Namensnennung 4.0 International (CC BY 4.0)
Fraktur
Bogensignaturen: gekennzeichnet; Druckfehler: dokumentiert; fremdsprachliches Material: nicht gekennzeichnet; Geminations-/Abkürzungsstriche: keine Angabe; Hervorhebungen (Antiqua, Sperrschrift, Kursive etc.): nicht ausgezeichnet; i/j in Fraktur: keine Angabe; I/J in Fraktur: Lautwert transkribiert; Kolumnentitel: nicht gekennzeichnet; Kustoden: keine Angabe; langes s (ſ): als s transkribiert; Normalisierungen: keine Angabe; rundes r (ꝛ): keine Angabe; Seitenumbrüche markiert: ja; Silbentrennung: aufgelöst; u/v bzw. U/V: keine Angabe; Vokale mit übergest. e: keine Angabe; Vollständigkeit: vollständig erfasst; Zeichensetzung: wie Vorlage; Zeilenumbrüche markiert: nein;
]]>Wilhelm Raabe wurde am 8. Sept. 1831 zu Eschershausen im Herzogthum Braunschweig geboren, besuchte die Schule zu Stadtoldendorf, Holzminden, und Wolfenbüttel und trat bei einem Buchhändler in Magdeburg in die Lehre. Aber unbefriedigt von diesem Beruf, entschloß er sich im Jahre 1854 nach Berlin zu gehen und an der Universität noch ein volles Triennium seiner Bildung zu widmen. Hier begann er im Winter 1854 „Die Chronik der Sperlingsgasse“ zu schreiben, die dann erst 1857 erschien, aber mit Einem Schlage allem Zweifel über den Beruf ihres Verfassers ein Ende machte. Nach seiner Verheirathung im Jahre 1862 übersiedelte Raabe nach Stuttgart, welches er 1870 verließ, um in Braunschweig seinen Wohnsitz zu nehmen.
Auf jenes Erstlingswerk des dreiundzwanzigjährigen Studenten ist eine große Reihe von Novellen und Romanen gefolgt. (Ein Frühling — zweite umgearbeitete Ausgabe 1872; — Die Kinder von Finkenrode, 1859; — Der heilige Born. Blatter aus dem Bilderbuch des 16. Jahrhunderts. 2 Bände. 1861; — Nach dem großen Kriege. Eine Geschichte in zwölf Briefen. 1861; — Unseres Herrgotts Canzlei. 2 Bände. 1862; — Die Leute aus dem Walde. Roman. 3 Bände. 1863; — Der Hungerpastor. 3 Bände. 1861; — Drei Federn. 1865; — Abu Telfan, oder die Heimkehr vom Mondgebirge. 3 Bände 1868; — Der Schüdderump. 3 Bande. 1870, — Der Dräumling. 1872; — Christoph Pechlin. Eine internationale Liebesgeschichte. 2 Bände. 1873; — Meister Autor oder die Geschichte vom versunkenen Garten. 1874. — Ferner die Sammlungen von Erzählungen, Skizzen u. s. w.: Halb Mähr, halb mehr, 1859; — Verworrenes Leben. 1862; — Ferne Stimmen. 1865; — Der Regenbogen. 1869; — Deutscher Mondschein. 1873.)
Der liebenswürdige Humorist, dem die kleine Welt der „Sperlingsgasse,“ bald zu enge wurde, hat seitdem in mancherlei Orten und Zeiten sich heimisch gemacht und in seinen Romanen eine Fülle höchst lebendiger Culturbilder, meist aus dem Jahrhundert des großen Krieges, aufgerollt, die Lei Weitem noch nicht nach ihrem vollen Werthe anerkannt sind. Denn freilich fehlen ihnen die künstlichen, auf die Masse berechneten Effecte, die sentimentalen oder tendenziösen Schlaglichter und die großen Namen der landläufigen geschichtsfalschenden „historischen Romane“, während die feinen Züge des Humors, die Wilhelm Raabe's Figuren umspielen, die barocken und phantastischen Arabesken, die sich um die Handlung ranken, nicht in die Ferne zu wirken pflegen. Um den letzten, durchschlagenden Wurf zu thun, ohne sich selbst untreu zu werden, wäre dem Dichter nur ein Stoff zu wünschen, der ihn nöthigte, nicht nur charakteristische Genrebilder und bedeutsame Portraits hinzustellen, sondern an einigen typischen Gestalten seinen Humor zur vollen Höhe sich auswachsen zu lassen. Seinen Siebenkäs, seinen Münchhausen ist er uns noch schuldig: ein Werk, mit andern Worten, das sich mit unverwischbaren Zügen dem Gemüth und der Phantasie seines Volkes einprägte und von dem Namen des Dichters hinfort unzertrennlich wäre.
Als das heilige römische Reich noch aufrecht stand, zu Anfang des vorigen Jahrhunderts, waren, wie der geschichtskundige großgünstige Leser weiß, im Südwesten des armen, blutenden, knochenkranken Deutschlands die freien Städte so häufig wie die Pilze, und die unmittelbare Reichsritterschaft war noch häufiger. Mit letzterer beschäftigen wir uns vielleicht später einmal, wenn uns Gott das Leben schenkt; heute wollen wir eine Geschichte erzählen, welche in einer jener Städte vorging, die der arggerupfte kaiserliche Adler mit seinen kraftlosen Flügeln überschattete, in einem winzigen, lieblich gelegenen Ding mit uralten moosigen Mauern, Thürmen und Thoren, zwei alten Kirchen, wenig Nahrung und Verkehr, aber viel schwarzbemäntelten, gravitätischen, perrückentragenden Rathsherren und Patriziern und einem Bürgermeister, der an gravitas natürlich Geschlechter und Plebejer weit und hoch übertraf.
Rothenburg im Thal wollen wir das Städtlein nennen, obgleich es nicht so hieß; Hindernisse, die wir nicht
Klein ist unser Schauplatz im Vergleich zu dem des großen Trauerspieles, welches zur selbigen Zeit die Weltgeschichte aufführte. Der spanische Erbfolgekrieg ist im vollen Gange; zu Frankreich stehen Bayern und Köln; aber das Reich hält zu Oesterreich, und am dreißigsten November Siebenzehnhundertzwei ist auch zu Rothenburg im Thal unter Trommelschlag der Krieg gegen Ludwig den Vierzehnten bekannt gemacht worden.
Nun ritt vor acht Tagen ein Bote in die Stadt, dem Rath den Sieg des Prinzen Eugenius und des Herzogs von Marlborough bei Höchstedt und Blenheim zu notificiren. Unabsehbare Züge unglücklicher, verwundeter, halbverhungerter gefangener Franzosen wurden durch die Stadt geschleppt, und die gutmüthigen, barmherzigen Seelen, die deutschen Reichsstädter und Reichsstädterinnen, hatten tausendfach Gelegenheit, ihre mitleidigen Herzen zu zeigen. Durch die Stadt wurde auch der Marschall Tallard in einer wohlverwahrten, von Dragonern und Musquetieren umringten Kutsche geführt, und Bürgermeister und Rath mochten mit Recht frohlocken, daß sie nicht zu Bayern und Köln sich geschlagen hatten.
Wenn man die kleine Stadt so im Sonnenschein des Augusts 1704 in ihrem Thal am Ausgange der
Zwischen zwei Bergen, die ziemlich schroff gegen die Ebene hin abfielen, lag, wie gesagt, die kaiserliche freie Reichsstadt Rothenburg. Auf der äußersten Bergspitze zur Linken, auf der Römerschanze stand ein alter Wartthurm, der “Lug ins Land“, höchst wahrscheinlich auf römischem Fundament; gegenüber auf dem Vorsprung des Herrenberges lag die Scharfrichterei, und zwischen dieser und dem Wartthurm lief im Thal unten die Stadt gegen das Römerthor zu aus. Dicht neben dem Römerthor an einem kleinen freien Platz stand ein altes, dunkles, einst jedenfalls sehr stattliches Gebäude, welches sich jetzt aber im höchsten Verfall befand. “Zur Silberburg“ wurde es genannt, und um die Silberburg, die Scharfrichterei und den Lug ins Land streift auf Eulenflügeln unsere Geschichte.
In der Silberburg wohnte im Jahre 1704 Christian
Da in jener Zeit, welche einige Leute ihres Glaubens, ihrer deutschen Biederkeit, Einfachheit, Treue und Gottesfurcht wegen willens sind, für die “gute alte“ zu nehmen und sie uns Kindern des Tages solchergestalt bei jeder passenden und unpassenden Gelegenheit vor die Nase zu halten, das Amt eines Scharfrichters keine Sinecure war und da Uebung den Meister macht, so gab es damals die vortrefflichsten Meister in der schrecklichen Kunst, die Mitbürger dieser Welt auf die schmerzhafteste Weise zum Geständniß oder zum Tode zu bringen, und vor Allem konnte die freie Stadt Rothenburg stolz sein auf ihren Henker und war es auch. Wolf Scheffer war ein Schatz, ein Künstler in seinem Fach. Stets wurden Galgen und Rad auf das Kunstgerechteste versorgt, und wahrhaft meisterlich die blinde Göttin Themis und ein hochweiser Rath in dem Peinigkeller unter dem Rathhause unterstützt. Wie aber die Stadt in den Besitz dieses Schatzes kam, wie der vorige Scharfrichter mit Tode abging und Wolf Scheffer sein Nachfolger wurde, muß jetzt erzählt werden.
Vor ungefähr einem Jahre waren die Herren Scabini von Rothenburg in die unangenehme Nothwendigkeit versetzt worden, dem eigenen Nachrichter wegen eines nicht von Amtswegen geschehenen Todtschlags im hochnothpeinlichen Blutgericht das Urtheil sprechen zu müssen, und nur ein Postreiter vom Kriegsschauplatz her konnte die Stadt in eine ähnliche Aufregung bringen, wie dieser unerhörte Fall. Man konnte doch unmöglich von dem armen Sünder verlangen, daß er sich selbst, eigenhändig, an den vorhandenen eben so schönen als dauerhaften Galgen hänge! In vollkommener Rathlosigkeit rathschlagte man über dies Unicum; Briefe wurden an alle benachbarten Städte, welche sich des Blutbannes rühmten, um freundnachbarliche Aushilfe geschrieben; aber das Unheil und der Zufall wollten, daß dem Bitten des Rathes von Rothenburg aus dem einen oder andern Grunde nirgends Folge gegeben werden konnte. Da gab es viel Kopfschütteln, und mehrere Tage hindurch war das Städtlein von dem aus den Perrücken aufsteigenden Puderstaub in einen leichten Duftschleier gehüllt. Da gab es viel Räsonniren und Schwadroniren zu Haus und in den Schenken, und zuletzt mußte ein hochedler Rath in den letztern ein Mandat anschlagen lassen, durch welches den witzigen Köpfen verboten wurde, die “Fatalität“ zum Thema ihrer Untersuchungen zu machen.
Seinen Bürgern konnte der Rath nun wohl das Spotten und Lachen verbieten; was aber den armen Sünder selbst betraf, so ging das doch nicht an. In
So standen die Sachen, und im Geheimen war man bereits halb einig im Rath, dem Kerl im Thurm ein Loch zu öffnen und ihn entwischen zu lassen, um so endlich dem Elend und Aergerniß ein Ende zu machen. Da verlangte eines Abends, als der regierende Bürgermeister sich eben zu einem Nachtessen, welches lange nicht so gut war, als das des Gefangenen im Thurm, seufzend niederlassen wollte, ein Fremder, den ehrbaren Herrn zu sprechen, und ward vorgelassen. Er erschien als ein Mann von gar absonderlichem Ansehen; hager, sehnig, gelb, mit einem spanischen Bart und einem großen schwarzen Pflaster über dem linken Auge. Nicht sehr groß, war er doch mit ungemein langen Armen begabt, bewegte sich gar nicht unzierlich, verbeugte sich sehr höflich, rückte mit seinem Anliegen so strack hervor wie ein Reiterangriff und that an Seine Gnaden die Frage: hier in löblicher Stadt sei man ja wohl, dem Gerede nach, eines Scharfrichters bedürftig? — Und ehe der Bürgermeister zur Antwort kam, fuhr der Fremdling fort:
Will ich mich in Bescheidenheit hiermit präsentiret haben zu diesem Amt und verhoff mit Rath und Bürgerschaft aufs Trefflichste auszukommen und Jedermann im Nothfall aufs Beste zu bedienen, kunstgerecht, wie man's von einem wackern gelernten Meister verlangt.
Wäre dem regierenden Bürgermeister von Rothenburg ein Engel erschienen, er hätte nicht einen größeren
Der Himmel sei gepriesen! Endlich! Endlich! Victoria!
Noch an dem nämlichen Abend wurde eine außerordentliche Rathssitzung abgehalten, und in derselben in der Hast der freudigen Aufregung und Erleichterung das Document unterzeichnet und untersiegelt, durch welches Wolf Scheffer zum wohlbestallten Scharfrichter kaiserlich freier Reichsstadt Rothenburg im Thal mit allen Rechten und Pflichten gemacht wurde. In der Freude ging man über den Umstand, daß der fremde Mann sich durch keinerlei Papiere über sein vergangenes Leben ausweisen konnte, leicht hinweg. Auf Treu' und Glauben nahm man seine Auskunft an: seine Schriften habe er in der Gegend von Wertingen an dem Zusamfluß durch einen Trupp marodirender Franzosen von Tallard's Heer verloren.
Am folgenden Morgen bereits, so früh als möglich, baumelte der Gutschmecker und Antecessor. Er starb mit kauenden Backen und vollem Magen, und die feinfühlende Leserin hat durchaus nicht nöthig, ihn zu bedauern; er hatte redlich das Seinige genossen und sein Schicksal reichlich verdient.
Wolf Scheffer bezog das Haus auf dem Herrenberge und schritt einher im rothen Mantel; eine wichtige
Noch ein anderes wichtiges Recht stand dem Scharfrichter zu; davon wird leider später bei trauriger Gelegenheit die Rede sein müssen.
Sehr romantisch lag, wie schon erzählt wurde, die ganze Reichsstadt zwischen ihren Weinbergen und Waldbergen; aber am allerromantischsten war doch die Scharfrichterei gelegen; nur der Lug ins Land mochte ihr in dieser Hinsicht den Rang streitig machen. Natürlich befand sich des Henkers Heimwesen nicht zwischen der Ehr-
In aller philosophischen Ruhe konnte Wolf Scheffer, der Henker, vor seiner Thür seine Pfeife rauchen und Idylle und Epos zu gleicher Zeit im Auge behalten. Unsere Altvordern gaben wenig oder gar nichts auf schöne Aussichten, so hatten sie auch hier bei Erbauung der Scharfrichterei weniger sich daran, als an den Bergwind gehalten, der sehr scharf und schneidend grade über den Vorsprung strich, wo sie errichtet war. Da Niemand sonst auf dem Herrenberge wohnen wollte, so setzte man den Scharfrichter dahin.
Bald hatte sich der Meister Scheffer aufs Beste in
Er hielt aber auch die Augen offen bei Tag und Nacht, und was er vermochte, das zeigte sich an dem Tage recht, an welchem er in seinem rothen Mantel das blanke Schwert über der Schulter durch die Hauptstraße von Rothenburg schritt, um sein Messer in den Thürpfosten des Rathsbäckermeisters Gretzler, eines sehr wohlhabenden, feisten und angesehenen Mannes zu stoßen. Die Ehefrau des Unglücklichen, ein wahrer Geizdrache, hatte eine gefallene Ziege für den eigenen Hausstand zum Seifekochen benutzt, und der Mann vom Herren-
Es entstand schier ein Aufruhr gegen den Rath daraus, dem armen Bäcker wurde das halbe Haus demolirt; er mußte sein Amt als “Getraidtmeister“ niederlegen, erholte sich niemals von diesem Schlag, fiel in die Schwindsucht und starb. Seines Weibes Name aber blieb für immer ein Gaudium in den Mäulern der Gevatterinnen von Rothenburg im Thal.
Wenn der Scharfrichter auf seiner Bank vor der Thür seine Pfeife rauchte und gradaus in das Thal und in die Stadt hinunterblickte, so war der hervorragendste Punkt, der ihm ins Auge fiel, die Silberburg mit ihrem verblichenen Farbenschmuck, alterschwarzen Balkenwerk, ihren erblindeten, grünangelaufenen Fenstern, ihren geneigten Giebeln. Hinter diesem Hause lief ein über alle Maßen verwilderter Garten die Römerhöhe entlang bis zu dem Wartthurm, auf welchem dem alten, strumpfstrickenden Kindler der Lugaus auf Feuer und Franzosen anvertraut war. Neben der Silberburg widmete der Scharfrichter diesem Wartthurm seine ganze Aufmerksamkeit, und weßhalb er dies that, wird später genug klar werden.
Der Garten des reichen Mannes in der Silberburg
Einst hatte er selbst in der Silberburg gewohnt, und manch' ein schöner Acker und Weinberg auf der städtischen Feldmark war sein Eigenthum gewesen. Daß solches nicht mehr so war, daran war der Zinsmeister Christian Jakob Heyliger und das Reichskammergericht zu Regensburg Schuld. Ersterer hatte den Proceß, welcher den armen Kindler zum Bettler und strumpfstrickenden Stadtsoldaten machte, angezettelt und mit Kunst eingeleitet; letzteres hatte ihn — ausnahmsweise einmal unbegreiflich schnell — entschieden zu Gunsten des Zinsmeisters. So mußte Friedrich Martin Kindler aus seinem Hause zur Silberburg, welches im Jahre 1675 noch keine schiefen Giebel und geborstenen Mauern, keine erblindeten Fenster und wurmzerfressenen Balken hatte, heraus ins Elend, und hätte sich der Rath und das ziemlich hart angegriffene Rechtsgefühl der Stadt seiner nicht erbarmt, er wäre dem bittersten Mangel preisgegeben gewesen. Friedrich Kindler erhielt einen kleinen Posten im Weg- und Stegamt; aber sein armer Kopf war durch das Un-
Während Wilhelm Kindler auf diese Weise die Leiter menschlicher Größe hinabstieg, stieg der Zinsmeister in der Liebe und Achtung seiner Mitbürger nicht empor. Obgleich der Reichthum ein gewaltiger Herr ist, welcher mit den andern Großmächten dieser Welt, der Liebe, dem Hunger, der Sorge und dem Tode, in Ansehen der Macht wohl Schritt zu halten vermag, so kann es doch geschehen, daß auch seine Kraft und Herrlichkeit schwach wie ein Strohhalm zerbricht, und so war es in diesem der Fall.
Das gleichalterige Geschlecht der Mitbürger, welches den Anfang und Verlauf des großen Processes contra Kindler vor Augen gehabt hatte, that in den Gassen der
Schritt vor Schritt wich der Zinsmeister vor der öffentlichen Mißachtung zurück, zuerst in den wilden, zähneknirschenden Hohn und Trotz, dann in finstere Einsamkeit, zuletzt in den grimmigen Menschenhaß. Sein Ehegemahl litt dabei fast noch mehr, als die arme Frau Friedrich Kindler's; sie war eine sanfte, geduldige, milde Seele und die beste Jugendfreundin der Kindlerin. Auch die Heyligerin starb an dem großen Proceß, doch nicht aus Kummer über den Verlust weltlicher Güter, sondern vielmehr aus Schmerz über das Gewinnen derselben. Sie ging zu Grunde an den Worten und Blicken der Nachbarinnen und verschied, nachdem sie einige dunkle Jahre hindurch in einem Winkel der Silberburg gesessen hatte. Ihre Seele war nur angelegt, Liebe zu geben und zu nehmen, der Haß und die Verachtung tödteten sie, und so ließ sie ihren Mann und ihr halbjähriges Kindlein, ein ganz winziges, durchsichtiges, kränkliches Wesen, allein in der Einsamkeit und Verlassenheit zurück, und der Gedanke an ihr Kind füllte das Maß ihrer Angst und Noth in der Todesstunde. Aber diese Sorge sollte zu den vielen unnöthigen gehören, welche sich das arme Herz hier aus Erden macht. Nimmer wuchs eine lieblichere Blume in der Dunkelheit auf, als
Ein jüngeres Geschlecht, welches geboren wurde um die Zeit, als das Erkenntniß des Reichskammergerichts in Sachen contra Kindler von Regensburg kam, nahm die verfallende, täglich mehr zur Ruin werdende Silberburg und den finstern alten Mann, der in ihr haus'te, als etwas Gegebenes, an welches sich irgend eine seltsame Geschichte hing. Dieser Geschichte in alle dunkeln Gänge nachzugehen, war das Leben viel zu kurz und köstlich; so hielt sich denn das junge Geschlecht weniger an den menschenfeindlichen Greis, als an die Wunderblume, die hinter den grauen Mauern in so tiefer Verborgenheit blühte. Bald kam die Zeit, wo die jungen Gesellen von Rothenburg, die müßigen Söhne der Geschlechter alles Mögliche aufwandten, sich der verzauberten Schönheit zur Silberburg zu nähern, die Zeit, wo Viele sich rühmten, die verwünschte Prinzessin geschaut und gesprochen zu haben, ohne es im Geringsten glaubwürdig beweisen zu können. Da stolzierte man im besten Putz unter den Fenstern des alten Hauses einher, da ließ man die muthigen Rößlein traben und lustige
Wer mochte aber sagen, ob der Schatten, der hinter den altersdunkeln Scheiben bemerkt sein sollte, eins sei mit dem lieblich gepriesenen Kinde? Nimmer öffneten sich die blinden Fenster; nur selten, selten überschritt, in dichte, dunkle Schleier gehüllt, die Heyligerin ihres Vaters Schwelle, um zur Kirche zu gehen. Die übrigen hübschen und häßlichen Jungfern der Stadt haßten die Verborgene fast eben so sehr, wie die Väter den Zinsmeister einst haßten. Da sie nichts Uebles von der Armen wissen konnten, so erfanden sie Mancherlei. In halben Worten und Andeutungen waren sie groß, und von Neuem ward das alte Wort wahr, daß die tiefste Abgeschlossenheit Dem keinen Schutz geben kann, der keinen haben soll. Wie aber das Gute, welches die Welt zu bieten vermag, nicht zu Laurentia Heyligerin Einlaß fand, so drang auch das Böse nicht zu ihr, und darum mochten die kaiserlich freien Gevatterinnen, Klatschbasen und Neider reden, was und wieviel sie wollten.
Die halb blinde und ganz taube Magd, welche den Verkehr der Silberburg mit der Außenwelt vermittelte, beschränkte diesen Verkehr auf den Einkauf von Lebensmitteln und dergleichen Geschäfte, ohne den Fragen, Aus-
Auch ein Uhu richtet sich in seiner Felsenspalte, in seinem Gemäuerloch, in seinem hohlen Baume seine Wohnung nach Neigung und Geschmack, so behaglich als möglich ein; der Vater Kindler hatte dasselbe ebenso mit dem Winkel gemacht, in welchen ihn die Wellen des Lebens geworfen hatten. Ein Dichter und Philo-
Vier Fenster oder vielmehr Schießscharten hatte das Wachtgemach, nach jeder Weltgegend eine Oeffnung zum Auslug. Eine kürzere Leiter führte aus dem Gemach auf die Plattform des Thurmes zu der verrosteten Karthaune, durch deren Losbrennen der Wächter anzeigte, daß etwas Verdächtiges am Horizont der Stadt aufsteige. Die viereckige Oeffnung, durch welche man auf die Plattform gelangte, konnte durch eine Klappe verschlossen werden.
In dem Wohn- und Wachtgemach befand sich eine
Ueber die Kunst, hauszuhalten und ein wohlhabender Mann zu werden, hielt er dem Sohn soeben eine sehr theoretische Vorlesung, welcher der schwarze Georg denn auch
Er war von einer stattlichen Gestalt, dieser schwarze Jürg; vielsagendes Feuer leuchtete aus den dunkeln Augen. Trotzdem, daß die Wunden und die lange Krankheit dem Körper eine gewisse unbeholfene Schwäche gegeben hatten, ging es aus jeder Bewegung des jungen Mannes hervor, daß die Genesung eine große Kraft und Gelenkigkeit zurückbringen würde. Verhaltener Zorn um die jetzige Thatlosigkeit lauerte zwischen den zusammengezogenen pechschwarzen Brauen, während auf der hohen Stirn etwas Anderes noch zu erkennen war, ein melancholisches Sinnen, ein träumerisches Denken, ein ruheloses Hin- und Herbewegen der verschiedenartigsten Gefühle.
Es war kein Wunder, daß der Sohn des strumpfstrickenden Stadtsoldaten von der Römerhöhe mit den gemischtesten Empfindungen auf den Garten und das Haus des Zinsmeisters Heyliger niederblickte. Da drunten lebte der Mann, welcher Schuld hatte an dem Tode der armen Mutter, der Mann, welcher das Glück des Vaters, das eigene Glück kalten Herzens zerstört hatte; — da drunten saß aber auch die Tochter des Todfeindes,
Georg, sagte der Alte von seinem Lehnstuhle her, du gibst nicht Acht, Georg! Und was der Autor allhier von Interusurio saget, muß Jedermann doch sehr wichtig sein. Und wie er den Carpzov'schen und Leibnitzischen Calculus widerleget, hat Hand und Fuß und lässet sich wohl hören. Knöpf auf die Ohren, Jürgen, auf daß du klüger werdest als dein alter Vater; hier fahren wir fort Pagina —
Ach, Vater, gebet mir Urlaub, sprach der Sohn mit einem tiefen Seufzer; mein Kopf schmerzet mehr als es zu sagen ist, und mein Herz ist so bedrängt, daß ich mit dem besten Willen den Worten Eures gelehrten Buches nicht folgen kann.
Betrübt das Haupt schüttelnd sah der Alte den Jungen an; dann murmelte er:
Ist's mir nicht immer grad' so gegangen?! O, ein grausam gelehrtes Buch, oh, oh, oh! Aber ich krieg's doch noch klein, und Georg soll's auch. Daß dich das Mäusle, laßt's mich nur gefaßt haben, dann soll's bald zu End' sein mit dem Hocken hier auf dem Thurm.
Aus dem Nachdenken über die Schwierigkeiten seines Buches erlös'te den guten Greis bald ein tiefer Schlaf, und dieser Schlaf war der eigentliche Verderber Friedrich
Bald rutschte die Prudentia oeconomica von den Knieen des Greises und fiel zu Boden. Der Sohn hob das zerlesene Buch auf und beugte sich dabei einen Augenblick hindurch über das ehrliche, gutmüthige Gesicht seines Vaters.
In Liebe und Betrübniß seufzte er:
Armer, alter Mann! dann das Buch betrachtend: Du abscheulicher Plagegeist, jetzt wäre die Gelegenheit günstig, dich über die Seite zu schaffen auf Nimmerwiederfinden. Nun wieder mit einem Blick auf den schlummernden Alten: Nein, nein und abermals nein. Es wäre zu grausam! Alter Vater, steckt nicht in diesem jämmerlichen Tröster Alles, was dir das Leben noch fröhlich ausputzt? Wie er lächelt im Schlaf! Aus diesem Teufelsbuch stammt auch das Lächeln, nun baut er im Schlaf die Träume weiter, die er wachend von diesen Seiten lies't. Da liege du, ich würde dich mit meinem letzten Lebensblut vertheidigen, du leidiger Quälgeist.
Sorgsam legte der Soldat das Buch auf den Tisch, dann stieg er, nach einem letzten Blick auf den Vater, leise und vorsichtig die Leiter hinab, die zur Erde niederführte.
Schön war der Sommerabend, und lange wollte
Der schwarze Georg ging nur, wenn die Dämmerung kam, aus seiner Klause hervor. Er scheute den hellen Tag und die Begegnungen, welche derselbe mit sich brachte. Er hatte gehofft, aus dem Franzosenkriege heimzukehren, sieghaft, reich und bewundert, um den alten Vater aus seinem Hunger- und Kummerthurm zu erlösen und mit ihm die Stelle in dem reichsstädtischen Gemeinwesen wieder einzunehmen, welche der vordem so angesehenen Familie der Kindler von Rechtswegen gebührte.
Das war nun Alles nichts. Geknickt waren die siegesfrohen Hoffnungen, gelähmt die hochfliegenden Gedanken ersten Jugendmuthes; krank, mit gelähmten Flügeln mußte der junge Falke den kümmerlichen väterlichen Horst wieder aufsuchen. Georg Kindler war ein armer Invalide, der Hülfe noch mehr bedürftig als selbst der alte Vater.
So schämte er sich nun nach seiner Heimkehr, wie sich ein edler Geist in solchem Fall zu schämen pflegt. In der Dunkelheit verbarg er sich und sein Mißgeschick den Augen der Menge und wich den Menschen ängstlicher aus, als das böseste Gewissen es thut.
Diese nächtlichen Wanderungen, die Bergwände entlang zwischen den Weinbergen und den Gartenhecken, sollten und konnten aber doch nicht verlaufen ohne einige
Auf flüsternde Liebespaare, die aus anderm Grunde, als er, die Einsamkeit suchten, traf Georg. Es begegneten ihm die jungen Herren, welche das Haus und den Garten des Zinsmeister Heyliger umstrichen; diesen lächelnden und seufzenden Gesellen blickte der schwarze Jürg mit einem unbeschreiblichen Ausdruck nach, wenn er zur Seite trat, um sie vorüber zu lassen.
Es begegnete dem schwarzen Jürg auch Wolf Scheffer, der Scharfrichter von Rothenburg, und da diese letztere Begegnung die wichtigste von allen war, so wollen wir hier das Nähere darüber mittheilen. Sie fand Statt an einem Tage, wo ein zwischen Regenschauern, Windstößen und grauer Stille wechselndes Wetter die Wege an den Bergen einsamer als gewöhnlich machte. Aus diesem Grunde hatte Georg seinen Thurm früher als gewöhnlich verlassen und traf auch auf Niemand zwischen den Hecken, bis er an die Ecke des Berghanges gelangte, wo der Wald begann und sich in die Ebene hinabsenkte.
Unter den ersten Bäumen des Waldes sah Georg Kindler eine Gestalt im rothen Mantel emporsteigen, und da der Weg kein Ausweichen zuließ, so sahen sich die zwei Männer im Begegnen grade in die Gesichter, und
Da hab' ich Euch ja! rief der Scharfrichter.
Euch bin ich nirgends und niemals ausgewichen! sagte Georg Kindler.
Bigott, hab' ich's nicht gesagt, wir Zwei hätten uns noch lange nicht zum letzten Mal gesehen?!
Bigott, rief auch Georg, ich wär' doch lieber Profoß im Regiment Deutschmeister blieben.
Meint Ihr! Basolamano! Man wird alt und fängt an, die Bequemlichkeit zu lieben; — gefällt mir recht wohl hie zu Rothenburg im Thal. — Freut mich, Euch zu sehen, und hoff' Euch nunmehro bei Gelegenheit dies verkleisterte Auge heimzahlen zu können. Thut mir die Liebe an, Weibel! 'S wär' mir ein' Seelenlust, Euch so — von Amtswegen vorzunehmen.
Der schwarze Jürg schnitt eine Grimasse, und seine Hand zuckte nach der linken Hüfte, von der sonst der Degen herabhing. Der Scharfrichter lachte:
Laßt nur, Camarado, wir sind hier nicht im Feldlager, und meine günstigen und gnädigen Herren vom Rath dulden keinen Friedensbruch innerhalb der Bannmeile.
Mit höhnischer Devotion zog der Henker von Rothenburg den breitkrämpigen Hut ab, verneigte sich tief vor seinem Widersacher und schloß seine Rede:
Wünsch' Euch den schönsten guten Abend, Herr Weibel vom Regiment Montecuculi, ich will Euch nicht
Sprachlos vor Wuth blickte der schwarze Georg dem Freimann nach; die Thränen traten ihm vor machtlosem Zorn in die Augen; eine Waffe hatte er nicht, ein unnützes Glied hing der Schwertarm in der Schlinge; so mußte Georg Kindler den Feind spotten und lachen lassen.
Aneinander gerathen waren die beiden Männer vor zwei Jahren in einem baierischen Dorf, wo der Weibel vom Regiment Montecuculi ein armes Weiblein vor dem Profoß vom Deutschmeister-Infantria erretten wollte. Es kam darüber zum Kampf, und in demselben verlor Wolf Scheffer das Auge. Das arme bairische Mädel aber wurde glücklicherweise durch eine barmherzige Kugel getödtet, ehe die Croaten in das Dorf einritten.
Wir ließen nach Untergang der Sonne den schwarzen Jürgen, nach seiner Expectoration über des Vaters Kunst hauszuhalten, von dem Lug ins Land zur Erde niedersteigen. Zuletzt überwand das Mondenlicht doch
Aus seiner Dienstwohnung unter den Bogen des Rathhauses trat der Rathsnachtwächter mit Horn, Spieß und Hund. Der Hund ging zum nächsten Eckstein; seinen Spieß stieß der Wächter auf den Boden, sein Horn setzte er an den Mund, blies dreimal hinein, dumpfes Getön hervorlockend, dann sang er mit rauher Stimme:
Zum Beschluß verkündete Joachim Schaufele kaiserlich freier Reichsstadt Rothenburg im Thal die neunte Abenstunde.
Gegen zehn Uhr knarrte die Hinterthür der Silberburg, eine Gestalt trat vorsichtig hinaus und glitt unhörbaren Schrittes in den Garten. In dem verworrenen Gebüsch saß eine Nachtigall, der im Frühling das Liebchen vom Weih getödtet worden war. Nun sang sie
Die Gestalt, welche aus dem Hause Christian Heyliger's schlüpfte, wagte sich aber doch hinein in diese duftige Wildniß. Sie wendete und neigte sich zwischen dem Gezweig und verschwand in dem dunkelsten Schatten, welchen der Mond an diesem Abend im Garten der Silberburg duldete.
Da war eine alte Steinbank, umschlungen und umrankt wie alles Andere, darauf saß Laurentia Heyligerin nieder, die wonnige Kühle des Abends athmend, die Hände im Schooß faltend — still wartend.
Mehr einer Bildsäule des Nachsinnens als einem Menschenwesen glich so die Jungfrau. Ihr schönes Gesicht war nicht nur im Mondenschein bleich, es war so auch im Licht des Tages; der Glanz der Nacht ver-
Mit gesenktem Haupt und halbgeschlossenen Augen saß Laurentia, bis der Wächter vor der Silberburg die zehnte Stunde verkündete und sang:
Da hob sich das schöne Gesicht dem Monde zu mit ganz verändertem Ausdruck. An die Stelle träumerischer Mattigkeit war das aufmerksamste Lauschen in den Zügen zu lesen. Seitwärts neigte sich das Köpfchen, der Römerhöhe zu; immer lauter sang die Nachtigall, und Niemand konnte wissen, daß es nicht das Lob der Nacht war, was sie sang. Es rauschte in den Büschen; aber nicht der Wind brachte dieses Rauschen hervor. Die Jungfrau erhob sich halb von ihrem Sitze; eine Hand bog dicht neben der moosigen Steinbank die Zweige zurück, aus dem Dunkel hervor trat Georg, der schwarze Georg.
Gelobt sei Jesus Christ! sprach er.
In Ewigkeit, Amen! flüsterte die Jungfrau, und dann küßten sie sich, und Georg umschlang den Leib des Mädchens mit seinem gesunden Arm, und fest klammerte sich Laurentia an die treue Brust.
Lieb — flüsterte Georg, doch die Jungfrau unterbrach ihn sogleich im Drang ihres übervollen, überströmenden Herzens.
Da bist du endlich, mein Trost, meine einzige Hoffnung! O, welch ein Tag, welch ein schrecklicher Tag ist heut wieder vorübergegangen!
Der schwarze Jürg streichelte sanft das blonde Haupthaar der Geliebten.
Ist's heut schlimmer gewesen als sonst?
Viel schlimmer, viel schrecklicher! Ach, ahntest du, was ich dulde; — es ist so schrecklich, nimmer aus der Angst, dem Zittern und Herzklopfen herauszukommen; — heut ist mir recht wieder gewesen, als sei nun alle meine Kraft aus und zu Ende. Wärst du nicht mein Lieb, so möcht' ich am liebsten bei meiner Mutter sein, im Grab, wo es still und ruhig ist! Weh, und er ist doch mein Vater!
Er ist dein Vater, dem ich, das Maß voll zu machen, Todfeind sein sollte bis zum Messer.
Laurentia faßte den Geliebten fester; sie zitterte am ganzen Körper.
Still, still, flüsterte Georg, still, süßes Herz; in dir geht alles Uebrige unter; was kümmert uns Beide das, was vergangen ist? Wir müssen eben das Leben von vorn anfangen, und uns nur ein gut Beispiel nehmen an dem Geschehenen!
Dank Gott und dir! sagte Laurentia einfach und rührend.
Was hat er denn heut wieder angestellt? fragte Georg. Schütt aus dein Herzlein. Du weißt, du mußt mir Alles sagen, das ist dein und mein Recht.“
Dank Gott, daß es so ist, 's ist mein einziger Halt in diesem wilden Leben, schluchzte das Mädchen und erzählte, nachdem es sich ein wenig gefaßt hatte: Er hat einen der allerschlimmsten Tage gehabt, und gehet das schon mitten in der Nacht an. Da hat er keine Ruh' im Bett, und ich hör' ihn immerfort im Gemach auf- und abgehen und hör' ihn sprechen mit sich selbst und mit den Schatten, die er siehet. Da murmelt er Stunden lang wilde Worte, und dann schreit er hell auf und glaubt, das Haus sei überfallen von Mördern und Dieben. Nun gehet er überall um und rüttelt an allen Schlössern und Thüren, und ein geladenes Feuerrohr trägt er in der Hand. Dann — spricht er von deinem Vater — deiner armen Mutter und meiner armen Mutter. O, es ist zu schrecklich! Ich hör' ihn schleichen und schlurfen auf dem Gang, und ist mir, als ging ein Gespenst um im Haus, und ist doch mein eigener Vater, den ich lieben soll nach Gottes Gebot. Vortreten aus meiner Kammer darf ich nicht; denn als ich das einmal that, weil's mich drinnen der grausamen Angst halber nicht länger duldete, da hat er laut aufgeschrieen und ist niedergestürzt zur Erde und hat sich darauf den halben Tag lang nicht besinnen können. So über alle Maßen grausig liegt Gottes Hand auf ihm, daß er oft sein eigenes Kind nicht mehr kennt.
Aber das ist ja heller Wahnsinn, rief der Jüngling. Laurentia, das gehet so nicht länger an. Du kannst nicht bleiben bei ihm; die Stadt, der Rath soll
Nein, nein, um Gotteswillen, nein! rief Laurentia Heyligerin. Nicht das! Thu um Gotteswillen nicht das, Georg! Er ist mein Vater, wie er auch ist. Sollen sie ihn aus seinem Hause schleppen, hinaus in das Licht, unter das erbarmungslose Volk, das keine Gnade für ihn hat; unter die Menschen, die er so sehr fürchtet, daß er nicht wagt, aus dem Fenster zu schauen? Ich weiß, was gewißlich die Folge davon sein würde. Soll ich die Schuld tragen an dem alleräußersten Verderben meines Vaters? Georg, Alles will ich thun, was du verlangst; aber Solches vermag ich nicht.
Dann sei uns Gott gnädig; ich sehe keinen Ausweg aus diesen Schrecken. So müssen wir tragen, was uns auferlegt ist; so müssen wir in Grauen abwarten, was kommt, und dürfen die Hände nicht regen. Hör, Laurentia, von jetzt an schlaf ich nicht mehr auf der Römerhöhe im Thurm; auf deiner Schwelle will ich sitzen und Wacht halten zu deinem Schutz; nimm mein Wort, ich will bei dir stehen im Augenblick der Gefahr!
O, Georg, thu auch das nicht! bat die Jungfrau, flehentlich die Hände faltend. Glaub mir fest, mir wird nichts Arges geschehen. Dahin gehet meine Angst nicht. Wenn er in seinem armen wirren Geist nur nicht einmal die Hand an —
Die Hand an sich selber legt? — schloß Georg den
Und heftiger sprach der Jüngling: Deßhalb auch gestatte mir, daß ich des Rathes Hülfe aufrufe; — für euch Beide will ich sie! Sieh, allen Haß und Zorn habe ich ja niedergelegt zu deinen Füßen.
Die Jungfrau antwortete nicht, sie schüttelte nur das Haupt, und so stand rathlos und wortlos das junge Paar eine geraume Weile. Endlich sagte die Jungfrau:
Wie gut doch Gott ist, daß er dich so früh schon, daß er dich als Knabe schon zu mir geführet hat. O, Georg, da Solches zugelassen wurde, mein’ ich, hat's der Höchste gut mit uns im Sinne. Laß uns still sein und abwarten, was über uns beschlossen ist, wir vermögen nicht einzugreifen. Als wir noch klein und Kinder waren, haben wir uns bescheiden müssen; nun sind wir zwar recht alt und klug worden, aber vermögen doch nicht mehr. O, du lieber Georg, versprich mir, daß wir warten wollen!
Georg Kindler seufzte tief und schüttelte das Haupt; aber er versprach der Geliebten doch, was sie verlangte. Eine Wolke ging über den Mond, und dunkel wurde es im Garten der Silberburg. Der Mond kam in dieser Nacht nicht wieder hervor; Wolke auf Wolke wälzte sich herauf über den Herrenberg, über des Scharfrichters Haus; wie ein gieriges Ungeheuer verschlang die Finsterniß das weiße Licht, welches das Sonnenroth besiegt hatte.
Nach einem letzten heißen Kuß nahmen die Lie-
Mit klopfendem Herzen lauschte er noch lange Zeit; aber drinnen blieb Alles still. Nichts regte sich, was Anlaß zu dieser Angst hätte geben können; nur eine schwarze Katze stieg aus einem zerbrochenen Fenster, sprang auf einen Holzhaufen und schlich von dort an dem invaliden Weibel des Regiments Montecuculi vorüber, um einen schlafenden Vogel im Nest zu überfallen.
Widerstrebend, immerfort rückwärts blickend, stieg Georg zur Römerhöhe, zum Lug ins Land empor. In tiefem und sanftem Schlaf fand er den alten Vater. Das böse ökonomische Buch lag immer noch aufgeschlagen auf dem Tisch; aber im Schlaf hatten die ärgerlichen Zahlenreihen, die guten Lehren und Rathschläge nicht mehr ihre verwirrende, betäubende Macht über den Greis. Des Buches magische Kraft war mit dem Tageslicht zu Ende, und der Schlaf des armen Mannes auf der Römerhöhe war ein ganz anderer, als der des reichen Mannes in der Silberburg, Georg aber brachte die Nacht eben so unruhig zu, wie Christian Heyliger. Seltsamerweise
Somit haben wir eine der vielen nächtlichen Zusammenkünfte der beiden jungen Leute, zwischen denen das Schicksal eine so feste eiserne Wand aufgerichtet zu haben schien, geschildert. Viel hülfsbedürftiger und ärmer als der Sohn des armen Mannes, war die Tochter des reichen Mannes geworden; aber auch Jener war unglücklich und verlassen und darum ward wieder einmal wahr, daß zwei Unglückliche sich viel leichter zusammenfinden und viel fester sich binden, als zwei Glückliche. Wie Georg und Laurentia sich zuerst zusammengefunden hatten, darüber hätten sie kaum Rechenschaft geben können. Es waren zwei arme Kinder, und jedes saß für sich allein auf dem kalten Stein; da kam das Schicksal, diesmal gütig und lächelnd, gleich einer guten, klugen und
Nun ging auch dieser Sommer des Jahres 1704 seinem Ende entgegen, und das enge Leben der kleinen Reichsstadt nahm seinen gewohnten Verlauf. Es wurde mit Pomp das Freischießen gehalten, und der Arm Georg's war um diese Zeit so weit hergestellt, daß der Weibel des Regiments Montecuculi die Pürschbüchse halten konnte. Den Vogel schoß er ab und gewann den
Immer tiefer las sich Friedrich Kindler auf dem Lug ins Land in die Prudentia oeconomica, die Kunst, ein reicher Mann zu werden, hinein, doch blieben die guten Lehren des Allongeperrückenträgers auf dem Titelblatt stets von derselben verwirrenden Wirkung auf den alten Mann, und das war eigentlich nur für ein Glück zu halten.
Dagegen schien die Gemüthsstimmung des unglücklichen Mannes in dem verfallenden Hause unter der Römerhöhe immer hoffnungsloser zu werden. Laurentia hatte dem Geliebten darüber immer schrecklichere Einzelheiten mitzutheilen; aber immerfort wehrte sie sich hartnäckig gegen den Rath des Freundes, die Hülfe der städtischen Beamten anzurufen.
Gegen Anfang des Octobers begegnete Georg wieder einmal dem Scharfrichter, und mit der gewohnten spöttischen Miene sagte der Letztere:
Monsieur, Unsereins ist ein halber Doctor; soll ich Euerm Schätzchen einen Trank eingeben gegen die bleichen Wänglein?
Und als Georg Kindler wild auffahren wollte, lachte der Andere:
Hoho, thut doch nicht so, Weibel. Unsereiner gehet auch in der Nacht umher und merkt Mancherlei. Hoho, wünsch' Euch in Wahrheit viel Vergnügen mit dem holden Kind. Zu Euerer Hochzeit werdet Ihr mich wohl nicht laden?!
Was redet Ihr mich an? Was spionirt Ihr? Wer giebt Euch das Recht, nächtlicher Weile die Silberburg zu umschleichen? rief Georg, außer sich vor Grimm.
Hoho, Camarado, kalt Blut. Euch möcht' ich fragen, was Ihr zu suchen habt in der Nacht dort im Garten? Kümmert Euch ja nicht um mein Recht, das soll Euch schon klar genug werden in der rechten Stunde.
Georg Kindler streckte beide Hände aus, als wolle er den Scharfrichter ergreifen, um ihm die Seele aus dem Leibe zu schütteln. Wolf Scheffer aber sagte:
Was? Den Henker, den Freimann wollt Ihr angreifen? Zurück, oder ich schlage Euch wie einen Hund zu Boden, und ich möcht' Euch doch einen ärgern Tort anthun, als Euch durch einen lumpigen Stockschlag geschehen könnt'. Platz! Gebt Raum! Raum, sag' ich dem Scharfrichter von Rothenburg und seinem Recht!
Fort schritt der Rothmantel; Georg aber stieß wieder einmal einen seiner wilden Soldatenflüche, deren er sich in der Zeit so ziemlich entwöhnt hatte, hervor und murrte:
Was mag er meinen, der Hund? Hätt' ich ihm doch
Um sein heißes Blut zur Ruhe zu bringen, rannte der vormalige Weibel so weit als möglich in die Nacht und in die Berge hinaus; die Geliebte konnte er doch in dieser' Nacht nicht sehen. Sie war bereits seit acht Tagen nicht im Garten erschienen und hatte dem verlobten Freunde durch die alte Magd Nachricht zugehen lassen: der Vater lasse sie nicht von seiner Seite, er sei nun wie ein Kind mit Weinen und großer Angst; sie müsse ihm vorsingen, er fürchte sich so sehr vor dem Herbstwinde in den Bäumen und in den Schornsteinen und Kaminen; Gott allein wisse, wie das enden werde.
So überließ nun an diesem Abend Georg Kindler dem bösen Wolf den Garten zur Silberburg, und in seinen rothen Mantel gehüllt saß der Freimann auf der Schwelle der Hinterthür und reihete Zahlen aneinander, rechnete wie der alte Strumpfstricker auf der Römerhöhe. Er hatte soeben den Werth des wüsten Gartengrundstückes berechnet, und nun daran, den Werth des Hauses in seiner Verfallenheit annähernd aufzustellen, lachte er nach seiner Art still in sich hinein und murmelte:
Heraus sollen sie wie die Füchse aus dem Bau. Wundern werden sie sich über den Scharfrichter und sein Recht. Ho, wie sie die Perrücken schütteln werden im Rath. Nach dreißig Jahren soll's mir noch ein Gaudium sein. Du alter Schlaukopf von Vater in deinem Grabe zu Wetzlar sollst deine Freud' an deinem Söhn-
Sein Selbstgespräch unterbrechend, hob der Scharfrichter plötzlich den Kopf und lauschte, und dann kletterte er vorsichtig auf den hohen Holzhaufen, über den der Kater niederzusteigen pflegte; auf diesem Platz konnte seinem Ohr nichts entgehen, was im Innern des Hauses vorging. Eine weiche, volle Stimme klang aus dem obern Stockwerk der Silberburg; aber die Fenster blieben dunkel wie gewöhnlich.
Laurentia Heyligerin sang.
So klagte im Gesänge das schmerzhafte “gefangene Herz“ in der Silberburg; dem Lauscher unter dem Fenster war ernst zu Muth geworden; aber die Stimmung dauerte nicht lange. Bald war das höhnische Zucken um den Mund wieder da; Wolf Scheffer flüsterte:
Wie sich das Vögelchen hinaussehnt! Wie es nach der goldenen Freiheit verlangt! Wart', Liebchen, bald sollst du mehr davon haben, als du gebrauchen kannst; die ganze weite Welt soll dir offen stehen; ich will dich nicht halten in der Silberburg.
Von seinem Platz auf dem Holzhaufen vernahm der Scharfrichter noch im Innern des Gemaches die heisere, weinerliche Stimme des alten Heyliger, dann noch einmal die sanften, überredenden Laute der Jungfrau, dann ward Alles still. Eben wollte Wolf Scheffer leise zur Erde niedersteigen, als er noch einmal anhielt; im Innern der Silberburg ließ sich ein knarrender Ton vernehmen, und das alte Gebäude zitterte in seinen Grundvesten. Es war, als ob ein alter Balken unter zu großer Last gebrochen sei.
Teufel, murmelte der Scharfrichter, der alte Kasten scheint doch die Gicht in den Knochen zu haben. Bah, was thut's, ich werd' mich nicht lang damit plagen. Es wird sich schon Einer finden, der ihn mir abnimmt für gut Geld; mag ihm das alte Gebäude dabei auf den Kopf fallen, was schiert's mich. Geld und Geld und Geld und zu Ende der Spaß hier! Zu Pferd und fort nach dem lustigen Frankreich. Vive le roi! Vive la joie! Vive Paris!
Auf dem Erdboden angekommen, schüttelte sich der Lauscher und verschwand in der Dunkelheit. Eine Viertelstunde später erhellten sich zwei Fenster in der Scharfrichterei auf dem Herrenberge. Wolf Scheffer saß daselbst am Tisch, hatte einen Kalender vor sich, starrte unverwandt auf diesen Kalender des Jahres 1705, welcher dieser Tage erst beim Bücherverkäufer am Fenster erschienen war. Es war ein Datum darin roth unterstrichen, und Wolf hielt den Finger darauf, rechnete die
Auf den Herbst folgte der Winter, und dann kam ein anderer Frühling, der des Jahres 1705. In diesem neuen Frühling sollte sich das Geschick der Leute, welche wir im Laufe dieser Erzählung kennen gelernt haben, erfüllen.
Sehr streng und hartnäckig war der Winter gewesen, aber in einer einzigen Nacht wurde er durch einen gewaltigen Sturm vom Thron geworfen, wie das so manchem andern überstrengen und gewaltigen Herrscher begegnet ist. Für die Welt brachte jedoch diese Thronentsetzung eine Nacht der Furcht und des Schreckens. Was anfangs ein sanftes Wehen war, gleich dem Athem eines Kindes, das wurde zum donnernden Heulen; die stärksten Bäume mußten sich der Windsbraut neigen, und wie sie durch die Berge und Wälder in die Ebene hinausfuhr, verstreute sie eine wahre Saat zersplitterter Aeste über das Land. Unzählige Fensterscheiben wurden zerschmettert, von den Dächern die Ziegeln gerissen. Mit
Hoho, sie wird's ja wohl überdauern! wollte er rufen; aber die Gewalt des Sturmes trieb ihm den Athem tief in die Brust zurück, so daß er fest den Mund schließen mußte, um nicht zu ersticken.
Manche zagende Seele glaubte in dieser grauenvollen Nacht, nun komme der jüngste Tag, und der Engel des Gerichts setze schon die Posaune an den Mund, um den Todten den Weckruf zu blasen und allen Staub aus den Gräbern vor den Thron des höchsten Richters zu rufen.
Jetzt ist auch der Augenblick gekommen, wo wir das Innere der Silberburg betreten dürfen. Mehr als alle
Wiederum mußte Laurentia Heyligerin die ganze Nacht hindurch die wohlbekannten Tritte, das geisterhafte Schlurfen, das irrende Tasten an den Thüren und Schlössern hören. Als die tastende Hand auch zu ihrem Thürschloß kam und das Mädchen emporsprang, ihre Kleider zusammenraffte und in die Dunkelheit des Vorplatzes hinausleuchtete, sah sie die gebückte, hagere Ge-
Was ihn nur wieder getrieben hat?! sagte Laurentia; aber dann verschwand dieser Gedanke schnell, und die Erinnerung ihrer Träume stieg von Neuem fröhlich auf. In diesen Träumen war nichts von solchem Geheul, Klirren und Krachen, nichts von Verwüstung und Tod vorgekommen. Und nun schien die Sonne so hell und hoffnungsreich: vorbei war der Orkan und mit ihm der böse Winter, welcher den Garten so grausam versperrte.
Schnell kleidete sich die Jungfrau an, dem Vater das Frühstück zu bereiten und zu bringen. Als sie aber aus ihrem Gemach vortrat, blieb sie überrascht auf der Schwelle stehen. Der Duft von Moder und Staub, welchen sie sonst auf dem Gang einzuathmen hatte, war verschwunden, eine reine, kalte, herzerfrischende Luft erfüllte das Haus. Da hing dem Fenster des Corridors ganz nahe ein Bild, welches Alter und Vernachlässigung gänzlich unkennlich gemacht hatten; nun waren der Regen und der Sturmwind durch das zertrümmerte Fenster gekommen und hatten von diesem Gemälde die Staubkruste abgefegt und abgewaschen, daß die Farben fast wie neu glänzten. Laurentia hatte sonst wenig auf dieses Bild geachtet; jetzt stand sie still davor und betrach-
Sie stieg die Treppe hinab in das Erdgeschoß, wo in der Küche die alte Magd bereits wirthschaftete und die Jungfrau mit vielen und erregten Ausrufungen und Schilderungen des vom Sturm in der Stadt und in der Umgegend angerichteten Schadens empfing. Der Bronn vor des Schöffen Marklinger's Haus war umgerissen, in Sanct Agathenvorstadt waren eine Kuh und ein Pferd von einem einstürzenden Stall erschlagen und so weiter und so weiter.
So, Jungfrau, rief die Alte, die Hände zusammenschlagend, so grausam hat der böse Feind gewüthet, daß es nicht zu glauben ist. Stimmen hat man im Wind gehört, Kreischen und Jauchzen; Weiber hat man reiten sehen auf Besen und Gabeln in den Wolken; es ist nicht auszusagen. Die große Linde vor der Rathsapotheke lieget auch darnieder, und nun schauet nur, wie's in unserem eigenen Garten aussiehet. Was mich am meisten wundert, ist, daß der Thurm dort oben auf der Römerhöhe noch aufrecht stehet; der grause Wind hat
Durch das niedere Küchenfenster warf Laurentia einen schnellen, scheuen, ängstlichen Blick über den Garten, in welchem die meisten Bäume zu Boden lagen, nach dem alten Wartthurm, dem Aufenthalt des Geliebten. Thurm und Höhe lagen im schönsten Sonnenschein, und blauer Rauch kräuselte aus der Kaminröhre des Lug ins Land. Aus voller Brust holte Laurentia Athem, und freudig bewegte sich ihr Herz; sie wußte, daß dem Liebsten kein Unheil geschehen war in dieser bösen Nacht.
Die Seele des Mädchens war so frei und leicht, daß sie sich selbst darüber verwunderte; solche fröhliche Laune kam der Armen so selten, daß sie ihr als etwas unbeschreiblich Unbekanntes und Fremdes erschien. In dieser Stimmung trug sie nach des Hauses Gewohnheit die Morgensuppe in des Vaters Stube, wunderte sich auch nicht allzu sehr, als sie dieselbe leer fand. Das kam öfters vor. Manches festverschlossene Gemach hatte der alte Heyliger in seinem zerrütteten Geiste zu bewachen; so konnte er auch jetzt irgendwo nachschauen in einem Winkel, ob nach dem nächtlichen Getöse noch alle verborgenen Schätze und Heimlichkeiten an ihren rechten Orten sich befanden; ob da nicht ähnliche und schlimmere Verwüstungen angerichtet seien, wie sonst im Hause.
Nieder saß Laurentra Heyligerin und wartete auf den Vater, und im Warten spann sie von Neuem an den Traumbildern, welche ihr der Schlaf gebracht hatte.
Wo ist Euer Vater, Jungfer? fragte der Scharfrichter von Rothenburg das zitternde Mädchen, welches sprachlos ihn anstarrte.
Hat Euch der lustige Wind das Gehör oder die Sprache genommen, Jüngferlein?
O, was wollet Ihr? stöhnte kaum vernehmlich die
Durch den verwilderten Garten schlich der schwarze Jörg um Kundschaft der Geliebten. Er fand die Hinterthür der Silberburg offen, und eine unerklärliche Macht trieb ihn zu dieser Stunde in die Wohnung des alten Familienfeindes, dessen Kind er so sehr liebte, einzutreten. Mit geheimem Schauder setzte er den Fuß in das Haus, das einst den Kindlern geeignet hatte, wo so viele Geschlechter seines Namens geboren und gestorben waren. Schon waren die untern Räume voll von den Bürgern
Mit einem Sprunge wollte er sich auf den Henker stürzen; aber dieser erhob drohend die Hand und schrie mit donnernder Stimme:
Zurück! Wer legt die Hand an mich?
Und zurück wichen die Herren vom Rath, zurück wich das Volk; Laurentia Heyligerin warf sich an die Brust Georg's:
Schütze mich! Um Jesu Willen, schütze mich, Georg!
Treibt den Mann aus diesem Haus, welches sein Fuß besudelt; befehlt ihm, zu gehen, Euer Gnaden! rief Georg Kindler dem Bürgermeister zu; aber ehe dieser antworten konnte, lachte Wolf Scheffer und rief:
Wer will den Scharfrichter von Rothenburg aus seinem Eigenthum treiben? Herr Bürgermeister, zu dieser Stell' fordere ich den Bürger dieser Stadt Christian Jakob Heyliger, im Jahre Sechzehnhundertfünfundsiebenzig Zinsmeister allhier zu Rothenburg.
Wer giebt Euch das Recht, solches Verlangen zu
Der Scharfrichter zog unter seinem rothen Mantel einen beschriebenen und besiegelten Papierbogen hervor und hielt ihn hoch über die Häupter des Volkes.
Hier mein Recht! Hat der Teufelswind über Nacht das Dach mir über dem Kopf weggenommen, so muß ich schauen, daß ich ein ander krieg'. Hier mein Recht! Und nun zum letzten Mal: wo ist Euer Vater, Jungfer Heyligerin?
Ich weiß es nicht — o käme er! — Georg, Georg, was ist das? Was ist geschehen? Was soll geschehen?
Still, Lieb, ich bin dein Schutz hier und überall.
Herr Bürgermeister von Rothenburg, nehmt und lest, sagte der Scharfrichter, dem Herrn das Papier reichend. Derweilen will ich selbsten Umschau halten nach Christian Jakob Heyliger und ihn herschaffen, daß er mir mein Recht gebe.
Auseinander wich die Menge, und der Scharfrichter schritt aus der Thür, das vergilbte Papierblatt in der Hand des Bürgermeisters zurücklassend. Dem kaiserlichen Notarius Cyprian Schnäubele reichte der regierende Herr das inhaltschwere Document.
Leset Ihr, Gevatter. Meine Augen sind zu blöde, und meine Brille lieget zu Hause.
Einen fliegenden Blick warf der Notarius über das Papier, die Unterschriften und Siegel, dann zuckte er die Achseln, wie sie nur ein Advocat zucken kann, und
Traget vor, Herr Doctor! riefen in athemloser Neugier die Rathsherren, und der Notarius las laut:
Ich Johann Gottlieb Riecher J. U. Licent. Notarius caesareus publicus bezeuge und bescheinige durch meine Unterschrift und Beisetzung meines Notariatssigills, wie folget:
Am ersten Aprilen in diesem Jahr, nach Christi Geburt 1675, ist ein Pact aufgerichtet und rechtskräftig gemachet zwischen den Herren, Herrn Christian Jakob Heyliger, Bürger und Zinsmeister in kaiserlich freier Reichsstadt Rothenburg im Thal einerseits und Traugott Gottlieb Scheffer, kaiserlichem Kammergerichtssecretarius zu Regensburg andererseits.
Sintemalen obengenanntem Herrn Christian Jakob Heyliger obengenannter Herr Traugott Gottlieb Scheffer, Secretarius, in einem allhier geführten Process Heyliger contra Kindler mit Rath und That so hilfreich zur Hand gegangen ist, daß besagter Chr. I. Heyliger besagtem T. G. Scheffer nimmer genug danken und lohnen kann: so ist zwischen besagtem Chr. I. Heyliger und besagten T. G. Scheffer verbrieft und besiegelt, wie folgt:
I. Zahlt am heutigen Datum Herr Chr. I. Heyliger dem Reichskammergerichts - Secretarius Herrn T. G. Scheffer fünfhundert Gulden in guter Müntz.
II. Zahlt derselbe Chr. I. Heyliger demselben T. G. Scheffer fünfhundert Gulden an dem Tag, an wel-
III. Dieweilen aber des Menschen Fleisch ist wie Heu und seine Gitter nicht hasten in Einer Hand, so ist ausgemachet und beschlossen, daß am ersten Aprilen Siebenzehnhundertfünf als nach einem Menschenalter, vom heutigen Tag an gerechnet dreißig Jahre dem obenbenannten Reichskammergerichts-Secretarius Traugott Gottlieb Scheffer, oder dessen dann lebenden Erben und Rechtsnachfolgern obenerwähntes Haus zur Silberburg in kaiserlich freier Reichsstadt Rothenburg im Thal mit allem Zubehör, Lasten und Rechten von obenbenanntem Christian Jakob Heyliger oder dessen Erben gutwillig und ohne Widerrede übergeben werden soll. Wird aber Terminus verpaßt, ist's Recht verpaßt.
Ist dieser Pact in aller Güte, ohne Widerspruch von einer Seite aufgesetzet und doppelt ausgefertigt worden, wonach zu achten.
Die Blicke und Bewegungen der Hände, Schultern und Köpfe, welche diese Vorlesung begleiteten und ihr folgten, zu schildern, geht über unsere Kraft. Während Alles in Wunder und Staunen steht und Laurentia leise über die Schmach des Vaters weint, das Gesicht an der Brust des Geliebten verbergend, wollen wir einen Blick in die Vergangenheit werfen.
Anno 1675 war der Zinsmeister Christian Jakob Heyliger ein Mann in seinen besten Jahren, und der Reichskammergerichtssecretarius Scheffer, obgleich bedeutend jünger als der Zinsmeister, war doch nur ein kümmerliches Männlein gegen den stattlichen Bürger von Rothenburg. Nicht im mindesten wahrscheinlich erschien es von damals, daß der Secretarius für sich selbst einen angenehmen Gebrauch von dem eben vorgetragenen Schriftstück werde machen können. Der Mann hüstelte und spie auch von Zeit zu Zeit ein wenig Blut aus, und nicht die mindeste Aussicht war vorhanden, daß er nach dreißig Jahren mit diesem Pact werde hervortreten können. Freilich hatte er ein damals fünfjährig Söhnlein, welchem der Vertrag hätte zu Gute kommen können; aber damit war es ein eigen Ding. Dieses Söhnlein war die einzige Frucht einer für den Secretarius ungemein stürmischen Ehe, und der Vater hatte längst den ohnmächtigen Zorn und Grimm, den er täglich seiner bessern Hälfte gegenüber verschlucken mußte, auch auf den kleinen Wolf, welchem die Frau Schefferin mit der Muttermilch die allergrößeste Verachtung der väterlichen
Im Hause war der Secretarius Scheffer der erbarmungswürdigste Knecht und Sündenbock, den man sich vorstellen kann; aber er gehörte leider zu den Naturen, welche das Gift, das sie gegen die eigene Umgebung nicht verspritzen dürfen, nach außen tragen, — vielleicht die gefährlichsten Menschen! Für das Unglück des eigenen Herdes rächte sich Traugott Gottlieb Scheffer an der Außenwelt, und seine Stellung in der Maschinerie der Gerechtigkeitspflege des heiligen römischen Reiches deutscher Nation gab ihm die Gelegenheit dazu in Hülle und Fülle.
Zwischen den bergehohen Actenhaufen zu Regensburg, durch den Staub und Schmutz aller jener ewigen, sprichwörtlich gewordenen Rechtshändel kroch der kleine Mann in der ungeheuern Perrücke mit den langen hagern Armen und den dünnen Beinchen wie eine heimtückische Spinne, und betrachtete es als den Inhalt seines armseligen Lebens, so viel Menschen als möglich mit Leib und Seele von sich abhängig zu machen. Hier auf dem Felde wurde der Sklav zum Tyrannen; dreimal wehe Allen, die sich in das Netz dieser Spinne verwickelten; ihre ganze Lebenszeit hindurch mochten sie sich abzappeln darin; denn es gehörte zu des Mannes grausamer Lust am Schaden, daß er nicht jedes unglückliche Opfer auf der Stelle aussog und als leere Hülse hängen ließ. Solches that er nur den armen, einfältigen Teu-
Zu den Leuten, welche dem Secretarius nahezu gewachsen waren, gehörte der Zinsmeister von Rothenburg, als er im Jahre 1673 seinen Proceß gegen Friedrich Martin Kindler begann und anno 1675 selbst nach Regensburg ging, seinem Interesse nahe zu sein. Dunkle Wege beschritt er; aber sie führten gewissermaßen zum Ziel, denk Traugott Scheffer trug seine schweflicht leuchtende Laterne dem Zinsmeister voran. Besitzer der Silberburg mit Gärten, Ackerfeldern, Wiesen und Weinbergen ward Christian Jakob Heyliger; aber durch sein ganzes Leben hatte er alljährlich bedeutende Geldsummen gen Regensburg an den Secretär Scheffer zu schicken, ungerechnet die in dem Vertrag erwähnten Gelder. An dem Blatt, welches am 1. April 1705 in der Silber-
Im Jahre 1695 starb Traugott Scheffer, weniger an der Abzehrung, als an dem Schmerz und Verdruß über die Verlegung des Reichskammergerichts von Regensburg nach Wetzlar. Auch auf seinem Besitz haftete kein Glück; das Vermögen, welches der Eheherr zusammengescharrt hatte, zerfloß und zerging der trauernden Wittwe; Niemand wußte recht, auf welche Weise. Schlecht schlug das Söhnlein aus, that nach Kräften das Seinige zum Ruin der Mutter und lief zuletzt unter die Soldaten. Verlumpt und verludert kam es im Jahre 1703 heim aus dem Kriege, grade zur rechten Zeit, um dem Sarge der Mutter aus dem Hospital nach dem Kirchhof zu folgen.
Als Wolf Scheffer dann die wenigen Habseligkeiten der verschiedenen Frau durchstöberte, fand er das Blatt, welches ihn zum reichen Mann in Rothenburg im Thal machen konnte. Es war eine zerbrochene silberne Haarnadel, ein dito Löffelstiel und eine Kette von Bernsteinperlen hineingewickelt. Wolf that einen Pfiff über den Fund, machte die drei Werthgegenstände zu Geld und zog gen Rothenburg, wo er grade recht kam, den bedrängten Rath von dem fressenden Delinquenten im Thurm zu erlösen. Mit einer gewissen wilden Ironie und um nicht zu verhungern bis zum 1. April 1705, übernahm der einstige Profoß vom Regiment Deutschmeister-Infan-
Wir haben gesehen, wie er seinem Feinde Georg Kindler begegnete und die Liebe desselben zu Laurentia Heyligerin entdeckte, wir haben gesehen, wie er die Silberburg, sein baldiges Eigenthum, Tag und Nacht nicht aus dem Auge ließ. Mit der Besitznahme der Silberburg glaubte der Rachsüchtige zugleich sich rächen zu können an Dem, welchem er seine Verstümmelung zu danken hatte, und so frohlockte er doppelt.
Von Hand zu Hand ging im Kreise der Rothenburger Herren in der Silberburg das ominöse Papierblatt.
O Vater! Vater! schluchzte die Jungfrau.
Wo er nur sein mag, daß er bei solchem Aufruhr im Hause nicht hervorkommt?! rief Georg.
Heyliger! Wo ist er? Wo ist der Meister Heyliger? ging's im Kreise.
Währenddem kam das Document zurück zu Herrn Cyprian Schnäubele, dem kaiserlichen Notarius, und von Neuem unterwarf dieser es der sorgfältigsten Prüfung, beäugte es von allen Seiten, von vorn und von hinten. Plötzlich stieß er einen Ausruf hervor, sah auf, umher
Ihr Herren und Ihr, Jungfer Heyligerin, das Recht, so dieses Blatt giebt, will ich wohl anfechten und hoff' meine Sach' zu gewinnen; während der Proceß aber schwebt — beati possidentes!
Weshalb wollt Ihr dieses Recht anfechten? fragte die scharfe Stimme Wolf Scheffer's des Scharfrichters, der von seinem Gang durchs Haus zurückkehrte und vor dem die Gruppe sich eben wieder öffnete. Weshalb soll dieser besiegelte und manu propria von den Parteien unterschriebene Pact ungiltig sein?
Will's Euch sagen, Meister, sprach der Rechtsgelehrte. Hier stehet freilich geschrieben, daß die Silberburg übergeben werden soll am ersten April 1705; aber hier steht auch geschrieben: gerechnet vom ersten April 1675 an dreißig Jahre. Merkt's wohl, dreißig Jahre. Wird der Termin verpaßt, so ist der Vertrag null und nichtig.
Was weiter? fragte der Scharfrichter, sich auf sein Schwert stützend.
Zehen Tage zu spät ist dieses Schriftstück vorgewiesen, Meister! rief der Doctor Schnäubele. Im Jahr nach unseres Herrn und Erlösers Geburt Siebenzehnhundert ist durch das Edict glorreicher kaiserlicher Majestät Leopoldi Primi der verbesserte Gregorianische Kalender eingeführet worden, und die Einführung von allen Canzeln abgelesen, auf allen Wegen und Kreuzwegen des
Null und nichtig! riefen Bürgermeister, Rathsherren, Schöffen und Volk, und der Scharfrichter nahm ruhig das Schriftstück aus der Hand des Notars.
So höret, ihr Herren von Rothenburg! rief er, und eine Todtenstille trat vor seinem Worte ein. Im Kreise blickte er umher, hob das Papier und sagte:
Aufgebe ich hiermit dieses — da!
Das Document fiel zerrissen zu Boden, — und ein Ruf des Erstaunens brach aus unter den Theilnehmern dieser Scene; dieser Ruf erstarb aber auf den Lippen, denn in demselben Moment warf der Scharfrichter den Mantel zurück, das breite, blitzende Schwert funkelte über den Häuptern des Volkes:
Ein Recht verloren, gewonnen das andere! Mein die Silberburg und mehr als die Silberburg! Raum dem Scharfrichter und seinem Recht! Folgt und seht, ihr Herren von Rothenburg!
Aus dem Gemach schritt der Henker, das Schwert über der Schulter; ihm nach drängten alle Anwesenden die Treppe hinauf, welche in die obersten Räume des Hauses führte. Georg legte sachte die Geliebte in die Arme der alten Magd. Auch er eilte den Andern nach, und vor dem Geschrei, welches von oben, von dem Bodenraum hinabdrang, erstarrte ihm das Blut in den Adern.
Durch das verwahrlos'te Hausdach schien überall
Und zu dem Leichnam sprang der Scharfrichter, umfaßte ihn mit dem linken Arm und rief:
Raum für des Henkers Recht!
Mit dem Richtschwert beschrieb er auf dem Boden einen weiten Kreis um die Leiche, und in den Kreis fielen die Kisten und Truhen, die Pergamente, die silbernen Schüsseln und Becher, die goldenen Ringe, Ketten und Spangen.
Kennt ihr des Scharfrichters Recht, ihr Herren von Rothenburg? rief er mit wildem Frohlocken. Was an des Selbstmörders Leiche in den Kreis fällt, den des Scharfrichters Schwert zieht, ist des Scharfrichters! Herr Notarius, wollt Ihr gegen dieses Recht auch Euer Wörtlein sagen? Hoho, gebt dem Scharfrichter sein Recht — hier! hier!
Neben dem Erhängten niederknieend fing der Mann im rothen Mantel an, in den Truhen, welche sein Eigenthum geworden waren, zu wühlen. Triumphirend hielt er dem Bürgermeister, den Rathsherren, dem Doctor
Hier die Silberburg, mein, mein! Hier die Aecker am Gretchenkopfe, mein, mein! Hier der Weinberg zur wilden Hütte, mein! Hier die Wiesen im Hasenthal, Alles, Alles mein!
Keiner der Zuschauer konnte ein Wort hervorbringen; nur der kaiserliche Notarius sagte:
Schneidet die Leiche ab, Meister Scheffer. Ihr seid der reichste Mann zu Rothenburg im Thal! Dieses Recht ist nicht anzugreifen. Fiat justitia!
Damit wandte sich der Rechtsgelehrte und ging.
Mit dem Richtschwert durchsägte der Henker den Strick, welcher den Erhängten in der Luft hielt. Schwer fiel der Körper zu Boden, und in dem Gemach darunter fuhr die Tochter über den dumpfen Ton zusammen und sank in eine neue wohlthätige Ohnmacht.
Seit Menschengedenken war kein Selbstmord in kaiserlich freier Reichsstadt Rothenburg vorgefallen, deßhalb machte der jetzige, der noch dazu unter so seltsamen Umständen stattgefunden hatte, den allergrößten Eindruck auf das Volk.
Zurück wichen Alle. Niemand hielt es aus in dem unheimlichen Hause. Niemand glaubte darin länger Athem holen zu können. Die Silberburg ward leer, und todtenstill ward es drin. Auf dem Hausboden blieb der Scharfrichter mit der Leiche und den Schätzen allein zurück. Wolf Scheffer war der Einzige, welcher von
An der Brust des schwarzen Jürgen lag die arme Laurentia, und der Geliebte duldete nicht, daß die Tochter noch einmal die entstellte Leiche des unglücklichen Vaters zu Gesicht bekam. Wie ein Kind trug Georg die Braut durch den wilden Garten die Römerhöhe hinan zu dem alten Thurme, wo der nichts ahnende Vater im glücklichen Frieden saß, in die blaue, blitzende Ebene hinausblickte und das belehrende Haushaltungsbuch auf seinen Knieen fast ganz vergessen hatte. Es kostete viel Mühe, ihm das Geschehene klar zu machen, und im nächsten Augenblick hatte er es doch wieder vergessen und umschlich verwundert-zärtlich die weinende Jungfrau, die so plötzlich sich in seinem Thurmgemach eingefunden hatte.
Nachdem Georg und Laurentia die Silberburg verlassen hatten, ging auch die alte Magd daraus weg, und mit dem Leichnam hatte von da an Wolf Scheffer das Reich allein darin. In das Gemach Christian Heyliger's trug er Geld, Documente und Kostbarkeiten; die Leiche ließ er an ihrer Stelle, bis der Sarg und die Gruße im Winkel der Selbstmörder an der Kirchhofsmauer fertig waren. Im Triumph schritt er hin und her und baute die phantastischen Luftschlösser künftigen Glanzes, während seine Tritte dumpf wiederhallten in den öden Räumen. Nach Frankreich wollte er mit seinen Schätzen ziehen, der König Louis brauchte solche Män-
Diese Komödia ist aus, dieser Spaß ist bald zu einem guten Ende gekommen. Palsambleu, wir wollen in Kurzem einen andern Degen an die Hüfte stecken —
Stunde auf Stunde verfloß. Den jetzigen Eigenthümer der Silberburg überkam der Hunger; aber er begnügte sich mit einer Brodrinde und holte sich selbst einen Trunk Wasser dazu aus dem Brunnen im Hofe; dann setzte er seine Gänge durch das hallende Haus fort. Er blickte aus den Fenstern, die auf die Gasse gingen, und zog eine spöttische Miene über die Haufen, die den ganzen Tag über vor der Silberburg lungerten und nach dem alten Gebäude starrten. Das Volk sah ihn am Fenster und flüsterte und steckte die Köpfe zusammen; aber er lachte. Er lachte noch toller, wenn er an den schwarzen Georg vom Regiment Montecuculi dachte. Dem hatte er es nun heimgegeben.
Und es ward Abend, dann dunkle, warme, stille Nacht.
Im Lug ins Land auf der Römerhöhe lag der Vater Kindler längst im festen Schlaf; auf der Plattform neben der alten Karthaune standen Georg und Laurentia, hielten sich fest umschlungen und blickten in die Nacht hinaus. Im tiefen Dunkel lag die Stadt, die Silberburg und der todte Vater. Kein Lüftchen regte sich, still, ganz still lag die Natur, wie erschöpft nach dem Aufruhr der vergangenen Nacht. Leise Trostesworte flüsterte Georg der Geliebten ins Ohr, ins Herz, und immer fester klammerte sich das Mädchen an den starken Mann und schluchzte krampfhaft:
Verlaß mich nicht, o verlaß mich nicht!
Nimmer, nimmer! rief Georg Kindler, und auch ihm traten die Thränen in die Augen.
Wieder hatte der Nachtwächter im Thal seinen Vers für die zehnte Stunde gesungen:
Ich habe nur dich! Liebe mich, liebe mich, halte mich, daß ich nicht vergehe! stöhnte Laurentia, und Georg streichelte mit zitternder Hand das Haupt der Jungfrau und faßte sie fester:
Ich liebe dich, ich lasse dich nimmer, im Leben nicht, im Tode nicht. Still, still, Arme, Süße; merke auf den Trost der Nacht. O, wie sie still ist und Ruhe giebt.
Liebe mich ewig, ewig! rief Laurentia.
In alle Ewigkeit! sprach Georg.
Da ging ein dumpfer Ton durch die Nacht, ein donnerndes Schallen und Schmettern, ein Brechen und Krachen. Ein Schreien erhob sich im Thal und schwoll immer mehr an und pflanzte sich fort über die ganze Stadt. Das Krachen und Schmettern weckte nur einmal das Echo zwischen den Bergen; aber das Geschrei rief es immer von Neuem hervor. Lichter und Fackeln irrten in der Tiefe, und immer wilder ward das Rufen des Volkes.
Um Gottes Willen, was war das? schrie Georg. Komm, komm hinab zum Vater.
In das Thurmgemach hinunter führte der junge Mann die Braut; der Greis saß aufrecht im Bett und rief:
Es ist geschehen! Recht ist gesprochen, — das letzte Recht! Hinab, Georg Kindler, hinab zur Silberburg, sieh, ob das, was ich eben geträumt, Wahrheit ist! Das letzte Recht, o das letzte Recht!
Neben dem Bette des Alten sank Laurentia Heyligerin nieder, und der Greis zog sie zu sich und küßte sie auf die Stirn:
Gesegnet sei dein Eingang hier unter meinem Dach, du Kind meines Feindes. Der Segen eines ungerecht Gekränkten hat groß Gewicht; viel Glück sollst du haben in deinem Leben, eine gute Frau sollst du werden, wie deine arme Mutter, wie — mein armes Weib.
Die Römerhöhe hinab stürzte Georg. Der Garten war bereits voll entsetzter Menschen; wo die Silberburg selbst sich erhoben hatte, befand sich jetzt ein hoher Trümmerhaufen, ein wüstes Durcheinander von Balken, Posten und Mauern, über das die Fackeln und Laternen einen blutrothen Schein warfen.
Gottes Gericht! Gottes Gericht! rief das zitternde zum Tod erschrockene Volk von Rothenburg.
Das letzte Recht! O Vater, Vater — das letzte Recht! schrie Georg Kindler in namenlosem Schauder.—
Den Eindruck eines Gottesurteils hatte dieses schreckliche Ereigniß, welche so kühne und stolze Hoffnungen und Pläne im Augenblick der Erfüllung zu nichte machte, auf die ganze Stadt Rothenburg, Geistlichkeit, Rath und Bürgerschaft — Patricier und Plebejer gemacht, und unter diesem Eindruck erkannte man dem alten Friedrich Martin Kindler den Besitz des Trümmerhaufens, welcher einst ein so stolzes Haus gewesen war, einstimmig zu. Während die arme Laurentia auf der Römerhöhe langsam sich erholte und sich zurechtfand in dem Geschehenen, wurden die Trümmer aufgeräumt, die Leichen des Scharfrichters Wolf Scheffer und des weiland Zinsmeisters Christian Jakob Heyliger gefunden und mit ihnen die zertrümmerten Truhen mit den Geldsäcken, Kostbarkeiten und Documenten, wie sie Scheffer zuletzt darin geordnet hatte. In aller Stille wurden die Leichen begraben, und dicht nebeneinander fanden sie ihre Stelle an der Kirchhofsmauer.
Friedrich Martin Kindler entschlief nicht lange nach dem Einsturz der Silberburg, und ganz sanft erlöste ihn der Tod von den Schwierigkeiten der bösen Prudentia oeconomica, die ihm im Leben so viel vergebliches Kopfzerbrechen gemacht hatte. Fast die ganze Stadt gab dem Greis ein ehrenvolles Geleit zu seiner letzten Ruhestätte; aber dessenungeachtet war für Laurentia Heyligerin, die Tochter des Selbstmörders, und Georg Kindler, den Erben des Scharfrichters, keine bleibende Stätte in der kaiserlich freien Reichsstadt Rothenburg im Thal. Man flüsterte zu viel in den Gassen, wenn sie vorübergingen, und so zogen sie von dannen als ziemlich begüterte Leute, nachdem sie in der Stille Hochzeit gemacht hatten. Sie zogen hinaus, “weit ins Oesterreich,“ in eine Stadt an der Donau, Linz genannt; dort hat nach Jahren noch manch wandernd Bürgerkind aus Rothenburg in ihrem stattlichen Hause herzlich Entgegenkommen, fröhliche Gesichter und gut Quartier gefunden und nach seiner Heimkehr nicht genug erzählen gewußt von dem angesehenen Herrn Georg Kindler, der schönen Frau Laurentia und den Bübeln und Mädeln derselben.
Die Silberburg wurde nicht wieder aufgebaut. Während Georg die Aecker, Wiesen und Weinberge zu guten Preisen an die Liebhaber losschlagen konnte, wollte diesen Platz Niemand kaufen, bis ihn der Rath für einen Pfifferling übernahm. Bei den schweren Zeitläuften war wenig Nahrung in der Welt. Der hispanische Erbfolgekrieg, in den auch die freie Stadt Rothenburg verwickelt
So wuchsen Gras und Brennnesseln auf der Stelle der Silberburg, und bis in die neueste Zeit hieß die Stelle: das letzte Recht. Heute hat ein Speculant eine Strumpffabrik dasebst gebaut, und der Name ist verschwunden.
Zu merken ist, daß alle Menschen und alle Sachen in dieser Welt einen Augenblick haben, in welchen ihnen das letzte Recht gegeben wird.