der prak¬
tischen Thätigkeit, in der Kirche, der Schule, der Gesundheitspflege, der Ge¬
richts- und Verwaltungssphäre für nöthig hält. Aber unsere Universitäten
sind nur allmälig und mehr und mehr solche Staatsanstalten geworden,
während viele dem Namen und dem Ursprung nach gleiche Institute ander-
wärts, z. B. die französischen und italienischen Universitäten es vollständig
und nichts weiter als dies sind. Unsere Universitäten haben noch ein an¬
deres Gesicht. Sie gelten in der allgemeinen Auffassung noch als die Sitze
und Pflegstättcn der freien Wissenschaft, die nur um ihrer selbst willen da
ist. Man darf sogar behaupten, daß diese letztere Auffassung die populärere
ist, d. h. sie ist diejenige, welche unwillkürlich mit dem Namen der Sache
verbunden wird, und die, wenn es zu einer Discussion über sie und die
andere vorhin charakteristrte kommt, sicher darauf rechnen darf, von der
öffentlichen Meinung der gebildeten Deutschen bevorzugt zu werden.
So lange der Staat die Vorbildung seiner speciellen Diener den Uni¬
versitäten anvertraut, versteht es sich von selbst, daß er über die Zweckmäßig¬
keit derselben durch irgend eine Art von Controle sich zu vergewissern befugt
ist, wie auch, daß er die Pflicht hat. für den äußeren Bestand dieser Anstalten
zu sorgen d. h. die -Geldmittel aufzubringen, deren sie bedürfen. Denkt man
sich die Universitäten als bloße wissenschaftliche Lehranstalten in abstracto, so
fällt das Einmischungsrecht, aber auch die Erhaltungspflicht des Staates von
selbst fort. Wer also für die völlige Freiheit der Universitäten in diesem
Sinne eifert, der möge sich auch alle praktischen Consequenzen deutlich machen.
Dazu würde auch gehören, daß der Staat gegenüber ganz freien Universi¬
täten befugt und genöthigt wäre, eigene Fachanstalten auf seine Kosten zu
gründen, in denen die Vorbildung, die er für seine Diener nöthig hält, er¬
worben werden könnte. Er würde aber dann um so weniger geneigt sein,
für die eigentlichen von ihm cuan'cipirten freiwissenschaftlichen Anstalten
Etwas zu thun, und diese müßten sich dann auf andere financielle Grund¬
lagen zu stellen suchen, wozu freilich in unseren deutschen socialen und öeo-
nomischen Zuständen sehr wenig Aussicht ist.
Dazu tritt noch ein anderes Moment, um das Dilemma zu schärfen.
Das Maß der als Vorbereitung für den künftigen Beruf geforderten Bil-
dung ist im Ganzen ein fest gegebenes, wenn es auch im Einzelnen nach Zeit
und Art allen möglichen Schwankungen unterliegen mag. Gleichviel wie
hoch, oder wie niedrig gegriffen, es stimmt keineswegs mit dem Maß. wel¬
ches die Wissenschaft aus sich heraus festsetzt. So z. B. besitzt ein juristischer
Candidat unserer Tage, der — man nehme den unerhörten, aber doch mög¬
lichen Fall einmal als wirklich an — thatsächlich das Alles aus den Vor¬
trägen der Professoren in sich aufgenommen hat, was der Staat als Vor¬
bedingung oder, einfacher gesagt, als erforderlich zum Staatseramen verlangt,
noch keineswegs in den Augen der Wissenschaft die Totalität der Geistes¬
bildung, die sie unabhängig von allen äußeren Rücksichten als ihr Minimal¬
maß festzusetzen befugt ist. Eigentlich müßte dieser Unterschied in den Er¬
gebnissen des Staats- und des Doctorexamens zur Erscheinung kommen, wenn
das eine der Praxis, das andere der Wissenschaft als solcher gehört, und in
der That ergeben sich auch oft bei einem und demselben Candidaten die
klciffendsten Widersprüche. In den meisten Fällen wird aber nach dem be¬
liebten Vertuschungs- und Vermittlungssystem nach der einen und nach der
anderen Seite hin der Gegensatz abgeschwächt, so daß wenigstens alle nicht
eingeweihten Augen nichts daran zu bemerken vermögen.
Begreiflich ist es serner. daß die Ueberlieferung des wissenschaftlichen
Materials, je nachdem es um seiner selbst willen und zu den höchsten Zielen
der Wissenschaft, oder zu einer Propädeutik für die Praxis verwandt werden
soll, eine ganz verschiedene Haltung annehmen muß. Es werden nicht blos
ganz andere Gegenstände, sondern diese selbst auch ganz anders vorgetragen
werden. Bleiben wir bei dem juristischen Fach stehen. Die wissenschaftliche
Jurisprudenz gestaltet sich von Tage zu Tage mehr zur Rechtsgeschichte im
weitesten und tiefsten Sinne, also zu einem Theile der allgemeinen oder
speciell nationalen Culturgeschichte, und läßt sich schon jetzt nicht mehr ohne
ausgebreitete philologische oder historische Studien denken. Die juristische
Praxis des Staates emancipirt sich umgekehrt immer mehr von den Tradi¬
tionen des geschichtlichen Herkommens und den altherübergekommenen Instituten.
Sie versucht in der unmittelbarsten Gegenwart, und nur in dieser, zu stehen.
Der Staat hat also für sich selbst nicht nur kein Interesse, seine künstigen Werk¬
zeuge mit Kenntnissen genährt zu sehen, die sie absolut nicht brauchen, sondern
wenn er seine eigenen Bedürfnisse scharf und vorurtheilsfrei beurtheilt, eher das
entgegengesetzte, sie so fern als möglich von diesem überflüssigen und ihre
Brauchbarkeit in jeder Art hemmenden Ballast zu halten. Faktisch gestaltet sich
der akademische Unterricht nun so, daß er es beiden Creditoren dem Staate
und der Wissenschaft recht zu machen sucht, und es natürlich Keinem recht macht.
Die doctrinaire Lösung dieses Dilemma's findet sich, wie gewöhnlich,
sehr leicht. Man zerlege die jetzigen Universitäten nach den beiden Momen-
ten, die sie enthalten, in vorbereitende Fachschulen für künftige Staatsdiener
und Praktiker, und in eigentlich gelehrte Anstalten, Akademien, oder wie man
sie sonst nennen will. Aber von wem und nach welchen Gesichtspunkten soll
die Scheidung unternommen werden, und das prosaischste, aber gewichtigste
vor Allem, wer soll das Geld für einen solchen enormen Mehraufwand auf¬
bringen? Der Staat? Von ihm kann doch nur gefordert werden, daß er
seine Anstalten dotirt und erhält? Die freie Wissenschaft und ihre Gönner?
Aber es würde sich jährlich um viele Hunderttausende handeln. Außerdem
würden beide Theile durch die Erfahrung sehr bald belehrt werden, daß die
Staatsavrichtungsanstalten ohne den erquickenden Einfluß der freieren wissen¬
schaftlichen Atmosphäre chinesische Papierblumen, aber keine Früchte erzeugten,
während die Akademien durch die Unbestimmtheit und idealistische Leere ihres
Programms gleichsam in der Luft schwebten.
Unser Anonymus, der die Fragestellung des Dilemma's richtig gibt,
will deshalb von diesem Auskunftsmittel Nichts wissen. Er bietet dafür ein
anderes. Die bisherige Art der akademischen Vorträge soll verändert werden.
Neben der systematischen und zusammenhängenden Ueberlieferung gewisser
Disciplinen sollen in viel größerem Umfange als bisher Repetitorien, Exa-
minatorien :c. eingeführt werden. Diese könnten dann dazu dienen, um den
eigentlich praktischen Kern des verschiedenartigsten Wissens herauszuheben und
einzuprägen. Das hört sich recht schön an, aber hält keine nähere Prüfung
aus. Diese „Praktika" würden in größerem Umfange und unter officieller
Firma dasselbe werden, was wir schon zum Ueberfluß haben, nämlich soge¬
nannte Einpaukungsanstalten für die Aspiranten zu den Staatsprüfungen.
Je trivialer sie diese ihre wahre Aufgabe faßten, desto populärer bei der
Majorität, je mehr sie laviren, und mit der Wissenschaft einigermaßen in
Fühlung bleiben, desto unpopulärer, d. h. desto weniger benutzt. Der Schade
wäre damit nicht gehoben, sondern vergrößert.
Wenn es also auf diesem Wege nicht gelingen will, Wissenschaft und
Praxis mit einander zu versöhnen, so muß ein anderer gesucht werden. Die¬
ser ist unseres Bedünkens nur durch eine rückhaltlose Anerkennung und Durch¬
führung der rein theoretisch-wissenschaftlichen Aufgabe der Universitätsbildung
zu finden. Universität und Staat müssen beide einander dabei entgegenkom-
men und unterstützen. Thatsächlich handelt es sich auch nur um die eine
Jurisprudenz, denn in den anderen Facultäten existirt schon im Wesentlichen
jene gesunde Vermittelung zwischen Wissenschaft und Praxis, obgleich im Ein¬
zelnen natürlich auch da noch Vieles zu reformiren und auch neuzuschassen
bleibt. Unsere Juristenfacultäten müssen ihren bisherigen Lehrplan bedeu¬
tend erweitern, und den ganzen Umfang des Rechtsmaterials gleichmäßig der
strengsten und exactesten theoretisch-wissenschaftlichen Behandlung unterziehen,
während sie sich bis jetzt mehr oder weniger, nur mit dem propädeutischen
oder historisch-antiquarischen Theile begnügt haben. Das lebendige Recht
der Gegenwart ist derselben wissenschaftlichen Durchdringung und Behand¬
lung fMig und würdig, wie das der Vergangenheit. Ja, man darf behaup¬
ten, daß erst dadurch die angestrebte genetisch-historische Methode zu ihrem
wahren Ziele gelenkt und wahrhaft fruchtbar gemacht werden würde, während
ihre bisherige Anwendung es zu nichts Besserem, als zu einem blos anti¬
quarisch-gelehrten Dogmatismus brachte, der freilich nicht geeignet war, den
Geist der Jugend zu beleben und anzuziehen. Der Staat seinerseits muß,
wenn er überhaupt eine wissenschaftliche Vorbildung seiner Juristen für nöthig
hält, auch wirklich Ernst damit machen. Jene grundverkehrte Scheidung
zwischen dem, was man für die künftige Praxis braucht oder nicht braucht,
und die darauf basirten Ansprüche an das Wissen und Können der juristi¬
schen Candidaten müssen gänzlich wegfallen. An ihre Stelle hat, wenn doch
einmal Examina sein sollen, eine ausschließliche, und eben deshalb gründliche
Untersuchung der wirklichen wissenschaftlichen Befähigung ohne alle Rücksicht
auf die sogenannte Praxis zu treten. Etwas davon wird auch schon in der
neuen preußischen Examenordnung angestrebt, aber noch ohne alle prinzipielle
Klarheit und Entschiedenheit.
Bei einigem Verständniß und gutem Willen ließe sich also die Frage,
ob Staatsabrichtungsanstalten, ob freie wissenschaftliche Institute zu beider¬
seitigen Vortheile recht wohl lösen, ohne daß das bisherige Gefüge unserer
Universitäten auseinander genommen zu werden brauchte.
Aber vorausgesetzt, diese Frage würde auf die zweckdienlichste Art gelöst
oder der Lösung näher gebracht — denn völlig kann sie niemals gelöst werden,
und braucht es auch nicht — so steht doch schon lange ein anderer dunkeler
Punkt an unserem Universitätshorizonte, der sich bereits zu einer recht drohenden
Wolke entwickelt hat. Den scharfen Augen unseres Anonyums ist er natür¬
lich nicht entgegen. Principiell sollen unsere Universitäten noch herkömm¬
licher Vorstellung das gesamwte Wissen der Zeit repräsentiren oder über¬
liefern. Kann man von ihnen in diesem Augenblicke noch behaupten, daß
sie das thun oder zu thun vermögen? Wir wollen uns an das äußerlichste
halten: man durchlaufe unsere Lectionscataloze und man wird finden, daß
davon nicht die Rede ist. Zwar sind hie und da eine Anzahl neuer Fächer
officiell in das altherkömmliche Schema der Facultätsdisciplinen aufgenommen
worden, aber es ist weder überall gleichförmig geschehen, denn es zeigen sich
in dieser Hinsicht die allergrößten localen Verschiedenheiten, noch ist auch da,
wo man den Forderungen der Zeit oder der Wissenschaft am meisten ent¬
gegengekommen ist, auch nur entfernt das erfüllt, was die Theorie und nicht
blos die Theorie, das wirkliche Bedürfniß des Lebens verlangt. Alle unsere
deutschen Universitäten, Berlin ebenso sehr wie Gießen oder Freiburg, sind
in der That keine Universitäten mehr in jenem eminenten Sinne, den man
herkömmlich mit diesem Begriffe verbindet, und der auch bis vor dreißig,
vierzig Jahren im Ganzen eine Wahrheit gewesen ist. Es sind Complemente
verschiedener wissenschaftlicher Fächer, die durch das Band der alten Facul-
täten, das ja fast überall noch besteht, blos zufällig und äußerlich zusammen¬
gehalten werden. Von einer organischen oder systematischen Ausfüllung des
ganzen wissenschaftlichen Schemas, wie es sich bis zu dieser Stunde aus sich
selbst herausgearbeitet hat, ist keine Rede. Ueberall sind von diesem Stand¬
punkt aus gesehen, die empfindlichsten Lücken, und wird ja einmal eine aus¬
gefüllt, so klaffen sofort zehn neue.
Hier bleibt nur ein Entweder — Oder, und es ist gut. sich darüber zu
verständigen. Entweder gehe man wieder auf die beschränkte Grundlage
der älteren Universitäten zurück, die freilich für ihre Zeit keine beschränkte war,
sondern wirklich das ganze vorhandene Wissen oder alle wissenschaftlich aus¬
gebildeten Gebiete des Lernens und Wissens umspannte. Man würde dann
den Vortheil haben, mit verhältnißmäßig geringen Mitteln innerhalb eines
engeren Gebietes Tüchtiges zu leisten. Die Universitäten wären dann dazu
bestimmt, unseren tüchtigen Geistlichen, Gymnasiallehrern, Aerzten, Richtern
und Verwaltungsbeamten ihre theoretisch wissenschaftliche Vorbildung zu geben.
Sie brauchten deshalb nicht zu Abrichtungsanstalten für die künftige Praxis
herabzusinken. So nahe die Gefahr auch läge, könnte sie doch vermieden
werden, wenn die Universitäten selbst diese ihre beschränkte Aufgabe von
möglichst hohem oder idealem d. h. dem eigentlich wissenschaftlichen Stand¬
punkt aus faßten. Die glänzendsten Beispiele der früheren Periode beweisen
es. Berlin in dem ersten Viertel dieses Jahrhunderts, Göttingen in der
zweiten Hälfte des vorigen und Jena um die Wende beider leisteten thatsächlich
nicht mehr, aber sie leisteten es so. daß die Wissenschaft, auch bei den höchsten
Anforderungen, die überhaupt damals möglich waren, nicht zu kurz kam.
Aber es ist immer schwer, von einem weiteren Zustand in einen engeren
überzugehen. Unsere Universitäten und die öffentltche Meinung würden eine
solche Beschränkung als eine empfindliche Degradation ansehen und sich mit
allen Kräften dagegen wahren. Und selbst wenn ihr Widerstand nieder¬
geschlagen würde, was nur durch schonungsloses Eingreifen der Staats¬
gewalt geschehen könnte, wäre damit nichts weiter gewonnen, als daß wir auf
einem andern Wege jenen Gegensatz von Akademie und Universität, oder von
freien umfassend wissenschaftlichen Anstalten und Specialabrichtungsschulen in
die Wirklichkeit eingeführt sehen. Sobald die jetzigen Universitäten auf den
Anspruch die Totalität des wissenschaftlichen Organismus darzustellen ver-
Sichten, müßten sich in Deutschland, wie es nun einmal ist, sofort andere ge-
lehrte Institute bilden, welche diesen Beruf vertreten. Der Staat hätte damit
Nichts gewonnen, als daß er die einen wie die anderen unterhalten müßte,
dann mag man ihn noch so prosaisch-vernüchtert denken, in diesem einen
Punkte könnte er sich doch nicht dem Drängen des Volksgeistes entziehen.
Es bleibt also nur das Oder. Man erweitere und ergänze den Lehr¬
plan und die Lehrmittel unserer Universitäten in dem Maße, wie es der
gegenwärtige Stand der Wissenschaften verlangt. Dies ist freilich ein flüßiger
Begriff, wenn man auf die atomistischen Meinungen und Wünsche Bezug
nimmt, wie sie Jeder für sich und seine nach seinem Glauben einzig oder vor¬
zugsweise berechtigte Beschäftigung in petto hat Aber es wird in allen
Fällen sehr leicht sein, aus dem Wirrsal der einzelnen Stimmen einen Grund«
ton herauszuhören, und dieser müßte denn auch als solcher Geltung erhalten.
Auf diese Art kann Jeder, der sich im Besitz einer wirklich allgemein wissen¬
schaftlichen Bildung befindet, die thatsächlichen Bedürfnisse einer ihrem Be¬
griffe entsprechenden Universität ganz genau und richtig ermessen, und was
Jeder kann, werden auch die maßgebenden Kreise, die Universitätscorporatio-
nen selbst und unsere Unterrichtsministerien können. Natürlich mag im
Einzelnen nach der Oertlichkeit und den besonderen Verhältnissen auch Manches
sich individuell gestalten, und wir in Deutschland verzichten selbstverständlich
auf ein französisches Schablonensystem mit so und so viel Dutzend Professoren
für jede Facultät jeder Universität. Aber ein gewisses Minimum wird überall
eingehalten werden müssen, denn daß das Marimum nicht gar zu maßlos
sich gestalte, dafür ist schon von anderer Seite gesorgt.
Jedermann weiß wodurch: die Knappheit des Staatssäckels ist nicht
blos eine vorübergehende Eigenthümlichkeit dieser abnormen Uebergangs¬
periode, sondern sie wird mehr oder minder fortdauern, so lange bis nicht
das Geheimniß entdeckt ist, die Ertragsfähigkeit des deutschen Bodens beim
Aufwand des bisherigen Maßes von Betriebscapital auf das Drei- oder Vier¬
fache zu steigern, oder durch eine Verrückung der großen Straßen des Welt¬
handels wieder, wie einst im Mittelalter, Ströme von Gold in unser Vater-
land zu leiten. Wir sind im Vergleich mit England und Frankreich, noch
mehr mit Nordamerika äußerst arm, das darf man wol sagen, da unver¬
schuldete Armuth noch niemals den Einzelnen oder ein Volk geschändet hat.
Und wir müssen bei Allem, was wir unternehmen und planen, dies ominöse
Minus gehörig in Rechnung stellen, und es spielt auch in der Reform oder
in der Erweiterung unserer Universitäten die Hauptrolle. Denn wesentlich
daran liegt es, daß sie alle wol den guten Willen, aber nicht die Kraft an
den Tag gelegt haben, wirklich höchste Stätten des gesammten Wissenschaft-
licher Betriebes zu bleiben.
Die erste Vorbedingung wird demgemäß nichts Anderes sein, als eine
starke Reduction der bisherigen Zahl von Universitäten. Die Mittel, welche
für zwanzig solcher Institute nicht aufgebracht werden können, reichen für
die Hälfte davon, oder im Nothfall auch für eine geringere Zahl höchst
wahrscheinlich aus. Freilich, wenn man nur die nächst Betheiligten hört, so
hält Jeder derselben die fulminanteste Rede pro äomo, mit tausend unwiderleg-
licher Gründen gewappnet, warum gerade seine Universität unentbehrlich für
das Vaterland und die Wissenschaft ist. Auf diese Art würde man nie zum
Ziele kommen, und nur das direkte und rückhaltlose Eingreifen einer außer¬
halb stehenden Autorität kann, wie es früher bei der Aufhebung so vieler
Dutzende deutscher Universitäten auch geschehen ist, etwas durchsetzen. Wün¬
schenswert!) wäre immerhin, wenn das nicht blos nach dem sublimen Er¬
messen der Weisen am grünen Tische geschähe, sondern wenn die wirklich
Sachverständigen, wozu wir auch, aber nicht ausschließlich, manche Pro¬
fessoren rechnen, gehört würden. Unser Anonymus ist im Allgemeinen auch
auf dieses Auskunftsmittel verfallen, weil in der That für Jemand, der die
UnHaltbarkeit der faktischen Zustände anerkennt, gar kein anderes übrig bleibt.
Aber er ist doch zu sehr Professor, um eine Radicalcur zu empfehlen. Allenfalls
zwei, drei der kleinsten unter den Kleinen dieser Tage mögen geopfert werden,
aber die anderen müssen conservirt bleiben. Daß damit schon für die finanzielle
Vorfrage Nichts gewonnen ist, liegt auf der Hand. Dagegen ist es ein frucht¬
barer Gedanke, die eigentlich organische Reform der Universitäten, wozu eben
auch und zu allererst die Bestimmung über ihre Zahl gehört, dem höchsten
konstitutionellen Organ des deutschen Volkes, also einstweilen dem norddeut¬
schen Reichstag zu überweisen, der ja auch, falls Jemand darauf Gewicht
legt, nach der Verfassungsurkunde des norddeutschen Bundes ein formelles
Recht dazu besitzt. Gewiß werden die höchsten idealen und materiellen Ge¬
sichtspunkte, um die es sich handelt, gerade hier am Besten erfaßt und durch¬
drungen werden können, wenigstens mit weiterem Blicke, als wenn ein ein¬
zelner Minister, oder auch ein Ausschuß von Sachverständigen an seiner
Seite darüber entscheiden sollte.
Wir glauben, je mehr die Zusammensetzung der maßgebenden Stelle
dafür Bürgschaft gibt, daß die particularistischen Schrullen und Loe'cil-
interessen vor der Rücksicht auf das Allgemeine und das Gesammtinteresse
der Wissenschaft und Nation zurücktreten, desto gründlicher wird die Axt an
viele morsche Stämme gelegt werden, die kein anderes Recht ihres Daseins
beanspruchen dürfen, als daß sie bisher dem Namen nach ein solches ge¬
führt haben.
Wer die Geschichte unserer deutschen Universitäten vorurtheilsfrei er-
wägt, wird den überschwänglichen Reichthum an solchen Gebilden, der be¬
sonders seit dem dreißigjährigen Krieg sich hervorthat, für ein Symptom
der Krankheit, aber nicht der Gesundheit halten. Der damals schrankenlos
wuchernde Particularismus hat auch auf diesem Gebiete, wie auf jedem anderen
nur Unheil gestiftet, indem er die natürlichen Organe verkümmern ließ, und
Abscesse an ihrer Stelle künstlich groß zog. Aber wie anderwärts hat der
im innersten Kern doch noch gesunde Zug der deutschen Entwickelung auch
hier sich Hilfe geschafft. Mit den Particularstaaten des heiligen römischen
Reiches sind auch die „Landesuniversitäten" und Universitätchen ver¬
schwunden. Nur ist es dabei etwas sehr in Bausch und Bogen herge¬
gangen, wie immer, wenn nicht der vernünftige Entschluß und die be¬
sonnene Thatkraft der Menschen, sondern die elementaren Mächte der Ge¬
schichte selbst die Heilung absurder Zustände in die Hand nehmen. Vieles ist
gewaltsam zerstört worden, was der Erhaltung werth war, Vieles eigensinnig
durch die Gunst des Zufalls gerettet, was dem Untergang hätte verfallen
sollen; doch im Großen und Ganzen ist ein vorläufig richtiges Resultat er¬
zielt. Die Zahl der Universitäten ist gegen hundert Jahre früher um mehr
als die Hälfte gesunken, und die Existenz der noch vorhandenen ist ein Gegen¬
stand der praktischen Discussion geworden, da Jedermann, sobald er über den
Gang und die Ziele der bisherigen Universitätsgeschichte zu denken beginnt,
sich sagen muß, daß mit dem zufälligen Status quo von 1869 die Sache nicht
abgeschlossen sein kann, so wenig wie mit dem norddeutschen Bund die po¬
litische Umformung der ganzen Nation.
Darum ist der engste Zusammenhang zwischen diesem weiteren Gebiete
und jenem engeren immer wieder zu betonen. Jeder Schritt vorwärts nach
unserem politischen Ziel ist indirekt zugleich ein solcher für die Reform der
Universitäten. Daß die letzteren aber auch direkt davon Nutzen ziehen, ist zu¬
meist ihre eigene Angelegenheit. In dieser Hinsicht bleibt noch Viel zu thun.
Der unzerreißbare Zusammenhang zwischen den beiden Sphären ist gerade
da, wo Bildung und eigenes Interesse am Meisten diese Erkenntniß verbrei¬
ten sollten, viel zu wenig erkannt, und noch weniger hat man bis jetzt An¬
stalt gemacht, die theoretischen Sätze, die sich daraus abstrahiren lassen, in
die Praxis umzusetzen. So kann es leicht geschehen, daß unsere heutigen
Universitäten gerade so als willen- und einflußlose Objekte einer von außen
an sie herantretenden Katastrophe zur Beute werden, wie es bei den großen
politischen Veränderungen zur Zeit des Einsturzes der alten Reichsverfassung
der Fall war.
Als der Nationalverein zu Anfang der sechziger Jahre seine Propaganda
auch nach Schwaben erstreckte, stieß er in dem Lande, das im Jahr 18S9
aufs gründlichste im großdeutschen Sinn bearbeitet worden war, auf Ab¬
neigung. Bedenken. Ausflüchte aller Art; wer der Sache geneigt war, machte
doch seine Vorbehalte, entschiedene Freunde zählte der Verein wenige. Irren wir
nicht, so war es damals Herr I. Frese, der als Nationalvereinsapostel zu¬
erst in unserem Lande sich bekannt machte, derselbe Herr Frese, der zur Zeit
in ganz anderer Mission unter uns sein Hauptquartier aufgeschlagen hat.
Später errang sich zwar der Nationalverein eine Art officieller Anerkennung
bei unserer Demokratie, indem nämlich auf zwei Landesversammlungen die
damals noch ungetrennte Fortschrittspartei in überwiegender Mehrheit den
Beitritt zum Verein beschloß. In der öffentlichen Discussion war sein Pro¬
gramm den gegnerischen jedesmal überlegen. Unter den damaligen Beitritts¬
erklärungen finden sich verschiedene Namen, die heute wol nicht gerne mehr
daran erinnert sein mögen, und sich seitdem unter wesentlich anderen Pro¬
grammen und Erklärungen befunden haben. Allein auch das beweist nur,
mit welchem inneren Widerstreben jener Beitritt großentheils vollzogen wurde.
Es kam nie ein rechter Zug in die Agitation, und sie schlief allmälig völlig
wieder ein. Am wenigstens konnte sie durch die unglücklichen Versuche einer
Abschwächung des Programms wieder wachgerufen werden, obwol der Ver¬
ein offenbar dadurch, daß man die Oberhauptfrage für suspendirt erklärte, und
die Reichsverfassung von 1848 aufs Panier schrieb, den Süddeutschen mund¬
gerecht gemacht werden'sollte. Es war auf der einen Seite das Mißtrauen,
auf der anderen die Lauheit nicht zu besiegen, und nur die gegebene An.
regung blieb als ein wohlthätiges Ferment zurück, sofern sich von da an die
Trennung zwischen einer großdeutsch-radicalen und einer nationalen Fraction
innerhalb der Fortschrittspartei immer klarer entwickelte.
Zuletzt war es fast allein noch ein kleines Städtchen, wo die Sache des
Nationalvereins als eines Bindemittels für die Nationalgesinnten in ganz
Deutschland mit einer sonst nirgend zu findenden Energie aufrecht erhalten
wurde. Die Bürger von Geislingen, einer vormals zum ulmischen Ge¬
biet gehörigen, später mehrfach zu Territorialausgleichungen benutzten Stadt,
so daß sich angestammte Gefühle nur schwer entwickeln konnten, ließen sich durch
keinerlei Spott und Anfeindung von einer Sache abbringen, für die sich hier
treue und besonders geschickte Agitatoren aufgethan hatten.
Dem Touristen ist Geislingen wohlbekannt durch seine malerische Lage
am Eingang mehrerer hier zusammenlaufender waldiger Albthäler, durch den
hier beginnenden schwierigen Albübergang, den erst die Arbeiten am Söme-
ring und am Brenner in eine bescheidenere Linie zurückgedrängt haben, und
endlich durch die kunstvollen zierlichen Beinschnitzereien, welche den Reisenden
der paris-wiener Linie am dortigen Bahnhof entgegengebracht werden. Aber
auch sein politischer Ruf ist im Grunde älter als der Nationalverein. Seit
dem Jahr 1830 war Geislingen der Wahlort des alten Römer, und es ist
diesem Haupt unseres vormärzlichen Liberalismus bis zu dessen Tode treu¬
geblieben. Von da an übertrugen die Geislinger ihr Landtagsmandat Römer
dem Sohne, und dem Zuge der Zeit folgend, waren sie stolz darauf, wie
früher eine Burg des Liberalismus, so jetzt eine Burg des nationalen Ge¬
dankens zu sein. Diese Wahlen geschahen aber niemals ohne heftige Kämpfe;
denn während die Stadt protestantisch, freisinnig und national gesinnt ist,
ist der größere Theil des Landbezirks katholisch, und gehorcht der kirchlichen
Leitung. Bei diesem Verhältniß sind die Geislinger schon lange an eine
streng organisirte Parteithätigkeit gewöhnt, nur durch sie konnten sie die
Clencalen jedesmal besiegen — ausgenommen bei den Zollparlamentswahlen,
bei welchen sie überstimmt wurden durch die beiden anderen Bezirke, mit
denen sie zu einem Wahlkreis vereinigt waren. Die Katholiken sind sogar
an Zahl unstreitig überlegen. Allein außer ihrer Parteiorganisation pflegt
den Geislingern noch der zufällige Umstand zu gut zu kommen, daß der be¬
deutendste katholische Ort des Bezirks eine Bevölkerung hat, welche der Kunst
des Tünchens seit alten Zeiten besonders zugethan, ein nomadisches Leben
liebt und in dieser ihrer Beschäftigung durch heimische Wahlkämpfe sich nicht
stören läßt. Anstatt nach Hause zur Wahlurne zu eilen, fahren sie unver-
d> offen fort, die bedenklich gewordenen Außenseiten schwäbischer Wohnhäuser
ob und unter der Steig neu zu verblenden. weßhalb ein witziger Prälat der
Meinung war, daß die Wahl Römers einzig der „Verblendung des Landes"
zu danken sei.
Hier in Geislingen war es auch, wo es dem jetzigen König von Preußen
eines Tags begegnete, wider Vermuthen zum Kaiser von Deutschland aus¬
gerufen zu werden. Die Sache trug sich folgendermaßen zu. Es war an
einem schönen Octobertag im Jahr nach dem deutschen Krieg. Der König
von Preußen hatte sich damals in Baden aufgehalten, und es ging die Sage,
die süddeutschen Fürsten würden zum offenkundiger Beweis ihrer bundes-
genössischen Gesinnung einen gemeinsamen Besuch beim Könige, sei es an den
Ufern des Bodensees, sei es auf der im Herzen Schwabens aufsteigenden Stamm¬
burg Hohenzollern abstatten. Leider scheinen jedoch die Gefühle der süddeutschen
Landesfürsten für eine solche unmißverständliche Kundgebung noch nicht reif
gewesen zu sein. Dagegen kam der König von Preußen von der Mairan
herüber an das württembergische Hoflager zu Friedrichshafen, wo indessen
die Temperatur eine ziemlich frostige war, und nach kurzem Aufenthalt setzte
er seine Reise fort, mitten durch das württemberger Land nach seinem Stamm¬
schloß, wo er sich ohne Zweifel überzeugen wollte, daß die Besitznahme des¬
selben durch den württembergischen Grafen von Leutrum, den „Hospodar der
oberen Donaufürstenthümer" im Juli 1866 keinerlei nachtheilige Folgen zu¬
rückgelassen habe. Jedenfalls fand er dort die Kanonen noch alle wohlbe¬
halten vor, nach welchen die württembergische Besatzung vergeblich gefahndet
hatte, und welche in der Stunde, da die Württemberger sich beeilten den
Hohenzollern wieder zu verlassen, ihnen muntere Abschiedsgrüße nachdonnerten.
Der Weg führte den König über Geislingen. Kaum hatte die Bürger¬
schaft seine bevorstehende Ankunft vernommen, so beeiferte sie sich, dem nun¬
mehrigen Schutzherrn Deutschlands einen herzlichen Empfang zu bereiten.
Hier, wo von der rauhen Ebene der Alb mit einem Mal der Blick nach dem
Garten Schwabens überraschend sich aufthut, war dem König eine noch grö¬
ßere Ueberraschung zugedacht. In den Straßen der Stadt entwickelte sich ein
Schmuck von schwarz-weiß-rothen und schwarz-weißen Fahnen, wobei, um
jeden Schreck im Keime zu ersticken, gesagt sein muß, daß Schwarz-weiß die
altehrwürdigen Farben der Stadt Ulm, und folglich auch die angestammten
Farben Geislingens sind. Die ganze Bürgerschaft aber eilte fröhlich zum
Bahnhof. Nicht ohne hier eine herbe Enttäuschung zu erleben. Denn der
Zugang zum Bahnhofe war durch Barrieren verschlossen, und als man nach
dem Grund der ungewohnten Maßregel fragte, hieß es achselzuckend, es sei
auf hohen Befehl so geschehen. Sofort begaben sich einige angesehene Bür¬
ger auf das Telegraphenamt, und richteten an Herrn v. Varnbüler, den Mi¬
nister der Verkehrsanstalten nicht minder als der auswärtigen Angelegen¬
heiten, das Ersuchen, er möchte das Oeffnen der Barrieren anordnen, die
Bürgerschaft von Geislingen sei versammelt, um den durchfahrenden König
von Preußen zu begrüßen. Das Telegramm blieb ohne Antwort. Inzwischen
wurde das Andrängen der Menge immer ungeheurer, die Beschwichtigung
der Beamten immer unzulänglicher, und als der Bahnzug nun heranbrauste,
waren im Nu alle Barrieren verschwunden, und die Menge drängte sich hastig
nach dem königlichen Wagen. Dieses lebhafte Andrängen einer schwäbischen
Volksmenge scheint nun im ersten Augenblick einen gänzlich unbeabsichtigten
Eindruck auf die erlauchten Insassen des Zugs gemacht zu haben. An der
Umgebung des Königs sah man besorgte Mienen, es wurden Befehle ertheilt,
den Zug so rasch als möglich weiter zu erpediren, und als ein Herr aus der
Menge vortrat, um mit einigen Worten den König zu begrüßen, zog sich
dieser vom Fenster zurück. Als freilich der Redner in völlig unmißver¬
ständlicher Weise den Gefühlen der Geislinger Bürgerschaft Ausdruck gab.
'
nickte zuerst die Königin Augusts freundlich zu, und wie nach flüchtigem
Aufenthalt der Zug sich wieder in Bewegung setzte und der Redner ein Hoch
ausbrachte auf das Haupt des norddeutschen Bundes, den Schirmherrn
Deutschlands, den Kaiser der Deutschen, in welches die Menge jubelnd ein¬
fiel, so neigte sich auch der König herzlich dankend und grüßend aus dem
Fenster vor, und fort gings — am Hohenstaufen vorbei nach dem Zollern.
Nach wenigen Tagen kam von Zollern herab an jenen Redner ein dankendes
und entschuldigendes Schreiben. Seine Majestät. — so wurde hier der Inhalt
erzählt —sei zuvor in Kenntniß gesetzt worden, daß eine freundliche und eine feind¬
liche Demonstration zugleich in Geislingen für ihn vorbereitet werde, er habe
es darum für passend gehalten, jede Kundgebung abzulehnen; zudem seien seine
Eindrücke am württembergischen Hofe in Friedrichshafen derart gewesen, daß
er sich entschlossen habe, möglichst schnell und ohne Aufsehen seine Reise durch
Württemberg fortzuführen.
In diefem Geislingen nun hielt die deutsche Partei in Württemberg am
28. Februar ihre Landesversammlung. Das Terrain war, wie marv sieht,
nicht ungünstig gewählt. Und es ist dem „Beobachter", der nicht übel Lust
hatte, diese Wahl als einen unbefugten Kunstgriff zu denunciren, unbedingt
zuzugeben, daß die deutsche Partei nirgend sonst einen so einmüthigen und
zugleich so festlichen Empfang gefunden hätte. Nirgends sonst wäre ein so
reichlicher Schmuck mit schwarz, weiß-rothen Fahnen entfaltet worden, wie
er den Ankommenden bereits aus der Ferne zuwinkte; denn der alte Römer¬
thurm, der aus den Buchenwäldern auf das Städtchen herabsieht, trug eine
mächtige Fahne mit den Farben des norddeutschen Bundes, und in den
Straßen war fast kein Haus ohne Schmuck von Kränzen und Fahnen, das
Rathhaus sogar nicht ausgenommen. Allein hätte die deutsche Partei einen
Ort gewählt, wo die politische Gesinnung mehr paritätisch vertheilt ist, so
wäre ihr der andere Vorwurf sicher nicht erspart worden, daß sie es darauf
anlege, die zartesten Gefühle ihrer politischen Gegner roh zu verletzen, wie
sie denn wirklich diesem Vorwurf nicht entging, als sie im August v. I.
zu Göppingen den mit großen Anstrengungen erstrittenen Wahlsieg Hölder's
durch ein Banket zu feiern sich erkühnte, und damals gleichfalls ganze Straßen
lieblich mit schwarz-weiß-rothen Fahnen verziert waren, worin der „Be¬
obachter" nichts anderes erblicken konnte, als frechen Hohn und schnöde
Herausforderung. Und daraus dürfte denn als zweifellos hervorgehen, daß
die deutsche Partei ein für allemal auf den Beifall des „Beobachters" wird
verzichten müssen.
Uebrigens ist es ja nicht an dem, daß man Geislingen, was die patrio¬
tische Denkart seiner Bürger betrifft, geradezu einem Eiland mitten im unwirth¬
lichen Ocean vergleichen dürste. Es liegt vielmehr eine gewisse Beruhigung
darin, diese Stadt rechts und links von wackeren Gesinnungsgenossen flan-
kirr zu sehen. Stößt doch gen Osten unmittelbar das Ulmische an. der
Wahlkreis des jungen Nationalökonomen Ed. Pfeiffer, und gen Westen
grenzt eben der Hohenstaufenbezirk, der Hölder, den Führer der Partei, in
die Kammer gesandt hat. Und auch sonst im Land sind noch verschiedene
Städte und Aemter, in welchen die nationalgesinnten Kandidaten mit weit
größeren Majoritäten, als zu Geislingen, mit dem Vertrauen der Wähler
beehrt worden sind, so daß es also jedenfalls außer dem Bergstädtchen an
der Alb noch mehrere andere Orte gibt, in welchen die Volkspartei eine
Landesversammlung voraussichtlich nicht halten wird.
Ueberdies kam zu der Erwägung, daß es unter allen Umständen ange¬
nehmer sei, mit fröhlichem Händedruck als mit Steinwürfen empfangen zu
werden — derlei kam beispielsweise damals zu Göppingen vor — noch ein
anderes. Geislingen liegt nicht eben in der Mitte des Landes, aber es er¬
möglichte, bequem von Seiten des Unterlands zugänglich, zugleich eine stärkere
Betheiligung von Seiten des hier anstoßenden Oberlandes, wo die deutsche
Partei zahlreiche und eifrige Genossen zählt, trotzdem daß dieser Theil des
Landes, oder vielmehr, gerade )veil derselbe überwiegend katholisch ist. Alle
freisinnigen und intelligenten Elemente hängen hier zugleich der nationalen
Sache an, schon weil sie den gefährlichsten Feind derselben ganz in der Nähe
kennen zu lernen Gelegenheit haben. Der „Beobachter", der den Ultramon¬
tanismus seinen Lesern gerne als eine boshafte Erfindung des Ministeriums
Jolly darstellt, ist deshalb sehr übel zu sprechen auf die „erbärmliche Bornirt-
heit des Constssionalismus". d. h. gegen die wohlbegründete Abneigung
gegen die Ultramontanen, welche naturgemäß in das nationale Lager führt.
Eine Volkspartei existirt dort nicht, und was sie zuweilen als ihre Erfolge
daselbst zu verkündigen liebt, sind einzig Erfolge des Beichtstuhls, eine
Allianz, die von der Volkspartei heute noch ebenso sorgsam gepflegt wird,
wie zur Zeit der Zollparlamentswahlen. So stand bei einer kürzlich vorge¬
nommenen Nachwahl zum Landtag in dem oberschwäbischen Bezirk Ried-
lingen die deutsche Partei zu dem Regierungskandidaten, der denn auch sieg¬
reich aus der Wahl hervorging, während der „Beobachter", das Organ der
süddeutschen Freiheit, sich für den Schützling der Klerisei engagirt hatte, und
es selbst nicht verschmähte, das katholische Landvolk darauf aufmerksam zu
machen, daß der siegreiche Kandidat, ein Regierungsbeamter sei und obwol
selbst Katholik, dennoch seine Kinder protestantisch erziehen lasse. Diesmal
war der do«nirte Confessionalismus doch jedenfalls nicht auf der vom „Be¬
obachter" bekämpften Seite.
Nun trug aber die Versammlung vom 28. Febr. keineswegs den blos
localen Charakter. Kam auch das Hauptcontingent der Menge, welche ti>
geräumige Halle füllte, aus der näheren Umgebung, so waren doch auch die
anderen und selbst die entferntesten Landestheile vertreten; es war wirklich
eine Landesversammlung. Und eS war, auch alle günstigen Momente in
Anschlag gebracht, eine Kundgebung, wie sie seit Jahren bedeutender von
keiner Partei ins Werk gesetzt worden ist. So war sie denn vor Allem ein
neues Zeugniß, daß die Volkspartei nicht, wie sie fortwährend vorgibt, die
alleinherrschende Meinung deS Landes vertritt, daß sie kein Recht hat, wie
sie täglich thut, sich mit dem „Volk- zu identificiren. Die Minderheit wagt
es wenigstens, auch ein Lebenszeichen zu geben, und sie hat die Genug¬
thuung, bei jeder neuen Musterung ihre Reihen verstärkt zu sehen. Sie ist
mit ihren 45,000 Stimmen bei den Zollparlamentswahlen unterlegen, und
sie hat bei den letzten Landtagswahlen nur 14 Abgeoronete der nationalen
Richtung, eine kleine Minderheit, durchgesetzt; allein es ist zu bezweifeln, ob
Herr v. Mittnacht dem Zollparlament sie wieder als ein kleines Häuflein
extremer Fanatiker schildern wird.
Die deutsche Partei hat sich wiederum zu ihrem alten Programm be¬
kannt: Eintritt in den norddeutschen Bund. Daß sie damit die¬
sen Eintritt nicht bewirken kann, nicht einmal, beschleunigt, wird sie natür¬
lich selbst am besten wissen. Aber es ist das kein Grund, ihre Propaganda
für dieses Ziel einzustellen, dem doch die Zukunft gehört. Seit dem Aus-
gang der ersten Zollparlamentssession und seit dem Fiasco des Südbundes
muß es ja doch auch widerspenstigen Köpfen allmälig eingehen, daß der ein¬
fache Beitritt zum norddeutschen Bunde der einzige Weg ist, wenn man
überhaupt ein deutsches Staatswesen will, und diejenigen, welche bisher der
Meinung waren, dieser Beitritt sei ja schließlich selbstverständlich, nur eile
es nicht sehr damit; je spröder sich der Süden zeige, um so bessere Bedin¬
gungen werde man ihm für den Eintritt bewilligen müssen, — worin diese
„Bedingungen" bestehen sollen, weiß, beiläufig gesagt, freilich Niemand an¬
zugeben. — alle diese müssen nicht wenig verdutzt sein, durch die Energie,
mit welcher der norddeutsche Bund seinen inneren Ausbau betreibt, so daß
das anfangs gestaltlose Ding ein immer fertigeres Aussehen gewinnt bis
zu dem Zeitpunkt, da es den Cismönanen bequem sein wird, beizutreten, und
damit selbstverständlich jede Möglichkeit des Paciscirens in immer nebel¬
grauere Ferne rückt. Ist es doch auch nicht anders jenseit des Oceans in
dem gepriesenen Musterland des Föderalismus, wo ja ein neuer Staat, der
sich der Union anschließen will, nicht erst gefragt wird, welche Beschwerden
er wider die constitution ok elf umteä states auf dem Herzen hat, damit
man dieselbe geschwind vorher den Stammeseigenthümlichkeiten von Texas
oder Californien anbequeme, sondern der neue Staat tritt in die Union ein,
wie sie ist, und damit Punktum.
Eine populäre Partei aber darf und muß ihr letztes Ziel immer wieder
aussprechen, auch wenn es nicht heute und nicht morgen zu verwirklichen ist.
Sie braucht sich auch nicht in die große Politik zu mischen, und den Staats¬
männern Mittel und Wege vorzuschreiben: sie hat sich einfach an das Pflicht¬
gefühl des deutschen Bürgers zu wenden. Und das ist es, was die geis-
linger Versammlung wollte, sie war eine Appellation an das deutsche
Gewissen der Schwaben. Man wird zugeben, daß eine solche Kund¬
gebung in Schwaben gerade heute nichts weniger als überflüssig war. Zu¬
dringlicher als je sind die Einflüsterungen aus Wien, daß die Einigung
Deutschlands positiv verboten sei durch den Buchstaben des prager Friedens.
Frecher als je wird in unserem Lande die Neutralität in dem Kriege Deutsch¬
lands mit Frankreich gepredigt, von derselben Seite, von der man vor drei
Jahren zum Krieg gegen Deutsche hetzte, die nächtliche Axt gegen Deutsche
empfahl, und das Verlangen der Neutralität im östreichisch-preußischen Zwei¬
kampf als Landesverrat!) denuncirte. Und schwankend stehl die Regierung
mitten unter den Parteien, unfähig, sie zu beherrschen, und so das Land in
einem Zustande der Ungewißheit und der Zerfahrenheit haltend, der im
Inneren die besseren Elemente der Bevölkerung ihr entfremdet hält, nach
Außen aber fortwährend gerechtes Mißtrauen herausfordert.
Der Artikel in Ur. 10 der Grenzboten: Vertheidigung der deutschen
Küsten gibt willkommene Veranlassung an die Erfahrungen zu erinnern,
welche in neuer Zeit über den Kampf vom Land gegen Schiffe an anderen
Orten gemacht worden sind. Das einzige Beispiel für Angriff und Ver¬
theidigung großer Küstenstrecken mit allen Hilfsmitteln der modernen Technik
bietet der letzte Krieg in Amerika, aus dem hier einige Beispiele vorgeführt
werden sollen; dieselben werden die in dem früherem Aufsatze aufgestellten
Grundsätze erklären und bestätigen.
Am 8. April 1863 versuchte der Unionsadmiral Dupont mit 9 Panzer¬
schiffen — und 6 Schiffen in Reserve außerhalb der Barre — die Einfahrt
in die durch Taue, Pfähle, Torpedos, gesperrte Bai von Charleston zu
erzwingen. Die Monitors und speciell der „Knokuk" kamen bis in die Höhe
von Fort Moultrie, wo die Hauptsperrungen durch Taue und Netze zum
Verwickeln der Schrauben anfingen: dann erst begann ein concentrirtes Feuer
der Forts Sünder, Moultrie und Beauregard auf SSO—800 Uards, also
eine Distanz, die im Vergleich zu der bei den englischen Panzerproben nor¬
malen Entfernung von 200 Uards —ca. 300 Schritt sehr bedeutend war,
und demnach den Panzerschiffen noch verhältnißmäßig große Sicherheit hätte
gewährleisten müssen. Dennoch litten die letzteren enorm, was dem schlechten
amerikanischen Panzer (10 einzölligen aufeinander gemieteten Platten statt
massiver 4^—S zolliger Platten) und der unvermeidlich sehr empfindlichen
Drehungsmaschinerie des Ericsonschen Thurmes zugeschrieben werden muß.
um so mehr als nur wenige Geschütze der Conföderirten sehr schweres Ka¬
liber hatten und gezogen waren.*) Um 2 Uhr SO Minuten begann das
Feuer, um 4 Uhr 30 Minuten gab Dupont das Signal zum Rückzug: aber
kein einziges Schiff war länger als 40 Minuten im Feuer gewesen. Die
einzelnen Schiffe hatten folgende Beschädigungen erlitten: Der Monitor
„Knokuk" war in 30 Minuten, während er selbst nur drei Mal feuern konnte,
neunzig Mal getroffen worden auf eine Distanz von SSO Aards, und hier¬
durch waren viele Eisenplatten abgerissen und der Thurm eingedrückt, so daß
er am folgenden Tage sank. Der „Nahant", welcher nur fünfzehn Schuß
feuerte, war sechunddreißig Mal getroffen: ihm war dadurch der Thurm un¬
drehbar geworden, das Steuerhaus zerschmettert, und von der Panzerung
76 Psd. schwere Eisenstücke abgerissen. Der „Poctapsco", welcher vier Schuß
abgab, war siebenundvierzig Mal, der „Nantucket", der drei Mal feuerte, war
einundfünfzig Mal (davon fünfzehn Mal im Thurm), der „Passaic", der vier
Schuß feuerte, fünfundvierzig Mal getroffen, sodaß auch sein Thurm ernstlich
beschädigt war. Keines der Schiffe konnte mehr feuern, da entweder die Ge¬
schützpforten der Thürme zerschlagen und die Platten verschoben waren, sodaß
die Mündung nicht in die Pforten gebracht werden konnte, oder der Thurm
nicht mehr drehbar war, weil die feindlichen Geschosse das Eisen an der
Liderung des Thurms im Deck verbogen hatten. Man begreift hiernach die
geringe Vorliebe für die amerikanischen Monitors, welche zu einer Zeit, wo
diese Resultate noch nicht bekannt waren, hier ausgesprochen wurde. Als
ein Erstling der beginnenden amerikanischen Fabrication hatte übrigens auch
das einzige Breitseitenpanzerschiff der Union,.die „Jronsides", die später im
Sturm untergegangen ist, trotz ihrer 4^ zölligen Platten auf 1000 Uards.
durch ausschlagende schwere Geschosse in den Platten bedenkliche Sprünge
erhalten. Nach Duponls eigenem Bericht konnten zwar außer den genannten
sechs Panzerschiffen alle übrigen noch feuern: aber in 30 weiteren Minuten
wären ihm zufolge «Ach diese Schiffe ebenso zugerichtet gewesen. Die Ein¬
fahrt in die Bai wurde nicht wieder versucht: die Flotte des Admirals Dahl-
gren unterstützte später nur durch ihr Feuer die Operationen Gilmores gegen
die Forts Wagner und Sünder. Man begreift hiernach, wie schwierig selbst
für bie weit besseren europäischen Panzerschiffe ein Angriff auf unsere Küsten¬
befestigungen bei Kiel u. s. w. sein würde, namentlich da letztere eine starke
Armirung sehr schwerer gezogener Geschütze erhalten. Auch als Admiral
Farragut die Forts Morgan und Gaues forcirt hatte, wagte er nicht in
die versperrten Zugänge Spanisch River Channel und Choctaw Paß in der
oberen Bai von Mohne einzudringen — selbst für flachgehende Schiffe er¬
klärte er es trotz aller seiner Tollkühnheit für unmöglich. Auch Admiral
Porter erklärt mehrmals, daß das Feuer richtig angelegter Landbatterien
bei gesperrten Fahrwasser selbst mit Panzerschiffen sich nicht passiren läßt.
Die ISzölligen Vorderlader des Unionsmonitors „Weehawken" zwangen,
obwol sie, wie die Versuche zu Shoeburyneß im Juni d. I. gezeigt haben,
den Woolwich-300Pfünder und dem Krupp-96Pfänder nicht entfernt ge¬
wachsen sind, den Conföoerirten Panzerwidder „Areansas" nach drei Schüssen
auf 300 Yards zum Streichen der Flagge.
Gegen Erd- und Sandwerk zeigte sich die Wirkung der schwersten ame¬
rikanischen Geschütze verhältnißmäßig gering. Im Fort Fisher waren die
Geschützstände ca. 100 Schritt auseinander und durch breite und hohe Tra¬
versen seitlich gedeckt, aber nach oben ungeschützt. Deshalb füllten die in den
Traversen crepirenden Geschosse oft die Geschütze mit Sand und begruben unter
demselben die Kanoniere, sodaß die Kanonen nicht feuern konnten. Besser
war Arkansas-Post, das casemattirte Geschützstände besaß und die Scharten
und Wände durch zwei Lagen Eisenbahnschienen verstärkt hatte, wobei die
Scharten nach Innen nur groß genug für die Geschützmündungen waren.
Gegen seine eilf Geschütze, darunter drei 9- und 10-zottige, die auf abgesteckte
Distanzen feuerten, traten Admiral Porters Panzerboote mit neun 9zölligen
und zwei 8zölligen Kanonen in die Schranken auf 1100, 700 und öOO Yards.
Wo aber die Größe der Scharten im Fort es erlaubte, feuerte Porter auf
70 Yards hereindampfend mit Kartätschen in die Scharten, sodaß innen alle
Kanoniere getödtet wurden: nach dreistündigem Kampf waren alle Geschütze
zum Schweigen gebracht, und Landtruppen stürmten das Fort.
Am Schlüsse des 4jährigen Krieges reichte Porter dem Marinemtnister
einen Bericht ein, in welchem er die bisherige Befestigung gegenüber den Panzer-
flotten gänzlich verwirft. Kein amerikanisches Fort könne den combinirten
Angriff der Monitors und der „Jronsides" widerstehen, wenn sie 1 Mile
von den Strandgeschützen entfernt 15 gegen 1 Geschütz stehen. Dann sei es
nur eine Zeitfrage, daß ein Landangriss das Fort einnehme — auch Fort
Monroe und die Newyorker Forts könnten, trotz odA gerade wegen ihrer
hohen Mauern einer englischen Flotte nicht widerstehen. Sand- und Erd¬
werke seien besser als Mauerwerk, und auch von ersteren dürfte nicht das
Hauptwerk, nur die Vorwerke unmittelbar an der See liegen — wie auch
in d. Bl. ein Reduit, womöglich hoch gelegen für Etagenfeuer, als hinter
den Strandwerken nöthig empfohlen wurde. Hätte Fort Fisher 1 Mile von
der See abgelegen, so wäre es nicht genommen worden. Nach Porter
sollen die Erdwerke 100 Fuß breite Traversen (Erdaufwürfe zwischen den
einzelnen Geschützständen), so wie eine Deckung gegen Verticalseuer und ein
bombenfestes Reduit für die Besatzung haben. Wo es möglich ist, möge man
Geschütze in eisernen Drehthürmen auf dem Wall placiren, welche bei einem
Landangriff auch das Innere des Forts bestreichen können, ebenso wie Ga¬
lerien unterhalb der Thürme und ein Centralthurm zur Bestreichung des
inneren Raumes bei einem gewaltsamen Angriff viel nützen würden. Die
Schwere der Geschütze und die Dicke des Panzers ist ja auch hier nicht be¬
schränkt, wie bei den Panzerschiffen durch die Tragfähigkeit, und deshalb stets
diesen überlegen herzustellen.
Indessen kann auch nach Porter's Ansicht selbst bei solcher Anlage der
Küstenbefestigungen durch das Feuer der Strandbatterien allein kein Werk
dem concentrischen Angriff vieler Panzerschiffe widerstehen, und noch weniger
kann ein Werk vorbeifahrende Schiffe in offenem Fahrwasser aufhalten.
Amerikanischen Panzerschiffen und durch Baumwollen- oder gepreßte
Heuballen in den Flanken gedeckten Holzschiffen schadet das Feuer mit Voll¬
geschossen höchstens auf 2000 Schritt. Die Fahrt an die Batterie und von
dieser, also im Ganzen 4000 Schritt, kann in vier Minuten bewerkstelligt
werden, und in dieser Zeit vermag die Batterie höchstens dreimal auf die
passirenden Schiffe zu feuern, wobei ja auch nicht alle Schüsse treffen und selbst
die meisten Treffer bei dem schrägen Aufschlagen der Kugeln wenig schaden.
Dagegen können auch Panzerschiffe nicht passiren. wenn sie durch unter¬
seeische Sperrungen und Torpedos gezwungen sind, im wirksamen Feuer von
11—ISzölligen Geschützen auch nur 30—40 Minuten zu bleiben. Die
Sperrungen mit Seilen und Netzen zum Verwickeln der Schrauben müssen
aber nach Porter stets mit Torpedos combinirt werden und ebenso müssen
die Landbatterien durch Panzerfahrzeuge fecundirt sein, durch Monitors,
Panzerwidder oder eiserne schwimmende Batterien, wie ja auch den Consöde-
rirten ihr Panzerschiff „Tennessee" bei Mohne, ihre „Louisiana" bei New-
orleans gegen die angreifenden Monitors bedeutende Stärke verlieh.
Mit solcher Unterstützung hält Porter die Landbefestigungen für noch
stärker und wichtiger, als früher, selbst den Panzerschiffen gegenüber; aber es
müssen die Anlagen freilich nicht so gemacht sein, wie z. B. in Swinemünde,
in Cherbourg und in einer guten Zahl von Forts der Union, die trotz zehn¬
fach stärkerer Kanonenzahl in offenen Geschützständen oder auch hinter ge¬
mauerten Casematten den Flotten dennoch Erfolge gestatteten wegen schwachen
Calibers und schlechter Bedienung in den Landbatterien. So passirten am
28. Januar 1862 bei Vicksburg selbst hölzerne Dampfer, welche durch Woll-
und Baumwoll- oder Heuballen- und Kohlen-Prahme in den Flanken ge¬
schützt waren. Freilich hätten sie glühenden Kugeln nicht widerstehen können,
wenn selbst der im Aazoo-River gebaute Panzerwidder „Arcansas" durch
das Unionspanzerkanonenboot „Essex" mittelst glühender Kugeln in Brand
gesetzt wurde, nachdem sein Panzer zerschossen war. Wie wichtig übrigens
auch für Küstenfahrzeuge große Schnelligkeit ist, zeigt die Verlegenheit der
Unionskriegsschiffe, die höchstens 11 Knoten machten, gegenüber den 15 Kno¬
ten laufenden Blokaderennern. Am S. August 1864 gelang dem Admiral
Farragut die Einfahrt in die Bai von Mohne mit 4 Panzerschiffen und
13 Holzschiffen selbst bei Tage nur darum, weil die Torpedos an jener
Stelle durch langes Liegen schlecht geworden und die Schiffswände durch
Heuballen und umgewundene Ankerketten geschützt waren. Hierbei wurde der
Panzerwidder „Tennessee" durch die Is zölligen Geschütze des Unionsmonitors
„Manhattan" leck geschossen. Sonst wurden die Conföderirten-Werke immer
heimlich passirt, und Vicksburg und Port Hudson konnten später gar nicht
mehr passirt werden, weil durch Anlage von Etagenbatterien, wie wir sie
früher vorschlugen, auf den Bluffs, den Uferhöhen, ein ieu plovAöant, auf
das Oberdeck der feindlichen Schiffe ermöglicht wurde, und viele Schiffe ganz
zerstört wurden. So gelang es, als Farragut am 13. März bei Port Hudson
mit dem Flaggenschiff „Hartford", 25 K., dem „Richmond", 26 K.. dem „Essex',
7 K.. 4 Kanonenbooten zu 4 Geschützen und 10 Mörserbooten (morwr boats)
Passiren wollte, nur dem Flaggenschiff und dem „Albatroß" durchzukommen,
als bei Nacht unter künstlicher Beleuchtung die Conföderirten-Batterien ihr
Feuer eröffneten; die anderen Schiffe konnten nicht durchdringen, und dem
Panzerkanonenboot „Mauntcity" wurde sogar der Kessel durchschossen, und
die Mannschaft durch den ausströmenden Dampf getödtet.
Bei richtigen Vorkehrungen am Lande kann weder eine Passage der
Batterien, noch ein Flottenangriff auf dieselben gelingen, wenn nicht gleich-
zeitig ein Landangriff erfolgt; auch nach Porter muß mit jedem Flottenangriff
auf Küstenbefestigungen ein Landangriff combinirt werden.
So sind wir Deutsche, wenn wir die amerikanischen Erfahrungen richtig
benutzen, wol zu der Annahme berechtigt, daß im Fall eines Krieges auch
eine Ueberlegenheit feindlicher Flotten zur See uns den Schutz unserer Küsten
nicht unmöglich machen werde.
Durch unendlich lange Durchschnitte grauschwarzer Schlammgüsse, Aschen¬
regen und schlackiger Laven hindurch (oft 40' mächtig), endlich über ein spär¬
lich bebautes freies Feld, gelangt man an die Schuttböschungen, welche die
Lage des nun zum Drittel wieder aufgedeckten Pompeji schon von Ferne
kennzeichnen, Sie gleichen den Halden in den Umgebungen der Bergwerke.
Und nun traten wir, einen mäßigen Hügel ersteigend, durch die portu,
marina, in die stille Stadt, durch deren Straßen in diesem Augenblicke wol
nur sechs Personen mit uns wandelten. Wie oft hat dies Thor an Fest¬
tagen Tausende buntgeschmückter fröhlicher Menschen in die grünende Ebene,
an den Meeresstrand hinausgesandt! Heute — es war ein Festtag — empfing
uns eine wunderbare feierliche Ruhe unter seinen Wölbungen. Pompeji ist
mit Nichts in der Welt zu vergleichen. Auch nicht mit einer ausgebrannten
Stadt, wie man so oft thut; denn was stehen geblieben ist, ist Alles reinlich
und sauber bis auf das Pflaster hinunter erhalten. Es ist ganz einzig in
seiner Art, und der Eindruck, den es macht, stärker als irgend einer, den
man sonst wol von den Spuren und Resten antiken Lebens empfängt. Denn
die Reste Pompeji's sind unvermischt und unverwandelt erhalten; was wir
sehen und berühren, ist antik; das Moderne, das sich an die alte Stadt
herangedrängt hat, ist unserem Blicke durch die umgebenden Schutzwälle ent¬
zogen; wir sehen nur, was ein Pompejaner aus Titus'Zeiten auch sah, die
Stadt, den Himmel, den Vesuv, den Se. Angelo und das Meer; wir be-
schreiten dasselbe Pflaster, das Cicero und Sallust, Pansa und Andere mehr
betreten haben. Und das antike, Leben vermittelt sich uns hier nicht durch
die idealisirende Kraft der Künstler oder die Reflexion der Literaten, der
Dichter und Gelehrten: in all' seiner Naivetät, seinen tausend Zufälligkeiten,
mitten in seinem alltäglichen Laufe ist es überrascht, begraben, conservirt
worden. Es bedarf nicht der wegräumenden, es bedarf nur der ergänzenden
und belebenden Phantasie, um hier die Fülle der Anschauung zu haben.
Dieses einzige Schauspiel gewährt auch Rom nicht. Vor Allem: die Men¬
schen rücken uns hier so nahe, daß wir mit ihnen lächeln können, daß wir
über sie weinen müssen. In einem furchtbaren Momente sind sie aus ihren
Wohnungen, aus ihren Straßen, an welche die Erinnerungen der Jugend
sie fesselten, auf Nimmerwiederkehr hinausgetrieben worden, und jedes fremde
Auge darf nun ihre Heimlichkeiten, die Intimitäten ihres Lebens belauschen.
Wir begaben uns zunächst — und es liegt dem Seethore auch am nächsten —
nach dem Forum, wo der Staat und das öffentliche Leben sich in seinen
mannigfaltigen Functionen repräsentirt. Wie da die ganze Anordnung so
deutlich von der centralisirenden Allgewalt der Staatsidee redet! Hier wohn¬
ten die Ideale, hier lagen die letzten und höchsten Zwecke des antiken Men¬
schen, hier erwarteten ihn seine Belohnungen, hier war er gefangen in allen
seinen Gefühlen und Gedanken; hier verfügte die Gesammtheit über die
Kräfte des Einzelnen, rief der Einzelne die Gesammtheit zum Schutze seines
gekränkten Rechtes an. Das Alles lehrt auf der Stelle ein Blick, ein Gang
über das Forum. Es ist ein oblonger Platz von 200 Schritt Länge und
etwa ein Viertel so breit, ganz von öffentlichen Gebäuden umgeben; drei
Thore — zwei aus der einen, eins auf der anderen Schmalseite — führen
hinein; Nachts wurden sie geschlossen. Zwischen jenen zwei Thoren, etwa
SO Schritt in das Forum hereintretend, erhebt sich der Tempel des Jupiter,
zu dem eine in der Mitte durch eine Platform unterbrochene Treppe empor¬
führt. Durch die zwölf Säulen des Pronaos blickte der Gott aus seiner
Cella über das Forum, über die Stadt auf das weite Meer.
Dieser Tempel unterbricht einen prachtvollen Portikus, welcher die drei
anderen Seiten des Forums umgab und in den Resten seiner Säulenschciste
noch umgibt. Er trug eine zweite Säulenhalle über sich. Vor den Säulen
nun wieder, auf dem freien Platze, standen die Fuß- und Reiterstandbilder
derer, welche der Rath der Decurionen für besondere Verdienste ehren wollte.
Noch stehen sechzehn Postamente da; einige von ihnen waren noch gar nicht
vollendet, und in diesem Zustande sind sie auf unsere Zeit gekommen. Ueber¬
haupt war ein Theil dieser öffentlichen Bauten gerade in der Restauration
begriffen, als die Stadt zugedeckt wurde; sie waren nach dem Erdbeben, das
sie sechzehn Jahre vor der Verschüttung zum Theil zerstört hatte, erst spät
wieder dem Baumeister übergeben worden. Die deutlichen Merkmale dieses
augenblicklichen Zustandes sind die zahlreichen frischbehauenen Friesstücke, die
zwischen die Säulenschäfte hingelegt waren, um demnächst emporgewunden zu
werden. Die Restauration sollte aber zugleich, hier wie in dem benachbarten
Venustempel, eine Verschönerung sein: was ehemals im ernsten dorischen
Stile gebaut worden, sollte nun in den leichten gefälligen Geschmack, den'
die tonangebende Roma damals liebte, hinübergebildet werden. Wir finden
daher auf die dorischen Säulen, nachdem man sie angemessen erhöht, korin¬
thische Capitäle aufgesetzt.
Den oben erwähnten Tempel, den schönsten der heiteren Stadt, die in
der Venus ihre Patronin verehrte, sah der Vater der Götter zu seiner Rech,
ten. Er öffnet sich aber nicht auf das Forum, mit dem er nur durch eine
Treppe verbunden war, sondern steht inmitten seines eigenen säulenumgebe¬
nen Hofes, von allen Seiten frei zu umgehen; vor ihm einige marmorne
Räucheraltare, auf denen man bei der Ausgrabung noch Spuren von Rauch¬
opfern fand. An einer Säule findet sich eine weibliche Herme befestigt. Die
Längenrichtung dieses Venushofes nun geht mit der des Forums nicht
ganz parallel, schneidet sich vielmehr in einem spitzen Winkel; entweder schien
also das Forum oder der Tempelhof eine unregelmäßige Form annehmen
zu müssen, aber der Baumeister hat das Dilemma sehr glücklich aufgehoben.
An der Wand des Tempelhofes nämlich, welche ihn vom Forum trennt, hat
er breite Pfeiler, die nach hinten zu immer stärker werden, coulissenartig an¬
gebracht, sodaß das Auge des Eintretenden eine Wand zu sehen meint, die
mit der gegenüberliegenden parallel läuft; eine erlaubte und, so einfach sie
ist, wahrhaft künstlerische Täuschung. Derselbe Zweck ist mit anderen Mit¬
teln an einem anderen Gebäude erreicht, das dem Venustempel gegenüber
auf der anderen Seite des Forums liegt. Es ist dies das sogenannte Chal-
cidikum, offenbar nichts Anderes, als die Börse. Ein großer Hof für den
Sommer und ein umgebender breiter, bedeckter Gang für den Winter, hinten
ein durch das Bild einer Gottheit geschmücktes Tribunal für den Handels¬
richter. In dem durch dies Tribunal verdeckten Theile des umlaufenden
Ganges findet sich in einer bescheidenen Nische die Statue (jetzt in einer
Nachbildung) der Priesterin Eumachia, welche, wie die Inschrift sagt, den
ganzen Bau gestiftet hat. Die dankbaren Tuchwalker haben ihr die Bild¬
säule gesetzt. Auf der einen Seite der Nische stößt man auf eine Thür, die
ich nicht erwähnen würde, wenn sie nicht auf der anderen Seite, der Symme¬
trie wegen, ihr gemaltes Gegenbild hätte. Das ist nun, was der unbe¬
fangene Betrachter freilich nicht ahnen kann, das Entzücken aller Gelehrten;
es lehrt sie nämlich — alles Holzwerk ist ja leider zu Grunde gegangen —
daß die Alten ihre Thüren mit Füllungen machten, wie wir. Meister Schrei¬
ner weiß freilich auch, daß man eine gut schließende Thür gar nicht anders
machen kann. Neben dem Chalcidikum aufwärts steht der Merkurtempel,
sehr zerstört; ihm folgt die Halle der Decurionen, die nach dem Forum zu
ganz offen ist, vielleicht aber noch geschlossen werden sollte, und das letzte
Gebäude dieser Reihe, dem Jupitertempel gegenüber, ist jene räthselhafte An¬
lage, die man den Augustustempel genannt hat. Wieder ein großer Hof,
rechts an der Wand mit eilf Abtheilungen für Boutiquen, in denen man
zahlreiche Münzen gefunden hat, die Hinterwand durch Quermauern in drei
Abtheilungen geschieden, deren mittelste wie die Cella eines Tempels aussieht.
Man fand in den beiden Seitennischen derselben die Bildsäulen des Drusus
und der Livia, der Gemahlin des August. Von derjenigen, welche die Haupt¬
nische eingenommen, war nur der rechte Arm mit dem Globus übrig geblie¬
ben, ein Stück, das, zusammengehalten mit den die Kapitale der Eingangs¬
fäulen zierenden Adlern, wol auf den Kaiser Augustus gedeutet werden
konnte. Die eine der beiden anderen Abtheilungen enthält eine kleine Tem¬
pelnische und einen Altar; nicht weit davon an der Mauer ist eine Vor¬
richtung, die man für ein musikalisches Orchester hat erkennen wollen. In
der anderen sieht man in Form eines offenen Quarre'es drei aufgemauerte
Tische mit nach vorn abgeschrägten Platten; unten davor läuft eine Rinne
zum Auffangen von Flüssigkeiten: offenbar diente sie zum Zerlegen und
Anrichten von Fleisch, vermuthlich von Opferfleisch. Mitten im Hofe stehen,
zu einem Kreise rangirt, 12 Postamente, wahrscheinlich für die Bildsäulen
der 12 Götter bestimmt. In welchem Begriffe vereinigen sich nun die hier
aufgeführten Merkmale? Man will in dem Gebäude einen Augustustempel
erkennen, aber wozu alsdann die 12 Postamente, welche auf ein Pantheon
deuten? Man hat es ein Hospitium genannt, wo die Fremden unter dem
Schutze der Götter gastliche Aufnahme finden sollten. Ich will dem nicht
ganz widersprechen, doch halte ich sür wahrscheinlicher, daß es eine von Au-
gustus gegründete und geschenkte Stätte sür Opferschmäuse war, denn für
jenen Zweck erscheint die Anlage, verglichen mit der Kleinheit der Stadt (die
nicht mehr als 30.000 Einwohner hatte) doch zu kostbar. Daß hier mit dem
Cultus der Götter auch der des Magens auf eine angenehme Weise ver¬
bunden wurde, bewiesen die vielen Flaschen und die Reste von Früchten, die
man gefunden. Die Malereien zumal, mit ihren Vögeln, culinarischer Still¬
leben und Früchten, beziehen sich stark auf den Theil unseres Wesens, den
die christliche Religion mehr und mehr zu unterdrücken gebot.
Von den öffentlichen Gebäuden, welche das Forum umgeben, ist noch
der Basilika Erwähnung zu thun, die dem Chalcidikum schräg gegenüber,
ganz unten auf dasselbe in die hier verdoppelten Säulen des Portikus mün¬
det. Wiederum einer dieser großen Höfe mit dem grandiosesten jontschen
Portikus, mit Reiter- und Fußstandbildern, deren Basen noch erhalten sind.
Dem Eingange gegenüber an der Hinterwand war das durch sechs korinthi¬
sche Säulen geschmückte Tribunal der Duumvirn, die hier, auf erhöhtem
Platze, vor allem Volk Recht sprachen. Der Raum, der durch die Erhöhung
des Richtersitzes gewonnen ist, ist abgeschlossen und gewölbt; er mag als
Aufenthalt für die zu Verhörenden oder als Archiv für die Documente ge¬
dient haben. Die ganze Basilika, deren Säulen noch bis zu ziemlicher Höhe
erhalten sind, macht einen außerordentlich großartigen, feierlichen Eindruck.
Die Justiz trat hier in all ihrem Ernst und ihrer Würde dem Volke gegen¬
über. Doch mag der Eindruck nicht auf Alle der nämliche gewesen sein; an
der Mauer hat ein Mißvergnügter seinen Zweifel an der Unparteilichkeit der
Justiz durch die Worte verewigt: Huoä prstium legi? Was kostet das Gesetz?
Und nun ein Gang durch die stillen Straßen der Stadt. Die breiteren
derselben messen etwa Is Schritt, wovon die Hälfte auf die beiden Trottoirs
kommt, die oft einige Fuß über die Fahrstraße erhöht sind. Zur Communi-
cation zwischen den Trottoirs dienen je zwei oder drei große ovale Schritt¬
steine, die in großen Zwischenräumen in den Fahrweg eingesetzt sind und
zwischen denen die Wagengleise hindurchgehen. Diese Vorrichtung war für
die starken Regengüsse berechnet, die zu Zeiten in den Straßen herabrausck/ten.
Viel breiter als die Straßen der inneren Stadt sind die der von Augustus
angelegten Vorstadt; man unterscheidet hier deutlich die alte und die moderne
Zeit. Auch in der Anlage der Häuser selbst. Die Villa des Diomedes, in
der Vorstadt, kommt in ihren Verhältnissen denen unserer modernen Villen
sehr nahe, und behandelt die überlieferte Norm mit voller Freiheit; die Häu¬
ser der inneren Stadt sind fast durchgängig von großer Gleichförmigkeit der
Anlage und ihre Verhältnisse weichen von denen der unseren sehr stark ab.
Uebngens erscheinen diese doch nur demjenigen so auffällig klein, der sie mit
der Vorstellung und der Voraussetzung nordischer Lebensweise betrachtet;
wer nur acht Tage in Neapel das Leben und Wohnen des Volkes beobach¬
tet hat, sieht alsbald, daß diese Wohnungen nicht nur ausreichend und an¬
gemessen, sondern auch bequem waren. Vergleicht man freilich nur die Größe
der Zimmer mit der unserer einzelnen Zimmer, so bekommt man die Vor¬
stellung der Enge und Bedrängthcit; denn wenigstens die Gemächer im
Vorderhause, z. B. das Arbeitszimmer des Herrn, sind in der Regel nur
6 bis höchstens 8 Schritt breit und eben so tief. Aber diese Räume sollten
eben blos ein Unterkommen bieten; gelebt und gearbeitet wurde halb im
Freien, im Atrium und Peristyl. Diese beiden Anlagen, welche das antike
Haus so wesentlich von dem modernen unterscheiden und seinen Charakter
bezeichnen, ließ das südliche Klima erfinden. Wollte man nämlich ein gegen
Außen einigermaßen abgeschlossenes Heimwesen haben und doch — was das
Klima fordert und in jeder Jahreszeit erlaubt — stets die frische Lust ge¬
nießen, ohne zugleich dem Regen und dem Winde ausgesetzt zu sein, so
mußte man Räume bauen, die halb Saal, halb Hof waren, und wenn sie
jeden Augenblick zugänglich und bequem sein sollten, mußte man sie in die
Mitte aller übrigen Wohnlichkeiten legen. So entstand ein Haus, das als
die Umkehrung des unseren erscheint. Nun wäre ein einziger solcher saal¬
artiger Hof genug gewesen — und in der That begnügten sich sehr viele
Häuser mit einem, ja die Armen benutzten, wie noch heute die neapolitani¬
schen Lazzaroni. die Straßen als ihren Familiensaal, — aber der Römer liebte
es. sein Familienleben von der Berührung mit der Welt ganz abzuschließen
und baute deshalb hinter die erste Abtheilung des Hauses, in der er seine
Geschäfte betrieb, seine Clienten empfing u. s. w., noch eine zweite, ziemlich
ähnliche, aber schönere für sich und die Seinigen. So haben wir nun vorn
das Atrium mit etwa je 4 Piecen rechts und links, wovon die beiden letzten
nach dem Hofe zu ganz offen sind, und hinten das Peristyl mit etwa eben
so viel kleineren und einigen größeren Räumen, die alle nur durch die stets
offene Thür ihr Licht empfangen. Beide Abtheilungen des Hauses sind durch
einen Mittelbau getrennt, welcher das Tablinum enthält, das nach beiden
Höfen offene Zimmer für die Bilder und die Urkunden der Familie. War
Alles offen, so konnte man von der Straßenthür durch das Atrium, das
Tablinum, das Peristyl in das größere Familienzimmer, den Oekus sehen,
der sich im Fond des Peristyls befand. Das Tablinum wurde aber nicht
als Durchgang benutzt (es h^ete g^es oft eine Brüstung nach dem Hinter¬
hause zu), sondern dazu diente ein schmaler Gang neben demselben (die tauees),
wie denn oft, ein solcher Gang auch nach hinten auf die Straße führte.
Weil Horaz erwähnt, daß der Eine und Andere seiner Clienten wol durch
diese Hinterthür gelegentlich entrinne, so hat man geschlossen, sie sei für die¬
sen Zweck angelegt; sie ist aber offenbar für die Sclaven gemacht, welche
die Küche zu versorgen hatten. Diese befindet sich natürlich im Hinterhause
in der Nähe der beiden Eßzimmer, von denen das eine nach Norden, das
andere nach Süden liegt.
Das Atrium nun hat z. B. in dem Hause des Pansa (welches richtiger
das des Parcitus heißen sollte), einer mittelgroßen, sehr normal gebauten
Wohnung, eine Länge von 13, eine Breite von 19 Schritt, ist also schon ein
artiger Saal. Seine Wände tragen zierliche Malereien und Statuen, sein
Plafond ist cassettirt. Dieser Plafond hatte in der Mitte eine Oeffnung
von 3 Schritt Breite und 6 Schritt Länge, so daß etwa von 240 Quadrat¬
schritt Flächenraum 1ö Schritt ungedeckt waren: das war also kein Hof,
sondern ein Saal mit Oberlicht und Oberluft. Jener Oeffnung in der Decke
entsprach ein kleines Marmorbassin im Fußboden zum Auffangen des Regen-
Wassers, das durch vier Wasserspeier von dem nach Innen etwas abgeschräg¬
ten Dache herabfloß. Um dies Compluvium herum ist der Boden mit dem
zierlichsten Mosaik bedeckt. Hier war also der Raum, wo der Vater und die
Söhne sich in der Regel aushielten, wo der Herr mit den ihn Besuchenden
auf- und ab wandelte, wo auch wol die eigentlichen Gelage abgehalten wurden.
Das eben beschriebene Atrium war ein sogenanntes toskanisches; es
unterscheidet sich von den übrigen dadurch, daß seine Decke nicht durch Säu¬
len gestützt ist. Ich glaube nicht, daß der größere oder geringere Reichthum
über die Wahl der einen oder anderen Art entschied, sondern man wird nur
für die zweistöckigen Häuser die Säulen in Anwendung gebracht haben, weil
hier die Decke des Atriums oben begangen werden mußte. Die eine Art,
die toskanische, kommt so häufig vor wie die andere, die man die korinthische
genannt hat. Einige fernere sehr selten vorkommende Varietäten will ich
unerwähnt lassen.
Das mit 16 Säulen besetzte Peristyl des Pansa'schen Hauses hat die¬
selbe Breite wie das Atrium und die doppelte Länge, ist also genau noch
einmal so groß. Man wird überhaupt finden, wenn man sich die Mühe
nimmt, zu messen, daß die Maße der einzelnen Abtheilungen des Hauses
sehr genau auf einander bezogen sind, und das ist nicht der letzte Grund,
weshalb sein Inneres durchweg einen so angenehmen, wohlthuenden Eindruck
macht. Ich stelle noch einige lehrreiche Maße zusammen. Das Prothyrum,
der Gang, der von der Straße in das Atrium sührt, hat 3Vs Schritt Breite
und 7 Schritt Tiefe; das Tablinum ihm gegenüber hat die doppelte Breite bei
derselben Tiefe; der Oekus, dem Tablinum gegenüber, hat wieder die dop¬
pelte Breite des Tablinums, seine Tiefe aber ist die Breite des säulenumschlosse¬
nen freien Raumes innerhalb des Portikus, nämlich 10 Schritt. Wieder
genau die Hälfte davon beträgt sowol die Tiefe als die Breite der Schlaf¬
zimmer, welche auf den Portikus münden.
Im Peristyl nun konnte sich der ganze Geschmack und Prachtsinn des
Besitzers entfalten. Er konnte eine weit größere Anzahl von Säulen setzen,
als im Hause des Pansa geschehen, und schönere. So hat das Haus des
Meleager ein Peristyl von 24, das. des Labyrinthes von 30, das des Faun
von 28 Säulen, neben einem Garten, der mit einem Portikus von 42 Säu¬
len geschmückt ist. Er konnte die Wände mit reichen Gemälden schmücken,
wie wir deren im Hause des Adonis (verwundeten Adonis), im Hause des
Holkonius (Apollo und Daphnis, Hermaphrodit, Ariadne und Bacchus,
Paris' Urtheil, Rückkehr des Odysseus). im Hause des Apollo (Achill auf
Skyros in Mosaik, vortreffliche Malereien im Schlafzimmer), in dem des La¬
byrinthes (Theseus den Minotaur tödtend), in dem des Faun (wo die be¬
rühmte Alexanderschlacht gefunden wurde) und in manchen anderen noch an
Ort und Stelle erhalten sehen. Er konnte zwischen seine Säulen Statuen,
Hermen und Vasen setzen, und der langgestreckte Fischbehälter, der sich oft
mitten im Peristyl befindet, bot ihm zur Anlage von Wasserkünsten Ge¬
legenheit. Auch davon ist Einiges erhalten. So findet sich in dem alt¬
jüngferlich angelegten Gärtchen des Lucretius eine im geziertesten Geschmack
gehaltene Miniaturcascatelle, mit kleinsten Marmorfigürchen umstellt; man
sieht im Geiste den geschnittenen Buchsbaum, die bestreuten Wege, die bun¬
ten Fliesen dazu und fühlt sich, so klein die Anlage ist, unwillkürlich an
Versailles erinnert. Den schönsten Schmuck endlich konnten die farbenreichen
prachtvollen Pflanzen hinzuthun.
Es ist noch ein Wort von der Außenseite der Häuser zu sagen. Ich
habe schon erwähnt, daß der Thüreingang zur Wohnung des Pansa sieben
Schritte tief ist und in der Mitte der Front liegt; es müssen sich also da-
neben rechts und links einige Gemächer befinden. Diese gehörten nun zwar
zum Hause, hatten aber nur selten eine Verbindung damit und^ wurden als
Läden vermiethet, wie man das noch heute in Neapel sehen kann. Sie em¬
pfangen ihr Licht nur durch die stets geöffnete Thür von der Straße, und
hier mag man sich das Leben und Treiben des Volkes so frei, bewegt und
ungenirt denken, wie es uns noch jetzt in dem benachbarten Torre dell' Annun-
ziata, in Resina, Portici und Neapel höchlichst unterhält.
Hat man sich nun von den nothwendigen Elementen des altrömischen
Hauses eine Vorstellung gebildet, so wird man im einzelnen Falle ihre
mannigfaltige Combination, ihre Modificirung, ihre Erweiterung leicht be¬
greifen. Vom Gelde zu schweigen, so setzte häufig das Terrain dem Nor¬
malplan Hindernisse entgegen, und dann mußte man das Peristyl stark ver¬
kleinern und den Portikus etwa auf zwei Seiten beschränken, wie im Hause
des Adonis geschehen; oder man legte es neben das Atrium, wie das Haus
des Meleager davon ein Beispiel bietet; auch baute man. wenn man an
den Abhang des Berges gedrängt war, ein Souterrain für die Wirthschafts-
räume, legte das Peristyl darüber und machte die Säulen zu Schloten, wie
in dem nach Championnet benannten Hause geschehen. Derselbe Umstand
aber konnte einem reichen Manne, wie z. B. Diomedes war, Anlaß zu reichen
und vielwinkligen Terrassenbauten geben. Auch mochte eine größere in sich
einige Familie gern das Haupthaus durch Kauf oder Anbau für eine zweite
Generation erweitern; dann bildeten sich gekoppelte Häuser, die zwei Peristyle.
wie das der Dioskuren, oder zwei Atrien, wie das des Lucretius, zeigen.
In der Regel liegen zwei Häuseranlagen Rücken an Rücken gegeneinander,
oder Rücken an Seite; es kommt aber auch vor, daß ein Haus ein ganzes
Quarree, eine sogenannte „Insula" für sich allein einnimmt. In diesem Falle
findet man denn wol außer den obengenannten stets wiederkehrenden Räum¬
lichkeiten noch besondere Wirthschaftsräume und Stallungen, letztere selten,
nebenaus gebaut.
Daß bei den Fabrik- und Handwerkerhäusern der praktische Zweck sich
in der ganzen Anlage geltend macht, versteht sich von selbst; doch wird, wo
es möglich ist, das Peristyl beibehalten. Wir sahen mehrere Bäckereien mit
Oefen, die den unseren durchaus gleichen; es sind noch viele Brote darin
gefunden worden. Im Hausflur oder Hofe stehen noch die zu der Bäckerei
gehörigen Handmühlen, ziemlich einfache unbeholfene Maschinen: über einen
kegelförmig behauenen scharfen Stein ist ein hohler Doppelkegel desselben
Materials gestülpt; in die obere Oeffnung wird das Korn gethan und durch
Drehung zwischen dem Kerne und dem Mantel zermalmet. Es fiel uns dabei
auf, daß die Hebel, die den Mantel in Bewegung setzen, des Raumes wegen
von der unbequemsten Kürze sein mußten, doch nimmt man noch bei den
heutigen Italienern eine ähnliche Unbehilflichkeit wahr. Nun wurde uns
aber durch die Aufstellung einer dieser Mühlen wahrscheinlich, daß der Mantel
nicht herum sondern hin- und hergedreht worden ist. Außer den Bäckereien
kennzeichnen sich noch die Kneipen (Osterien) sehr deutlich durch die auf¬
gemauerten marmorbedeckten Schenktische, die auf der einen Seite ein Flaschen¬
gesims, auf der anderen eine Vorrichtung zum Kochen oder Warmhalten
haben. Diese Schenken sind — ich muß es den deutschen Philologen gestehen
— so zahlreich, als sie nur irgend in einer modernen Stadt gefunden werden.
Sorgfältige Untersucher, die gleich nach der Ausgrabung über diese Schenk¬
tische geriethen, wollen sogar die Spuren recht böser ätzender Getränke wahr¬
genommen haben. In einer solchen Osterie sieht man noch mehrere Schenk¬
scenen an die Wand gemalt: einige Zecher unter einer Garnitur von Würsten,
Eierbeuteln u. s. w., einige Würfler, einen Mann, der von einem anderen
sich einschenken läßt (worüber ein Gast eingekritzelt: Da mi tnAiäuill pusillum!
Gib mir eine kleine Kühle!), einige Leute, die ein Faß Wein in die bereit¬
stehenden Amphoren abzapfen. Ändere Gewerbe verrathen sich durch die
ins Museum geschafften Instrumente.
Nachdem wir eine ganze Reihe von Häusern sorgfältig betrachtet, auch
zum Theil gemessen, begaben wir uns in die vor dem Herkulanerthore ge¬
legene Gräberstraße, wo Gräber mit Villen in anmuthiger Anlage abwechseln.
Wie merkwürdig, daß bei den Christen, die doch für sich und die Ihrigen
das bessere Theil erst im Jenseits erwarten, das Begräbniß der Todten etwas
so überaus Schmerzliches und niederdrückend Düsteres hat und daß ihre
Wohnstätte fernab gelegt und nur selten besucht wird, während die Römer
ihre Entschlafenen mit mehr Prunk als Trauer bestatteten und ihre Reste
auch ferner unter sich wohnen ließen!
Gräber von Solchen, die nach unserer Art bestattet wären, sind hier,
so viel ich weiß, noch nicht aufgefunden worden; aber gewiß ist, daß man
auch die Beerdigung in Anwendung brachte, z, B. bei neugeborenen Kindern.
Ich sollte auch denken, daß arme Leute sich dieser Art der Bestattung be¬
dient haben. Wäre außerdem Italien in den alten Zeiten nicht waldreicher
gewesen, als es jetzt ist — da denn das Holz zu den Luxusartikeln gehört
— so hätte man wol überhaupt das Verbrennen der Leichen nicht ein¬
führen können.
Von der Gräberstraße zurück über das Forum nach den Theatern, den
drei merkwürdigen und charakteristischesten Versammlungsplätzen', dort das Volk
der Gestorbenen, einmüthig versammelt und an die Straße herangedrängt,
um durch Denkmal und Inschrift die Ueberlebenden, welche da vorüberwan¬
dern müssen, an die Tugend der Vaterlandsliebe zu mahnen, durch welche sie
selbst sich den Dank des Staates verdienten; auf dem Forum das Volk der
Lebendigen, einmüthig versammelt, um in ernster Arbeit und strenger Zucht
des Staates zu walten, der ihr ganzes Leben kräftig umfaßt, die Verdienten
zu belohnen, die Schuldigen zu strafen, die Todten zu ehren; im Theater
dasselbe Volk wieder in allen seinen Klassen beisammen, um sich selbst im
ernsten oder heiteren Gegenbtlde anzuschauen und zu genießen: dies Alles
verbunden mit den schönen und leichtverständlichen Handlungen eines freund¬
lichen Cultus und gleichsam in Gegenwart der Götter — gewiß eine mäch¬
tige und lebensvolle Idee! Daß sie zu keiner Zeit rein und voll in die
Wirklichkeit getreten, daß namentlich die dramatische Kunst hier nie zum
Niveau der anderen geistigen Mächte sich emporschwang, ist gewiß genug;
doch indem man die Räume Pompeji's durchwandert, darf man sich auch er¬
innern, daß das Land wie diese Stadt edlere Zeiten hatten, als diejenigen
waren, in denen diese Theater, dies Forum, diese Gräber verschüttet wurden.
Pompeji hat zwei nebeneinander liegende Theater, die man mit Sicher¬
heit nur als größeres und kleineres, mit Wahrscheinlichkeit aber als tragi¬
sches und komisches unterscheiden kann. Das größere lehnt sich nach griechi¬
scher Weise an den Berg an und nur seine oberen Sitzreihen liegen über
einem Corridor. Der Marmor der Sitzplätze ist zum größten Theile ge¬
stohlen worden; doch ist der Boden der Orchestra erhalten. Diese ist
römisch eingerichtet, d. h. durch einige Reihen niedriger Stufen (auf welche
die Ehrensessel, Bisellien, der Privilegirten erst aufgestellt wurden) auf den
geringsten Raum eingeschränkt. Der Zuschauerraum, der oben durch ein
Zelttuch (wie die erhaltenen Mastringe beweisen) gegen die Sonne zu decken
war. konnte in 3 Rangen 3000 Menschen fassen. Die moderne Neigung,
sich gruppenweise gegeneinander möglichst abzuschließen, verbietet es, eine so
praktische Ausnutzung des Raumes nachzuahmen, die ohne derartige Rücksicht
fast selbstverständlich wäre. Mit dem lebhaftesten Interesse eilte ich vom
Zuschauerraum auf die ^neue. um an die Reste des Gemäuers so manche
Frage zu thun, welche mir die gedruckten Pläne von antiken Theatern nicht
hatten beantworten können. Doch zu einem vollen Abschluß und zu einer
völlig deutlichen Vorstellung kam ich auch hier nicht. Die Hauptfrage ist
nämlich, ob man den Scenenraum, so wie er war, verwandte, oder ob für
die Vorstellungen eine hölzerne, oben gedeckte Bühne erst hineingebaut wurde.
Mir will es sehr wahrscheinlich vorkommen, daß die Bühne, wenn
sie auch sonst keine Veränderungen weiter erlitt, oben durch einen hölzernen
Fehlboden zugedeckt war und wol immer zugedeckt blieb. Einen direkten
Anhalt boten die Trümmer von Pompeji nicht, aber wol einen indirekten,
wie alle übrigen. Denn es ist schlechterdings nicht zu entdecken, von wo die
Maschinen gewirkt haben sollen, deren doch Erwähnung gethan wird. Von
den Seiten und von hinten ist es der Mauern wegen nicht möglich; ein
Hyposced.inen, einen Raum unter der Bühne, gab es in dem größeren Thea¬
ter wenigstens nicht, in dem kleineren, wo er noch vorhanden ist, ist er etwa
4V2' hoch und kann hier höchstens zu Treppenversenkungen gedient haben.
So bleibt nur übrig, anzunehmen, daß die Blitze, Donner- und Flugmaschi¬
nen — was ihre Natur auch zu fordern scheint, — oben aufgestellt waren.
Wenn nichtsdestoweniger der Vorhang nicht von Oben herabgelassen, sondern
von Unten emporgeschoben wurde, so spricht dieser Umstand nicht gegen un¬
sere Annahme; denn ein so gewaltiges Tuch ließ sich eben nicht geschickt auf¬
rollen, und es umgerollt in ganzer Ausdehnung hinaufzunehmen, wie man in
unseren Theatern thut, ging nicht an, da nach der Anlage des Ganzen der
Maschinenboden nur geringe Höhe haben konnte. In jedem Falle ist der
Behälter für den Vorhang unten vorhanden; er ist, vor der ganzen Länge
der Scene, etwa 4—5 Fuß breit und wol ein wenig tiefer. Auf seiner
Sohle sind, abwechselnd auf der einen und der anderen Seite in Zwischen¬
räumen von einigen Schritten Löcher in den Boden eingemauert zur Auf¬
nahme der Vorhangsträger, die, wie behauptet worden ist, auseinander und
wieder zusammengeschoben werden konnten. Zwischen ihnen hing der Vor¬
hang, wenn er emporgehoben war, von einem zum anderen Träger halbkreis¬
förmige Falten bildend, eine immerhin ziemlich unbehilfliche Einrichtung.
Während der Vorstellung war der Behälter jedenfalls durch eine Klappthür
in mehreren Abtheilungen zugedeckt, die nach vorn umgelegt werden konnte:
so erklärt sich die eigenthümliche Form der vom Orchester aufsteigenden vor¬
deren Mauer, die mehrere winkelrechte und nischenförmige Ausbuchtungen
hat, offenbar um jener Thür Unterstützung zu gewähren. Eine Spur des
Prosceniums fand ich nicht. Es soll dies eine in das Orchester hinausge¬
baute hölzerne Estrade gewesen sein, die den Zweck gehabt hätte, die Scene
in der Mitte nach Vorn zu erweitern. Sollte man unter Proscenium nicht
vielmehr den Raum über dem Vorhangsbehälter sammt der vorderen Mauer
verstanden haben, der sich so deutlich von der eigentlichen Scene abhebt und
jedenfalls vor ihr liegt? Es sieht der griechischen wie der römischen Archi¬
tektur gar zu unähnlich, daß sie irgend einen wichtigen Theil einer Anlage
ohne steinerne Substruction gelassen haben sollte. Und wozu auch dies Prosce¬
nium? Hatte die antike Bühne für ihre Zwecke nicht Raum genug, so lag
nichts näher, als sie ein^ sür allemal tiefer zu bauen. Aber dies Bedürfniß
war in der That nicht vorhanden; nur wurde es auch nicht überschritten.
Das rechte Maß, das wir Neueren aus hundert Nebenrücksichten so oft über-
schreiten, ist Wesen und Seele der antiken Architektur, und wir finden es
auch hier weislich inne gehalten. Das pompejanische Theater hat von der
Rückwand der Scene ins an den vorderen Rand des (überdeckten und also
benutzbaren) Vorhangbehälters eine Tiefe von 12, von der in einer Nische be¬
findlichen Hauptthür an gerechnet, eine Tiefe von 11 Schritt, ausreichend
für alle scenischen Erfordernisse und wahrscheinlich nach den Bedingungen der
Akustik genau ermittelt. Man ist nämlich überrascht, wahrzunehmen, daß
jedes auf der Bühne auch ganz leichthin gesprochene Wort selbst auf den ober¬
sten Sitzreihen gut vernommen wird; hätte man den Resonanzboden der
Scenenwand tiefer zurückgelegt, so würde die Akustik wahrscheinlich wesent¬
lich beeinträchtigt worden sein. Zur Verstärkung des Schalles ist jedenfalls
die sehr umfangreiche Nische bestimmt, in welcher auf allen antiken Theatern
die Hauptthür des Palastes angebracht ist, und ich zweifle nicht, daß eben
sie jenen Schallapparat bildet, dessen Vitruv Erwähnung thut und den man
vergeblich hinten, auf der Seite und unten gesucht hat. Dem kleineren Thea¬
ter fehlt diese Nische, aber es bedürfte ihrer auch nicht, weil es even ganz
geschlossen war. Daß die Stimme der Schauspieler durch die Maske hätte
verstärkt werden müssen, ist kaum anzunehmen; das pompejanische Theater
wenigstens hat eine bessere Akustik, als irgend ein modernes, das nur halb
so viel Zuschauer saßt. Hätte freilich ein Theater der neueren Construction
S000 Plätze, so würde keine Stimme kräftig genug sein, seine Räume zu
durchdringen; aber ein antikes Theater für dieselbe Zahl ist noch gar nicht
so außerordentlich groß, und vor Allem der auf der Scene erzeugte, durch die
Hinterwand zurückgeworfene Schall gleitet hier leicht und ungehindert nach
allen Seiten an den Sitzplätzen empor. Der ganze Zuschauerraum bildet ja
die Hälfte der für die Schallentwickelung so günstigen Trichterform.
Von den Apparaten des Theaters ist nichts mehr erhalten; es fehlen
auch die Fundamentsteine, welche die Zapfen der drehbaren Coulissenprtsmen
aufzunehmen bestimmt waren- Die Rampe dagegen, die man auch bei
anderen Theatern hinter der Hauptthür der Scene 'bemerkthat, ist auch hier
noch vorhanden. Sie diente dazu, dem Helden mit seinem Gefolge einen
anständigen Auftritt zu verschaffen. Gesunden sind noch im Zuschauerraume
einige Tesseren, Eintrittsmarken, darunter eine mit dem Namen „Aeschylus".
Ist es auch wahrscheinlicher, daß dieser Name auf einen Cuneus (eine der
Rangabtheilungen) als auf die Vorstellung des Abends zu deuten ist, so be¬
weist sein Vorkommen doch so viel, daß Aeschylos diesem Theater nicht fremd
war. Damit wäre denn gleich die höchste Linie seiner Leistungen bezeichnet.
Für das kleinere Theater werden wir uns die Lustspiele des Plautus.
Terenz, Mrginius und Anderer, die Atellanen mit der stehenden Figur des
Maccus, des antiken Hanswurst und allerhand Pantomimen und Schnurren
zu denken haben.
Daß der Römer der sinkenden Zeiten für den Ästhetischen Genuß sich
abgestumpft hatte und die pathologischen blutige Schauerscenen vorzog, ist
bekünnt genng. Auch von dieser Decadence des öffentlichen Geistes ist ein
Denkmal erhalten in der Gladiatorencaserne, die sich unmittelbar neben den
Theatern befindet und mit ihnen in Verbindung steht. Sie war für sechzehn
Gladiatoren eingerichtet; ihre Zellen liegen um einen großen Portikus herum,
der mit dem sehr umfangreichen Hofe zu den Uebungen gedient haben wird.
Dem mit Reliefs geschmückten Grabe der Gladiatoren waren wir schon in
der Gräberstraße begegnet.
Durch alle diese Ruinen wandelnd fühlt man sich immer und immer
wieder von der Betrachtung der öffentlichen und privaten Einrichtungen, wie
sie einst für dauernden Bestand gegründet waren, auf jenen letzten Tag her¬
abgedrängt, an dem das ganze Leben dieser Stadt mit all' seinen Zwecken
und Mitteln auf einmal und für immer still gestellt wurde; immer wieder
sucht man von allen Seiten in die Seele, in die letzten Schreckensgefühle
Derer einzudringen, die jenen Tag als ihren letzten zu erdulden hatten. Der
arbeitenden Phantasie kommt aufs Mächtigste der Anblick jener Leichenabgüsse
entgegen, für welche der Vesuv selbst die Formen von den Körpern genom¬
men hat dem Moment, da er sie tödtete.
Diese zuerst erkannt und benutzt zu haben, ist ein Verdienst des gegen¬
wärtigen Direktors der Alterthümer, Herrn Fiorelli. Er ließ einige Lava-
Höhlungen, auf welche man unmittelbar über dem Straßenpflaster traf, und
deren man schon viele arglos zertrümmert haben mochte, mit Gyps aus-
gießen, und als die Masse getrocknet und herausgeschält war, zeigte sich, daß
man menschliche Figuren vor sich habe. Man hat jetzt, glaube ich, deren
sieben gesammelt, und hofftauf der Straße nach Stabiä, wohin die Haupt¬
flucht ging, noch eine große Menge zu finden. Ihr Anblick ist zunächst durch
Mangelhaftigkeit und Unförmlichkeit verwirrend, da die Abdrücke nicht ganz
rein herausgekommen sind. Man muß sich nämlich vorstellen, daß die ster¬
benden Körper durch Asche eingehüllt wurden, daß diese durch darüber-
fluthende Gewässer conglomenrte, wenn es nicht überhaupt ein Schlammfluß
war, der sie zudeckte. Nun geriethen aber die Körper in Verwesung, und
indem sie die Form nicht mehr füllten, die sich über ihnen wölbte, bröckelten
einzelne Partien derselben nach oder fielen mit der anklebenden Haut her¬
unter. So erscheinen manche Theile des Körpers im Gypsgusse wie mit einer
Kruste bedeckt. Dann aber war der Gyps auch nicht überall hingedrungen,
und so kam an einigen Stellen statt des Hautabdrucks das Skelett zu Tage,
das sich innerhalb der Form recht gut erhalten bat. Hat das Auge dies
Zuviel und Zuwenig corrigirt, so wird der Anblick zu einem traurigen und
höchst ergreifenden. Wir sahen vier solcher Figuren: die einer jungen Frau,
von der die linke Hand (mit einem Ringe) und einzelne Partien der Beine
vollkommen gut abgedrückt sind; einer alten Frau und eines ganz jungen
Mädchens, die nebeneinander liegen. Das junge Mädchen liegt mit dem
Gesichte auf dem linken Arme und hat das Gewand über den Kopf wegge¬
zogen, die Alte hat man an den großen Ohren für eine Sclavin. etwa die
Wärterin des Mädchens, erkennen wollen. Die vierte Figur ist die eines
Mannes, dessen Antlitz sich besonders gut abgedrückt hat: ein grobknochiges
Gesicht mit einem Schnurrbart. Der Mann liegt auf dem Rücken, und Marc
Monnier hat ihn deshalb zu einem Krieger machen wollen, der mit ent¬
schlossener Mannhaftigkeit dem Tode ins Auge sah. Aber daß er so schwer
kämpfte wie jene junge Frau, geht daraus hervor, daß seine Gewänder —
wie es bei ihr der Fall ist — in Folge der krampfhaften Bewegungen der
Beine sich auf dem Unterleibe formlos zusammengeballt haben. Er vergaß
auch das Haupt zu verhüllen. Es bedarf solcher Geschichten nicht, um unser
ganzes Mitgefühl aufs Tiefste aufzuregen.
Vielleicht gelingt es uns einmal, einen interessanten Moment der Aus¬
grabungen zu erHaschen, die jetzt ununterbrochen und in systematischer Folge
vorgenommen werden, nachdem unter den Bourbonen, die auch nicht einmal
für die Erhaltung des Ausgegrabenen gehörige Sorge trugen, dafür so wenig
geschehen war. —
Der Reiz des gegenwärtigen Sorrent liegt in der friedlichen Abgeschlos¬
senheit, der reichen Vegetation und in dem Schutz, den seine Lage gegen die
Sonnenhitze gewährt. Vielfache Spaziergänge führen an den Höhen der um¬
gebenden Berge entlang, man übersieht von da das wohlgebaute Thal in
seiner Blüthe und im Glanz seiner Früchte; wir hatten aber für jetzt nicht
die Zeit, einen dieser beherrschenden Punkte zu ersteigen. Dafür besuchten
wir eine Fabrik von musivischen Holzarbeiten, die in Sorrent so besonders
hübsch gemacht werden. Des Sonntags wegen wurde nicht gearbeitet, aber
in einer Werkstatt, die für achtzig Menschen eingerichtet ist, war von Appa¬
raten und Instrumenten wieder so gut wie Nichts zu sehen. So sieht es hier
zu Lande fast in allen Ateliers aus'; es ist, als ob die Leute Alles blos mit
den Fingern machten, als ob sie eben zufällig und dilettantisch zum Ver¬
gnügen oder nur um einem augenblicklichen Bedürfnisse abzuhelfen. gerade
diese Beschäftigung ergriffen hätten, und als ob sie morgen zur Abwechse¬
lung auch einmal etwas ganz Anderes treiben könnten. Nichts von der
handwerkerlichen Würde und Gründlichkeit, an die wir gewöhnt sind; hier
ist Jeder zunächst Mensch und vor Allem genießender Mensch; das Amt oder
Geschäft, das er ergriffen hat, füllt ihn bei Weitem nicht aus, und er macht
nur (wie seine Sprache dies auch ausdrückt) für den Augenblick diese oder
jene Figur, in die er weit entfernt ist, mit allen seinen Gefühlen und Ge¬
danken wirklich einzugehen. Meister Gargiulo konnte uns in seinem Lager
(das wieder nicht wie ein Lager, sondern wie ein „gutes Zimmer" aussah)
schöne Sachen zeigen, eingelegte Tische, für die er Medaillen erhalten hat,
und Kästchen. Mappen aller Art. Die Bilder, meist dem neapolitanischen
Volksleben entnommen, sind in einen schwarzen Grund eingelegt, der von
einer gemusterten, mehr oder minder reichen Kante eingerahmt ist. Die Höl¬
zer werden von den hier vorkommenden Bäumen, namentlich der Orange
und Olive gewonnen, dann in einzelnen Fourniren durch Anwendung von
Dampfbädern mit Farbe imprägnirt und nun nach den Linien der Vor¬
zeichnung gescknitten und stückchenweise zusammengelegt, wie es die Farbe
der einzelnen Theile des Bildes verlangt. Bei feineren Arbeiten legt man
verschiedene Töne in einer Farbe zusammen, bei gewöhnlichen werden die
Schatten mit schwarzen Strichen hineingezeichnet. Das Ganze erhält eine
sehr glänzende Politur. Was den besonderen Reiz dieser Bilder ausmacht,
die doch immer von etwas massiver Technik sind, das ist der warme leben¬
dige Grundton. den sie von der natürlichen Farbe der angewandten Hölzer
haben; er würde sich in keinem anderen Material so wiedergeben lassen.
Nachmittags stiegen wir die steile Treppe, die, wie in Helgoland, vom
Oberlande herunter führt, wieder zum Strande hinab, um uns einzuschiffen.
Eine böse Tramontane, die sich inzwischen aufgemacht hatte, setzte uns als¬
bald tüchtig zu; die Schneekälte, die sie mit sich führt, verband sich mit dem
Salze des 'Meeres, unsere Haut zu beizen. Da flogen — eine fröhliche Ver¬
heißung, daß es in diesen Landen zum Winter nicht kommen dürfe — vier
Schwalben an uns vorüber, lebhaft von uns begrüßt. Wir fanden zu un¬
serer Beruhigung die Angabe des römischen Kalenders überboten, den wir
vor einiger Zeit im Museum studirt hatten: im Januar führt er die Schwalbe
noch in der Einzahl, und erst im Februar in der sommervertundenden Mehr¬
zahl an.
Die jüngst beendigte Landtagssession hat der Provinz Schleswig-Holstein
schließlich doch noch das Geschenk einer Städteordnung gebracht. Wir sind
glücklicherweise hier zu Lande nicht von einer nervösen Constitution. Sonst
hätte uns die schwebende Pein, in der wir, eigentlich schon seit den Be¬
rathungen des Provinztallandtages, unsere Munizipalverfassung von den dispa-
ratesten Elementen der Legislative, altländischer Bureaukratie, schleswig-
holstein'sehen Particularismus, demokratischen und konservativen Principien,
den buntesten Fraktionsstimmungen des Abgeordnetenhauses und den un¬
berechenbaren Launen des Herrenhauses hin- und hergeschleudert sehen mu߬
ten, wol in eine gelinde Verzweiflung versetzen müssen. Noch vierzehn Tage
vor dem Schluß der Session konnte kein Mensch auch nur mit Wahrschein¬
lichkeit errathen, ob und was für ein Ding aus diesen legislativen Wehen
zu Tage kommen würde. Jetzt liegt das Werk als vollendete Thatsache vor
uns, und. wenn es auch weit ab von dem Wesen eines aus einheitlichem
schöpferischen Willen hervorgegangenen Erzeugnisses weder durch fruchtbare
Ideen, noch durchsichtige Principien ausgezeichnet die Spuren seines künstli¬
chen Werdeprozesses reichlich an sich trägt, so wird es dem Schleswig-holstein-
schen Städtewesen doch immerhin Gewinn bringen. Zunächst wird unsere
neue Städteordnung, wie jede Codification, klar erkennbare, feststehende, zu¬
sammenhängende, gleichartige Normen auf einem wichtigen Gebiete des öffent¬
lichen Rechts schaffen, wo bisher theils höchst lückenhafte Statute, theils die
willkürlichsten Observanzen in Geltung waren, und wo der ganze municipale
Rechtszustand gegenüber dem preußischen Verfassungsrecht haltlos in der Luft
schwebte. Darin sehe ich den hauptsächlichsten Vorzug des neuen Städte¬
rechts. Dann ist's wenigstens ein relativer Gewinn, daß unseren Städten
in der grundsätzlich festgehaltenen organischen Verbindung der städtischen
Collegien (Magistrat und Stadtverordnete), sowie in dem Wahlmodus, der
die Gemeindebeamten aus der Bürgerschaft unmittelbar hervorgehen läßt,
Eigenthümlichkeiten erhalten geblieben sind, an die wir uns nun einmal ge-
wohnt haben. Die Vertreter der reinen Demokratie haben darin Kräh¬
winkelei und Commerages gewittert. Mir ist keinen Augenblick zweifelhaft,
daß die Massenherrschaft nirgend unfähiger und nirgend gefährlicher ist, als auf
dem Gebiete der Gemeindefreiheit. Die deutschen Städte haben ihre glänzendste
Zeit unter dem Regiment der vereinigten Patricier und Zunfmeister gehabt,
und ich finde auch heute nichts Ungesundes darin, wenn ein gewisser Kreis
angesehener, mit den Interessen des städtischen Gemeinwesens eng ver¬
wachsener Familien maßgebenden Einfluß in der Stadtverwaltung aus¬
übt. Die Gefahren einer Verknöcherung und eines verderbten Nepotis¬
mus haften der Oligarchie freilich immer an, und es ließen sich dafür auch
in Schleswig-Holstein unerfreuliche Beispiele aufweisen. Aber die Gefahr
vollständiger Aufsaugung jeglicher communaler Autonomie durch die moderne
Staatsallgewalt ist in der Gegenwart die unheilvollste von allen, und dieser
leistet eine im modernen wirthschaftlichen Leben ohnehin immer nur sehr mo-
derirte städtische Oligarchie entschieden unendlich kräftigeren Widerstand, als
die losen demokratischen Haufen städtischer Bezirksvereine und aus ihnen her¬
vorgegangener Stadtverordnetenclubs. Wohin die moderne Demokratie der
Städte führt, zeigt die heutige Munizipalverfassung von Paris. Das Walten
eines lebendigen, energischen, aufopferungsfähigen Gemeinsinns bleibt freilich
überall die Hauptsache, und die Gesetzgebung kann herzlich wenig dazu thun,
um diese moralischen Elemente, wo sie fehlen, zu schaffen. Wo sie aber, sei
es im Großen, sei es in kleinen Kreisen, vorhanden sind — und noch sind
sie in Schleswig-Holstein vorhanden — da bescheide man sich, sie in ihrer Art
gewähren zu lassen. — Endlich hat unsere Städteordnung vor der der alten
Provinzen ein sehr schätzenswerthes Stück Unabhängigkeit von der staatlichen
Regierungsgewalt voraus errungen. Die staatliche Einmischung im Falle
eines Dissenses zwischen den städtischen Collegien ist beseitigt, und das Recht
des Staates, unter dem Titel der Polizeigewalt den größeren Städten den
Lebensnerv des Selfgovernments durch staatliche Polizeibehörden abzuschneiden,
zwar nicht in der vom Abgeordnetenhause Anfangs geforderten Weise besei¬
tigt, aber doch einigermaßen beschränkt. Es gibt in der heutigen Realpolitik
kaum einen verschwommeneren Begriff von verhängnißvollerer Bedeutung
für die freiheitliche Entwickelung staatlichen Lebens, als der der Polizei, und
keinen wunderen Fleck in dem Verhältniß der Gemeinden zum Staate in
Deutschland, als den, wo die Ansprüche moderner Polizeigewalt mit der com-
munalen Autonomie zusammentreffen. Man muß es schon als Gewinn rend,
nen. daß man bet dieser Gelegenheit wenigstens theoretisch die Forderung
aufgestellt hat, nur die Sicherheitspolizei gehöre zu den Bestandtheilen
der Staatshoheit, alle sonstige sogenannte Polizeigewalt gebühre der Ge¬
meinde. Dahlmann glaubte in seiner „Politik" die Stein'sche Städteordnung
vom 19. November 1808 in ihrem Grundgedanken noch dahin rühmend
charakterisiren zu können : „die Städte sollen selbständig, aber nicht, wie vor
Alters, Staat im Staate sein, darum sollen sie wiedererhalten, wo man
ihnen diesen genommen hat, ihren Haushalt, sie sollen abgeben, was des
Staates ist, „Polizei und Justiz" (Bd. I. S. 223). Heute sind wir
endlich so weit, uns mit solchen Sätzen nicht mehr zu begnügen, und die
praktische Erfahrung zu verzeichnen, daß der Staat mit seiner Polizei den
Städten auch den besten Theil ihres Haushaltsrechts confiscire, ihnen die
Selbständigkeit verkümmert, und die Landespolizeibehörden ebenso ungeschickte,
wie anmaßliche und herrische Vormünder der Städte sind. Die Frage isUm
Uebrigen gleich wichtig für Städte unter, wie über 1000 Einwohnern, für die
getrennte, wie die mit der Gemeindegewalt vermischte Lokalpolizei, und wird
eine klare Lösung erst von der Seite einer radikalen Reform der staatlichen
Verwaltungsbehörden überhaupt erwarten können.
Inzwischen werden die Städte der Herzogthümer unter ihrer neuen
Ordnung diese problematische Zukunft sehr viel geduldiger abwarten können,
als ihre Schwestern in den alten Landen. Das Städteleben in Schleswig-
Holstein ist an sich schwächer entwickelt, als das der Flecken und Landge¬
meinden Gegen Flecken, wie Wandsbeck, Flachhorn, Neumünster in Hol¬
stein, stehen in der Einwohnerzahl und im Wohlstand die wenigen kleinen
Städte, wie Itzehoe, Oldesloe, Pinneberg, selbst Glückstadt und Rendsburg
erheblich zurück. In Schleswig erhalten die Städte durch die nationalen
Gegensätze etwas mehr politische Bedeutung. Doch läßt sich im Ganzen
wol behaupten, daß neben Flensburg und vielleicht Schleswig, neben Kiel
und vielleicht Altona ein selbständiges, kräftiges, wirkendes Städtewesen bei
uns nicht eigentlich zu Hause ist. Und Altona, gerade die volkreichste Stadt
beider Herzogthümer ist durch die Ereignisse des Jahres 1866 in eine so
seltsame Krisis hineingedrängt worden, daß ich sehr zweifele, ob diesem Ge¬
meinwesen in seiner ganz sonderbaren Eigenart noch irgend eine Städte-
ordnung der Welt helfen kann.
Altona hat keine natürliche Lebenskraft — darüber kann man heute schnell
mit sich ins Reine kommen. Durch allerlei Privilegien und Immunitäten
begünstigt, hat sich die Stadt parasitenartig an das Gebiet der Hansestadt
Hamburg angenistet, und ist mit und durch Hamburg zu einer trügerischen,
mehr aufgedunsenen, als substantiellen Größe emporgekommen. Sie hat heute
mit dem als Vorstadt verbundenen Ottensen und Neumühlen gegen 75,000
Einwohner, und liegt nach dem Strome zu mit der Hamburger Vorstadt
Se. Pauli so vollkommen im Gemenge, daß in den fortlaufenden Straßen
nur noch ein Laternenpfahl die imaginäre Territorialgrenze den Eingeweihten
andeutet. Solange diese Grenze die dänische Staatshoheit von der deutschen
Reichsstadt trennte, hatte der altonaer Auswuchs mit seiner Steuerfreiheit,
seiner giößeren religiösen Toleranz, seinen bequemeren wirthschaftlichen Zu¬
ständen für die Hamburger, wie für die Holsteiner sein Interesse. Zumal
unter den alten Verfassungszuständen Hamburgs lebte es sich offenbar ein
gut Theil behaglicher auch für den Hamburger Kaufherrn unter dem kaum
fühlbaren dänischen Scepter, und er baute sich gern nicht nur seine Villa
an dem holstein'schen Elbstrande, auch eine Zweigniederlassung in dem hol-
stein'schen Stadttheil. Rhederei, Schifffahrt, Groß- und Kleinhandel, Ge¬
werbetrieb und Fabrikation verzweigten sich mit hinüber. Gegenwärtig ist
d<?s ganze Verhältniß auf den Kopf gestellt, — Hamburg und nicht mehr
Altona hat Luft und Sonne in dem norddeutschen Bundesstaat sich günstiger
zugetheilt erhalten. Das preußische Steuersystem, das seine Objekte vorzüg¬
lich im städtischen Gewerbebetrieb aufsucht, hat sich mit seinem vollen, unter¬
schiedslosen Druck auf Altona gelegt, und mit der endlosen Zahl der Steuer¬
gesetze sind ebenso zahlreiche polizeiliche Reglements altpreußischer Art mit
eingezogen. Dagegen hat sich keine der Hansestädte mit so geschicktem,
rückhaltsloser Sinn in den norddeutschen Bundesstaat hineinzufinden gewußt,
als gerade Hamburg, und die wirthschaftliche Freiheit der Bundesgesetze ohne
Vorbehalt in seine Mauern aufgenommen. Es sucht auf allen Gebieten eifrig
nachzuholen, was im Stadtregiment lange Zeit verabsäumt worden ist, weiß
die günstigen Dispositionen des berliner Cabinets in klügster Art für seine
kommerciellen Interessen schnell zu benutzen. Während Altona seiner Mi߬
stimmung gegen Preußen durch die Wahl eines der bekanntesten Oppositions¬
männer in den Reichstag, Dr. Schleiden, Ausdruck gibt, sind die Hamburger
Bevollmächtigten in und außerhalb des Bundesraths stetig geschäftig, den
guten Willen der Krone Preußen ihrer Stadt zuzuwenden. Was Wunder,
daß Altona die Wurzeln seiner künstlichen Existenz untergraben sieht, sich
überall stiefmütterlich behandelt und zurückgesetzt fühlt, und im Ganzen ein
recht hippokratisches Gesicht zeigt.
Es war recht gut, daß die ursprünglich sehr lebhast ausgesprochene Ab¬
sicht des Finanzministers v. d. Heydt, Altona in den Zollverein hineinzu¬
ziehen, an der Unmöglichkeit einer Grenzregulirung nach der Hamburger
Seite zu scheiterte. Altona hätte mit der Verwirklichung jenes Gedankens
eine seiner ganzen Lage nach doch nur sterile Zollvereinsindustrie erhalten,
und eine wirthschaftlich unnatürliche Sonderexistenz fortgefristet. Daß man
es statt dessen mit dem Freihafengebiet Hamburgs vereinigt ließ, ihm aber
als Zollaversum noch eine neue direkte Steuer zu den übrigen hinzu auf¬
bürdete, hieß das Schicksal beider Städte fester aneinander knüpfen, als man
wol eigentlich gewillt war. Seitdem hat sich allmälig in Altona unter dem
Druck der stetig fortschreitenden materiellen Verkümmerung von den Kauf-
leuten ausgehend eine Strömung immer entschiedener Bahn gebrochen, welche
auf den vollen und unbedingten Anschluß an die Freistadt Hamburg abzielt.
Lange wagte man nicht, das verhängnißvolle Wort auszusprechen. Als jedoch
Graf Bismarck bei einem neulichen Jagdbesuche in Holstein den Gedanken
sehr unbefangen aä reterenäuin aufnahm, wird das Projekt eines Aus¬
tausches Altonas gegen Kuxhafen und das Hamburger Landgebiet von allen
Klassen der altonaer Bevölkerung mit täglich wachsender Vorliebe erörtert.
Ich bin überzeugt, käme es heute in Altona zur Abstimmung über die An¬
schlußfrage, es würde sich ein fast einmüthiges Votum für den Anschluß
ergeben.
Solches Ergebniß, auch ich mache kein Hehl daraus, würde die beste
Städteordnung sein, die Altona zu Theil werden könnte. Ein kurzsichtiger
und engherziger preußischer Partikularismus wird den Gedanken vielleicht
abscheulich finden und ihn durch den mannhaften Wunsch, Hamburg durch
Preußen annectiren zu lassen, niederzuschlagen versuchen. Die nationale Partei
Norddeutschlands -wird sich aber hoffentlich nicht so schwierig zeigen. Was
Preußen aufgibt zu Gunsten des Bundesstaats ist für Preußen nicht ver-
loren, und für die Gesammtheit Gewinn. Es ist sehr wol möglich und
vielleicht wahrscheinlich, daß über kurz oder lang die dynastischen Partikula¬
ritäten des norddeutschen Bundes als unverträglich mit den Nationen In¬
teressen dem Einheitsstaate zum Opfer fallen. Eine gleiche Nothwendigkeit
kann an die Hansestädte vernünftiger Weise nicht herantreten, und es war
eine glückliche Fügung der Geschichte, daß sie im Jahre 1866 das Loos
Frankfurts nicht theilten. Ihre republikanische Souveränetät kann der natio¬
nalen Macht nie irgend welchen Abbruch thun, und der staatlichen Einheit
nie irgend welche Gefahren bereiten. Was ihnen im natürlichen Lauf der
Entwickelung, nachdem Post- und Eisenbahnwesen, die Hoheit auf dem Strome
und dem Meere, die Militärgewalt und Vertretung im Auslande, Münz¬
regal und Gerichtsbarkeit auf den Bund übergegangen sein werden, an Sou¬
veränetät übrig bleibt, und eigentlich schon heute nur noch übrig ist, ist eine
freie Munizipalverfassung, ein vollständiges Selfgovernement. wie es manche
große und kleine Stadt Altenglands durch Jahrhunderte hindurch un¬
behindert genossen haben. Das deutsche Bürgerthum hatte alle Ur¬
sache, ohne Scheelsucht und Mißgunst auf diese Freiheiten zu schauen,
ihnen allen Segen und alles Gedeihen zu wünschen, das die Epi¬
gonen der alten Hansa um ihrer glänzenden geschichtlichen Vergangenheit
und ihrer tüchtigen Leistungen im Welthandel der Gegenwart wol ver¬
dienen. Wir können zum Nutzen und Frommen der bürgerlichen Freiheit
in Deutschland die freien Städte noch recht lange brauchen. Und wenn eine
durch ihre Lage so fest an das freistädtische Gebiet gekittete Stadt, wie
Altona. das Lebensbedürfniß nachweisen kann, unter das freistädtische Regi¬
ment ohne weitere Klausel unterzutreten, so ist vom liberalen und vom
nationalen Standpunkte vernünftiger Weise der Wunsch nur bestens zu
fördern. Im Uebrigen gilt für das ganze westliche Holstein in der Sprache
des Volks Hamburg schon längst als „die Stadt" -««r^o/^, neben der weder
Altona, noch ein anderer Ort als zur Führung dieses stolzen Namens legi-
timirt erachtet wird. Holstein wird demnach schließlich Nichts vermissen,
wenn Altona, was es thatsächlich bereits ist, auch rechtlich wird — eine
Vorstadt der Freien und Hansestadt Hamburg.
Zu derselben Stunde wo der Reichstag des norddeutschen Bundes von
dem Bundespräsidenten wieder eröffnet wurde, fand in der Ständekammer
des kleinen Landes Hessen eine Verhandlung statt, welche, so bezeichnend sie
auch für die Verhältnisse ist. in denen dieses Land sich befindet, doch der
Kleinheit des Landes wegen wenig auswärts bekannt werden wird. Wenn
eine Stadt, wie Kassel einen Director für ihre Schule wählt, den das
Ministerium von Muster trotz seiner Tüchtigkeit nicht bestätigen will, so
erhebt sich mit Recht ein allgemeiner Schrei der Entrüstung, der stark genug
ist, auch dieses Ministerium zur nachgäbe zu bewegen; wenn aber in Offen-
bach aus den Mitteln der Stadt eine höhere Mädchenschule gegründet wird
und diese nun bereits seit sechzehn Jahren nicht zur definitiven Gestaltung
gelangen kann, weil das Ministerium Dalwigk einem Standesherrn, welcher
nichts zur Fundirung der Schule gethan hat, ein von sämmtlichen berichten-
den Behörden und früher vom Ministerium selbst als unbegründet erklärtes
Präsentationsrecht gewähren will, gegen das sich die Stadt mit aller Kraft
wehrt, so geht diese Ungeheuerlichkeit spurlos vorüber für das weitere
Vaterland, weil man sich um die Leiden des kleinen Landes wenig kümmert.
Und doch ist die Sache von nicht geringer Wichtigkeit zur Kennzeichnung
unserer Zustände.
Die Stadt Offenbach gehörte bekanntlich zu dem Fürstenthum Jsenburg-
Birstein, dessen Fürsten, so lange sie noch reichsunmittelbar waren, die Be.
Setzung der Schulstellen in ihrem Lande ausübten. Als die Fürsten mediati-
Sire wurden, verblieb ihnen wenigstens ein Präsentationsrecht für die zur
Zeit der Mediatisirung vorhanden gewesenen Schullehrerstellen. Dieses Präsen¬
tationsrecht erlosch durch Verzicht und ein darauf gegründetes Gesetz vom
7. August 1848 im Großherzogthum, wurde aber, insoweit es vor dem Jahre
1848 den Fürsten zustand, durch ein während der Reactionsperiode erlassenes
Gesetz vom 18. Juli 18S8 wieder hergestellt. ,
Daß dieses Gesetz wirklich nur die bereits vorhanden gewesenen und
nicht auch nachmals errichtete Schulstellen bei jener Restitution im Auge hatte,
ergibt sich insbesondere unzweideutig aus dem Art. 30 des Gesetzes, welcher
die in den Standesherrlichen Bezirken etwa neu zu errichtenden Schulen ins
Auge faßte und bezüglich dieser bestimmte, daß den Standesherren daran nur
dann ein Präsentationsrecht zustehen solle, wenn sie die Fundation dieser
Stellen übernehmen würden.
So das allgemein im Großherzogthum geltende Recht.
Noch unter der Herrschaft des früheren Rechts, vor dem Jahre 1848
war eine Reorganisation der offenbacher Schulen vorgenommen worden und
gab dies zu einem auch von der Stadt Offenbach gutgeheißenen Ueberein¬
kommen zwischen der Großherzoglichen Regierung und dem Fürsten von
Jsenburg-Birstein vom 4. Januar 1834 Veranlassung, in dessen § 1 be-
stimmt war:
„Nach der von der Staatsbehörde erfolgten Genehmigung und nach einer
der Standesherrschaft geschehenen Mittheilung werden drei Schulen 1) eine
Volksschule. 2) eine Bürgersch nie und 3) eine Realschule bestehen,
deren innere Abtheilung und Bestimmung der genehmigte und mitgetheilte
Lehrplan ergibt. Demzufolge werden mit Einschluß des Directors :c. für
die Realschule drei, für die übrigen Schulen zusammen zehn, im Ganzen
dreizehn ordentliche Lehrer bestellt, wovon, abzüglich des Directors,
zwölf Sr. Durchlaucht der Herr Fürst von Jsenburg zur landesherrlichen
Bestätigung Präsentiren werden.
Insofern eine größere Anzahl von Lehrern in Rücksicht auf Kinder¬
zahl oder Abänderung der inneren Einrichtung nothwendig würde,
werden der Her.r Fürst von Jsenburg, wie auch im Falle der Erledigung
früher besetzter Stellen, die anzustellenden Lehrer ebenfalls präsentiren, jedoch
in Anbetracht, daß bei der Auswahl der Lehrer nicht allgemeine Brauchbar¬
keit eines Candidaten allein, sondern auch besondere Bedürfnisse der Schule
zu berücksichtigen sein möchten, zuvor die Ansichten und Wünsche des Directors
der Schule vernehmen."
Mit dem Gesetz vom 7. August 1848, welches alle Präsentationsrechte
der Standesherren aufhob, fiel auch das hier besprochene Präsentationsrecht
weg und lebte dann im Jahr 1858 wieder auf.
In der Zwischenzeit, im Jahre 1853, zeigte sich in Offenbach das Be¬
dürfniß, eine höhere Töchterschule zu gründen, in welcher Mädchen vom
6. bis 16. Lebensjahre nach einem von dem Lehrplan der Bürgerschule ver¬
schiedenen Lehrplan ihre Ausbildung erlangen sollten. Die Stadt Offenbach
fundirte diese anfänglich auf vier Klassen angelegte, bald aber, 1856, um zwei
Klassen vermehrte Schule allein.
Die Schule, welche, weil Bedürfniß, stark besucht wurde — sie zählt
dermalen 217 Schülerinnen — war noch nicht definitiv eingerichtet, als im
Jahre 1858 das erwähnte Gesetz die früher innegehabten Präsentationsrechte
den Standesherren wieder zurück gab und diese sich sofort bestrebten, solche
Ueberbleibsel alter Souveränetät in möglichst ausgedehntem Maße zu üben.
Der Fürst von Jsenburg-Birstein beanspruchte nun auch das Präsen¬
tationsrecht an der inzwischen errichteten höheren Töchterschule in Offenbach.
Daß ihm dasselbe auf Grund des Gesetzes von 1858 nicht gebührte,
darüber herrschte kein Zweifel, denn er vermied, die Fundation der Lehrer¬
stellen zu übernehmen, (diese Last überließ er der Stadt Offenbach) und auch
nach dem früheren Standesherrlichen Edikte stand ihm das Präsentationsrecht
nicht zu.
Wol aber sollte dieses auf die hervorgehobene Stelle des Uebereinkommens
vom 4. Januar 1834 gegründet werden; man suchte trotz ihrer Verschieden¬
heit die höhere Töchterschule unter den Begriff der dort erwähnten, fort¬
während noch bestehenden „Bürgerschule" zu zwängen.
Alle Behörden waren indessen darin einverstanden, daß dies nicht zu¬
lässig sei, und auch das Ministerium in Darmstadt bestritt dem Fürsten das
Präsentationsrecht an dieser Schule.
Da auf einmal, im Jahr 1861. änderte das Ministerium Dalwigk seine
Ansicht und erklärte in einem Erlasse vom 24. Juni 1861: da der Vertrag
vom 4. Januar 1834
„allerdings auch die Auslegung zulasse, daß dadurch des Herrn Fürsten
Durchlaucht auch das Präsentationsrecht zu allen in Offenbach später
errichtet werdenden weiteren Schulen, welche den Charakter einer
Volksschule an sich tragen, zugestanden worden sei, dieses aber bei der in
Rede stehenden höheren Töchterschule, ungeachtet ihrer besonderen Bestimmung,
wenigstens im Allgemeinen der Fall sei, so habe das unterzeichnete Ministerium
(v. Dalwigk) nunmehr beschlossen, das von des Herrn Fürsten Durchlaucht
in Anspruch genommene Präsentationsrscht zu den Lehrerstellen an der höheren
Töchterschule in Offenbach nicht weiter zu beanstanden."
Um jene Zeit, im Jahre 1861. trat auch noch ein anderes Ereigniß in
Offenbach ein. Die Fürsten von Jsenburg-Birstein bekannten sich bis dahin
ebenso wie die Gemeinde Offenbach zur reformirten Confession; so auch der
seit 1820 regirende Fürst Wolfgang Ernst III. Er war kinderlos, und als
Nachfolger stand der seitdem auch zur Regierung gelangte Neffe. Prinz Karl,
der Sohn seines im Jahre 1843 verstorbenen Bruders Victor in Aussicht.
Dieser Neffe. Prinz Karl, trat im Jahre 1861 zur katholischen Re-
ligion über.
Bei dem großen Einfluß, den man den Ultramontanen auf das Mini¬
sterium Dalwigk zuschreibt, brachte man begreiflich die Sinnesänderung des
Ministeriums mit diesem Ereigniß in engen Zusammenhang.
Die Stadt Offenbach wehrte sich nach Kräften gegen die Einräumung
des fürstlichen Präsentationsrechts. Zunächst sah die Stadt davon ab, die
Schule definitiv zu fundiren. dann wandte sie sich an das Ministerium nach
Darmstadt, um dasselbe zur Zurücknahme der Verfügung vom 24. Juni 1861
zu bewegen. Vergebens.
Eine im Jahre 1864 und wiederholt 1868 an die zweite Kammer des¬
halb gerichtete Beschwerde kam dort nicht zur Verhandlung; wiederholt
wandte die Stadt sich nun an die dermalen lagerten Stände und bat, die
Regierung zu veranlassen, ihr Zugeständniß vom 24. Juni 1861 wieder
zurückzunehmen und die Besetzung der Lehrerstellen ohne Rücksicht auf die
Ansprüche des Fürsten baldthunlichst in geeigneter Weise vorzunehmen.
Den zur Prüfung berufenen ständischen Ausschuß hatte die Regierung
zwar in ihrer Antwort auf die Mittheilung der Beschwerde zu veranlassen
gesucht, die Beschwerde für unbegründet zu erklären, allein ohne Erfolg.
Bezeichnend waren die Gründe, welche die Regierung zur Unterstützung
ihrer Ansichten aufführte. Sie meinte: „Nicht zu verkennen ist, daß durch
das Bestehen dieser Schule, da deren Besuch schon mit dem schulpflichtigen
Alter, nicht erst nach dem Austritt aus der Volksschule beginnt, die Zahl der
Schülerinnen in der Volksschule sich ansehnlich vermindert, somit das Prä¬
sentationsrecht, welches dem Herrn Fürsten von Jsenburg bet der sonst
nöthig werdenden Erweiterung der Volksschule auch für die an dieser neu zu
errichtenden Lehrerstellen (!) zustehen würde, hierdurch beschränkt wird."
Also ein Bannrecht für Repräsentationsschulen!!
Auch den Beruf der Stadt Offenbach, sich in die Entscheidung der
Frage, ob die Besetzung der Lehrerstellen durch unmittelbare landesherrliche
Ernennung oder erst nach vorheriger Präsentation zu geschehen habe, ein-
zumischen, bestritt die Regierung.
So regierungsfreundlich indessen die jetzige zweite Kammer der Stände
in ihrer überwiegenden Mehrheit und insbesondere der berichtende Ausschuß
ist. so konnte Letzterer doch nicht umhin, die Beschwerde für begründet zu er-
kennen und ein Ersuchen an die Regierung auf Rücknahme der Verfügung
vom 24. Juni 1861, bei Offenlassung des Rechtsweges für den Fürsten von
Jsenburg zu beantragen.
Die Berathung über diesen Antrag fand in der zweiten Kammer am
4. März l. I. statt. Bei solchen Berathungen glänzt in der Regel die gro߬
herzogliche Regierung durch ihre Abwesenheit. Es lassen sich nur wenige
Fälle auffinden, in denen die Regierung an Berathungen Theil nahm, bei wel¬
che» nicht Regierungspropositionen, sondern Anträge von Abgeordneten oder
Beschwerden behandelt wurden. Mit Recht findet man darin vielfach eine
Geringschätzung, es ist jedoch das ein der hessischen Negierung charakteristi¬
sches Benehmen. Heute aber, wo es sich um den Präsentationsanspruch des
Fürsten von Jsenburg handelte, erschien ein Regierungskommissär in der
Kammer, um diesen Anspruch zu vertheidigen; er wiederholte die schon
schriftlich vorgebrachten schwachen Gründe. Dazu kam denn noch der für
die Negierung ungünstige Umstand, daß die ersten Redner für die Regierung
drei Mitglieder der Kammer waren, welchen man entschiedenste Parteinahme
für die Ultramontanen, denen sie ihre Wahl verdanken, nicht absprechen kann.
In religiösen Dingen zeigt sich manchmal noch eine Empfindlichkeit der Mehr¬
heit der zweiten Kammer.
Man konnte der Regierung leicht widerlegen. Es war klar, daß es
sich hier um ein angeblich aus einem Vertrage entspringendes Recht han¬
delte, über das, wenn es bestritten wurde, nur der Richter entscheiden kann.
Das Einspruchsrecht der Stadt Offenbach war schon formell begründet, da
sie beim Vertragsabschluß von 1834 mitgewirkt hatte. Eine freiwillige Auf¬
gabe oder Beengung eines Staatshoheitsrechts, wie die Anstellung der Be¬
amten ist, steht der Negierung nicht zu, und das Interesse der Stadt Offen¬
bach, bei der von ihr allein sundirten Schule fremden Einfluß abzuwehren,
namentlich die reformirte Gemeinde vor den ultramontanen Beeinflussungen
zu schützen, liegt offen zu Tag. So kam es denn, daß nach einer sehr be¬
wegten Debatte die zweite Kammer sich einmüthig — abgesehen von den
drei ultramontanen Mitgliedern und dem Schwiegervater des Einen dersel¬
ben — gegen die Regierung erklärte.
Was aber wird der Erfolg sein? Wir bezweifeln, daß die Regierung
den Willen und die Energie hat, sich den auf sie einwirkenden Einflüssen,
die sie zur Nichtbeanstandung des fürstlichen Präsentationsrechts hinführten,
zu entziehen.
Inzwischen wird die Stadt Offenbach sich in ihrem Streben, die sittliche
und geistige Ausbildung ihrer Jugend, obwol sie allein die Mittel dazu
aufwenden will, zu fördern gehemmt sein, Lehrer und Schule werden ver¬
kümmern, und alles dies nur. weil die Stadt ankämpfen muß gegen einen
chimärischen Anspruch eines Mannes, der Nichts für die Schule thut. Sechs-
zehn Jahre fast schon dauert das Provisorium, und wie lange noch wird
es dauern, als abschreckendes Beispiel vor verkommenen Zuständen, deren
man sich um so schwerer erwehren kann, je kleiner die Verhältnisse sind, in
denen das Staatsleben sich bewegt. Ein Wind, wie der des Jahres 1848,
thut Noth, um die Luft von diesen Uebeln baldigst zu reinigen; nur dann
ist es möglich, daß gesundes Leben auch in dem Erziehungswesen erwacht.
Dann wird man auch erkennen, daß Gemeinden, welche das Bedürfniß füh¬
len, den Unterricht zu heben und Tausende für Errichtung besserer Schulen
aufwenden, wol auch in der Wahl der Lehrer hierzu den richtigen Weg
einschlagen werden, und des doppelten Gängelbandes der Regierung und
beeinflussender Standesherren nicht mehr bedürfen. Zustände wie die bei der
offenbacher Angelegenheit zu Tage gekommenen lassen die Schädlichkeit eines
solchen Verhältnisses nur zu deutlich erkennen.
Der ra flatter Gesandte nmord. Mit Benutzung handschriftlichen Materials
aus den Archiven von Wien und Karlsruhe. Von Karl Mendelssohn-Bartholdy
o. ö. Professor der Geschichte an der Universität Freiburg. Heidelberg 1869 bei
Fr. Bassermann.
Neben dem bis heute räthselhaft gebliebenen Verschwinden des eng¬
lischen LlriH-Ze <1e clöpöekes Sir Benjamin Bathurst zu Perleberg (1807) ist
kein in neuerer Zeit an diplomatischen Personen verübtes Verbrechen so
wenig aufgeklärt worden, wie der Meuchelmord, dem die Vertreter Frank¬
reichs auf dem rastatter Congreß im April 1799 zum Opfer fielen. Der
Titel der vorliegenden Schrift und der demselben beigefügte Hinweis auf
„handschriftliche Materialien aus den Archiven von Wien und Karlsruhe"
ließen hoffen, daß es Herrn Mendelssohn, dem schätzenswerthen Biographen
Capodistria's und Herausgeber des Pilat-Gentzschen Briefwechsels, gelungen
sei, die Schleier zu lüften, welche seit sievenzig Jahren über diesem Verbrechen
ruhen, mindestens neue Gesichtspunkte für die Beurtheilung desselben zu
eröffnen.
Leider sind beide Erwartungen gleich unerfüllt geblieben. Nach einer
sehr hübsch geschriebenen Charakteristik der Verhältnisse, unter denen jener
Congreß zu Stande kam, kommt der Verfasser zu dem Verbrechen selbst und
den bisher aufgestellten Vermuthungen über die Urheber desselben. Die be¬
richteten Thatsachen sind, einige unwesentliche Details abgerechnet, genau
dieselben, welche Hauffer auf Grund der bisher bekannt gewordenen Quellen,
S. 230 ff., seiner deutschen Geschichte, Bd. 2, mittheilt, und was über die
Urheberschaft des Verbrechens vom Verfasser aufgestellt wird, ist ebenso un¬
bewiesen, als was bisher angenommen worden, nur noch viel weniger be¬
scheinigt.
Man hat bisher gewöhnlich angenommen, das am 28. April 1799 be¬
gangene Verbrechen sei im Auftrage der östreichischen Regierung und wahr¬
scheinlich unter Anstiftung oder Mitwissenschaft des Grafen Lehrbach ge¬
schehen. Herr Mendelssohn tritt gegen diese Annahme mit Entschiedenheit,
ja mit kaum verhaltener Bitterkeit in die Schranken und macht Hauffer einen
ernsten Vorwurf daraus, „sich zum Organ jener unbestimmten Vermuthung
gemacht zu haben", die vom Ritter von Lang und dem „unverbesserlichen
Lügner Hormayr" ausgeheckt und zufolge „des stolzen Schweigens", das der
Angeklagte beobachtet, für viele Leute zur Gewißheit geworden sei. Dann
wird angeführt, was Lehrbach selbst gelegentlich über diese Angelegenheit ge¬
sagt hat, und daraus der Schluß gezogen, jener östreichische Diplomat müsse
„ein hart gesottener Sünder" gewesen sein, wenn er „Effronterie genug" be¬
sessen, um „aus der Rolle des Angegriffenen keck zu der des Angreifers über¬
zugehen". Was damit gesagt sein soll, ist nicht abzusehen; wer Lehrbach der
intellectuellen Urheberschaft jenes Verbrechens bezüchtigt, wird weder Be¬
denken tragen, den Grafen für einen hart gesottenen Sünder zu halten, noch
irgend welches Gewicht auf seine eigene Aussagen legen. Wahr bleibt aller¬
dings, daß es an Beweisen für Lehrbach's Theilnahme an dem Gesandten¬
mord vollständig fehlt und die Gründe, die Herr Mendelssohn gegen die
Annahme geltend macht, die östreichische Regierung habe ein Verbrechen be¬
gangen, welches ihr schlechterdings keinen Vortheil bringen konnte, kann man
durch einen Gegenbeweis nicht widerlegen. Das ist aber auch Alles, und An¬
spruch auf Neuheit können die von dem Verfasser geltend gemachten Bedenken
nicht erheben, weil sie in der Natur der Sache liegen. Zum Schluß tritt derselbe
mit seiner Erklärung hervor: die Ermordung ist auf Anstiften und unter
Theilnahme französischer Emigranten geschehen, die einmal ihrem Haß gegen
die Minister der Republik Luft und zweitens den Bruch zwischen dieser und
dem Hause Oestreich unheilbar machen wollten.
Diese Lösung sucht Herr Mendelssohn auf doppelte Weise wahrscheinlich
zu machen: er leitet ihre Wahrscheinlichkeit aus verschiedenen die That be¬
gleitenden Umstände ab und er beruft sich auf die Aktenstücke, welche er in
Wien und Karlsruhe ausfindig gemacht hat. Prüfen wir beide Arten der Be¬
weisführung, ehe wir unsere Stellung zur Sache bezeichnen.
Darüber, daß Bonnier und Roberjot von Leuten ermordet worden, welche
die Uniform des von Barbaczy gefühlten Szeklerregiments trugen, ist jeder
Zweifel ausgeschlossen; nicht nur der überlebende Minister Debry und die
übrigen anwesenden Franzosen haben das bezeugt, auch der genuesische Ge¬
sandte Bokkardi und die von diesem zu Hilfe gerufenen Personen (Major
Harrant und dessen Leute), haben die Szekler mit eigenen Augen gesehen:
Rittmeister Burkhart und Obrist Barbaczy haben eingeräumt, daß ihre Leute
die Mörder gewesen — Burkhart hat sogar den Versuch gemacht, die frem¬
den Diplomaten, welche Hilfe verlangten, abzuweisen, und durch verdächtige
Reden die erste Veranlassung zu dem Verdacht gegeben, das Verbrechen könne
auf Geheiß der östreichischen Regierung geschehen sein. Fast ebenso zweifel¬
los erscheint Barbaczy's Mitwissenschast. Wenn Herr Mendelssohn zur
Vertheidigung dieses Offiziers anführt, daß derselbe die Beschwerdeschrift der
Diplomatie mit einem Brief beantwortet habe, „wie er eines Mannes von
Ehre und Gefühl würdig gewesen", so will das, unserer Meinung nach, Nichts
sagen. Das Barbaczysche Schreiben erscheint uns sogar höchst verdächtig:
ein Regimentskommandeur „von Ehre und Gefühl" hätte sich nicht mit
wohlfeilen Phrasen über „innige Wehmuth" u. s. w. begnügt, sondern sofort
die Jaiative zur Bestrafung der Leute ergriffen, welche die Ehre seines Re¬
giments befleckten; es wäre ihm Bedürfniß gewesen, die Geschädigten selbst zu
aufzusuchen, mindestens direkt mit den deutschen Diplomaten über die Sache
"zu verhandeln. Statt dessen weist Barbaczy den preußischen Legations-
sekretair v. Jordan, der sich bei ihm melden läßt, ab (demselben wird gesagt,
„er könne den Obristen nicht sprechen und wenn er von Gott dem Vater und
Gott dem Sohn käme") und begnügt sich damit, in seiner schriftlichen Ant¬
wort zu versprechen, er werde die Mörder unverzüglich einziehen lassen.
Ueber die Personen, welche das Verbrechen verübt, scheint er mithin
schon wenige Stunden nach der That, vor Einziehung und Inquisition der¬
selben nicht mehr in Zweifel gewesen zu sein. An all' diesen, wie
uns scheint, höchst verdächtigen Thatsachen geht Herr Mendelssohn vorüber,
ohne sie abzuwägen; für die Abweisung Jordan's und die erwähnte Stelle
des Briefs hat er keinen Commentar, Barbaczy ist ihm, weil er sein Beileid
überhaupt ausdrückte, ein Mann von Ehre und Gefühl. — Weiter wird gel¬
tend gemacht, daß die in Baden anwesenden französischen Republikaner selbst
sich sowol 1799 wie im Jahre 1793 vor der Rachsucht der Emigranten ge¬
fürchtet hätten, und daß diese in größerer Anzahl um Rastatt herumgeschwärmt
seien. Dann wird angeführt, daß Erzherzog Karl wenig später die Meinung
ausgesprochen habe, daß Emigranten sich durch Corruption in das Szekler-
commando eingeschlichen haben müßten. Herr Mendelssohn legt, wie es
früher der Erzherzog that, besonderes Gewicht darauf, daß Debry von den
Mördern französisch angeredet worden und daß bei den Szeklern keine Frem¬
den gedient hätten. Dieser Umstand läßt allerdings möglich erscheinen, daß
Emigranten sich als Szekler verkleidet hätten — schade nur, daß eine That¬
sache von Wichtigkeit dabei mit Stillschweigen übergangen wird. Debry
erzählt in seinem amtlichen Berichte ausdrücklich die Worte
mimstre ^<zg.n Oerdv" seien ihm „so mauvkis krs.nyg.is" zu¬
gerufen worden (Reuß V. x. 298 und nach diesem Hauffer a. a. O.)
Das dürfte von Herrn Mendelssohn unter keinen Umständen unerwähnt
bleiben, denn dadurch ist der zunächststehende der direkten Gründe sür Theil¬
nahme von Emigranten so gut wie zu Boden geworfen.
Wir kommen zu den allgemeinen gegen die Emigranten sprechenden Jn-
dicien. Mit diesen ist es aber ziemlich mager bestellt, von einem Hinweis auf
direkt verdächtige Personen nicht entfernt die Rede. Wir erfahren nur, daß
das unheimliche Emigrantentreiben in und um Rastatt im April 1799 auf
bedenkliche Weise zugenommen habe, daß unter den verdächtigen Privat¬
personen Se. Germain (später östreichischer Obrist). Dugravier, Vauge
und Toulouse genannt worden, und daß Letzterer dem Dugravier am 11. April
geschrieben: „Binnen Kurzem wird sich Etwas ereignen, worüber die Welt
erstaunen muß". Selbst der mißtrauischste Kriminalist wird eingestehen
müssen, daß von dieser Phrase bis zu dem Verdacht der Theilnahme am
Morde ein weiter Weg ist, und daß dieselbe bei dem gänzlichen Mangel
anderer Jnzichten keine Bedeutung hat, zumal, in einer Zeit, da alle Welt
auf große Ereignisse gefaßt war. Daß Graf Toulouse u. f. w. „genannt"
worden, will gleichfalls Nichts sagen — denn wir erfahren weder, wer
diese Männer genannt hat, noch in welchem Zusammenhang sie genannt
worden. Auch die x. 49 mitgetheilte Geschichte von der Furcht des Gall
vor Vergiftung seiner republikanischen Patienten durch die Emigranten (1795)
entbehrt jeder direkten Beziehung auf die Tragödie, welche vier Jahre spä¬
ter spielte.
Es bleibt noch übrig, die Mittheilungen, welche der Herr Verfasser über
das Verhalten der östreichischen Regierung macht, unter dem Gesichtspunkte
ihrer Beziehung zu der Emigrantentheilnahme am Gesandtenmord zu prüfen.
Wir müssen gestehen, daß diese Mittheilungen die Sache vollends unwahr¬
scheinlich machen und daß wir den von Herrn Mendelssohn aus denselben ge¬
zogenen Schlüssen schlechterdings nicht zuzustimmen vermögen. Das Rescript
des Kaisers, in welchem dieser den Fürsten Colloredo zu einem Kommissions¬
dekret an die Reichsversammlung anweist, thut der-Emigranten eben so wenig
Erwähnung, wie jenes (schon früher bekannt gewordene) Dekret selbst. Auch
daß der Kaiser die Sache „ernst" auffaßte und über die Verleumdungen der
Presse „empört war", vermögen wir aus jenem Aktenstück nicht herauszulesen;
über die Sache selbst geht der Kaiser sehr kurz hinweg und die Klagen über
die Verleumdungen der Presse trugen mehr den Charakter des Aergers als
der Empörung. Vollends irrelevant und dazu widerspruchsvoll erscheint aber
das von dem Herrn Verfasser aufgefundene Memoire des Fürsten Colloredo,
welches die Niederschlagung der Untersuchung wenigstens beiläufig zum Gegen¬
stande hat. Daß dasselbe keinerlei gegen die Emigranten sprechende Jn-
dicien enthält, diese nicht einmal direkt beschuldigt, sondern höchstens auf die
Möglichkeit ihrer Theilnahme „hindeutet", geht schon aus dem einfachen Um¬
stände hervor, daß Herr Mendelssohn dasselbe nur sehr flüchtig berührt und
keinen einzigen Passus anzuführen weiß, der darauf hinwiese, daß Colloredo
auch nur entfernte gegen bestimmte Personen gerichtete Jndicien in Händen
gehabt. Unter solchen Umständen können wir absolut nicht verstehe», was
Herrn Mendelssohn zu seiner Apologie der von Wien aus dekretirten Nieder¬
schlagung der Untersuchung berechtigt. „Man war", heißt es S. 66 ff.,
„billig denkend genug, um willenlosen und schwachen Werkzeugen nicht entgelten
zu lassen, was die großen Schuldigen verbrochen hatten". Auf die Gründe,
aus denen Oestreichs Nichtvorgehen gegen die Emigranten erklärt wird, kom¬
men wir später — gleich hier aber müssen wir fragen, wie von „großen
Schuldigen" die Rede sein kann, wo die Schuldigen überhaupt nicht ermittelt,
nicht einmal Namen genannt sind. Wenn man in Wien gegen gewisse Per¬
sonen nicht vorgehen wollte, so mußten diese Personen doch überhaupt be¬
kannt sein — davon aber ist in dem angezogenen Wiener Aktenstücken mit
keiner Silbe die Rede. Und fragen wir weiter, kann von schwachen, willen¬
losen Werkzeugen gesprochen werden, wo es sich im günstigsten Fall um
Kapitalverbrechen k. k. Offiziere handelt? Auch wenn wir mit Herrn Mendels¬
sohn annehmen, daß verkleidete Emigranten sich unter die Szekler gemischt
hatten, so bleibt Burkhard (dessen Mitwisserischast Herr Mendelssohn nicht
in Frage stellt) ein Verbrecher; ein Ojfizier, der fremden Vagabunden ge¬
stattet, k. k. Husarenuniform anzulegen und sich zum Behuf eines Mordes
unter seine Leute zu mischen (und das ist bei der mildesten Auffassung ge¬
schehen), wird zu Kriegszeiten von jedem Militärgericht der Welt zum Tode
verurtheilt werden und weder von militairischen noch civilistischen Richtern wegen
„Schwäche und Willenlosigkeit" exculpirt werden können. Mag man aus po¬
litischen Rücksichten im Uebrigen ein Auge zudrücken — eine so freche Ver¬
letzung der Disciplin darf nicht ungestraft bleiben. Im vorliegenden Falle
würde es sich außerdem aber noch um Barvaczy gehandelt haben; daß man
diesem „aus Billigkeitsrückfichten" sein Regiment gelassen, ohne auch nur
festzustellen, in wie weit er Mitwisser des Geschehenen gewesen, — das ist zu
unglaublich, um bei kaltem Blut von irgend Jemand geglaubt, geschweige
denn gerechtfertigt werden zu können.
Die französischen Emigranten sind nach Herrn M. von Wien nicht zur
Untersuchung und Strafe gezogen worden, weil man die grade damals
aussichtsvolle Sache des Bourbonenthums nicht in den Augen der Welt und
namentlich nicht in den Angen Frankreichs durch ein entehrendes Verbrechen
bloßstellen wollte. Diese Auffassung hält genauerer Betrachtung schlechter¬
dings nicht Stich. Die Sache der Bourbonen konnte nur compromittirt
werden, wenn hochgestellte Personen aus der Umgebung Artois' oder des
Grafen von Provence um den Gesandtenmord gewußt hatten.
Zu dieser Annahme lag aber für den wiener Hof absolut kein Grund
vor; wahrscheinlicher oder mindestens ebenso wahrscheinlich erschien bei dem
Dunkel, das auch für Colleredo über der Sache lag, daß wenn Emigranten
überhaupt betheiligt waren, dieselben dem Auswurf der Emigration ange¬
hörten und auf eigene Hand gemordet hatten. Auf eine Untersuchung dar¬
über konnte die wiener Regierung es immerhin ankommen lassen; da die¬
selbe jedenfalls im Geheimen geführt worden wäre, so war — wenn man
die Bourbonen wirklich um jeden Preis schonen wollte, — die Möglichkeit
offen gelassen, die Sache niederzuschlagen, sobald sie für die Prätendenten
gravirende Momente zu Tage förderte. Glaubte man in Wien wirklich
daran, daß verkleidete Franzosen die Mörder gewesen, so hätte man es sicher
auf eine wenigstens vorläufige Verfolgung der Sache ankommen lassen und
sich allendliche Schritte je nach dem Ausfall derselben vorbehalten. Nach der
Mendelssohn'schen Darstellung steht die Sache aber so. daß das wiener Cabinet
aus Besorgniß vor möglicher Compromittirung der Bourbonen, jede
Untersuchung aufgegeben, die Vergehungen seiner eigenen Soldaten ungestraft
gelassen und lieber den Schein eines bösen Gewissens auf sich genommen
haben soll, als in der Sache nur einen Finger zu regen! Das hieße in
der That mit zarten Rücksichten über die Grenzen aller gesunden Vernunft
und alles politischen Anstandsgefühls hinausgehen! Um einem abhängigen
Bundesgenossen mögliche Schande zu ersparen, compromittirt man sich selbst
und läßt man die eigenen, von jenen in ein Verbrechen gezogenen Subalternen
ohne Strafe, ja ohne Feststellung des Maßes ihrer Schuld laufen! Die
Gründe, aus denen man die Emigranten schuldig glaubt, sollen so schwer
wiegen, daß man eine Untersuchung für überflüssig hält, und doch wagt der
kaiserliche Minister nicht einmal in einem geheimen Memoire deutlich zu
sagen, daß und welche Emigranten man für schuldig hält.
Das ist zu stark, um überhaupt, geschweige denn um aus so hinfälligen
Gründen geglaubt zu werden, wie denen, welche die vorliegende Schrift ins
Treffen geführt hat. So unbewiesen die alte Hypothese von der Schuld
Lehrbach's ist, sie erscheint immer noch wahrscheinlicher, als die Behauptung.
Oestreich habe sich freiwillig sichere Schmach aufbürden lassen, um den
Bourbonen ein mögliches Erröthen zu sparen! Auch wir sind der Meinung
gewesen, daß gegen die Annahme, Oestreich habe ein so schmähliches unkluges
Verbrechen angestiftet, gewichtige Bedenken sprächen, ja auch, daß irgend mit
Mitwissen nicht für bewiesen angesehen werden könne. Herr M. hat uns
in dieser Meinung aber nicht bestärkt, sondern durch die Eigenthümlichkeiten
und die Hast seiner Deduction sogar gegen dieselbe mißtrauisch gemacht. Wenn
die Archive von Wien und Karlsruhe wirklich nicht mehr wissen, als er uns
gesagt hat, so erscheint am wahrscheinlichsten, daß das wiener Cabinet ein
von einem seiner höher gestellten Werkzeuge auf eigene Hand unternommenes
Verbrechen nachträglich vertuschen und dadurch die Möglichkeit eines Ver¬
dachts gegen die Emigranten offen lassen wollte. Nur unter dieser Voraus¬
setzung haben die Maßregeln dieser Regierung, mit deren Einzelheiten die
Mendelssohn'sche Schrift uns bekannt macht, überhaupt einen Sinn.
Tagebuch des Erich Lassota von Steblau, von or. Reinhold Schottin,
Halle, Barthel.
.Seit die Germanen ein geschichtliches Leben haben, ist ihnen charakte¬
ristisch, daß sie mit Gehege. Rechtsbräuchen, Göttersegen und gemüthlicher
Poesie ihr Heimwesen und Heimathland fest gegen außen abschließen und
ihr ganzes Herz mit den localen Interessen erfüllen. Und wieder im Gegen¬
satz dazu, daß sie über ihre Gehege eifrig in die weite Ferne schauen, und
plötzlich einmal mit schnellem Einschluß alle Schranken zerbrechen, welche sie
in der Heimath festhalten, um unter fremden Völkern Abenteuer und neues
Glück, vielleicht eine neue Heimath zu gewinnen. Diese Neigung, sich mit
festen Heimathgrenzen zu umschließen und überall ein Heimwesen aufzuschlagen,
hat die Germanen zu dem großen Colonistenvolk der Erde gemacht, sie haben
auf den Trümmern des Römerreiches fast ganz Europa in Kampf und Ver¬
band mit der alten Landesbevölkerung colonisirt. sie haben auch da. wo sie
allmälig zu Romanen wurden, den kriegerischen Wandertrieb nicht verleugnet,
die Kreuzzüge, die Besetzung des Mittelmeers durch Genuesen und Venetianer,
endlich die Eroberungen der Conquistadoren in Amerika sind in Wahrheit
aus dem Mischehen von Germanenblut, das in Celten, Iberer. Römer ge-
flössen war, zu erklären. Die große nationale Einheit, welche aus Angeln,
Sachsen und Nordmannen in Britannien erwuchs, hat diese Besiedelung der
Erde in immer größeren Verhältnissen bis zur Gegenwart fortgeführt.
Auch die deutschen Germanen haben seit der Völkerwanderung nicht
aufgehört, die Fremde zu durchfahren. Sie vorzugsweise haben den euro¬
päischen Osten mit Stationen deutschen Lebens überzogen, zum Theil völlig
germanisirt, haben einzelne Reisende und kleine Haufen in jedem Jahrhunderte
des Mittelalters durch fast alle Länder der bekannten Erde gesandt. Auch
seit die Kreuzfahrten und großen Römerzuge aufhörten, dauerte das Wandern
der Deutschen nach Italien, Nowogorod, dem heiligen Lande; und nicht nur die
hansischen Schiffer durchfuhren die Nordmeere bis zu den entlegensten Küsten,
auch die niedersächsischen Bauern bauten ihre Holzhäuser nahe am schwarzen
Meer, schwäbische Landleute pilgerten zum schwarzen Stern von Compostella,
und Männer von rittermäßigen Geschlecht suchten Schläge, Beute und Land¬
besitz im Reich von Byzanz und später an der Türkengrenze, in Italien,
Spanien und Portugal. Besonderes Interesse erhalten die Wanderungen
einzelner Söhne aus rittermäßigen Familien im 13. und 16. Jahrhundert;
denn seitdem unternehmen Manche von ihnen, ihre Erlebnisse niederzuschreiben
oder aufzeichnen zu lassen. An diesen Aufzeichnungen erkennen wir recht
genau den Wechsel in den leitenden Interessen, welche zur Reise lockten.
Zuerst ist es außer dem Gelübde und religiösen Verpflichtungen der alte
Wunsch. Rittersitte und Hosbrauch in der Fremde kennen zulernen, deutscher
Kampflust in einem Heidenkriege zu genügen und von einem fremden König
ein Stück Goldbrocat oder den Orden einer ritterlichen Gesellschaft zu
erhalten, weil solche Auszeichnungen in der Heimath Ansehen geben. Seit
dem Ende des 15. Jahrhunderts aber, wo die Fürstenmacht hoch steigt, die
moverne Politik der Regierungen beginnt, fangen unsere Junker allmälig
an, in die lateinische Schule zu gehen. Die alte Reiselust dauert, aber sie
ziehen j/tzt nicht nur nach Frankreich, Italien und Spanien, um welscher
Sitte mächtig zu werden, oder um als Landsknecht, Höfling und Reiter das
Glück zu suchen, sie beobachten auch die Fremde mit neuem Interesse, Kurio¬
sitäten alter Zeit, Seltsamkeiten der Natur, sie sprechen lateinisch, besuchen
wol auch Gelehrte, die Sammlungen von Kunstwerken großer Herren und
die Trümmer antiker Amphitheater, und schrieben römische Inschriften ab.
Seit den letzten Jahrzehnten des 16. .Jahrhunderts hat vielleicht keine
Landschaft Deutschlands so viele junge Adlige von einiger wissenschaftlicher
Bildung in die Fremde gesandt, als Schlesien. Zu diesen Wanderlustigen
gehört der Sohn eines alten schlesischen Geschlechts Erich Lassota, dessen
Tagebuch durch Herrn Dr. Schottin aus einem Manuscript der Gersdorff-
Weich'ichen Stifisbibliothek zu Bautzen herausgegeben wurde. Wir sind dem
Herausgeber dafür und für die einleitenden biographischen Notizen zu Dank
verpflichtet, denn er eröffnet uns Einblick in ein vielbewegtes Menschenleben,
welches sich gefügig und klug in den harten Kämpfen seiner Zeit tummelt
und an mehreren wichtigen Zeitereignissen betheiligt ist. Erich lernte 1567
auf der lateinischen Schule zu Görlitz. dann in Leipzig, 1573 ging er nach
Italien, wie es scheint, um in Padua zu studiren. nach seiner Rückkehr nahm
er Kriegsdienst in einem Regiment deutscher Knechte, welches König Philipp II.
von Spanien zum Krieg gegen Portugal anwarb. Sein Regiment half
Portugal erobern und wurde wiederholt gegen die Azoren eingeschifft, deren
Besetzung er schildert. Nach seiner Rückkehr wurde Lassota 1585 Hofdiener
Kaiser Rudolph's, bald vertrauter Diener des Erzherzogs Maximilian; in
dieser Eigenschaft wurde er vielfach als diplomatischer Agent, aber auch als
Kriegsmann bei den unglücklichen Versuchen Maximilian's, die polnische
Königskrone zu erwerben, verwandt. Er führte eine Zeitlang den Befehl
über das Kriegsvolk. welches Maximilian zum Erwerb des polnischen Reiches
geworben hatte und wurde bei Pirschen mit seinem Erzherzog von den Polen
gefangen; endlich im Jahr 1590 mit einem geheimen Auftrage zum Czaren von
Moskau gesandt. Seine Schicksale auf dieser Fahrt sollen im Folgenden
nach seinem Tagebuch in getreuer Uebertragung mit wenigen unwesentlichen
Auslassungen geschildert werden. Erich Lassota erzählt:
„Den 21. September 1590 habe ich zu Lübeck mit einem Schiffer Keiften
Asmus von Sonderburg den Vertrag geschlossen, daß er mich an die Naroa
führen und daselbst auf der russischen Seite absetzen sollte, wogegen ich ihm
246 Thaler zusagte. Sein Schiff war 40 Lasten groß und sonst mit keiner
Kaufmannschaft beladen.
Am 15, October sind wir ziemlich hoch in der See die Mündung der
Narva vorübergelaufen, und als der Schiffer das Loth warfund nicht mehr
als drei Faden Tiefe fand, hat er alsbald die Segel gestrichen und mir ge¬
rathen, daß ich mich von da auf dem Boot, das wir anführten, an das
Land sollte setzen lassen, weil es wegen dem seichten Ufer, wegen der steilen
und blinden Klippen sorglich sei, mit dem großen Schiff sich näher ans Land
zu wagen. Deshalb habe ich sogleich meine Sachen in das Boot gebracht,
bin mit meinen Dienern eingestiegen und sammt dem Schiffer und drei
Bootsknechten dem Lande zugefahren. Auf dem Schiffe ist Niemand ge¬
blieben, als nur der Steuermann; da aber die See ungestüm war und große
Wellen gab. auch das Wasser oft in das Boot schlug, ist uns nicht ganz
wohl zu Muth gewesen. Wir sind aber nach ungefähr drei Stunden, da
eben der Tag anbrach, glücklich zu Land gekommen. Als wir nun aus¬
gestiegen waren, habe ich den Bootsleuten einen Dukaten verehrt und einen
Thaler gegeben, den sie in ein Spital ihrer Heimath verehren sollten, habe
auch dem Schiffer einen schriftlichen Beweis seiner vollbrachten Reise unter
meinem Siegel ausgefertigt, damit er den Rest der Schiffsmiethe mit 200
Tkalern. die ich zu Lübeck niedergelegt hatte, bekommen möchte. Darauf
ist er ohne Säumen dem Schiff wieder zugefahren, ich aber habe mich durch
einen dicken Wald, der nahe dabei war, an einen sumpfigen und brüchigen
Ort begeben und alsbald meinen Begleiter Ernst mit dem Dolmetsch, der
dieser Gegend kundig zu sein vorgab, ausgeschickt und ihm ein Schreiben an
Iwan Andreowitsch, damals Statthalter zu Jwanogorod zugestellt und be¬
fohlen, daß sie sich dorthin verfügen und meine Ankunft melden sollten.
Darauf sind sie fortgegangen, aber am folgenden Tage ungefähr um Mittag
wieder zurückgekommen und haben angezeigt, daß sie in zwei Dörfern wol auf
drei Meilen Entfernung gewesen, aber keinen Menschen angetroffen, wiewol in
den Dörfern glühende Kohlen und warme Stuben, auch Hunde waren, ein
Zeichen, daß kurz vorher Leute daselbst gewesen. Darauf habe ich den Dol¬
metsch, dem ich eine stattliche Verehrung zugesagt, und Johann Förster
wiederum eilends fortgeschickt, aber das Schreiben an Iwan Andreowitsch
habe ich ihnen nicht mitgegeben. Denn als ich hörte, daß keine Leute in
den Dörfern waren, hat mir nichts Gutes geahnt. Zu meinem sonderlichen
Unglück war an demselben Tage, wo ich an das Land kam, nämlich den
16. Oktober, der Waffenstillstand zwischen Russen und Schweden aufgekündigt,
die Russen hatten sich wiederum in die Festungen begeben, und die Schweden
waren mit ziemlicher Feldstärke ins Land gefallen und hatten dasselbe auf etliche
Meilen durchstreift. Als meine Diener solches von den Schweden, die sie
auf dem Wege trafen, erfuhren, entschlossen sie sich, in die deutsche Stadt
Narva zu gehen und daselbst gründlichen Bericht in der Stille einzuziehen.
Als sie dort ankamen und erfuhren, daß es ganz unmöglich sei, in eine russi¬
sche Festung zu kommen, ersann der Dolmetsch einen anderen Anschlag,
welcher gar nicht so schlecht gewesen wäre, wenn das Glück nur ein wenig
hätte dienen wollen. Denn er meldete sich bei dem schwedischen Admiral,
gab vor, daß er mit einem deutschen Schiff und einer Ladung Bier, Aepfel
und anderem Proviant ein paar Meilen außerhalb der Mündung auf den
Sand gelaufen, und bat deshalb, ihm eine Schule zu gönnen, damit er von
dem Schiff etwas abladen und dasselbe erleichtern könne. Dies hat der Admiral
ohne Widerrede bewilligt. Es ist aber des Dolmetsch Intention gewesen,
mit der Schule an die Stelle zu kommen, wo ich mich versteckt hielt, damit
ich selbst mit dem Schiffer abschlösse, daß er mich mit Dienern und Gepäck
auf des Königs von Polen Gebiet, etwa nach Pernau führte und dort ab¬
setzte. Sie bekamen die Schule, aber der Wind wollte sich zum Auslaufen
nicht fügen. Da ersahen sie für rathsam, daß Hans Förster sich auf der
russischen Seite absetzen ließe, um mir den Anschlag wegen der Schule zu
melden. Unterdeß habe ich sammt den anderen dreien, die bei mir im Walde
blieben, großen Mangel an Lebensmitteln empfunden, so daß wir vom
Dienstag bis auf Sonnabend kein Brot in unseren Mund gebracht; zu be¬
sonderem Glück fand mein Diener noch etliche Rüben, eine Meile entfernt,
auf einem Rübenacker. Ich aber habe großes und stetiges Verlangen nach
den zweien getragen, die ich ausgeschickt, und da ich meinte, daß sie ge¬
fangen wären- und ich dadurch ausgekundschaftet werden könnte, habe ich bei
Tag und Nacht einen meiner Diener auf Schildwacht stehen lassen, zuletzt
für rathsam angesehen, meine Briefe zu verbrennen, meine Kisten und Fell¬
eisen in die Erde zu vergraben; und damit man die Stelle nicht erkennen
sollte, habe ich ein großes Feuer darüber machen lassen.
Am Morgen des 22. October haben wir eine starke Anzahl schwedischer
Schützen gesehen, welche uns alsbald feindlich anliefen. Obwol wir ihnen
keinen Widerstand leisteten, sondern ihnen unserer Abrede nach zu verstehen
gaben, daß wir Fremde wären und in ihres Königs Dienst treten wollten;
so haben sie uns doch kein Gehör gegeben, sondern Seiten- und Obergewehr
mit Gewalt abgenommen und darauf den Ernst Lindeiner, welcher eine
blaue Haube aufhalte und den sie deshalb für einen Russen ansahen, durch
den Rücken geschossen, darnach uns dessen beraubt, was sie in der Eile bei
uns finden konnten. Darauf haben sie uns fortgeführt an die Mündung
der Narva, dort den Bootsleuten, die aus den Schiffen vor Anker lagen,
zugeschrieen und begehrt, daß sie die Boote ans Land schicken sollten. Als¬
bald kamen zwei Boote von den nächsten zwei Schiffen zu uns. da haben sie
uns getheilt, und wich mit sammt Ernst Lindeiner auf das eine Boot gesetzt
und auf das Schiff „der weiße Schwan" geführt, worauf der Unleradmiral
war. Wie wir herankamen, fragte der Unteradmiral Olaf Hising. der neben
einem anderen Schiffshauptmann, David Pfeil, an dem Schiffsbord lag, die
Knechte, was sie brächten. Die gaben zur Antwort, daß sie auf der russi¬
schen Seite etliche Leute gefangen hätten, die sich für Deutsche aufgaben.
Da befahl er uns, heraufzukommen. Da aber gedachter David Pfeil, sonst
ein Deutscher und zu Lübeck geboren, der aber mit dem Rath der Stadt in
Feindschaft gerathen und in des Königs von Schweden Dienst gegangen war,
hörte, daß wir Deutsche wären, empfing er uns auf gut Deutsch mit diesen
Worten: „Herauf ins Teufels Namen! ' Darnach befragten sie uns, wer wir
wären und wie wir nach Rußland gekommen. Darauf gab ich ihnen zur
Antwort, es wären unser drei von Adel sammt einem Diener und Jungerr
zu Lübeck einig geworden, nach del Naroa zu fahren und uns in der schwe-
dischen Majestät Kriegsdienst zu begeben, wenn wir unserem Stande nach
passenden Unterhalt erlangen könnten. Der Schiffer, dieser Gegend nicht son-
derlich kundig, sei mit dem Schiff auf eine Sandbank gelaufen, weshalb wir
ihn gebeten, daß er uns um unser Geld mit dem Boot auf liefländischem
Boden aussetzen sollte, die Bootsleute aber hätten uns etwa eine Stunde
vor Tag auf russischem Boden an einem Wald abgesetzt und uns zu ver¬
stehen gegeben, daß von der Stelle nicht ganz zwei Meilen bis nach Narva
wären. Ob sie Solche« aus Unwiss.üben oder mit Fleiß, aus Bosheit ge¬
than hätten, wäre uns unbewußt. Dort hätten uns diese gegenwärtigen
Knechte gefunden, alsbald angefallen, gefangen, geplündert, auch einen der
Unseren beschädigt. Darauf antwortete David Pfeil: Sofern eure Sache
geiecht ist und der Schiffer an euch als redlichen Leuten ein solches Stück
geübt hat. wie ihr vorgebt, so hat er gehandelt als ein Schelm, und es
wäre ganz recht, wenn man einen solchen Buben Anderen zum Exempel beim
Kopf nähme. Wenn aber eure Sache falsch ist und ihr Schelme seid, so
sollt ihr Schelmenlohn empfangen." Darauf frug er, wie der Schiffer ge¬
heißen. Ich berichtete, sein Name, der bei uns ganz seltsam und ungebräuch¬
lich sei, wäre mir entfallen; so viel wüßte ich, daß er entweder aus Däne¬
mark oder Holstein wäre, da sie aus dem Schiff allein dänisch mit einander
geredet. Nach diesem Gespräch forderte mich der Unteradmiral in seine
Cojeta, wie sie es zu nennen pflegen, wo ich mit ihm und David Pfeil früh¬
stückte. Sie frugen mich um allerlei Sachen, ich gab ihnen Bescheid, wie
unsere Bedrängniß damals forderte. Unterdeß brachte man etliche gefangene
russische Bauern mit gebundenen Händen auf das Schiff, welche sie vor
mich stellten und fragten, vo sie mich zuvor gesehen hätten. Da diese aber
berichteten, daß ich ihnen ganz unbekannt wäre, waren sie damit zufrieden. —
Etwa eine Stunde darauf fuhr ich und der Unteradmiral, welcher zuvor noch
alles Geld, das ich im geheim bei mir hatte, zu sich nahm, auf einem großen
Boot zu der Armada. Als wir aber bei dem Schiffe vorüberkamen, wo der
andere Theil meiner Leute war, schrien die Knechte, die sie bis dahin be¬
gleitet und uns" gefangen hatten, dem Unteradmiral zu, daß er mich auf
dasselbe Schiff bringen sollte, denn ich wäre ihr Gefangener. Als aber der
Unleratmiral sich nicht daran kehrte, sondern stracks fortfuhr, sind sie übel
zufrieden damit gewesen und haben mich vom Schiff aus auf dem Boot er¬
schießen wollen; aber David Pserl hat sie einstlich abgewehrt.
Als wir nun zu der Armada kamen, sind wir auf der Galeere, „der
Lindwurm" genannt, zu dem Admiral Erich Bartelson gefahren, welcher
mich auch wegen meines Zustandes befragte und dem ich dieselben Antworten
gab. Wie wir so im Gespiäch sind, kommt Herr Karl Sture, von dem vor¬
nehmsten Herrengeschlecht in ganz Schweden und Deputirter des Königs bei
den vergeblichen Friedensverhandlungen mit den Russen, auch dazu, und als
er hört, daß ich mich einen vom Adel nenne, frägt er. ob ich zufrieden sei,
daß man hinaus nach Deutschland schicke, um solches auf meine Unkosten
zu erkunden. Darauf gab ich ihm zur Antwort, wenn es nicht anders sein
könne, wäre ich damit zufrieden; aber ich «erhoffte, sie würden ohne das
meinen wahren Worten Glauben schenken. Und sofern ich nicht eine
für meine Verhältnisse passende Stellung hier fände, würden sie mir er¬
lauben, wieder nach Deutschland zu reisen. Nach gehaltener Mahlzeit kam
der Schwager des Statthalters von Narva. Peter Dem, zu mir, sagte mir,
daß er auch ein Deutscher, von Geburt ein Preuße, seine Mutter aber eine
geborene Freund aus Schweidnitz in Schlesien sei. und dieweil ich auch ein
Schlesier und also sein halber Landsmann wäre, wollte er mir treulich rathen,
daß ich zur Verhütung vieler Ungelegenheit mich auf den König berufen
und stracks zu ihm begehren sollte; denn wenn ich hier bliebe und sie dem
König nach Schweden schriftlich berichteten, daß sie etliche verdächtige Per¬
sonen in Rußland gefangen hätten, so könnte leicht geschehen, daß der König
zurückbefähle, uns mit der Tortur anzufassen. Diese gutherzige Erinnerung
des Dem habe ich wohl in Acht genommen.
Am 14. October kam uns die Nachricht, die Knechte, welche uns gefangen,
hätten an dem Ort. wo sie uns zuerst antrafen, etliche Truhen und Fell¬
eisen in der Erde vergraben gefunden und darinnen viele moskovitische Klei¬
der. Man fragte mich, ob diese mir zugehö-ten. Ick besorgte, daß dies
durch meinen Jungen verrathen sein könnte, wie auch der Fall war, und ant¬
wortete, ich hätte wohl Etwas von Truhen und Felleisen vergraben, es
wären aber keine moskovitischen, sondern ungarische Kleider darin, ich hätte
früher die Intention gehabt, mit dem kaiserlichen Gesandten nach Konstanti¬
nopel zu reisen, und mir dazu die ungarischen Kleiner machen lassen. Mit
dieser Antwort ließen sie sich taliter qmiliter begnügen. Den 3. November
um Mitternacht sind wir unter Se^el gegangen und gegen Oeland, eine
Insel mit hohem Berge gekommen. Mit diesem Berg haben die Lchiffsleute
einen besonderen Aberglauben, denn sie wollen nicht zulassen, daß man ihn
mit Namen nennt, wenn man daran vor Anker liegt oder vorüberfährt.
Denn sie sagen, wenn man ihn nennt, kann man nicht davon wegkommen,
oder aber es begegnet dem Schiff sonst ein Unglück, sie erzählen auch sonst
viel Fabeln davon, wie, daß darin eine Höhle sei, in welcher ein großer
Schatz liegt, man könne aber den Eingang dazu nicht immer finden, wenn
man will, sondern nur bisweilen, wenn man am wenigsten daran denkt.
Am 24. November lagen wir vor Helsingfors. da ist ein deutscher Gold¬
schmied aus der Stadt zu uns aufs sah ff gekommen und hat unter Anderem
vermeldet, vor etlichen Tagen sei doit in der Stadt ein Deutscher ge-
fangen worden, der sich den Dolmetsch eines deutschen Herrn nannte, wel¬
cher vom kaiserlichen Hofe mit Briefen nach Moskau verschickt worden, und
dieser Dolmetsch heiße mit Namen Hermann sternenarm. Als ich dies hörte.
bin ick heftig erschrocken, doch habe ich es nicht merken lassen, und da ich
sah, daß ich schon verrathen war und auf meiner Aussage, die ich zu Narva
gethan, nicht werde bestehen können, habe ich auf einen anderen Anschlag
denken müssen. Ich ließ meinen Dienern auf dem anderen Schiff sagen, daß
sie mir etliche Flaschen mit Bier, woran wir Mangel hatten, schicken sollten,
und als sie zu mir kamen, zeigte ich ihnen an, Hermann sei gefangen, und
es sei vergebens,, bei der vorigen Aussage zu bleiben; sie möchten deshalb
frei heraus bekennen, daß sie meine Diener wären; sie wüßten aber von mei¬
nen Sachen nichts weiter, als daß ich mit kaiserlichen Briefen nach Moskau
geschickt worden sei, die ich den Tag zuvor, ehe man uns gefangen, verbrannt
hätte. Mit solcher Information entließ ich sie.
Als wir am 17. December durch die Aalandischen Scheeren fuhren, ist
Hauptmann Abraham Nielson mit drei Trabanten aus der königlichen
Guardia mit Befehl vom König gekommen, uns auf einem kleinen Boot
schleunigst nach Schweden zu bringen, wenn die großen Schiffe wegen Frost
in Finnland wintern müßten. Und er meldete, daß ihm der König selbst
persönlich befohlen, mit seinem Kopf für uns zu stehen. Damit hat er uns
zwar schlechten Trost gegeben, denn wir hatten uns böser Liebe zu besorgen;
doch ließen wir uns das nicht merken. Am 19. December stiegen wir von
der Galeere und fuhren auf einem Boot bis nahe an Stockholm, von da zu
Schlitten bis gen Upsala.
Als wir dort am 22. December ankamen, schickte Herzog Karl, des Kö¬
nigs Bruder, etliche seiner Hofjunker und Diener zu uns und ließ uns auf
das Schloß fordern. Dort hatten wir im Beisein des Herrn Ricks Gulden¬
stern, obersten Kanzlers der K-one Schweden, und etlicher anderer Herren
aus dem Reichsrath ein seltsames Gespräch mit dem Herzog, denn er ver¬
meinte, we^en meiner Reise nach Moskau große Geheimnisse zu erfahren; ich
aber richtete meine Rede und Antwort ein, wie es damals die Zeit forderte,
und gab an, ich sei nur mit kaiserlichen Schreiben, deren Inhalt mir un¬
bekannt, an den Großfürsten in Moskau abgefertigt worden, in Kurzem
hätte eine große Botschaft nachfolgen sollen. Damit wollte er nicht zufrieden
sein, sondern setzte mir mit ungestümen Worten und Geberden hart zu. Er
wüßte recht gut, daß ich kein einfacher Briefträger, sondern in mehr ein¬
geweiht sei, als ich vorgehe, und darum sollte und müßte ich ihm bekennen,
was mir in Moskau zu verrichten befohlen worden, oder aber er wollte, so
wahr er adlich geboren sei, die Diebeshenker über mich schicken. Darauf
protestirte ich gegen Gewalt und bat, Fürstliche Durchlaucht wolle sich als
ein christlicher Potentat zunächst anders bedenken und nicht solche Mittel
gegen mich anwenden. Er aber antwortete: „Du bist der rechten Gesellen
einer. Mir ist in zwölf Jahren Keiner vorgekommen, den ich lieber gesehen
hätte, als dich; ich will darum munter mit dir herumspringen." Als ich
aber dazu stillschwieg, wandte er sich zu den Reichsräthen und sagte, er sähe
mich dafür an, daß ich wol schon mehr Reisen nach dem Galgen gemacht
hätte. — Als ich aber auch nichts antwortete, fragte er mich, ob ich
Kriegsbrauch wüßte, und da ich ihm zur Antwort gab, daß ich ein wenig
davon erfahren und mich darin versucht hätte, da sprach er: „Wenn
man solche Vögel fängt, läßt man sie wol singen, und wenn sie genug ge¬
sungen haben, hängt man sie an einen dürren Baum. Das kann dir auch
wieder passiren." Ich replicirte: „Ich bin kein solcher, sondern ein ehrlicher
von Adel, und habe Ehre und Tugend von meinen adeligen Vorfahren seit
etlichen hundert Jahren her geerbt, die will ich auch, geliebt es Gott, mit
mir ins Grab nehmen; und da fürstliche Durchlaucht meinen wahren Worten
keinen Glauben geben wollen, so mögen Sie hinaus an die hochkaiserliche
Majestät schicken und sich nach meinen Verhältnissen erkundigen. Bin ich
nicht, wofür ich mich ausgebe, oder weiß die kaiserliche Majestät nichts von
mir, so mögen fürstliche Durchlaucht alsdann mich nach höchster Ungnade
strafen. Unterdeß aber ist meine unterthänigste Bitte, fürstliche Durchlaucht
wollen die acht oder neun Wochen, bis der Bote hin - und zuückreisen kann,
Geduld haben und keine Gewalt an mir üben." Als aber er mir darauf
den Bescheid gab: „Ich will mit der kaiserlichen Majestät nichts zu thun
haben, sondern allein mit dir," wandte ich dagegen ein: „Fürstliche Durch¬
laucht würden sich an mir armem Gesellen schlecht erholen und mit der ge¬
ringen Hand voll Blut Ihrem Land und Leuten wenig Nutzen schaffen."
Er antwortete : „Du wirst wol anders reden und besser daran müssen, wenn
dir ein anderer Frager an die Seite gestellt wird." Und nachdem er mir
Frist bis auf den 24. December gegeben, mich zu bedenken, hat er mich von
sich weggeschafft und dem Hofmarschall befohlen, mich wohl zu verwahren.
Als diesen der Wachtmeister frug, ob er mich in Eisen schlagen sollte, sagte
er nein, und so habe ich in die Wachtmeisterkammer in einer Bastei gehen
müssen, wo mich allezeit etliche Schützen bewachten.
Etwa eine Stunde darauf kommt der Marschalk mit einem Secretär
und königlichen Rath zu mir in die Kammer, zeigen an, es sei des Königs
und Herzogs Befehl, daß man mich untersuchen solle, ob ich nicht noch etwas
von Briefen bet mir hätte. Ich habe im bloßen Hemd vor ihnen stehen
müssen, und sie haben Alles, sonderlich die Sohlen der Stiefel, aufs Genaueste
untersucht. Da sie aber nichts fanden, als ein Schreibtäflein. Gebetbuch und
Fazenetlein (Taschentuch), haben sie das Schreibtäflein mit sich genommen
und dagegen protestirt, daß sie kein Geld, sondern nur Briefe bet mir suchten,
haben mich daneben vermahnt, ich sollte, um ein Unglück zu verhüten, nicht
des Königs Zorn auf mich laden. Ich gab ihnen zur Antwort. Gott wolle
mich davor behüten; des Königs Zorn sei eine Bürde, die ich mir zu er¬
tragen nicht getraute. Aber königliche Majestät möge mir nicht Unmögliches
zumuthen und nicht begehren, daß ich etwas aussage, wovon ich keine
Wissenschaft hätte. Darauf sagte der Secretair, er hätte gehört, daß ich eine
Zeitlang in Hispanien gewesen; wäre ich dort der Inquisition entgangen, so
sollte ich hier in Schweden erst recht hineinkommen. Ich antwortete: „Ich
habe gehofft, in eines christlichen Königs Händen zu sein, welcher mir keine
Gewalt zufügen wird; sollte das aber gegen meine Hoffnung geschehen, so
muß ich es Gott anheim geben."
Am 24. December bin ich wieder vor den Herzog und die Reichsrathe
gefordert worden. Der Herzog empfing mich mit den Worten: „Erich. Erich,
du bist gar halsstarrig." Als ich aber dagegen sagte, daß ich fürstliche
Durchlaucht bitte, mein Benehmen nicht so zu deuten, sagteer: „Wann du
etwa Scheu trägst, deine Sachen vor Jedermann an Tag zu geben, so
will ich die Herren Reichsrathe abtreten lassen und dich allein darüber ver¬
nehmen." Ich antwortete: „Ich würde fürstlicher Durchlaucht nicht mehr
sagen können, als bereits geschehen; es ist also unnöthig, daß die Herren
abtreten." Er wandte dagegen ein. „Es ist gleichwol nicht umsonst, daß du
die Briefe verbrannt hast, denn wenn nichts Verdächtiges darin war, so
weiß ich nicht, warum du solches gethan." Ich berichtete: „Ich habe so
gehandelt aus Dienstpflicht, denn da die Schreiben an den Großfürst in
Moskau gerichtet waren, und ich sah, daß mir der Weg verlegt war, so
wollte ich meines Herrn Briefe nicht in andere Hände kommen lassen." Darauf
sagte der Herzog: „Ich will gleichwol wissen, was der Kaiser allezeit für
Correspondenz mit dem Moskoviter hat. Ich besorge, die armen Schweden
müssen darum Haare lassen." Ich antwortete: „Die Correspondenz zwischen
kaiserlicher Majestät und dem Großfürsten ist nicht neu, oder von der kaiser¬
lichen Majestät bei jetzt währendem Kriege zwischen Moskau und Schweden
angefangen, sondern vor vielen Jahren von deren hochlöblichen Vorfahren
begonnen, und zuletzt durch die kaiserliche Majestät immer continuirt worden;
und dabei ist nichts Heimliches oder Gefährliches, denn beide Theile haben
ihre Gesandten öffentlich einander geschickt, und die moskovitische Botschaft
hat mehr als einmal den Reichstagen beigewohnt."
Der Herzog antwortete wieder: „Um so ärger, daß man mit einem
solchen Unchristew und Bluthund dergleichen Einvernehmen hat. Wenn die
Schweden es nicht mit ihrem Gut und Blut abgewendet hätten, so hätte er schon
längst sein Lager mitten in Deutschland aufgeschlagen. Aber wenn ihr Oest¬
reicher uns Schweden den Russen über den Hals hetzt, so wollen wir euch
Türken und Tartaren auf den Kopf setzen. Wir wollen sehen, wie wir uns
des Russen erwehren. Beißt ihr euch hernach mit Türken und Tartaren.
Was dich betrifft, so habe ich gewisse Kundschaft, daß du zu Lübeck erzählt
hast, deine Reise nach Moskau gehe vornehmlich dahin, Unfrieden zwischen
Schweden und Moskau anzurichten." Darauf bat ich: „Fürstliche Durch¬
laucht wollen mir Beide, den. von dem Sie solches haben, und den, zu
welchem ich es geredet haben soll, namhaft machen, denn ich kann bei Gott
und meinem Gewissen bezeugen, daß kein redlicher Mann sich mit Wahrheit
rühmen kann, jemals so etwas von mir gehört zu haben. Auch können
fürstliche Durchlaucht als ein Hochweiser Fürst gnädig abnehmen, ob mir als
einem Diener gebührt halte, so etwas in allen Wirthshäusern zu publiciren,
oder einem Jeden zu vertrauen, selbst wenn ich solchen Auftrag gehabt hätte."
Hierauf sagte einer von den Reichsräthen: „Da bekennt er es jetzo selber."
Da ich hörte, daß er mich durch meine Reden gefährden wollte, bat ich ihn,
meine Worte nicht anders auszulegen, als wie sie geredet worden, und be¬
zog mich deswegen auf fürstliche Durchlaucht, welche sie gehört hätten. Der
Herzog sagte Nichts darauf, sondern lächelte nur ein Wenig.
Darauf frug er mich, ob ich nicht auch Schreiben vom Erzherzog
Matthias gehabt hätte. Ich antwortete: „Nein." Als er aber wieder in
mich drang, ich hätte ja Schreiben von ihm gehabt, und ich ihm zur Ant¬
wort gab, ich könnte das Gegentheil bei meinem Gott bezeugen, spricht er
ganz ungestüm: „El, was weiß ich, was du für einen Gott hast", und
das redete er darum, weil er meinte, ich wäre der katholischen Religion zu¬
gethan. Indem trat einer von den Reichsräthen etwas vor und sagte leise
zu dem Herzog: „Vielleicht aber von dem Erzherzog Maximilian." Darauf
fragte der Herzog, der sich sonder Zweifel vorher im Namen geirrt, alsbald:
„Oder hast du vom Erzherzog Maximilian Schreiben gehabt?" Ich sagte: „Ja."
Darüber verstummte er sogleich; denn wie ich nachher erfuhr, hatte ihm mein
Dolmetsch zu verstehen gegeben, daß ich dies aufs Höchste leugnen würde.
Darauf fragte mich der Herzog weiter, wo ich zu Lübeck meine Herberge ge¬
habt. Als ich aber in der Sorge, daß er vom Dolmetsch auch darüber be¬
reits berichtet worden, antwortete, daß ich bei Caspar Kron in Herberge
gelegen, rief er: „Bei dem schwarzen Schelm, der seit vielen Jah.en der
Krone Schweden Verdruß und böjen Willen bewiesen, der dem Feind wäh¬
rend des Krieges Rüstung und Munition zugeführt hat. Ich wünsche nichts
mehr, als daß ich ihn ebenso in meinen Händen hätte wie dich. Es sollte
kein Baum in Schweden zu gut und hoch sein, er sollte daran hängen. Weil
du dich bei dem Manne ausgehalten, ist leicht zu erachten, daß deine Sache
auch nicht richtig ist, und daß du mit ihm Anschläge gegen die Krone
Schweden gemacht hast. Darum will ich endlich von dir wissen, was du
in Moskau verrichten solltest. Oder aber, so wahr ich adlich geboren bin,
'
ich will dich um eine Elle länger machen lassen*), und dann wirst du sagen
müssen, was du weißt und was du nicht weißt."
Ich faßte alsbald diese Worte auf und sagte: „Es könnte leicht ge¬
schehen, daß ich in diesem Falle Ecwas sagen müßte, wovon ich keine Wissen¬
schaft habe. Aber ich bitte, fürstliche Durchlaucht wollen sich an mir nicht
vergehen, sondern als ein christlicher Herr mir das widerfahren lassen, was
Mis göntium, Völkerrechts ist. Wenn das nicht geschieht und fürstliche Durch¬
laucht andere Mittel gegen mich gebrauchen, so weiß ich nicht, was mir bei
Türken und Heiden Aergeres widerfahren kann." Darauf fängt der Herzog
ganz höhnisch an zu lachen und sagte; „Was Min! Wir verstehen uns hier
in Schweden auf keine M-a!"— (O, ein barbarisches und unwürdiges Wort!)
Darauf wendet er sich zu den Reichsräthen und spricht: „Schaut, der
Kerl hat die königlichen Statthalter und Räthe zu Narva mit lauter Lügen
berichtet." Ich versetzte: „Es ist allerdings an dem, daß ich ihnen nicht
viel Wahrheit vorgesagt. Haben sie aber fürstlicher Durchlaucht das eine
berichtet, so werden sie auch ohne Zweifel das andere nicht vergessen haben,
daß ich stets und allezeit mich auf königliche Majestät und fürstliche Durch¬
laucht berufen und hierher nach Schweden gebracht zu werden begehrt habe,
um über meine Person so ausführlichen Bericht abzustatten, daß man hoffent¬
lich gnädigst damit zufrieden sein würde." >
Darnach frug mich, der Oberstkanzler der Krone Schweden, Herr Ricks
Guldenstern, ein feiner alter Mann von etwa 70 Jahren, wie ich heiße. Ich
antwortete: „Mein Name ist Erich Lassota von Steblau". Da fuhr er fort:
„Mein lieber Lassota, als ich in meiner Jugend zu Wittenberg studirte, habe
ich einen eures Namens und Stammes gar wohl gekannt; er ist mein ver¬
trauter Freund und Gesell gewesen, und es wäre mir von Herzen leid, wenn
es etwa mit euch einen schlechten Weg gehen sollte. Deshalb will ich treu¬
lich ermahnt und gebeten haben, daß ihr es zu keiner Gewaltthat kommen
laßt und gutwillig heraussagt, was eure Verrichtung in Moskau sein sollte".
Da fiel ihm der Herzog in die Rede: „Mein frommer Herr Guldenstern, er
mag sich wol nach einem ehrlichen Geschlecht nennen und doch ein Schelm
sein. Wißt ihr nicht, wie vor etlichen Jahren der Franzos gethan hat, der
sich hier im Land für einen Grafen ausgab, da er doch, wie wir nachher er¬
fuhren, nur ein Lakai gewesen?" Ich antwortete: „Ich wiederhole meine
gehorsamste Bitte, daß fürstliche Durchlaucht genau an den kaiserlichen Hof
schicke und Kundschaft wegen meiner Person einziehen lassen. Bin ich nicht
der, den ich mich nenne, oder weiß kaiserliche Majestät Nichts von mir, so
soll man nach höchster Ungnade mit mir procediren. Ueberdies sind auch
etliche schwedische Herren im Lande, und am Hofe deutsche Junker, welche
mich von Jugend auf gekannt haben." Da frug der Herzog: „Wer sind
diese schwedischen Herren?" Ich berichtete: „Herr Axel Löwenkopf (der mit
dem König und Herzog Geschwisterkind war), Herr Curo Bielke. Herr Erich
und Herr Johann Sparre." Der Herzog fragte, wo ich mit ihnen Kund¬
schaft gehabt. Ich meldete, daß ich sie in Italien gekannt. Darauf spricht
er: „In Italien! Ja die italienischen Praktiken gelten bei mir nichts." Und
das sagte er darum, weil diese Herren grade damals in Ungnade und Ver¬
haft waren. Darnach frug er, wer die Deutschen an seinem Hofe wären.
Ich vermeldete: „Ein Meißnischer von Adel, Georg Blank genannt, welchen
ich sammt seinem Bruder zu Leipzig kannte, da ich noch ein Knabe war und
dort studirte."
Der Herzog schwieg dazu still, und Herr Ricks Guldenstern fing wieder
an zu reden: „Es ist nichts Neues, daß man Legaten intercipirt. So hat
bei Menschengedenken der Vicekönig von Sicilien die französischen Gesandten,
welche nach der Türkei reisen wollten, gefangen und aufgehalten. Und weder
kaiserliche Majestät noch sonst Jemand würde es fürstlicher Durchlaucht ver¬
denken können, daß Sie in dieser Sache so fleißig nachforschen, weil ihr doch
in des Feindes Land, mit dem Sie in offenem Krieg stehen, betreten wurdet."
Indem fiel ihm der Herzog abermals- in die Rede und sagte: „Was meint
ihr, wenn ich gleich den Kerl henken lasse, der Kaiser würde seinetwegen
einen Krieg anfangen?" Ich ließ diese Rede des Herzogs vorübergehen und
antwortete Herrn Ricks Guldenstern auf seine Einrede: „Was der Herr
wegen der Legaten sagt, kann sich auf mich nicht beziehen, denn erstlich bin
ich kein Legat, dem etwas zu handeln und tractiren anbefohlen ist, sondern
bin nur mit Briefen herumgeschickt worden; dann aber sind jene, deren der
Herr gedacht, vom Feind zum Feinde gereist; ich aber habe zwar meine
Reise zu Ihrem Feinde angestellt, bin aber von keinem Ihrer Feinde dahin
geschickt worden. Und wenn ich etwas wider die Krone Schweden zu
handeln gehabt, hätte ich wol einen anderen Weg finden wollen, wo ich der
Gefahr nicht ausgesetzt war, in schwedische Hände zu fallen." Der Herzog
fragte, wie ich meinen Weg denn sonst hätte nehmen wollen. Ich ant¬
wortete: „Es sind der Wege nach Moskau gar viel, ich hätte leicht einen
finden können."
Nach diesem wurden noch mehrere Reden pro et contra, gewechselt, end¬
lich entließ mich der Herzog wieder mit der Drohung, wenn ich meine Ge¬
schäfte nicht gutwillig offenbaren würde, würde mir ein anderer Frager an
die Seite gestellt werden. Darauf antwortete ich im Hinausgehen: „Der
Teufel mag fortan Fürsten und Herren dienen, wenn einer mit dem Diener
des anderen also umgehen will." Nun bin ich wieder in die vorige Kammer
des Wachtmeisters begleitet worden.
Am 9. März kommt ein Wachtmeister zu mir und heißt mich in die
Kanzlei kommen. Er geleitet mich, mit einem Federspieß mir vortretend,
die zwei Schützen, die mich bewachten, mit ihren Rohren hinter mir. In der
Kanzlei finde ich den Marschalk. den Statthalter zu Stockholm, den deutschen
Secrerair Ambrosius Palm und Andere mehr. Da steht der deutsche Secre-
tair auf und zeigt mir im Namen des Königs an, Seine Majestät könnten
leicht abnehmen, daß meine Absenkung nicht auf so wenig, wie ich vorgegeben,
fundirt sei. und daß weit mehr dahinter stecke. Sie ließen deswegen noch
zum Ueberfluß einmal mich gnädigst ernähren, daß ich gutwillig bekennen
sollte, was ich in Moskau zu verrichten gehabt. Wenn ich aber ja nicht
wollte, wollten königliche Majestät mir hiermit angesagt haben, daß Sie
endlich entschlossen seien, ernstere und schärfere Mittel in die Hand zu neh¬
men und mit Gewalt von mir herauszubringen, was mit Liebe nicht sein
könnte. Ich antwortete: „Ich wäre der tröstlichen Zuversicht, königliche
Majestät werden als ein christlicher Potentat, dessen angeborene hohe Tugen¬
den ich weit und breit rühmen gehört, sich gnädigst eines Anderen resolviren
und nicht solche unbillige und in der Christenheit in solchen Fällen un¬
gebräuchliche Mittel in die Hand nehmen, sondern weil ich mich auf kaiserliche
Majestät berufe, Derselben zu Ehren, mir entweder gnädigst zu gönnen, Die-
selbe von meinem Zustand in Kenntniß zu setzen, oder aber sür Ihre Person
an königliche Majestät hinaus berichten und Derselben schreiben." Darauf
gab mir Olaf Schwerkerson zur Antwort, der König würde das nicht thun,
sondern sich an mich halten. Ich wandte ein, königliche Majestät würden
beherzigen, wie unparteiisch der Kaiser sich in den polnischen Händeln ver¬
halten, obwol Desselben Herr Bruder höchlich dabei interessirt gewesen.
Olaf Schwerkerson aber sagte: „Königliche Majestät werden nach allem die¬
sen nichts fragen. Denn wenn man der Sache auf den Grund geht, sind
eure Landsleute, die Schlesier. Anfang und Ursache aller dieser Mißhellig-
keiten." Ich antwortete: „Damals bin ich nicht im Lande, sondern in Italien
gewesen; ich weiß also nicht, ob sie so große Schuld haben, aber so viel weiß
ich, daß sie am Meisten Haare deshalb gelassen haben, denn in ihrem Lande
sind mehr als sechszig Dörfer und vier bis sechs Städtlein abgebrannt wor¬
den. Aber dies lasse ich helfen, und ich wiederhole die Bitte, daß die Herren
königlicher Majestät mein Gesuch vortragen." Darauf sagte Olaf wieder,
damit dürften sie dem Könige nicht kommen, denn er würde fragen, ob sie
rasend wären, daß sie meinen Fabeln glaubten. '
Der Marschall sepe Rebinck redete auch dazu: „Wir bezeugen bei Gott,
daß unter uns Keiner ist, dem es nicht nahezu leid thut, daß königliche Ma-
jestät entschlossen ist. solche Mittel und Wege gegen Euch zu gebrauchen,
aber wir können es ja nicht wenden/' Ich antwortete: „Ich weiß, daß noch
ein gerechter Gott im Himmel lebt, der solche Unbill rächen und mein un¬
schuldiges Blut von dem Könige fordern wird, aber damit ich nicht so
schändlich um mein Leben komme, und zu einem Verräther an mir selbst
werde, so bitte ich die Herren noch einmal bei Gott und Christenliebe, daß
Sie meinen Wunsch dem Könige doch vortragen und anzeigen wollen, zumal
mir nicht gestattet wird, bei demselben mich selbst zu vertheidigen. Darauf
sagte mir der Marschalk zu. er für seine Person wollte königliche Majestät
dies gern melden, aber er wüßte nicht, ob es etwas helfen werde. Bis auf
künstigen Montag solle ich Frist haben, dann möge ich mich versehen, daß sie
mit der Schärfe und strengen Frage mir zusetzen würden. Mit diesem Bescheide
ließen sie mich in mein voriges Logement geleiten. Wie aber mir diese zwei
Nächte über zu Muth gewesen, das weiß allein Gott und ich. Jedoch habe
ich mich mit Geduld darein ergeben und dem Allmächtigen Alles anheim ge¬
stellt. Und Er, der die Herzen der Könige in seinen Händen hält, hat
solches gnädig gewendet und dem Könige einen anderen Sinn eingegeben,
denn ich bin an dem mir damals gestellten Termin nicht vorgefordert und
gefragt worden, und auch die ganze übrige Zeit meines Gefängnisses nicht,
welches von äato ab länger als zwei Jahre währte. Wie ich aber später,
da ich auf freiem Fuße war, von den beiden Secretären berichtet wurde,
hat es damals sehr gefährlich mit mir gestanden, und sie selbst haben nie¬
mals erfahren können, was den Sinn des Königs gewendet hat."
So weit der Bericht des Erich Lassota. Unsere Theilnahme an demselben
wird zunächst durch das Verhalten und die Gemüthsstimmungen des Mannes
in Anspruch genommen. Die politische Sittlichkeit jener Zeit war nicht ganz
die unsere. Die Erfindungskraft, mit welcher Erich immer wieder die
Schweden zu belügen sucht, würde in unserer Zeit einem Mann von Ehre
übel anstehen; sie galt aber damals für ebenso in der Ordnung, als die
Drohungen mit der Tortur, welche die Schweden anwandten, um ihn zum
Geständniß zu bringen. Doch versöhnend wirkt auf unsere Empfindung die
Energie der Treue und die Achtung, welche diese den Feinden einflößte.
Daß Erich die Geheimnisse seines Herrn nicht verräth, verschafft ihm die
Theilnahme der Hoflei'te, welche offenbar die Empfindung haben, daß er
nur thut, was in ähnlichem Falle auch ihre Pflicht wäre, sie erzwingt zu¬
letzt auch die Nachsicht des Königs und seines Bruders, und die zornigen
Worte, welche der bedrängte Lassota dem Bruder des Königs entgegenwirft:
„Wird man so behandelt, dann mag der Teufel Fürstendiener sein", hat
wahrscheinlich die Herrschenden daran erinnert, daß ihr eigener Vortheil ge¬
biete, in solchem Fall über ein gewisses Maß von Zorn nicht hinauszugehen.
Auch Anderes an diesem Abenteuer ist lehrreich- die Gefahren diploma¬
tischer Agenten und die Schwierigkeit, eine Botschaft in fremde Lande zu
bringen, vor Allem die politische Stellung Schwedens zum Kaiser und deut¬
schem Reiche. Schon vierzig Jahre vor Gustav Adolf's Landung besteht der
feindliche Gegensatz zwischen germanischem Norden und habsburgischer Politik
in stärkster Spannung, schon damals ist Schlesien ein Stein des Anstoßes, und
es erscheint wie providentiell, daß wieder Schlesien es ist, welches noch im
18. Jahrhundert die letzte segensreiche Einwirkung der schwedischen Macht auf
die Schicksale Deutschlands erfährt, damals als Karl XII. den evangelischen
Schlesiern vor dem Frieden von Altranstädt 1706 Rettung brachte. Wir ver¬
mögen jetzt als eine sehr merkwürdige und gnadenvolle Fügung zu erkennen,
daß in einer Zeit, in welcher die Hohenzollern noch nicht im Stande
waren, den großen Kampf deutscher Nationalität gegen die Habsburgische
Universalmonarchie und die Jesuiten aufzunehmen, die Fürsten der Gothen-
stämme in Schweden durch ihr eigenes Interesse veranlaßt wurden, diesen
Kampf zu beginnen. Der große Kurfürst war der Neffe Gustav Adolf's,
durch ihn ging die Führerschaft in diesem großen Entwickelungskampfe
auf Brandenburg über. Die Hohenzollern wurden die Erben der schwedi¬
schen Interessen auch an der Ostseeküste; Friedrich II. setzte siegreich
den Kampf um Schlesien fort; die Kämpfe der jüngsten Vergangenheit ent¬
schieden die nationale Selbständigkeit der deutschen Politik. Aber auch gegen
Rußland ist Preußen der Erbe Schwedens geworden, und zu den Pflichten
und Lasten unserer Zukunft gehört auch der Schutz des germanischen Ele¬
mentes längs der entfernten Küste, von welcher Erich Lassota das Reich
Mostow zu erreichen suchte.
Als Lassota nach dreijähriger Gefangenschaft nach Oestreich zurückkehrte,
wurde seine erprobte Treue vom Kaiser zu neuen schwierigen Aufträgen ge¬
braucht bei den zaporogischen Kosaken, in Ungarn. Im Jahre 1611 wurde
der vielgeprüfte Mann kaiserlicher Rath. Ueber seine letzten Lebensschicksale
ist Nichts bekannt.
An den deutschen Küsten. Nordsee und Ostsee verstanden, sind im
Jahre 1868 im Ganzen IIS Schiffe verunglückt, gegen 128 im Jahre 1867
und 81 im Jahre 1866. Darunter waren 66 deutsche und 60 fremde, —
Si eigentliche Seeschiffe und 64 Küstenfahrer. nachweislich verunglückten
auf ihnen 574 Menschen, von denen 547 nachweislich gerettet wurden, sodaß
27 nachweislich umgekommen sind. Von den erwähnten 547 Schiffbrüchigen
retteten 257 sich selbst, 130 wurden von der See her durch andere Schiffe
gerettet, 92 durch allerhand Hilft vom Lande her, und 68 endlich durch
Rettungsstationen, 67 durch Boote derselben und 1 durch ein Rettungs¬
geschütz. Im Jahre 1867 sind 128 und im Jahre 1866 141 Personen durch
die Rettungsstationen geborgen worden; während im ersteren Jahre 81, im
letzteren 31 Leute nachgewiesener Maßen umkamen.
Es ist folglich immer noch ein sehr dringendes Gebot der Menschenliebe
und des Nationalgefühls, daß den Bestrebungen zur Errettung armer Schiff¬
brüchiger der öffentliche Geist in Deutschland thätig zugewandt bleibe. Der
Menschenliebe, — denn man muß doch wol sagen, daß bei hinreichender Be¬
setzung der ganzen Küste mit wohlbedienten und zweckmäßig ausgestatteten
Stationen die Zahl von durchschnittlich 46 nachgewiesenen Todesfällen jähr¬
lich noch zusehends weiter verringert, der Null nahe gebracht werden mag;
— aber auch des Nationalgefühls, da unter den verunglückten 324 Schiffen
im Laufe der letzten drei Jahre nicht weniger als 163, also die reichliche
Hälfte fremde gewesen sind, und zwar u. A. 56 britische, 4 holländische,
12 dänische, 4 französische, d. h. Schiffe aus Ländern, an deren Strand sich
dem deutschen Schiffbrüchigen eine hilfreiche Hand entgegenstreckt, sodaß
ihre Angehörigen von einer so gebildeten, mildegesinnten und vermögenden
Nation wie der unseligen wol erwarten dürfen, es werde ihnen im Falle ent¬
sprechenden Unglücks Gleiches geschehen.
.Gegenwärtig bestehen in Allem 61 Stationen, 22 an der Nordsee und
39 an der Ostsee; die 22 Nordseestationen verfügen über 23 Rettungsboote,
5 Mörser- und Raketenapparate, die 39 Ostseestationen über 37 Boote,
43 Geschützapparate. Die Boote sind theils nach dem amerikanischen Modell
von Francis, theils nach dem englischen von Peale gebaut. Außerdem ist
in einem einzelnen Falle das dänische Modell von Bonnessen benutzt, und
liegen selbständige deutsche Formen vor von Devrient, Kraus, Ludwigs,
Nüschke und Eggers. Ein Modell von Petersen in Hadersleben, das auf
der letzten Versammlung der deutschen Rettungsgesellschaft in Rostock aus¬
gezeichnet wurde, findet bei den Technikern Beanstandung. Das Musterboot
kann man wol sagen, das die verschiedenen in Betracht kommenden Forde¬
rungen, wie Leichtigkeit für den Transport bis zum Wasser, sichere Ueber¬
windung in der Brandung, Selbstentleerung nach dem Vollaufen, Selbst¬
aufrichtung nach dem Umschlagen u. s. w. sämmtlich vollkommen erfüllte,
bleibt noch zu construiren. Auch taugt in Zukunft vielleicht nicht dasselbe
Boot für jede Art von Strand.
Die Geschützapparate werden bekanntlich in der Weise wirksam, daß aus
einem Mörser am Lande eine Rakete über das gestrandete Schiff hin ge¬
schleudert wird, welcher eine starke Leine folgt. Aufgabe des Schiffsvolks
ist es, diese Leine irgendwo auf dem Deck des Wracks zu befestigen, damit
daran der Rettungskorb nachgezogen werden kann, in welchem sich die Ver¬
unglückten einzeln ans Land holen lassen sollen, — eine oft recht nasse, aber
im Ganzen doch ziemlich sichere Procedur. Nur Schade, daß noch immer
viele Schiffsmannschaften nicht wissen, was sie von der anhäufenden Rakete
denken und mit der ihr folgenden Leine machen sollen! Die deshalb er¬
lassenen vielfachen Bekanntmachungen, zu denen auch die Hilfe von Behörden
in Anspruch genommen worden ist. sind gewiß nicht vergeblich gewesen, aber
nach wie vor hindert die Unkenntnis; häufig, daß dieses sinnreiche Rettungö-
Mittel seinen Zweck erreicht. Man erkennt das schon statistisch an dem Mi߬
verhältniß zwischen der Zahl der existirenden Raketenapparate und der Zahl
der durch sie vermittelten Rettungen, wenn auch der Spielraum des unmittel¬
bar zu Wasser gehenden Boots selbstverständlich weiter ist. Die Raketen¬
apparate verhalten sich zu den Rettungsbooten gegenwärtig wie 48 zu 60;
die Raketenrettungen zu den Bootsrettungen im Jahre 1868 wie 1 zu 67,
1867 wie 49 zu 79, 1866 wie 19 zu 122.
Es ist daher tröstlich wahrzunehmen, wie der erfinderische Geist des
Jahrhunderts nicht müde wird, neue wirksamere Instrumente und Methoden
zur Rettung der Menschen von untergehenden oder gescheiterten Schiffen aus-
zusinnen. Im Laufe des vorigen Jahres hat besonders das amerikanische
sogenannte Monitor-Rast oder Rettungsfloß große Aufmerksamkeit erregt,
als es sich in Bremerhaven dem Publikum sowol wie insbesondere auch den
an der unteren Weser ansässigen Sachkennern zeigte. Aus einem solchen
Floß ist der Kapitän John Milch (Johann Meigs). ein geborener Danziger.
zwischen dem 12. Juni und dem 26. Juli 1867 schon über die ganze Breite
des atlantischen Oceans von Newyork nach Southampton geschwommen,
um die Erfindung auf der pariser Weltausstellung zu produciren.
In Amerika werden diese Boote in Massen angefertigt als eine Zugabe
für Passagierschiffe, denen sie sich besonders durch ihr bequem unterzubrin¬
gendes Format empfehlen. Ausgerollt nehmen sie nicht mehr als 9 Fuß
Länge und 5 Fuß Durchmesser ein; in jedem Paar der bekannten Hängevor¬
richtungen auf Seeschiffen, welche man Davids nennt, können ihrer drei auf
einmal hängen. Trotzdem brauchen vier Mann nicht mehr als sechs Minu¬
ten, um das aufgerollte Floß dienstbereit zu machen. Seine wahrscheinliche
hohe Brauchbarkeit für Rettungszwecke beruht darauf, daß es niemals um¬
schlägt und niemals sich mit Wasser füllen kann, bei seiner Leichtigkeit (es
besteht aus Segeltuch und Kautschuk) auch von den Wogen nur gehoben,
so gut wie niemals überschüttet wird, bei der Elasticität seines Stoffes von
den'unvermeidlichen Stößen gegen das Wrak Nichts zu fürchten hat, bei
seinem geringen Tiefgang (1 Fuß) über die flachsten Stellen hinwegkommt.
Stehen und gehen läßt sich aus ihm allerdings kaum; man liegt und kriecht,
indem man sich an überall angebrachten Tauen hält. Wasserblase gekleidet
muß man ebenfalls schon sein. Der Gebrauch von Segel und Rudern ist
nicht völlig ausgeschlossen. In Bremerhaven, wie gesagt, war im vorigen
Spätsommer der Beifall allgemein, im laufenden Frühjahre werden zweck¬
mäßig angestellte Experimente ergeben müssen, ob und inwiefern das interessante
neue Rettungsmittel sich sür die Verhältnisse an unseren Küsten empfiehlt.
Zur Lösung solcher und ähnlicher Aufgaben hat sich die deutsche Ret¬
tungsgesellschaft neuerdings in Kapitän Steengrafe aus Vegesack einen tech¬
nischen Inspector zugelegt, wie das schon bei ihrer Gründung zu Kiel im
Mai 1863 vorgesehen war. Die eigentliche Führung der Geschäfte der Ge-
sellschaft aber ist nach wie vor in der thätigen und vielgewandten Hand ihres
Generalsecretärs, des Syndicus der bremer Handelskammer or. H. A. sehn>
nacher; das Centralbureau im Haus Schütting auf dem Markt zu Bremen,
wo die dortige Handelskammer ihr Hauptquartier hat, die der Rettungsgesell¬
schaft den erforderlichen Raum unentgeltlich zur Verfügung stellt. Der Prä¬
sident, Consul H. H. Meier, bewährt seine notorische Energie bei außer¬
ordentlichen Gelegenheiten, wie z. B. als es den König von Preußen zum
Protector zu gewinnen oder durch eine Anzahl großer Beiträge (je 1000 Thlr.)
ein Grundcapital zu bilden galt.
Die Bedenken, welche bei der Gründung der Gesellschaft gegen die ver¬
meinte Kostspieligkeit, Weitläufigkeit und verhältnißmäßige Ueberflüssigkeit
des Apparats einer sörmlich dotirter ständigen Centralstelle laut wurden,
sind jetzt verstummt. Erst der Urheber der Gesellschaft, or. Emminghaus
(jetzt Professor am Polytechnicum zu Karlsruhe), dann or. Schumacher
haben die Vorzüglichkeit nationaler Centralisation auf diesem Felde durch
die That erwiesen. Wer hätte z. B. ohne ein zweckmäßig geleitetes Central¬
bureau das deutsche Rettungswesen im Sommer 1867 auf der pariser Welt¬
ausstellung neben dem englischen und dem französischen Rettungswesen re-
präsentiren sollen, wer die regelmäßigen Sammlungen im Binnenlande so
zahlreich veranlaßt, ihre Erträge so richtig über die ganze deutsche Küste ver¬
theilt? Ja wie wäre selbst das wünschenswerthe Zusammenwirken der Küsten-
Vereine, obschon freilich auch in losernen Formen denkbar, so fest zu ordnen
und so gut zu leiten gewesen? Man braucht auf diese Fragen heute nicht
gründlicher einzugehen, denn sie werden 'allenthalben übereinstimmend be¬
antwortet.
Die deutsche Gesellschaft zur Rettung Schiffbrüchiger zählte im Jahre
1867—1868 gegen 1ö,000 Mitglieder mit etwa 16,000 Thaler Beiträgen.
Bis zum 1. Februar 1868 waren für das am 31. März schließende Vereins¬
jahr in Bremen angemeldet 17,329 Mitglieder mit 18,417 Thlr. Beiträgen,
wonach die Gesammtziffer der Mitglieder für 1868—1869 auf nicht weniger
als 20,000 veranschlagt werden kann. Die Zahl hätte sich also im Laufe
eines Jahres abermals um ein volles Drittel gehoben. An einmaligen Gaben
waren während derselben Frist bis Mitte März direkt in die Centralkasse
4154 Thlr. geflossen. Theils mit einmaligen, theils mit jährlichen Gaben
hatten sich die Handelskammern zu Rostock, Lübeck, Bochum, Gera, Augs¬
burg, Bocholt und Gießen betheiligt, ebenso die Freimaurerlogen in Berlin,
Bremen, Bremerhaven, Hamburg, Oppenheim und Worms.
Von den älteren Bezirksvereinen entwickelten während des letzten Jahres
eine hervorragende Thätigkeit die zu Karlsruhe, Köln, Elberfeld - Barmer,
Magdeburg, Kiel und Wilster. Neu traten der Gesellschaft bei die Orte
Crefeld, Emden und Stralsund — letztere beide früher schon bestehend als
selbständige Rettungsvereine; während zu Berlin, Hannover, Altona, Mar¬
burg und Dessau Bezirksvereine in der Bildung begriffen sind. In Berlin,
dessen Boden lange sür den Samen dieser humanen Propaganda starr zu sein
schien, hat ein Vortrag in der Singakademie, den der um das Rettungs¬
wesen verdiente Corvettenkapitän Werner in Gegenwart der Majestäten ge¬
halten hat, das Terrain hoffentlich hinreichend aufgelockert. Neue Vertreter¬
schaften, d. h. Geldsammlungen, Mitgliederverbände und Flugblätter ver¬
breitende Agenturen ohne förmliche Vereinsorganisation sind in M. Gladbach,
Rheydt, Grevenbroich, Rudolstadt, Aetzen, Einbeck und Meinberg (Lippe-
Detmold) gewonnen worden.
Der Anschluß Enden's und Stralsund's, ersterer schon im Sommer auf
der Jahresversammlung der Gesellschaft zu Rostock erfolgt, letzterer im Spät¬
herbst, hat besondere Bedeutung. Als die deutsche Rettungsgesellschaft auf
einer Versammlung von Abgeordneten der bereits bestehenden örtlichen Ver¬
eine und von sonstigen Freunden der Sache gegründet wurde, konnten die
Vereine zu Emden (für ganz Ostfriesland), Hamburg und Stralsund sich
nicht entschließen, ihre Sonderstellung und Unabhängigkeit der nationalen
Einheit zu opfern. Auch als ihre Gründe und Vorwände gegen die ihnen
angesonnene Unterordnung durch die Praxis entkräftet wurden, zögerten sie
noch; sie wollten natürlich nicht gern bekennen, sich geirrt zu haben, ihren
Partikularismus lieber nicht eingestehen. Am Entschuldbarsten war die
Sonderbündelei bei dem ostfriesischen Verein, der der älteste, thätigste und er¬
folgreichste von allen gewesen war, wenigstens bis zu der politischen Kata¬
strophe von 1866, insofern der König Georg von Hannover ihn direkt und
indirekt begünstigte, was natürlich bei dem Eintritt in einen nationalen Or¬
ganismus auf der Stelle ein Ende genommen hätte. Aber auch nach der
Einverleibung Hannovers in Preußen fanden die sonst so gut national¬
gesinnten Ostfriesen den doch sehr naheliegenden Entschluß nicht, in der
deutsche Rettungsgesellschaft aufzugehen. Ja sie versuchten sogar noch, als
im November 1863 der Nationalverein aufgelöst wurde, aus dessen Erb¬
schaft eine Summe Geldes zur Erhaltung ihrer Sonderstellung zu erlan¬
gen. Selbstverständlich glückte ihnen dies nicht; die Stellung der natio¬
nalen Gesellschaft befestigte sich, der ostfriesische Verein sah seine Wirksamkeit
durch die Geringfügigkeit seiner Geldmittel beschränkt, und da man ihm von
Bremen aus mit Zugeständnissen an seine freie Bewegung entgegenkam, er¬
klärte er endlich ein Jahr nach dem Kasseler Beschluß,, der die Unterstützung
des Partikularismus im Rettungswesen aus Nationalvereinsmitteln ablehnte,
seinen Eintritt als Bezirksverein. Daß es vorläufig versuchsweise auf fünf
Jahre geschehen sein soll, mag als Beruhigungsphrase für den stark aus¬
geprägten Provinzialpartikularismus der Ostfriesen gut sein, hat aber auf
das Verhältniß zu der Gesellschaft keinen Einfluß.
So bleibt denn nur noch Hamburg zurück, das niemals auch nur die
Elbmündung mit Rettungsanstalten hinlänglich hat ausrüsten können, und
doch sich noch von der nationalen Organisation abseits hält, welche ihm darin
nachgeholfen, die gefährlichen schleswigschen Inseln mit Booten und Ge¬
schützen versehen hat. Ein beschämendes Zeugnis von der Macht der Eifer¬
sucht, welche in Hamburg auf Bremen (als Sitz der Rettungs-Gesellschaft)
herrscht, und welcher die dortigen verständigen und patriotischen Geister in
dieser Richtung noch nicht haben Herr werden können. Wir sind begierig
zu sehen, ob auch auf der nächsten Jahresversammlung, welche im Mai zu
Bremen stattfindet, die Vertreter Hamburgs noch nicht ermächtigt sein
werden, ihren Eintritt auszusprechen, sondern wiederum nur, die Einzigen
und Letzten, als Halb-Fremde theilnehmen werden. Sollte man auf diese
Weise glauben, desto sicherer die Führerschaft an sich zu ziehen, so wird der
Erfolg der Spekulation schwerlich Recht geben. Ein früherer, rechtzeitiger
und eifriger Anschluß würde es vielleicht'von selbst mit sich gebracht haben,
daß der Sitz der Gesellschaft jetzt auf Hamburg überginge; so wie die Dinge
liegen, könnte ein derartiger Beschluß nur auf Kosten einer gesicherten Fort¬
führung der Sache im hingebenden patriotischen und sachverständigen Geiste
gefaßt werden.
Zu der in Nro. 10 der „Grenzboten" gebrachten Besprechung des Lebens
Michelangelo's darf ich mir wol erlauben, einige Erläuterungen zu geben
1) Niccolo Valori wurde bekanntlich zum Tode verurtheilt, auf Ver¬
wendung seines Neffen Bartolomeus jedoch zu lebenslänglichem Gefängniß
begnadigt. Der geehrte Recensent wolle darüber etwa Mräi, Istoiie I,. VI.,
0. XVI. nachsehen.
2) Die Frage über Entstehung von San Miniato bei Florenz ist aller¬
dings eine schwierig zu lösende. Grundplan, innerer Ausbau, Faxade, Glocken¬
thurm gehören verschiedenen Jahrhunderten an. Alles in Allem genommen,
bildet diese Kirche ein Ganzes jedoch, für das sich die Bezeichnung „beste
hohenstaufische Zeit" schon deshalb empfahl, weil sie nur auf die Zeit
hinwies, welche dem Gebäude ihren Hauptstempel aufgedrückt hat. Der ge¬
ehrte Recensent schöpft, wie sein umfangreiches Citat zeigt, seine Ansichten
aus Schnaase's Arbeiten. Wollte er doch einmal auf Autoritäten gehen,
statt die Sache auf die Quellen hin zu erörtern, so würde ihm Burckhard
(Neue Ausgabe von Kugler, Band IV., p. 23) besser zu statten gekommen
sein. Jedenfalls ist der Faxadenbau von 1207, wie Burckhard annimmt, als
Mitte der in San Miniato sich darstellenden architektonischen Thätigkeit zu
betrachten.
3) Die Wandseiten der Capelle von San Lorenzo, an welchen Michel¬
angelo's Sarkophage mit den Figuren stehen, haben die vom geehrten Re¬
censenten bei meiner Darstellung vermißten Thüren gar nicht. Eines Zurück¬
gehens auf Erinnerung bedarf es hier nicht, da überall leicht erreichbare
Photographien die Architektur genau so erscheinen lassen werden, wie ich sie
beschrieben.
4) Das diese Wandseiten durchschneidende architektonische Glied ist ein
sehr charakteristisch ornamentirter Fries. Daß derselbe mit einem Gesims
nach oben abschließen muß, läßt meine Beschreibung vollständig erkennen.
5) Ein Index wäre zu umfangreich geworden. Das Buch eignet sich
nicht zu einer registrtrten Aufzählung seines Inhaltes.
6) Die betreffende Literatur (ältere wie neuere) ist bei dieser wie bei
den vorhergehenden Auflagen auf das Sorgfältigste benutzt worden. Jedoch
natürlicherweise nur da, wo sie neues Material darbot. Sollte mir
etwas entgangen sein, so würde ich specielle Nachweise, welche der geehrte
Recensent leider nicht gibt, dankbar annehmen und berücksichtigen.
Mit der Bitte um Abdruck des Vorstehenden in Ihrem geschätzten Blatte
Dieses Buch enthält eine Sammlung der auf die Beschlagnahme-Angelegenheit be¬
züglichen Aktenstücke sowie der stenographischen Berichte über die Verhandlungen beider
Häuser des preußischen Landtags. Die Aktenstücke sind in dem ersten Capitel des
Buchs „die Comniissionsverhandlnngen" enthalten und umfassen die Antworten des
holländischen Justizministers Borrel auf die bekannte Dnllertsche Jnterpellation, die auf¬
gefangenen Briefe verschiedener hannöverscher Legionäre, ein Schreiben des Grafen
Wedell an seine Gattin, den Wortlaut der Beschlagnahme-Verordnung vom 2. März
v. I., sowie die sämmtlichen zu der Regierungsvorlage gestellten Amendements der
Commissionsgliedcr. In Sachen der gegen den Kurfürsten erlassenen Maßregel sind
mitgetheilt: das kurfürstliche Denkschreiben vom 6. Januar v, I,, das an den Grafen
Bismarck gerichtete Schimmelpfennig'sche Schreiben vom 9. März v, I, die Haupt¬
stellen der in Hessen ausgestreuten revolutionären Proklamationen, und das Schreiben,
welches bei Uebersendung der bekannten „Denkschrift" seitens des Cabinetsraths Schimmel¬
pfennig an die preußische Negierung gerichtet worden. Außerdem enthält dieser Ab¬
schnitt ein genaues Referat über die Erklärungen, welche der Minister-Präsident in der
Commission gegeben hat. Der zweite Abschnitt hat es mit den Plenarverhandlungcn
im Abgeordnetenhause zu thun, theilt sämmtliche Reden nach der stenographischen Auf¬
zeichnung mit und umfaßt 114 Druckseiten; die am 29. Januar gehaltene Rede des
Abg. v. Windthorst-Meppen ist allein über einen Druckbogen stark. Am Schluß des
Buchs folgen dann die Commissionsverhandlungcn deS Herrenhauses (27 S.) und der
Bericht über die Verhandlungen im Plenum (33 S.)
Für die Partikularistische Presse und einen ziemlich bedeutenden Bruchtheil der
östreichischen Journalistik ist die Beschlagnahme-Angelegenheit das einzige Ereigniß im
parlamentarischen Leben Preußens gewesen, das während des letzten Winters mit wirk¬
licher Aufmerksamkeit behandelt worden ist. Die Klagen über den vermeintlichen
„Rechtsbruch" und die Absichtlichkeit, mit welcher die Negierung im vorigen Jahre
reichlich donirt habe, um in diesem Jahre ebenso reichlich confisciren zu können, sind
weder in der bezahlten welfischen Presse, noch in den unabhängigen Organen des
Partikularismus (z. B. den historisch-politischen Blättern, welche den Verhandlungen
vom 29. und 30. Januar einen sehr ausführlichen Artikel B. 63. H. 4 gewidmet
haben) verstummt und werden noch gegenwärtig zu Nutz und Frommen des Legitimismus
von Zeit zu Zeit i« Leitartikeln paraphrasirt. Grade diese Publizisten, welche aus¬
führliche Erörterungen der Beschlagnahme-Angelegenheit gebracht haben, bevor das
vollständige Material über dieselben vorlag (die hist. volle. Blätter beklagen den Mangel
stenographischer Berichte ausdrücklich), würden wohl daran thun, das vorliegende Buch
ihrer näheren Bekanntschaft zu unterziehen, demgemäß ihre bisher ausgesprochenen Ur¬
theile zu revidiren, und dann erst in xerpEw^in rei msmori-rin zu reden. Bei
einiger Gewissenhaftigkeit wird es dann wenigstens nicht mehr möglich sein, der preuß.
Regierung den Vorwurf zu machen, sie sei der Rechtsfrage vollständig aus dem Wege
gegangen, und habe ohne jede Rücksicht auf dieselbe und unter ausschließlicher Berufung
auf Gründe der Zweckmäßigkeit gehandelt.
Vom Verfasser ist im Jahre 1861 ein Buch über Dante erschienen, das eine
Reihe von Abhandlungen, aus populären Vorträgen hervorgegangen, enthielt, und
einen Nomanzcnkranz, der das Leben Dante's, seine Zeit und sein Gedicht in selbstän¬
diger poetischer Production zum Gegenstand hatte. Auch die jetzt erschienene Schrift
ist zwiefachen Inhalts. Sie gibt in fünf Abhandlungen einen Commentar zu den
zwei ersten Gesängen, der bei dem Inhalt dieser Introduction der göttlichen Komödie
zu einem Commentar des ganzen Gedichts wird, sodann aber Proben einer neuen
Verdeutschung. Die Abhandlungen zeigen, wie sehr seit jener ersten Publication die
Studien des Verfassers gereift und die Resultate fremder Forschung selbständig von ihm
verarbeitet sind. Erschöpfend scheint uns insbesondere die Ausführung über Virgil, welche
zugleich die Vermuthung begründet, daß die Beziehung Virgil's auf das Kaiserthum,
und damit wol überhaupt die ghibellinische Tendenz des Gedichts nicht in dessen ur¬
sprünglicher Anlage gelegen, sondern erst in späterer Bearbeitung in dasselbe hinein¬
getragen worden sei. Den Hauptwerth möchten wir indeß auf die Uebersetzung legen.
Die deutsche Lesewelt ist in den letzten Jahren so viel mit Danteübersetzungen behelligt
worden, daß dem Bedürfniß mehr als Genüge gethan scheint, und jeder neue Versuch
Gefahr läuft, mit einem theilnehmenden Seufzer abgewiesen zu werden. Die gegen¬
wärtige Uebersetzung hat aber Vorzüge, welche sich gegen jedes Vorurtheil siegreich be¬
haupten. Vor Allein ist sie wieder ein Versuch, die strenge Form der Terzine (nur
mit der gerechtfertigten regelmäßigen Abwechslung weiblicher und männlicher Reime) im
Deutschen festgehalten. Dieser Formtreue haben sich seit Streckfuß alle neueren Ver¬
suche auf die eine oder andere Weise entschlagen, und doch ist nur die Reimfolge der
Terzine im Stande, den poetischen Eindruck des Originals im Deutschen wiederzugeben.
Der Uebersetzer stellt sich damit freilich eine Aufgabe, der bei vollkommener Herrschaft
über die Sprache nur eine bedeutende dichterische Kraft gewachsen ist, und auch ihr
wird es nicht möglich sein, alle Schwierigkeiten in gleicher Weise zu bemeistern.
Notker's UebeH'tzung -steht aber an poetischem Geschmack, an flüssiger, ungezwungener
Diction nicht blos über^denjenigen Verdeutschungen, welche sich die Aufgabe ebenso
hoch gestellt haben, sondern' sie ist dabei zugleich von einer Treue, daß sie selbst den
reimlosen Uebertragungen im Anschluß an das Original wenig nachgibt. Es ist wirk¬
lich eine höhere Stufe, welche die an Dante so vielversuchte Uebersetzungskunst hiermit
erreicht. Außer den zwei ersten Gesängen ist noch eine weitere Anzahl ausgewählter
Stücke aus der Hölle und dem Fegfeuer in der Uebersetzung mitgetheilt. Da laut
dem Vorwort die Uebersetzung des gesammten Gedichts vollendet ist, steht zu hoffen,
daß die ganze Arbeit, ein Werk hingebendsten Fleißes, nicht lange der Öffentlichkeit
vorenthalten bleibt.
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